Impossible Creatures – Der vergiftete König - Katherine Rundell - E-Book

Impossible Creatures – Der vergiftete König E-Book

Katherine Rundell

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Beschreibung

Der zweite Band des preisgekrönten Bestsellers aus Großbritannien: Außergewöhnliches Fantasy-Abenteuer voller Fabelwesen und Action ab 10 Jahren Als ihr Großvater, der König, einem heimtückischen Attentat zum Opfer fällt, wird Prinzessin Anya zur Gejagten im eigenen Reich. Ihr Vater wird des Mordes beschuldigt und in den Kerker geworfen, während ihr machthungriger Onkel nach dem Thron greift. Gemeinsam mit Christopher, dem Hüter der Fabelwesen, muss sie nun nicht nur ihren Vater retten, sondern das gesamte Archipel vor dem Untergang bewahren. So actionreich und packend wie »Percy Jackson«, so episch und tiefgründig wie »Die unendliche Geschichte«. Mit dem Riesenerfolg von »Impossible Creatures« wird Katherine Rundell in Großbritannien und den USA als DIE neue Stimme in der Fantasy gefeiert. Ein hochwertig ausgestattetes Buch mit farbiger Landkarte und illustriertem Bestiarium! »Es gab Tolkien, es gibt Pullman, und jetzt gibt es Katherine Rundell.« Michael Morpurgo »Ich liebe Katherine Rundells Schreibstil.« Philip Pullman Platz 1 auf der New-York-Times-Bestsellerliste!  Alle Bände der Archipel-Serie: Band 1: Impossible Creatures – Das Geheimnis der ungaublichen Wesen Band 2: Impossible Creatures – Der vergiftete König Band 3: (erscheint voraussichtlich im Herbst 2026) Weitere Bände in Vorbereitung!

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Seitenzahl: 287

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Katherine Rundell

Impossible Creatures

Der vergiftete König

 

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

 

Über dieses Buch

 

 

Der zweite Band des preisgekrönten Bestsellers aus Großbritannien: Außergewöhnliches Fantasy-Abenteuer voller Fabelwesen und Action ab 10 Jahren

Ein tödliches Gift. Ein falscher König. Ein Mädchen, das alles riskiert.

Als ihr Großvater, der König, einem heimtückischen Attentat zum Opfer fällt, wird Prinzessin Anya zur Gejagten im eigenen Reich. Ihr Vater wird des Mordes beschuldigt und in den Kerker geworfen, während ihr machthungriger Onkel nach dem Thron greift. Gemeinsam mit Christopher, dem Hüter der Fabelwesen, muss sie nun nicht nur ihren Vater retten, sondern das gesamte Archipel vor dem Untergang bewahren.

So actionreich und packend wie »Percy Jackson«, so episch und tiefgründig wie »Die unendliche Geschichte«. Mit dem Riesenerfolg von »Impossible Creatures« wird Katherine Rundell in Großbritannien und den USA als DIE neue Stimme in der Fantasy gefeiert. Ein hochwertig ausgestattetes Buch mit farbiger Landkarte und illustriertem Bestiarium!

»Es gab Tolkien, es gibt Pullman, und jetzt gibt es Katherine Rundell.« Michael Morpurgo

»Ich liebe Katherine Rundells Schreibstil.« Philip Pullman

Platz 1 auf der New-York-Times-Bestsellerliste! 

 

Alle Bände der Archipel-Serie:

Band 1: Impossible Creatures – Das Geheimnis der ungaublichen Wesen

Band 2: Impossible Creatures – Der vergiftete König

Band 3: (erscheint voraussichtlich im Herbst 2026)

Weitere Bände in Vorbereitung!

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de

Biografie

 

 

Katherine Rundell ist eine preisgekrönte Bestsellerautorin aus Großbritannien. Die Archipel-Serie ist ihre erste Fantasygeschichte. Der erste Band, »Impossible Creatures – Das Geheimnis der unglaublichen Wesen«, ist ein Bestseller in Großbritannien und den USA und wurde zum »Buch des Jahres 2024« bei der British Book Awards gewählt.  

