Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend. - Uwe Romanski - E-Book

Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend. E-Book

Uwe Romanski

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ob Schillers Ode, Einsteins Zunge oder Chopins Herz.- alles ist miteinander verwoben. Zumindest für Clemens, der jugendlichen Hauptfigur in einer Coming-of-Age-Geschichte, der den Herausforderungen und Absonderlichkeiten seines heranwachsenden Lebens trotzt. Ob Jugendweihe, Musterung & renitente Genossen, die Konsequenzen sozialistischer Erziehung bis zur Party im Stasi-Mietbau, Tramps in die Bruderstaaten und Reisen über Grenzen hinweg - Clemens stellt sich. Dabei begleiten ihn die sprichwörtlichen Weisheiten seiner Oma oder die Sprachlosigkeit der Norddeutschen, der Erzkumpel Malte und die Geliebte Claire, die Landschaften Mecklenburgs und in nah & fern, der eine oder andere Gedanke sowie drei Männer vom Stadtring. Doch irgendwann wird Clemens dieses Land spürbar zu klein für seine großen Pläne. Er entfernt sich, und macht sich schließlich auf den Weg.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 436

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Uwe Romanski

Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend.

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

I Wir hatten ja nichts.

II Wir brauchten nicht viel.

III Das Triumvirat vom Ring.

IV Leben und Lesen in MV.

V Geruchssinn.

VI Kein Käfer im Garten.

VII Das Rom des Nordens.

VIII Von wegen, meines Hüters Bruder.

IX Heraus zum 1. Mai!

X Ententanz im Shelli.

XI Alles streckt sich.

XII Standpauke. Standgericht.

XIII Heimatgeliebte.

So wahr mir Gott helfe, an den ich nicht glaubte. Von dem ich mir nichts erhoffte.XIV Unten rum.

XV Sport frei.

XVI Einsichten im Quadrat.

XVII Moskauer und andere Elegien.

XVIII Der Geist aus der Flasche.

XIX Das Blaue vom Himmel.

XX Kumm ock hoar.

XXI Die Türen beim Zoll.

XXII Wachttürme und Ruinen.

XXIII Kaltes Land mit warmen Zügen.

XXV Vor den Vätern brechen die Söhne.

XXVI Pegelstände.

XXVII Unaussprechliche Begegnungen.

Ganz anders erging es übrigens Malte - der konnte ein Lied von ihr singen!XXVIII Reif auf der Insel.

XXIX Aus der Bahn geworfen.

XXX Milchmädchenrechnung.

XXXI Fuchs und Igel auf dem Wehrkreiskommando.

XXXII Auszeit.

XXXIII Bilder einer Ausstellung.

XXXIV Flimmerstunde.

XXXV Brückenbauer.

XXXVI Eine runde Sache.

XXXVII Volle Kraft voraus.

XXXVIII Heimatweh.

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

„Was willst`n woanders?“

„Wie meinst du das?“

„Kommst du zurück?“

„Ich hoffe nicht.“

Seit meiner Kindheit hatte ich diese Melodie im Ohr. Ich habe sie geliebt.

„Immer lebe die Sonne, immer lebe der …“

Obwohl, manchmal schämte ich mich, wenn ich dieses Lied so vor mich hin summte. Aber nur innerlich, nur für mich. Und wenn ich ehrlich bin, ich wusste nicht einmal genau, warum. Zumal ich mir schon morgens, wenn die Sonne aufging, bereits ausmalte, wo sie wieder untergehen würde. Dazwischen hatte ich sie ganz für mich; genauso wie angeblich alle Zeit der Welt oder alles noch vor mir. Das behaupteten jedenfalls einige Leute gern. Was soll ich dazu sagen?

Die hatten nun überhaupt keine Ahnung! Beides konnte eine Drohung oder ein Versprechen sein. Denn Zeit ist und bleibt etwas, da weiß man nie so richtig, was man von ihr halten soll. Die einen nehmen sie sich angeblich, die anderen stehlen sie einem. Dazu lauter vage Umschreibungen: Fünf vor Zwölf, rund um die Uhr oder letztes Stündlein!

Als käme es in unserem Leben auf einen bestimmten Moment an. Außerdem kann man Zeit nicht greifen, begreifen sowieso nicht und es gibt auch keinen anderen Namen für sie. Genauso wenig wie für die Liebe; oder für die Heimat. Aber, Heimat ist wieder ein ganz anderes Thema. Auch wenn sie sich genau wie die Zeit durch nichts ersetzen lässt. Jedenfalls nicht von uns. Und in punkto Liebe sah es vermutlich nicht viel besser aus. Dieses Sammelsurium auseinander zu klamüsern, würde eine Menge Arbeit bedeuten.

Ich wusste nicht, ob Einstein auch in dieser Richtung eine Idee hatte, die mich relativ überzeugt hätte. Mit Physik, Atomen und solchem Gedöns hatte ich es nicht so. Ich war einfach nicht in einem Alter, in dem mich abgründige Theorien, profane Gottesteilchen oder ähnlich abstrakter Kram interessierten. Außerdem wollte ich nicht tiefer in die Intimsphäre der Materie eindringen. Und könnte Einsteins ausgestreckte Zunge nicht zu guter Letzt auch nur ein Hinweis darauf sein, dass wir eben glücklicherweise nicht hinter alle Geheimnisse kommen würden? Oder, fatalerweise zu spät.

Kann sein, dass es prinzipiell ohnehin nicht um Erkenntnis ging, sondern um Trost. Zumindest, wenn man den alten Griechen glauben soll, die da vereinzelt meinten, es wäre sogar besser gewesen, man wäre gar nicht erst geboren worden.

Na, ich weiß ja nicht! Und falls da etwas dran wäre, dann hätte mir das bitte schön doch jemand vorher sagen können.

Weil ich nun also höchstens ahnte, was dieser ganze Schlamassel mit mir zu tun haben könnte, hielt ich mich lieber an das wahre Leben. Da ging es eher um uns und um Respekt. Wir wussten es bloß noch nicht. Wirklicher Respekt geht eh nur mit Distanz zur Welt um einen herum. Ich dachte mir, ein bisschen Abstand zu den Dingen, zu dieser Stadt und zu diesem Land konnte überhaupt nicht schaden.

Dabei fehlte es mir jedoch hin und wieder an Glauben, um mich in diesem Strudel aus Raum und Zeit und Jugend zu behaupten. Zumal es oft kein Strudel war, sondern ein zäher Brei, eine äußerst dickflüssige Suppe, die zwischen den Dimensionen von irgendwem am Köcheln gehalten wurde. Die hierhin und dorthin schwappte, um letztlich ein Spielchen mit uns zu spielen - ohne uns im Geringsten in dessen Regeln einzuweihen.

Doch ein fehlender Glaube war noch das kleinere Übel. Oft schien es hier sogar äußerlich eine Dimension zu wenig zu geben, in meinem Kopf hingegen manchmal eine zu viel. Deshalb avancierte ich lieber zum stillen Beobachter. An meiner Schule sagten sie nicht Glauben, sie sagten Weltanschauung dazu. Sie wussten alles besser!

Als hätte ich nichts anderes zu tun, als mir jeden Tag ihre verquere Welt anzuschauen. Obwohl es da Ungereimtheiten genug gab, die es zu beseitigen galt. Nur, ich glaubte einfach nicht, dass ich der richtige Mann dafür wäre und hielt mich in punkto Weltverbesserer eher bedeckt. Außerdem war ich auf Rückzug programmiert, während sie an ihren Fronten singend dem Morgenrot entgegen marschierten.

Gott sei Dank gingen ihnen irgendwann das Geld, ihren Kadern die Ideen und mir die Überzeugungen aus. Überdies war ich Sportler, und deshalb schneller fertig mit dem Staat, als er mit mir. Es war jedoch ein Wettrennen, auf das man besser nicht setzen sollte. Vor allem, weil ich nicht wusste, in welche Richtung es mit diesem Land gehen würde.

Denn wenn man verdammt nochmal nicht aufpasste, bauten sie hier eine Scheiße nach der anderen. Und wir müssten diese am Ende ausbaden. Zumal ich jeden Tag das Gefühl verspürte: Je mehr sich das Chaos im Kopf lichtete, desto chaotischer wurde die Welt um mich herum.

Für mich schien so vieles noch offen, aber das Land war zu. Darin hatte ich lebenslänglich bekommen. Ich lebte in einer geschlossenen Einrichtung, die sich Deutsche Demokratische Republik nannte. Drei Worte, von denen jedes für sich allein schon eine Lüge war.