Impressum

 

 

Erschienen bei Fischer Sauerländer E-Book

 

Das englischsprachige Original erschien 2025 unter dem Titel »Impossible Creatures – The Poisoned King« bei Bloomsbury Children’s Books, London, UK.

Originaltext © Katherine Rundell, 2025

Illustrationen © Tomislav Tomić 2025

Karte © Virginia Allyn

 

 

Für die deutschsprachige Ausgabe: 

© 2025, Fischer Sauerländer GmbH,

Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: Dahlhaus & Blommel Media Design nach dem Originalcover von Bloomsbury Children‘s Books, London, UK

Coverabbildung: Daniel Egnéus

ISBN 978-3-7336-0629-9

 

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Inhalt

[Widmung]

[Zitat]

Teil I Burg

Eine Warnung vor Beginn

Der Jakulus-Drache

Du wirst dringend gebraucht

Die Reise zum Zwischenweg

Naravirala

Die Prinzessin von Dousha

Der Glimouria-Archipel

Die Grammatik der Vögel

Anyas Fehltritt

Eine königliche Erziehung

Die klebrige Schönheit eines neugeborenen Gaganas

Mord

Der prachtvollste Ball seit Jahren

Wut

Die Jagd nach Gift

Doktorin Ferrara

Der Regent

Im Gemach des Königs

Verbrannt

Vor dem Morgengrauen

Flucht

Der Flug einer Sphinx

Die Heilkraft von Kentikor-Milch

Mal

Süßwasserquelle

Teil II Drachen

Die Insel Glimt

Die Longma-Waise

Ein Festmahl und ein Plan

Der Palast der Zuflucht

Die Drachen mit den roten Schwingen

Die Höhle

Arach

Das Loquillan

Die geheime Tür

Die Bibliothek

Das verbannte Buch

Eine Entdeckung: Austern sehen aus und schmecken wie Schnodder

Versuch eines Gegengifts

Eine Chimäre um Mitternacht

Das heikle und unlösbare Problem der Liebe

Mantikor

Sonne auf Obsidian

Der Sternenturm

Teil III Rache

Immervoran

Himmelsfarben, Feuerfarben

Die geflügelten Einhörner

Armbrust

Der Geschmack von Gift

Christopher im Wald

Die Trauerzeremonie

Anklage

Die unglaubliche Prinzessin

Rache

Argus

Dousha

Der Feueratem der Gerechtigkeit

Fidens Nachthand, Irian Guinne

Das Ende allen Suchens

Die Vergeltung der Drachen

[Announce]

Das Bestiarium des Hüters

Al-mi’raj

Avanc

Batrachomyomachianische Maus

Borametz

Caladrius

Chimäre

Drache

Dryade

Einhorn

Feuervogel

Gagana

Geflügeltes Einhorn

Greif

Harpyie

Herkynischer Vogel

Hippokamp

Jorogumo

Kanko

Karbunkel

Karkadann

Kentaur

Kentikor

Kludde

Kraken

Lavellan

Longma

Mantikor

Meervolk

Najade

Nereiden

Peryton

Phönix

Ratatoska

Salamander

Sphinx

Tarasque

Twrch Tryth

Vogel Roch

Dank

Für Theodore und Phoebe Rundell: zwei unvorstellbar wunderbare Geschöpfe.

»Es brüllt um Rache das Gekrächz des Raben.«

William Shakespeare, Hamlet (1601)

(Übersetzung: August Wilhelm Schlegel)

 

»Kein Tier ist so weise wie der Drache. Seine segensreiche Macht ist kein Trug. Er kann kleiner sein als klein, größer als groß, gewaltiger als gewaltig und geringer als gering.«

Lu Dian (1042–1102 n. Chr.)