Jedenfalls lag das Land auf eine behäbige Art darnieder und keiner kümmerte sich darum; eine Liegenschaft sozusagen. Doch was ich eigentlich sagen wollte, ließ sich in meinem Alter noch schwer beschreiben. Ich nannte es - zugegebenermaßen ein bisschen naiv - das menschliche Dilemma.

Es lag wohl daran, dass wir mehr Pläne als Zeit hatten und mehr Lust als uns lieb oder erlaubt war. Auch mit Gefühlen hatten wir es im Norden nicht so. Wer weiß, ob wir überhaupt Hormone oder solches Zeugs besaßen. Und wo wir gerade bei einer Art seelischer Inventur sind: Ich dachte öfter über Dinge nach, die in weiter Ferne lagen, den Tod oder etwas ähnlich Aussichtloses. Meine Oma meinte, das wäre so, weil ich eine Ader dafür hätte. Meine Brüder hatten recht unterschiedliche Ansichten dazu. Mein Vater fragte bei solchen Gelegenheiten, ob ich nichts Besseres zu tun hatte. Ich grübelte, welchen Sinn das Ganze haben könnte. Nur meine Mutter, als die Klügste, schwieg.

Es half alles nichts. Offensichtlich schien niemand bereit oder in der Lage, mir die Welt auf eine Weise zu erklären, die ich akzeptieren konnte. Ich musste mir wohl oder übel alles selbst zusammenreimen. Zumal ich es mir einfach noch nicht zu bequem machen wollte, im Bett der Alternativen. Außerdem drehten mir die Gedanken öfter einen Strick. Das machte es gleich noch komplizierter. Schließlich befand ich mich gerade in einem Alter, in dem man es eindeutig vorzog schneller erwachsen zu werden. Und ich wollte weg, während dieses Land vor allem eins wollte: hoch hinaus. Unter Weltniveau ging faktisch rein gar nichts! Sie sahen sich als Sieger der Geschichte, unterwegs auf der historischen Mission der Arbeiterklasse, um die komplette Menschheit gnadenlos zu befreien. Darüber hinaus, so meinten sie, konnte es nicht schaden, auch noch einen Blick in den Kosmos zu werfen. Vermutlich waren sie einfach nur irre. Aber ich wollte ihnen das nicht als Entschuldigung durchgehen lassen.

Abgesehen von der Jugend ist es vor allem die Zeit, die solche Dinge mit einem anstellt. Das Grübeln, und so. Dabei hatte ich wahrscheinlich einfach nur Glück gehabt. Oder sollte ich es nicht Glück, sondern eher Schicksal nennen? Und worin bestand eigentlich der Unterschied? Manchmal hoffte ich: ‚Hey, vielleicht wird ja alles wieder gut.‘ Doch ich hörte auch die Antwort, die ich mir dazu viel leiser gab.

„Ja, vielleicht. Aber vielleicht ist auch alles umsonst.“

Alles umsonst, das klang ganz und gar nach Kommunismus. Da wollte dieser Staat noch hin. Ich hingegen hatte absolut andere Pläne: Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend.

In derartigen Momenten fühlte ich mich prächtig, wenn auch wie ein Zeitvertriebener, der dem Lauf der Welt nicht mehr so recht folgen mochte. (Am Ende verläuft ein Leben nicht mal halb so wild, wie du es dir vorgestellt hattest. Und etliches von dem, was du getan hast, wird gegen dich verwendet!)

Höchstwahrscheinlich kam deshalb der Entschluss, alles, aber wirklich alles, zu meinen Erinnerungen zu machen. Diktiert in ein inneres Tagebuch, das sich von Sekunde zu Sekunde füllte, in mir blätterte und mich so vollends abhängig machte, von meinem Leben und dem der anderen. Letztlich bleibt einem sowieso nichts anderes übrig als das eigene Leben, höchstens noch das Gedächtnis. Und das erfand sich seine eigene Regel: Ehe die Gedanken langsamer werden und bevor alles zu spät ist, kann man gar nicht früh genug anfangen, sich zu erinnern.

Beispielsweise fand ich es außerordentlich seltsam, gerade einmal achtzehn Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges geboren zu sein. 18 Jahre, das ist im Nachhinein so gut wie nichts. Obwohl ich unschlüssig war, ob „seltsam“ das passende Wort dafür ist. Es war schließlich eines der erschütterndsten Ereignisse in der Menschheitsgeschichte. Doch kaum jemand sprach darüber. Jedenfalls so richtig. Parteigenossen, Geschichtslehrer und - wenn auch erst viel später - ein paar erschöpfte Männer vom Stadtring einmal ausgenommen. Die allda ihr Bier oder sonstwas tranken, im Schatten von mäcchtigen Bäumen, die, rein historisch betrachtet, bisher noch jede Epoche überstanden hatten. Dabei kam so manche ihrer Wahrheiten schluckweise ans Licht. In dieser Stadt hatte das einiges zu bedeuten.

Denn wenn wir Mecklenburger uns auch weniger zu sagen hatten als andere Volksstämme, dann sollte das Wenige, was gesagt werden musste, wenigstens ausgesprochen werden. Gewissermaßen waren wir mit dieser Ansicht bereits die Vorreiter moderner Kommunikation: Beschränke dich auf das Wesentliche, ansonsten halt einfach die Klappe!

All das trug dazu bei, dass wir uns schon zu einem frühen Zeitpunkt sicher waren: je mehr Freunde, desto weniger Arschlöcher. Umgekehrt galt das natürlich genauso. Freunde schienen uns ein guter Ersatz zu sein für all die Dinge, die wir vermissten. Was rein theoretisch klingt, hat die Wirklichkeit später empirisch bewiesen. Auf die Realität war seinerzeit eben noch Verlass. Und wir, wir waren uns offenbar verlässlicher als wir dachten. Außerdem: wir tickten hier oben sowieso ganz anders. Was das eine mit dem anderen zu tun hat? Wer weiß, vielleicht sind ja Freunde die haltbarste Brücke in die Vergangenheit. Die Gegenwart wiederum ist das, woran wir uns erinnern werden. Und was die Zukunft angeht ...? Über die ist uns noch nicht plausibel berichtet worden. Vielleicht hat dies auch mit dem Gefühl zu tun, dass die alten Geschichten in Vergessenheit geraten könnten und neue kaum noch entstehen. Alles miteinander betrachtet, bestand jedoch überhaupt kein Anlass zum Meckern. Am Ende nimmt sich die Zeit sowieso, was sie von uns will oder braucht. Gelegentlich überlässt sie uns dabei gnädigerweise einen Rest, um damit Schicksal spielen zu können, falls uns nichts Besseres einfiele.

Ob Geschichten so beginnen können? Ich vermutete, eher nicht. Erstens ist nicht alles und nicht jedes Leben spannend. Außerdem: Auch die Langeweile will schließlich in die Welt. Aber, das war mir vollkommen schnuppe. Und auch wenn ich nicht wusste, ob mir gerade jemand zuhörte; eigentlich hörte mir immer jemand zu.

… und deshalb machte ich mich auf die Suche nach der vergangenen Zeit.

I Wir hatten ja nichts.

II Wir brauchten nicht viel.

Ganz genau.

Erstens: von wegen, wir hatten ja nichts. Manche sagten so, andere eben so. Das war doch nur so ‘n Spruch, von Großeltern, Nachbarn oder irgendwelchen Landeiern. Und zweitens, und dann ist auch mal gut, brauchten wir immer irgendwas. Wir lamentierten bloß nicht ständig darüber, was uns fehlte. Auch der Staat schwieg in dieser Beziehung, setzte stattdessen eher auf seine Errungenschaften, und aus gutem Grund weniger auf uns. Höchstens noch auf unsere Eltern oder auf andere ältere Leute, die uns nichts angingen. Und die sich fleißig wie Ameisen mühten, etwas zu erreichen im Leben oder anzuschaffen im Haushalt. Vielleicht handelten sie so, weil sie einst noch miterleben mussten, wie andere Zeiten ihren Eltern alles genommen hatten.

Wir hingegen hatten es nicht so mit diversen Zielen oder überflüssigem Ramsch. Und was wir an Kaufkraft besaßen, floss zügig die Kehle runter oder löste sich in Rauch auf. Unser Leben ließ sich insgesamt mit einem einzigen Wort ganz gut umschreiben: Zurechtkommen.

Das war das, was wir hier taten. Außerdem würde die kommende Dekade am Ende aufregend genug werden. Allerdings war davon noch rein gar nichts zu spüren.

Auf unserem einzigen Kalender im Flur prangte das Jahr 1980. In Moskau gab es eine halbe Olympiade und in meiner Stadt den ganzen Sommer über nichts wirklich Aufregendes. Ein Ungar erfand den Zauberwürfel, der uns wie eine Art früher 3D-Taschenrechner stundenlang beschäftigte, beziehungsweise in den Wahnsinn trieb.

Die Sommerzeit wurde eingeführt, was zu der weit verbreiteten aber vollkommen unsinnigen Annahme führte, dass uns einerseits eine Stunde geschenkt und dann wieder weggenommen würde, oder umgekehrt. Mit solchem Quatsch mussten wir uns fortan zweimal im Jahr beschäftigen!

Interessanter fanden wir da schon die Grünen, die sich in diesem Jahr gründeten. Allerdings nicht auf den Wiesen oder Feldern rund um unsere Heimatstadt, sondern viel weiter weg, obwohl sie uns nahe waren. Vielleicht war es auch nur ihr Aussehen, das uns für sie einnahm: Turnschuhe, lange Mähnen und Bärte. Alles, was einige unter uns auch eine ganze Weile prägen sollte, ehe schließlich auch diese Mode mit uns vorüberging. Irgendwann waren die Schuhe wieder aus Leder, die Haare kürzer und die Bärte verschwunden. So ist das nun mal mit der Mode. Aus den Augen, aus dem Sinn, hätte meine Oma dazu gesagt. Sie hat immer gewusst, wie dieser Welt mit einfachen Weisheiten beizukommen war. Ein paar davon wollte ich mir vorsichtshalber merken.

Insgesamt war die aktuelle Lage also überschaubar, wenn auch nicht für uns. Wir mussten nämlich zu Hause bleiben. So war ihr Plan. Zu Hause blieben einige Mutige in diesem Sommer auch in Danzig. Ich würde auch Gdansk schreiben, wenn ich wüsste, wie ich es korrekt aussprechen soll. Das bedeutete, bald gab es auf der Landkarte wieder ein Reiseland weniger für uns, und insgeheim einen Grund mehr, daran etwas zu ändern.

Außerdem, je länger ich so darüber nachdachte, einiges bräuchte ich schon; einen anderen Vornamen zum Beispiel. Ich kniff Augen und Mund zusammen, und rückte meinen Vornamen nur raus, wenn ich direkt danach gefragt wurde. Fragen dieser Art mochte ich allerdings überhaupt nicht. Trotzdem waren Vornamen wichtig. Erst auf dem Spielplatz, dann im Klassenbuch, später bei den Mädels. Doch seien wir mal ehrlich, idiotischer Name hin oder her. Perspektivisch betrachtet blieb kaum Zeit, sich permanent über einen bescheuerten Vornamen aufzuregen. Voraussichtlich hatte ich gerademal noch so um die zehn Jahre. (Wozu also weiterhin Zähne putzen, Pläne schmieden, fürs Leben lernen?!)

Schließlich waren unsere Idole spätestens mit 27 weg vom Fenster. Stattdessen klebten sie an unseren Wänden: Morrison, Joplin, Hendrix & Co. Siebenundzwanzig! Ein Leben jenseits dieser magischen Altersgrenze schien uns weder möglich, noch clever oder zu guter Letzt in irgendeiner Weise erstrebenswert. Eher dachten wir, ihre Seelen gingen unseren voraus. Ja klar, andere Rockstars starben später, ein paar überlebten sogar. Wir mochten sie nicht besonders, vielleicht auch deshalb. Bis zur Unsterblichkeit ist es halt immer ein beschwerlicher Weg, den nicht jeder gehen kann. Man könnte glatt ein Lied darüber singen. Von wegen Rock’n Roll can never die ...; es hieß wohl eher: Spielt mir ein Lied zum Tod.

Mit Clemens als Vornamen jedenfalls war ich genervt und gezeichnet. Eine fade Buchstabenreihe ohne Sex, vom Klang ganz zu schweigen. Wenn ein Vorname einen Geruch hätte, roch meiner nach Unentschieden oder erinnerte vage an eine Südfrucht-Kreuzung. Wovon wir allerdings nicht so viele kannten. Vor allem nervte mich dieses unmännliche „s“ am Ende. Das war visuell schon Mist. Doch wozu aufregen? All diese Klaus, Silvios, Dietmars, Olafs und Udos waren viel schlimmer dran. Und eigentlich war es doch vollkommen egal. Denn erstens gab es Spitznamen, und zweitens verwechsle ich in der Erinnerung ohnehin die eine oder andere Figur. Also, ganz prinzipiell betrachtet, denn ich mochte Prinzipien, sagt ein Vorname so gesehen überhaupt nix.

Womöglich liefen derartige Gedanken wie vieles andere auch unter Weltanschauung; wahrscheinlich hatte sogar jeder seine eigene. In der Schule war das tagtäglich ein ausuferndes Thema mit diesem ganzen Drumherumgewese von Weltall, Erde und Mensch. Sie (ver)suchten dabei Antworten auf die drängendsten Fragen unserer Zeit. Nur durften an unserer Schule nicht so viele Fragen gestellt werden, damit wir auf dem kollektiven Marsch in unsere strahlende Zukunft nicht noch in Zeitnot gerieten. Deshalb galten hier klare Ansagen und Haltungen, ansonsten drohten Konsequenzen. So knapp ließ sich das Grundprinzip der sozialistischen Erziehung komprimieren.

Doch Erziehung interessierte mich nicht, Literatur hingegen schon. Vor allem, wenn sie bemüht waren, für ihre manifesten Vorlieben künstlerische Vorbilder zu kreieren. Da machten sie aus Hamlet einen Underdog und aus Goethe gleich einen kommunistischen Vordenker, inklusive Vision einer zukünftigen Gesellschaft. Wir mussten die entsprechende Passage aus dem Faust auswendig lernen und starrten Mitschülern beim Rezitieren ins Gesicht, wenn sie mit mehr oder weniger Verve zwischen schluckhaften Atemzügen versuchten, uns die großen Menschheitsträume literarisch näher zu bringen.

Während des Deutschunterrichts überkam mich manchmal die Befürchtung, dass sie dem Genossen Goethe postum noch den Vaterländischen Verdienstorden anhängen könnten. Vermutlich hätte es nur noch ein oder zwei Literaturkongresse gedauert, und sein Konterfei würde neben den Nasen von Marx, Engels und Lenin prangen. Schließlich war nach Stalins Tod wieder Platz drauf, auf ihren Bannern und Wimpeln. Obwohl der einzige Protagonist, der es verdient gehabt und dorthin gehört hätte, nach meiner Ansicht Sisyphos gewesen wäre. Der erste wirkliche Held der Arbeit; der, ohne je seinen Stolz zu verlieren, unermüdlich zur tragischen Gestalt wurde. Nur, hierzulande redete niemand von ihm. Die Sagengestalten unserer Tage hießen Adolf Hennecke, Marschall Shukow und vielleicht noch Timur. Mir hingegen ging Sisyphos nicht mehr aus dem Kopf.

Manchmal beginnen Mythen so.

Wir lebten in Fähnchenland. Wenn Wind aufkam, flatterte es überall und knisternd heischten die Flaggen um eine gehörige Portion Aufmerksamkeit.

Dabei waren sie sich für nichts zu doof, oder zu schade; und verliehen für nahezu jeden Unfug oder Mist eine Medaille, ein Banner oder wenigstens einen Wimpel: für die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, für ausgezeichnet rammelnde Karnickel und für besonders vorzeigbare Hühner, für vorbildlichen Einsatz … und für einen genauen Schuss.

Allerdings hingen selbst bei mir einige Wimpel an der Wand, ehe ich diese zusammen mit den ganzen billigen Medaillen, die ich zumeist beim Fußball gewonnen hatte, in einer wütenden Nacht entsorgte. So wie Cassius Clay seine Goldmedaille einst in den Ohio warf. Nur, dass ich den ganzen Kram nicht in unser Flüsschen Tollense schmiss, sondern in die Mülltonne. Damit hatte es sich bei mir also einfach mal ausgeflaggt! (Wie ich hier als Nachkomme eines Schiffsoffiziers, der einst die Linie nach Amerika befuhr, wohl berechtigterweise anmerken durfte.)