Teil IBurg

Eine Warnung vor Beginn

Man hätte es für undenkbar gehalten: dass sie so mutig, entschlossen und zäh wäre und daraus ein derartiges Chaos folgen würde. Niemand hätte gedacht, dass sie eine solche Energie entwickeln könnte.

Sie konnte es, nur schlummerte die Energie tief in ihrem Inneren. Worauf würdest du stoßen, wenn du unter deinem Haus graben würdest? Erde und Würmer. Vergrabene Schätze. Skelette. Wer weiß? Das Mädchen grub tief in ihrem Herzen und entdeckte ihren Rachedurst und ihr Verlangen nach Gerechtigkeit.

Der Jakulus-Drache

Christopher Forrester erwachte, weil ein Drache an seinem Gesicht nagte.

Der Drache, nicht größer als ein Spatz, hätte auf einem Daumengelenk Platz gefunden, und er war von hinreißender silbrig grüner Schönheit. Der Hochmut, der aus seiner Miene sprach, hätte ein Loch durch eine Stahltür brennen können.

Der Drache sprach. »Christopher!«, sagte er. »Du warst nicht gerade leicht zu finden.«

Christopher richtete sich auf. »Jacques?«, sagte er. Er begann, am ganzen Körper zu zittern: teils überrumpelt, teils aus Freude.

Er schlug die Decke zur Seite und sah sich im Zimmer um. Seine Jeans lag auf dem Fußboden; das Fenster bot einen Blick auf eine Londoner Straße. Alles wie gehabt und doch alles anders, weil ein winziger Drache auf seinem Nachttisch saß.

»Jacques!«, wiederholte er. Der Drache war echt, und er war hier, und er biss probehalber in die Glühbirne von Christophers Lampe. »Was gibt’s denn?«

»Ich bin hier, um dich abzuholen«, sagte Jacques. Er schüttelte kleine Scherben von seinem Rücken. »Jetzt. Sofort.«

»Wohin? In den Archipel?«

»Was sonst. Das ist ein Befehl!« Jacques klang herrisch, aber seine Stimme bebte; Furcht schwang darin mit. Der Drache flatterte auf Christophers Hand und biss ihn kräftig in den Daumen. Es blutete. »Du wirst dringend gebraucht.«

Du wirst dringend gebraucht

Christopher schlug das Herz bis zum Hals und immer höher und höher. Er versuchte, seine Aufregung zu dämpfen und ruhig zu atmen. Er schlüpfte in aller Eile in die Jeans vom Vortag.

»Wäre wirklich nett, wenn du mich nicht ständig mit einem kalten Büfett verwechseln würdest«, sagte er zu Jacques. »Was ist denn passiert? Wie hast du mich gefunden?«

»Durch geniale Genialität und mühevolle Mühe. Ich bin nach Atidina geflogen und habe dort im Fluss den Zwischenweg genutzt. War ziemlich nass, und ich hasse Wasser. Schön war es nicht, nein, es war extrem ungemütlich, außerdem hatte ich gedacht, dich in Schottland zu finden, wo der Zwischenweg mündet«, sagte Jacques. »Dort warst du aber nicht. Ich bin deinem Großvater aus dem Weg gegangen und, der Fährte deines Geruchs folgend, nach Süden geflogen. Unterwegs wurde ich von einem Schwarm Tauben und von einer vorlauten Krähe angegriffen. Ich konnte kein Feuer spucken – wollte nicht, um genau zu sein, weil es Menschen auf mich aufmerksam gemacht hätte – und habe gefressen, was diese Riesenkörbe mit verfaulenden Nahrungsmitteln enthalten, die an euren grauen Straßen stehen. Hat ekelhaft geschmeckt. Außer die kleinen Plastikvierecke mit roter Sauce. Die war gaumenkitzelnd.«

Bei genauerem Hinschauen bemerkte Christopher die Ketchup-Spritzer auf den Schuppen unter Jacques’ Kinn.