Jeder Mensch geht eben anders mit Erfolgen um. Zumal dieses Land nicht für persönliche Triumphe geschaffen war. Denn hier ging es vorrangig um das Kollektiv. Aber damit hatte ich nichts am Hut. Ich kam gut und gerne mit mir allein zurecht.

Malte und ich hatten heute unseren Philosophischen. Malte war mein bester Freund. Obwohl es schwierig ist, das so auszudrücken, weil Freunde in einer Rangliste zu führen ziemlich obskur wäre.

Egal, wir pafften jedenfalls vor uns hin und rätselten derweilen, was also die Welt und die Weise mit uns vorhätten, gern auch in umgedrehter Reihenfolge. Vielleicht lag es nur am Wetter oder an der Wirklichkeit, wahrscheinlich jedoch eher an uns.

Bereits in den großen Pausen wälzten wir auf dem Schulhof mächtige Themen: Zeit, Liebe und Heimat. Das ganze Programm. Schwerer Stoff für eine leichtlebige Jugend. Am Nachmittag setzten wir unseren Dialog oft vor der Imbissstube fort. Daneben befand sich die Kaufhalle. Davor gab es einen Findling aus uralten Eiszeiten, etliche Tonnen schwer, mit dem sie in dieser Stadt der Zukunft scheinbar nichts anzufangen wussten. Darauf thronten wir und warteten auf jemanden, den wir kannten. Meist kam niemand vorbei. Dann redeten wir einfach weiter. Denn wir fanden immer ein Thema, und auch genug Worte. (Dafür hätte man uns in einem früheren Zeitalter aus einer Stummfilm-Landschaft wie Mecklenburg möglicherweise verbannt.) Jetzt sprachen wir darüber, was uns möglicherweise am meisten beeinflusst, (für die Jugend bedeutet dies meist bedrängt oder nervt). Oder davon, was für uns besonders wichtig wäre. So landeten wir gedanklich wieder da, wo wir heute Morgen aufgehört hatten.

"Zeit!", sagte ich.

"Wie?", fragte Malte.

"Das weiß ich gerade nicht", sagte ich. Das war keinesfalls gelogen.

"Vielleicht weil sie weniger wird?", fragte Malte nun.

"Sie wird nicht weniger. Das ist nun absoluter Quatsch. Wir werden nur älter", sagte ich.

"Du nu wieder!", Malte winkte ab.

Wir brauchten was anderes.

"Was ist mit der Liebe?", fragte ich.

"Frag doch Claire!", antwortete Malte.

"Ich frag aber dich!", sagte ich darauf.

„Ich frag aber dich!“, äffte mich Malte erst nach, ehe er sagte:

"Ich weiß es nicht."

In Momenten wie diesen dachte ich: Freundschaft ist beständiger als Liebe. Allerdings behielt ich meine kleine Weisheit für mich. Außerdem hätte ich sie nicht beweisen können. Also schwiegen wir, leicht konsterniert voneinander, und kapitulierten bis auf Weiteres vor den allzu großen Themen; oder, halt, doch noch nicht ganz.

„Heimat, wie wär´s mit Heimat?“

Ich versuchte es auf diese Art und schaute jetzt Malte direkt in die Augen, weil es mir etwas bedeutete, herauszubekommen, was er wirklich dachte. Außerdem erschien er mir als touristischer Mehrkämpfer geradezu prädestiniert für derlei Auskünfte. Schließlich müssen die sich doch überall durchschlagen.

Daraufhin zündete sich Malte erst mal eine an, zog seine Schultern kurz hoch, rückte die Brille zurecht und runzelte die Stirn. Viele Falten hatten wir ja in unserem Alter noch nicht. Viel mehr Ahnung offensichtlich auch nicht. Dennoch, ich behielt ihn fest im Blick. Er beugte sich zu mir, schaute über die dünnen Ränder seiner Brille zu mir. Schließlich holte er Luft, tief von innen, von ganz unten.

„Ohne Heimat verkümmern wir.“

Das kam jetzt von Malte, in einem Stoß, und ohne erneut Luft zu holen. Direkt hinein in diesen, unseren Tag und platzte regelrecht hinein in diese Ruhe, die zwischen uns lag, die uns verband. Und während ich noch überlegte, wie das gemeint war, eine Entgegnung suchend, sagte er irgendetwas Banales, um von seinem gewaltigen Spruch abzulenken. Ich hingegen blieb unschlüssig. Einerseits kam mir sein Satz ein bisschen altklug vor, andererseits dachte ich, das kann man auch einfach mal so stehen lassen.

Zwei Jugendliche saßen also ziemlich ratlos vor ihren drei großen Welträtseln: Zeit, Liebe & Heimat, und hatten so gut wie keinen Schimmer. Wir brauchten eine Lösung. Und die lag in diesem Fall ziemlich nahe.

Als wir unser Geld zusammenlegten, reichte es immerhin für ein paar Flaschen Welterklärer. In der Kaufhalle packten wir vier Pilsner in den Korb. Drei Fragen, vier Bier. Wir verstauten die Pullen so, dass sie nicht klapperten und wir nicht am heller lichten Tag in ihrer Gesellschaft gesehen wurden. Sicher ist sicher. Dann spazierten wir Richtung Mühlenholz. Obwohl das, was wir vor uns sahen, nur das Lindetal war. Bis das Mühlenholz käme, wäre es noch ein Stück.

Allerdings hatten wir keine Lust, den Berg runter zu laufen, und anschließend wieder hoch zu kraxeln. Die viel zitierten Mühen der Ebene überließen wir lieber begeisterteren Mitläufern, von denen wir genug kannten.

Inzwischen war es Nachmittag geworden, die Sonne verdrückte sich ab und an. Dazu gesellte sich ein flauer Wind. Wir liefen durch die Oststadt. Naja, liefen, wir schlenderten, und passten auf unsere Vorräte auf. Für einen Moment waren wir schweigsam und ließen Blicke schweifen, sofern uns derartige Allüren in unserem Alter schon zustanden. Was wir sahen, sollte uns wohl Zukunft verheißen. Wir jedoch, wir sahen das ein wenig anders. Außerdem wussten wir wo wir hinwollten, wenn auch nicht unbedingt, wo wir hingehörten.

An den Rändern der Oststadt stand ein gleichermaßen graues wie grauenhaftes Mahnmal für all die Opfer von Militarismus und Faschismus, kurz davor ein Gefährt, das nur darauf zu warten schien, dass sich jemand auf den Weg machen wollte. Es war ein Wagen mit Pferd. Wir sprangen auf und machten es uns auf der Holzbank bequem. Alles war hier aus Holz, selbst der Gaul. Warum ich das betone?

Weil um uns herum nur Beton war.

Mitunter schauten wir genauer hin, es war schließlich unsere Stadt. Es war auch unser Leben, das sich hier abspielte - wobei abspulte die weitaus treffendere Bezeichnung wäre. Dabei fuhren unsere Blicke in der Regel eine langweilige Ernte ein. Es herrschte überall Monokultur in vollster Blüte: dieselben hässlichen Vorhänge, uniform bepflanzte Balkone, einsilbige Menschen. Kurzum: Aussichten, die uns ermüdeten.

Ältere Pärchen nach der Frühschicht, den Kampfauftrag noch in ihren Knochen, ihre Köpfe vernebelt, ihre Buckel gekrümmt. Eins davon bekamen wir jetzt leibhaftig ins Visier.

Er, nachlässig über die Balkonbrüstung gelehnt, im feinrippigen Turnhemd, darauf Spuren von Schweiß und Suff. Ein Bierchen in der einen Hand, in der anderen eine Fluppe, Fliegenklatsche oder eine penibel eingerollte Zeitung. Seine Trainingshose konnten wir zwar nicht sehen, aber in diesen Breitengraden deren Farben zuverlässig erahnen: braun mit gelben und roten Streifen an den Nähten. Die Freizeituniform vom Armeesportverein, beziehungsweise von aktiven Sympathisanten.

Sie hingegen trug eine grelle Bluse, eine riesige Sonnenbrille sowie eine Art Sonnenhut mit einer Blume dran geklebt und goss ihre Pflanzen einzeln, sobald ein kleiner Schatten darauf fiel. Zwischendurch setzte sie sich, wahrscheinlich für ein Kreuzworträtsel, oder auch einen frühen Wein. Er nun wieder starrte in unsere Richtung, als würden wir geradezu in seinem Wagen sitzen. Er rief sie. Sie stand nun direkt neben ihm, ohne ihn zu berühren. Wir hatten noch gute Augen und das Duo infernale von unserer Kutsche aus leibhaftig im Visier. So sahen wir, wie er sich ihr zuwandte, etwas zu ihr sagte und daraufhin in unsere Richtung fuchtelte. Sie wiederum zuckte nur die Schultern, als hätte sie bereits Feierabend gegenüber seinen Problemen. Sie wollte lieber ihre Ruhe, für die kleineren Rätsel dieser Welt, die sie Tag für Tag in bunten Zeitungen löste. Er winkte ab und streckte sich in den Sonnenschein. Und zwar dermaßen, als betriebe er Photosynthese. Dabei leuchtete sein fleckiges Hemd wie ein Fanal. Er nahm einen längeren Schluck aus seiner Pulle. Als er die Flasche absetzte, prosteten wir ihm zu. Er verschluckte sich, wandte sich ab und drehte am Radio. Mit dem nächsten Windstoß hörten wir die Kofferheule dudeln: Schlagertakte oder Nachrichtenfetzen, die frohe Botschaften aus diesem Land verkündeten und melodiös hinaus in alle Welt trugen. Jetzt waren wir an der Reihe, uns abzuwenden. Das alles war so öde, dass wir einen weiteren Schluck brauchten, einen ziemlich tiefen. So stießen wir auf diese Parodie auf unser Leben an. Kaum davon auszugehen, dass wir hier & heute mit unseren drei Fragen weiterkämen. Noch absurder war allerdings die Vorstellung, dass genau solche Balkonmenschen bestimmen wollten, wie wir zu leben haben. Und so absurd wie es war, so beängstigend war es auch. Doch darüber mochten wir gerade überhaupt nicht nachdenken, während wir weiter in Richtung Oststadt glotzten, obwohl der schönere Blick eindeutig hinter uns lag. Aber manchmal will man selbst das Schöne nicht sehen, und alles andere gleich gar nicht. Über uns dröhnte ein Flugzeug, strebte schnurstracks gen Norden.

„… `n Flugzeug müsste man haben“, manchmal erriet Malte meine Gedanken, selbst die heimlichen.

„Ja, das wär´s“ sagte ich, und träumte weiter.

„Dabei haben wir´s ja fast erfunden.“

„Wer, wir?“, ich wusste gerade nicht, worauf er hinaus wollte.

„Na, Lilienthal. Mecklenburger. In Anklam.“

Es sprudelte aus Malte förmlich heraus.

„Wie kommst du denn ausgerechnet darauf?“, fragte ich.

„Ich wohne ja in der Lilienthal-Straße“, antwortete Malte.

„Und?“, fragte ich nun.

„Nichts, und …“, antwortete daraufhin Malte.

„Ja, aber was sollte das jetzt?“, ich ließ nicht locker.

„Ich mein ja nur, das Fliegen hat hier Tradition. Bei uns. Eben Lilienthal. Nun tu doch nicht so!“, betonte Malte.

„Vielleicht wollte er einfach nur weg.“

Als ich gut anderthalb Jahre später zum allerersten Mal abheben sollte, war ich schon achtzehn. Das Ziel hieß Moskau, geflogen wurde hin mit einer TU 154 und zurück mit einer AN 86, der größten Maschine im Ostblock. Ein Monstrum, das selbst Technikdesinteressierte wie mich beeindruckte. Es war wohl eher die Ehrfurcht, dass gewiefte Ingenieure etwas geschaffen hatten, das helfen konnte, Grenzen zu überwinden, und seien es erst einmal nur die zwischen Bruderstaaten. (Kurz überlegte ich, dieses Wort auf meine Liste unerwünschter Begriffe zu setzen.) Dass sie überhaupt auf diesen Begriff gekommen waren. Wahrscheinlich war Schillers Ode daran schuld. Es gab sogar einen Bruderkuss. Auch die Wurzeln unserer Familie lagen östlich. Aber wir hatten dort keine engen Verwandten mehr, also nix mit Bruderstaat. Und in Moskau ging es ebenfalls nicht sehr brüderlich zu. Überall wollte mir einer dieser Brüder etwas abkaufen. Ich bin so einiges losgeworden.

Fliegen half, größere Distanzen und kleinere Grübeleien zu bewältigen; an einem einzigen Tag der Zeit ein Schnippchen zu schlagen. Ich erinnerte mich, wie ich als Kind alle möglichen Flugzeuge aus Plaste mit Modellbausätzen zusammengeklebt hatte. Darunter waren sogar Flugzeugtypen aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftssystem (abgekürzt NSW, wen es interessiert). Ich polkte an diesen filigranen Maschinen herum, obwohl ich Basteln hasste. Vielleicht suchte ich auch nach Wegen, hier wegzukommen. Da konnte es nicht schaden, ein bisschen darüber zu wissen, wie ein Flieger aufgebaut war und welche Maschinen es überhaupt auf der Welt gab, beziehungsweise in der Luft. Schließlich konnten Flugzeuge eine der geheimnisvollsten Kräfte der Natur überwinden, die Schwerkraft. Ich hätte wetten mögen, dass diese Kraft in der DDR erfunden wurde. So bleiern wie sich das Land, und die darin wohnten, gaben.

Diese hängenden Köpfe und fallenden Schultern, als fiele jeder Schritt doppelt so schwer. Nichts schien hier irgendjemanden leicht zu fallen. Dazu eine Trägheit, die Ihresgleichen suchte. Gab es nicht auch ein Trägheitsgesetz? Und wenn ich an Claire und ihre Familie dachte, die wollten weg hier, nur weg.

Hatte das vielleicht mit der Fliehkraft zu tun?

Bloß, wie gesagt, Physik und dergleichen war so gar nicht mein Fachgebiet. Insofern konnte es sein, dass ich mich täuschte. Aber darüber wussten andere besser Bescheid. Denn das Leben ist mitunter kompliziert und an Gesetze hielten wir uns in meinem Alter überhaupt nicht gern. Egal, worauf diese beruhten.

„Es hat ihm nichts genutzt“, unterbrach Malte die Stille.

„Er hat´s versucht“, sagte ich dazu.

„Wie Ikarus!“, warf Malte noch ein.

„Gibt´s da nicht auch `ne Straße hier?“

Ich lachte zwar. Doch es klang nicht frei, ganz und gar nicht.

Es sollte Was-auch-immer vergehen, ehe wir wieder über unsere drei großen Themen miteinander reden würden. Meine Oma wusste auch, warum: Gut Ding will Weile haben. Und manche Dinge brauchen Gelegenheit, sich zu entwickeln. Genauso wie wir. Doch es war noch nicht abzusehen, ob uns letztlich die Zeit dafür bleiben würde. Oder was die Heimat uns bedeuten könnte, von der Liebe ganz zu schweigen. Wir dämmerten also in vielerlei Hinsicht vor uns hin.

Es waren Momente wie dieser, in denen mochte ich nicht länger darüber nachdenken, was die Zukunft so alles mit sich bringen würde. Was auch damit zusammenhängen dürfte, was sie mir alles vorenthalten wollte. Irgendwann sah ich einen Film darüber. Stalker. Da wurde mir klar, dass auf einer Zone einfach kein Segen lag, obwohl sie angeblich das Glück beherbergen sollte. Aber es ist vermutlich überaus kompliziert, dieses so genannte Glück genau in jener Zeit zu finden, in der man lebt oder in solchen Momenten, in denen man es braucht. Außerdem war Tarkowski Russe. Die sahen das sowieso ganz anders: mit dem Glück, mit dem Segen und überhaupt.

Fürs Erste müsste ich mich damit abfinden, was jetzt war. Aber nicht für immer. Für immer und ewig war ja noch nicht mal die DDR. Zumal auch ihr Vorgänger in Sachen tausendjähriger Perspektive nur Anfangserfolge verbuchen konnte. Zeit ist eben immer relativ. Das Leben allem Anschein nach auch. Manchmal muss man als Mensch eben Berge versetzen wollen und keine Häufchen machen. Doch wie ich das am besten anstellen sollte, davon hatte ich noch keinen Schimmer. Woher sollte ich das auch wissen? Mit Leuten, die darüber möglicherweise Bescheid wussten, redeten wir ja nicht. Und die Leute, mit denen wir darüber reden wollten, wussten es nicht. Irgendwie fehlte jemand dazwischen, der Ahnung hatte, oder genügend Verstand, seine Ahnungen für sich zu behalten. So gab es Tage, an denen ich meinte, ich dürfte keine Zeit mehr verlieren. Dann wiederum gab es Tage, an denen ich befürchtete, dass es selbst dafür bereits zu spät wäre. Obwohl es für Panik nun gar keinen Grund gab. Schließlich waren wir jung, und wenn es im Osten eines wirklich reichlich gab, dann war das Zeit. Manchmal war das ziemlich beschissen.

Ansonsten machten wir was draus.

III Das Triumvirat vom Ring.

Alle Menschen werden Brüder?

Im Innersten war Neubrandenburg rundum überschaubar. Zumal es eine Stadt war, die sich selbst Grenzen auferlegte. Der „Ring“ schlängelte sich als mehrspurige Straße um das behäbige Zentrum. Genau wie der Stadtwall, ein mal flaches, mal kuppiges Auf und Ab voller Grün entlang der Stadtmauer, in deren schattiger Verheißung drei Männer ihre Zeit totschlugen, und sich dabei jede Menge Gründe ausdachten, miteinander zu schweigen.

Einer von ihnen hieß Kutti Eierbauch, ein stadtbekannter Name, den man sich so nicht hätte ausdenken können. Ein Unikum auf zwei Beinen inmitten unseres sozialistischen Alltags, ein Maskottchen des Elends; ein Mensch, der Heilsversprechen wie Siegesparolen zu trotzen vermochte. Zumal, Kutti soff nicht. So wie die anderen. Er rauchte auch nicht. Nur gelegentlich sah ich ihn mit einem aufgelesenen Stumpen einer Zigarre im Mund, auf der er herumkaute. Er sog manchmal in einer Weise daran, als wüsste er, wie vergeblich auch diese Lust wäre. Kutti sah nicht wie jemand aus, der sich noch etwas vormachte. Hätte er Kinder gehabt, die in die Schule gingen, würde in der entsprechenden Spalte im Klassenbuch das Kreuz bei „Intelligenz“ stehen. In diesem Land galt es immer noch für wichtig, von wem man abstammte. Schließlich hatte Kutti studiert. Zuerst irgendeine Fachrichtung, später das Leben. Jetzt aber saß er auf einer gestürzten Eiche, die erst der Sozialismus gefällt hatte. Er war nicht allein.

Daneben, auf seinem schwarzen, stets blank gewienerten, Fahrrad mit riesigem Ochsenkopflenker saß Watson, der sich selbst so nannte. Am Lenker war ein uriges Kofferradio mit Plastikhülle montiert, aus dem leise Musik ertönte. Watson jedoch hörte kaum hin, er hatte ganz andere Sorgen. Die funkte er ab und an hinaus in die Welt. Manchmal reichte ihm dazu sein zerschlissenes Brillenetui oder ein eingeklappter Regenschirm. Wenn ihm irgendetwas auffiel, missfiel oder unklar blieb, hallte es „Hallo Holmes, Sherlock Holmes! Hier Watson. Kommen, bitte kommen.“ durch den Äther und durch diese Stadt. Nun sag mir noch einer, im Norden hätten sie keine Antenne für Humor!

Vielleicht war es aber auch ein Hilferuf?

In jedem Fall war Watson mobil durch und durch. Immer im Einsatz, wenn es darum ging, seiner Stadt zu Diensten zu sein. Man traf ihn am See, im Kulturpark und auf dem Ring. Er spürte, dass hier etwas nicht stimmte und hoffte an seinen heiteren Tagen, dass er deswegen doch noch gebraucht werden könnte. Watson war wirklich auf Mission. Er wollte diese Stadt von ihren Dämonen befreien. Ja, denn hier gab es möglicherweise Geister und wie in vielen anderen Städten unseres Landes eine Straße der Befreiung. Das klang ganz nach Watsons Nachhauseweg.

Manchmal stand noch Düster dabei, der oft auch so aussah. Ich wusste nie, was ich über ihn denken sollte. Aber, ein Frivoler war er ganz bestimmt nicht. Er lief mit eingezogenen Schultern im hellblauen Trainingsanzug sowie mit Topfhaarschnitt herum und wirkte nervös. Er zappelte und wippte unentwegt auf seinen Füßen herum, das Gegenteil einer - sagen wir mal - ausgependelten Persönlichkeit. Unter uns ging das Gerücht, dass er was mit Leichen machte. Was unsere Phantasie regelmäßig auf Touren brachte. Das hatte offenbar damit zu tun, dass wir uns etwas vorzustellen versuchten, das wir uns eben nicht vorstellen konnten. Irgendwann erfuhr ich, dass Düster als Obduktionsgehilfe in der Pathologie angestellt war. Das machte ihn kaum sympathischer. Obwohl er dadurch mehr darüber in Erfahrung brachte, was uns letztlich ausmacht, als wir ahnen konnten: Nur redete er nicht darüber, was sich in unserem Innersten verbarg. Er wusste augenscheinlich mehr über Respekt als wir. Und wir, wir trauten uns einfach nicht, ihn danach zu fragen. Das war die eine Seite. Und Düster sah nicht so aus, als hätte er je eine andere Seite für sich gehabt. Das nämlich hätte bedeuten können, er hätte die menschliche Seele entdeckt. Allerdings, ob dies von Vorteil wäre, wer wollte das abschließend beurteilen?

Bei Düster saß überm rechten Handgelenk eine große Armbanduhr sowjetischer Produktion, auf die er unentwegt schielte, sofern Leute um ihn herum standen. Wahrscheinlich sah er so, wem die Stunde gerade schlug. Düster stromerte meist allein an den Rändern der Stadt umher. Oft sah ich ihn auf der Brache hinter der F 96, Richtung Tollensesee, in Nähe der Südstadt. (Kein Wunder, Südstädtern trauten wir eh nicht über den Weg!)

Ja, und Kutti, den trafen wir hin und wieder in der Mitropa, wo er sich die Reste von den abgelegten Tellern holte, auf seinem schlurfenden Gang zur Geschirrablage misstrauisch um sich äugend wie ein gehetztes Wesen. Anschließend saß er mit seiner Beute gern abseits vom Trubel. Stand er auf, was eine kleine Ewigkeit dauern konnte, sah man seine klassische Wampe, die er wie einen Schutzpanzer vor sich her trug. Und die seinem Auftreten noch mehr Gewicht zu verleihen schien, wenn er auf die Kinder zustapfte, die ihn foppten und beim Namen riefen „Eierbauch, Eierbauch!“. Er fuchtelte dann mit seinem Krückstock in ihre Richtung, allein gelassen im Spott unserer Welt.

Von wegen, alle Menschen werden Brüder.

Vor Kuttis Brust hing eine große Kunststoffhornbrille, die von Wer-weiß-was zusammengehalten wurde. Ein Sichtfeld war mit Leukoplast zugeklebt. Manchmal setzte er diese Brille auf, betrachtete sich oder blickte argwöhnisch auf die Welt um sich herum, die für ihn schwer zu durchschauen, und wohl noch schwerer zu ertragen war. In jeder größeren Stadt hierzulande schien es Menschen wie Kutti zu geben, die an so unwirtlichen Orten wie der Mitropa auf die Reste hofften. Sie waren die Hyänen unter uns. Und nahmen sich, was wir ihnen ließen. Erst dann konnte ihr Festmahl beginnen. Von wegen, gegessen wird, was auf den Tisch kommt!

Drei Karrieren, die dieser Staat so nicht unbedingt forciert hatte, zumindest auf den ersten Blick betrachtet. Doch vielleicht, wenn man tiefer in sie hineinschauen könnte, womöglich so wie Düster, hätte man etwas gefunden, das auch eine andere Erklärung denkbar gemacht hätte. Denn wer weiß schon, was dieses Land ihnen angetan hatte, und sie sich selbst? Dieser Staat mochte Verlierer nicht, vermutlich wie überall. Diese wiederum ahnten es und versteckten sich in schattiger Obhut und am besten im Dickicht ihrer Seelen gleich mit. Manchmal fuhr ich mit dem Rad an ihnen vorbei. Dann sah ich beschämt rüber zum schweigenden Trio, als könnte ich etwas dafür. Aber, wofür eigentlich?

Elend verbindet, anders als das Glück, das mir allzu oft als ein zu flüchtiger Gedanke erschien. Ich wollte nie so enden. Ganz gewiss nicht, genauso wenig wie die dort. Ich trat dann in die Pedale, um hier schneller wegzukommen.

Bloß, wo sollte ich hin?

IV Leben und Lesen in MV.

Kein schöner Land in dieser Zeit ...

Einunddreißig Jahre nach seiner Gründung war dieses Land noch nicht fertig. Aber, machen wir uns nichts vor, … ich auch nicht. Ich war allerdings auch wesentlich jünger. Meine Pläne waren zudem längst nicht so ausgereift wie die des Landes. Und vor allem, ich verzichtete komplett auf ein Programm.

Schon seit Jahren wohnte ich auf einer sozialistischen Großbaustelle, der Name: Neubrandenburg-Ost. Wir redeten nur von der Oststadt. Hier also sollte ihre neue Welt entstehen. Und ich war mittendrin, wenn auch nicht so richtig dabei. Was daraus werden würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschätzen. Später hingegen würde ich beschließen, das gemeinsame Experiment einseitig abzubrechen. Doch bis dahin sollte noch eine Menge Wasser die Tollense, ein schüchternes Flüsschen, das sich noch nicht einmal durch die Stadtmitte traute, hinunter fließen.

Es war eine Zeit, in der keinesfalls entschieden war, was aus meiner Biografie würde: Ballade, Komödie oder Trauerspiel? Oder reichte es am Ende nur zu Beschaulichkeit und Mittelmaß, zu einem Leben zwischen den Dingen und nicht darüber?

Um es kurz zu machen, es war mir so was von piepegal, dass kein Vogel danach krächzte, außer gelegentlich der Zapfhahn. Aber der krähte erst abends. Seine Melodie war mir vertraut: das Zischen, Gluckern und schäumende Stottern, wenn das Bier ins Glas floss und die Geschichten ihren Lauf nahmen: über falsche Leben, echte Freunde und wahre Erlebnisse. Und ohne die gibt es keine richtige Geschichte. Dazu brauchten wir keinen Adorno lesen.

Nur, um zu wissen, was läuft.

Korrekterweise wurde uns das auch zu keiner Zeit von irgendeiner Seite nahe gelegt. Weder Malte, Bänni, Manni, Sünder, Ertel, Baba, Bracke, Albert, Simon, Claire, noch Artur, Stachel, Hollsen, Marc, Hannes, Bänni, Inka, Roxy, Gitte, Kroll oder all die anderen aus unserer Clique haben jemals in meinem Beisein Derabartiges zitiert. Von mir ganz zu schweigen. Und bekanntermaßen konnten wir hier oben ziemlich gut schweigen. Aber hallo!

Jemand wie Adorno konnte uns mal.

Sicher, es gab hier und da einen Hauch Philosophie, der uns umwehte, meist verkleidet als Literatur oder Palaver. Die lesbaren einheimischen Autoren fand ich oft überschätzt, war mir aber nicht sicher, ob das nun an ihnen oder an mir lag. Ich las lieber ältere Sachen. Zweig, Sartre, Remarque auch, vor allem aber Kafka und Camus, meine eigentlichen Chronisten. Wer weiß, was Camus über das Absurde herausgefunden hätte, hätte er in der DDR gelebt?

Und Kafka erst!

Was wäre dem hier ein- und aufgefallen! Was hätte beschrieben werden können in seiner schlichten und alles umfassenden Art, die nur ein fortwährendes Nicken erzeugte, und das Staunen darüber, dass einer etwas Bleibendes unnachahmlich zu beschreiben wusste? Mit derart unaufdringlichen Worten, dass man sich ihrer immer erinnern wird.

Mir gefiel das Absurde als mentale Basis ziemlich gut, auch wenn ich mich hin und wieder dabei ertappte, gar nicht zu wissen, worum es konkret ging. Aber da war ich nicht der Einzige. An Kafka wiederum faszinierte mich, wie er in seinen Texten mit kleinen Menschen in einer zu großen Welt kurzen Prozess machte.

Am liebsten las ich Erzählungen, oder gleich Romane. Ganz einfach, weil ich es besser fand, wenn Geschichten ein Ende nahmen. Das gehörte sich nämlich so. Seltener griff ich zu Lyrik oder Dramen. Letztere spielten sich in unserem Alltag ohnehin genug ab: zu Hause die kleinen, mit den Freundinnen die mittleren, und in der Schule schließlich die größten.

Gleich könnte wieder ein größeres Drama auf der Tagesordnung stehen, ausgerechnet in Deutsch. Daran trüge kein Geringerer als Thomas Mann die Schuld. Zumindest teilweise, der Rest blieb an mir hängen. Schließlich hatte ich weder seine Buddenbrooks gelesen noch kannte ich deren familiären Hintergrund; all die verwobenen Kümmernisse und lokalen Gegebenheiten. Doch die waren das Thema für die Hausaufgabe, die mir noch fehlte. Im Moment allerdings hatten wir Astro(nomie) und ich ein echtes Problem. Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Obwohl Malte dazu gesagt hätte: An der Zeit liegt datt nicht.

In derartigen Situationen reichte es erfahrungsgemäß, mein Bittstellergesicht aufzusetzen und so Karoline, meine Banknachbarin, zu überzeugen, mir ausnahmsweise auszuhelfen. Wir kamen prima miteinander aus, redeten jedoch nicht viel. Mecklenburger sind schließlich, zumal wenn es um unterschiedliche Geschlechter geht, wie das alte Ehepaar unter den Ethnien. Sie haben gemeinsam eine Menge erlebt, aber sich darüber nur wenig zu sagen. Karoline hatte meist ein Einsehen, auch wenn es oft nur pures Mitleid war. Bloß, heute war sie krank, ihr Platz blieb leer. Und nun?

Zwischen Erdumlaufbahn und Kometenschwarm versuchte ich bei anderen Mitschülern Aufmerksamkeit zu erregen. Meine Mitleidsnummer konnte ich mir allerdings bei den meisten sparen. Etliche dösten so früh am Morgen noch, oder zuckten müde mit den Schultern. Ich sah zu Malte, der rollte mit den Augen und schaute hilflos über seine Brillengläser. Dennoch kam Bewegung unter die Schulbänke. Von irgendwo wurde mir ein Hefter zugeschoben, Gott war Dank! Ich betete zwar nicht, doch mein Seufzer der Erleichterung durchdrang Zeit UND Raum. ließ sogar unseren älteren Astronomielehrer seinen Vortrag unterbrechen.

„Möchten Sie etwas zu unseren Kometen beitragen, Herr Romski?“

Unsere Kometen. Das musste man sich mal kommen lassen. Dennoch, dass er alles persönlich vereinnahmte, was da oben rumschwirrte, war mir vertraut. Zudem staunte ich, dass er aus dem Stand, oder kann man bei Astrolehrern auch schon mal aus dieser Konstellation heraus sagen(?), überhaupt so halbwegs meinen Namen wusste. Eigentlich erwartete er selten eine Antwort. Eine Verlässlichkeit, die ich schätzte, vor allem an Tagen wie heute. Ich war in Zeitnot und seine Erfahrung wird ihn gelehrt haben, dass sich am Ende sowieso niemand von uns derart intensiv mit dem Himmel beschäftigte wie er es vorlebte. Manchmal erweckte er den Eindruck, er würde sich dort oben zwischen den Gestirnen wohler fühlen als unter uns. Doch er ließ uns prinzipiell in Ruhe, solange wir seine Bahnen nicht streiften. Erst wenn ihn jemand im Unterricht unvorsichtigerweise direkt ansah, fühlte er sich bemüßigt, denjenigen aufzurufen. Ansonsten brauchte er für seine kosmischen Theorien kein Publikum.

Aber ich stand nicht auf Kometen, ich stand auf dem Schlauch. Außerdem erschien es mir suspekt, wenn Menschen ihr Glück allen Ernstes an vorüberfliegende Reststerne knüpfen wollten. Und jetzt musste ich antworten.

„Ich glaube kaum, dass ich dazu Neues beitragen kann.“

In der Klasse prustete es hier und da. Unser Galilei wandte sich mit einem Seufzer erneut seinen vergänglichen Himmelskörpern zu. Ich griff fix nach dem Hefter unter der Bank und schaute mich um. Der Spender saß gelangweilt hinter mir. Egal, ich atmete durch und ließ so die Anspannung genauso verfliegen wie unser Astrolehrer den Perseiden-Strom am sommerlichen Sternenhimmel. Alle Vergänglichkeit bekam ein Gesicht. Und dann, ran ans Werk!

Th. Mann wartete.

Deutschstunde. Mutter Flott, so wurde unsere Klassenlehrerin vor allem von unseren Mädchen feixend genannt, schritt stramm durch den Unterrichtsraum. Gleich nach Stundenbeginn ging sie mit ihrem Zeigefinger das Alphabet im Klassenbuch durch. Es kam wie es kommen musste. Ich war einer ihrer Kandidaten, wie sie uns immer nannte, wenn sie etwas von uns wollte. Während ich kommentarlos meinen Zettel abgab, spukten Buddenbrooksche Gestalten in meinem Kopf herum. Sie schienen mir tatsächlich in einem Zwiespalt zwischen inneren Neigungen und äußerer Wirklichkeit gefangen. Was für ein Drama eigentlich! Zumal in einem Zeitalter, als Schicksale noch eine Rolle spielten. Insgesamt kein so abwegiges Thema für mich. Wie auch immer, im Gegensatz zu manchen von ihnen war ich davongekommen. Aus purer Dankbarkeit überlegte ich, die Schwarte doch noch zu lesen.

Für unsere Verhältnisse lasen wir viel - womit ich nicht auf die Verhältnisse im Land anspielen wollte. Jedenfalls verbrachten wir eine Menge Zeit mit dem Lesen; zumindest die meisten von uns. Was an ein Wunder grenzte, weil wir genauso oft irgendwo rumhingen. Manche, und manchmal, auch Durchhingen. Doch Lesen lenkte uns ab. Lesen regte uns an, und oft auch auf. Das lag dann an schreibenden Arbeitern, Bauern & Soldaten; und damit meist an der Lyrik von Autoren, die mit ein paar Gedichten dem Tagebau entkommen waren, oder mit einer Novelle ihrer LPG. Und wir mussten diesen Quark lesen! Pflichtliteratur, allein schon bei diesem Begriff konnte einem aber auch schon alles vergehen. Zumal die Jugend das Wort Pflichten nur ungern in den Mund nimmt. Dafür bliebe schließlich den Rest des Lebens wohl noch genügend Zeit, oder?!

Wer las, redete weniger. Also, noch weniger!

Ich jedenfalls las, wo und wann immer ich konnte: auf dem Klo, vor dem Fernseher, im Bus, auf dem Friedhof oder am See. Ich las weniger, um mich abzulenken. Ich suchte eher. Zum Beispiel Hinweise, was die Zeit, die Liebe oder die Heimat mit mir vorhaben könnten. Manchmal dachte ich, ich wäre dicht an einer Lösung dran. Aber es gab keinen versteckten Plan, kein erkennbares Prinzip und vor allem keine Gewissheit. Doch ich gab nicht auf. Ich suchte seitenweise weiter, wenn auch nur nach Erklärungen, warum wir so waren wie wir waren. Ich hatte keine Angst davor, genau das zu erfahren. In solchen Situationen hätte ich vielleicht Düster fragen sollen, wenn ich mich getraut hätte. Manchmal ist es schwieriger, eine Frage zu formulieren als eine Antwort und womöglich wäre es besser gewesen, auch nicht auf alle Fragen eine Antwort zu erhalten. (Dazu spukte mir viel später, aber darauf würde ich noch gern zurückkommen, Wittgenstein durch die Rübe: Wegen dem Sprechen, wegen dem Schweigen und so … ein Satz, wie gemacht, für uns hier oben, in diesem Landstrich!)

Gelesen wurde zwischen Schule, Training und Trinken. Also immer. Ich las ungefähr zwei Bücher pro Woche. Das hatte auch damit zu tun, dass ich mich in einem fakultativen Kurs an der Penne der „Weltliteratur“ widmete, oder was unsere Deutschlehrerin und die hiesige Literaturwissenschaft in trauter Symbiose dafür hielten. Für mich bedeutete dies alle zwei Wochen eine zusätzliche Schulstunde. Das überlebte man schon, selbst mit Scholochow, Dreiser und Konsorten. Zumal, manches war tatsächlich großartig, etliches lesenswert und was mich langweilte, wurde fix zurück in die Bibliothek gebracht.

Wir besprachen die Bücher nicht groß, sondern reichten die besten davon still weiter, höchstens begleitet von einem knappen Kommentar. Muss man gelesen haben! kam in unseren Kreisen schon einer kompletten Rezension nahe.

Salinger durfte als Gute-Nacht-Geschichte genauso wenig fehlen wie Hemingways vordergründige Umschreibungen seiner Männlichkeit oder der Blick aufs große Ganze, beispielsweise von Tolstoi. Dem ich eine Ahnung von den Dimensionen eines Epos verdankte. Selbstverständlich waren wir auch mit Kerouac unterwegs. Dazu kamen ein Plenzdorf-Roman, Bobrowskis Geschichten aus einem Land vor unserer Zeit, Hesses umtriebiger Steppenwolf. Oder später, wenn wir an solche Bücher rankamen, der trunkene Abgesang eines Charles Bukowski und Rimbauds hymnische Gedichte, von denen vor allem eines unsere zukünftigen Bootsfahrten vorweg zu nehmen schienen. Ein paar von uns schafften lesend sogar den Sprung zu Hamsun und Dostojewski oder anderen Verlorenen der Weltliteratur. Gab es ein Buch, das einer von uns aus dem Westen hatte, ging das flink durch die Reihen, wurde meist im Zuge einer Nacht durchgelesen und weitergereicht. Außer Literatur suchten wir vieles andere darin. Am wichtigsten war die Gewissheit, nicht alleine zu sein mit seinen Träumen, seinen Ängsten.

Warum auch sonst sollte man lesen?

Es war eine Zeit, in der mich zuvorderst das Extreme interessierte. Oder das Unvorstellbare. Literatur kann das, manchmal. Dabei gestattete ich mir nur solche Bücher, von denen ich hoffte, dass sie mir etwas klarer machten, oder weiterhalfen im Leben. Orwells 1984 gehörte beispielsweise in diese Kategorie. Drei Jahre vor dem avisierten „Termin“ hielt ich es vorsichtig in den Händen. Nach einem Westbesuch einer Oma, die meine Bestellung zwischen Versandhauskatalogen von Neckermann & Co. versteckt hatte. Ich las es innerhalb von zwei Tagen. Danach bildete ich mir ein, abgrundtief Bescheid zu wissen. Auch wenn das nun vollkommene Selbstüberschätzung war. Die Lektüre hinterließ Spuren. Tiefere, und mehr als ich gewünscht hatte.

Fortan begann ich, mir dieses System genauer anzuschauen. Dazu las ich tatsächlich Marx und Lenin, sogar Hegel. Gut, was heißt schon lesen, in manches äugte ich nur rein. Ich begann, mir ein Bild von der Erde, besser: von uns, zu machen. Selbst wenn ich nicht alles kapierte, sah ich unsere Existenz nun eher mit den Augen meiner Oma: Das wird hier noch ein schlimmes Ende nehmen! Keine Ahnung, ob das nun ihrer christlich angehauchten Perspektive entsprang, oder weil sie in ihrem Leben schon zu viel erlebt hatte. Wahrscheinlich sah ich es auch nicht ganz so verbissen.

So war das mit dem Lesen. Der eine zog Schlussfolgerungen, der andere Konsequenzen. Es war ja mit Aussuchen, das Leben. Wie hatte einer der Vorgänger von Honecker so schön betont: „Jeder solle nach seiner Fasson selig werden.“ Das hätte meiner Oma auch gefallen.

Jedenfalls ließ sich mit unserem Lebens-Potpourri, also unserer philosophischen, literarischen und musikalischen Mischung, die Phase zwischen Sechzehn und Achtzehn relativ unbeschadet überbrücken. Zumal wir davon ausgingen, dass Schmutz, Krach und eine saftige Prise Nihilismus uns verlässlichere Wegbegleiter wären als sanfte Töne, wohlgeformte Sätze und ideologische Fanfaren jeglicher Couleur.

Lesen und leben gehörte für uns zusammen. Zumal wir Bücher auch aus dem Grund bevorzugten, weil in den Zeitungen so viel Unfug stand. Belangloses Zeuchs, wie wir sagten. Wir fühlten uns dank unserer Lektüre einfach besser vorbereitet. Egal, was da noch kommen mochte. Und, bitteschön, was sollte hier schon noch groß kommen!