»Aber warum? Warum bist du hier? Das ist gefährlich für dich.«

»Glaubst du, das wüsste ich nicht? Ich wäre wohl kaum ohne einen triftigen Grund an euren widerwärtigen, stinkrülpsenden, vierrädrigen Mörder-Blechschachteln vorbeigeflogen. Aber ich hatte keine Wahl«, sagte Jacques. Er klackte mit den Zähnen, und sein kleines Gesicht schaute elend drein. »Ich wurde entsandt.«

»Von wem entsandt?«

Jacques war jetzt so angespannt, dass er schwieg. Er atmete aus, entließ aber kein Feuer, sondern beißenden, schwarzen Qualm, der das ganze Zimmer erfüllte. Christopher hetzte zum Fenster, bevor der Rauchmelder losjaulen konnte, und schwang es an den Scharnieren hin und her. »Jacques! Nun erzähl schon!«

Da sprudelte es aus Jacques heraus: »Die großen Drachen sterben zu Dutzenden. Niemand weiß, woran es liegt.«

Entsetzen erfasste Christopher. Er hatte Drachen kennengelernt. Er war ihnen nahe genug gekommen, um ihre Macht spüren zu können, ihre schier unermessliche Intelligenz – nicht wie die menschliche Intelligenz, sondern unvergleichlich viel tiefer und wilder und älter.

»Wie das? Welche Arten?« Nicht die rot geflügelten Drachen, betete er im Stillen.

»Die Eisdrachen im Norden: sechs tot. Im Süden haben die Phönixe zehn gelbe Drachen tot aufgefunden. Zwei Silberschwanz-Familien sind gestorben, ein ganzes Dutzend. Niemand weiß, wie viele es insgesamt sind, aber es sterben immer mehr.«

»Ist es eine Krankheit? Oder … Mord? Aber welches Geschöpf wäre imstande, ein Dutzend Drachen zu töten? Sogar eine Sphinx wäre nicht stark genug. Nicht einmal ein Mantikor.«

»Ich weiß es nicht! Jedenfalls wurde ich von Sarkany, dem großen, rot geflügelten Drachen, auf dem du geritten bist, entsandt, um dich zu holen. Sie hat gesagt, ich müsse dich in den Archipel holen.«

»Und warum ausgerechnet mich?«

»Nur du kommst infrage!« Aus Jacques’ Nüstern wölkte Rauch. »Manche meinen, es sei eine Drachenpest, deshalb wagen es die großen Drachen nicht, einander zu nahe zu kommen. Sie sondern sich aus Furcht vor einer Ansteckung voneinander ab. Die meisten halten es aber für Mord, darum trauen die Drachen weder einem Menschen noch einem Geschöpf aus dem Archipel. Du bist aus den Außenlanden. Sarkany würde dir vertrauen – nur dir.«

Christopher stand am Fenster, eine Hand auf dem Riegel. Die Drachen, ermordet? Er dachte an Sarkany, ihre furchterregende Pracht und donnernden Schwingen.

»Aber was könnte ich schon …«

Jacques schnaubte abermals schwarzen, zornigen Qualm. »Drachen mögen es nicht, von Menschen mit Fragen gelöchert zu werden. Noch eine Frage, und ich lege dein Zimmer in Schutt und Asche. Kommst du mit?«

Sollte er mitkommen? Er würde sich vielleicht in große Gefahr begeben. Und was könnte er schon ausrichten, wenn sogar die unfassbar starken und weisen uralten Drachen ratlos waren? Er war trotzdem begeistert. Er wurde von einem Drachen um Hilfe gebeten! Er wurde aufgefordert, in den Archipel zurückzukehren! Zurück zu den Einhörnern und Drachen, den Longmas und Kankos, zur Glimourie, zum Land von Mal Arvorian!

»Ja.«

Er holte eine kleine Schachtel unter dem Bett hervor. Sie enthielt den Zahn, der ihm von der Sphinx geschenkt worden war, sorgsam in Watte verpackt. Außerdem ein Messer, eine Trinkflasche aus Metall und etwas Proviant: Schokolade, Müsliriegel, Dinge, die sich lange hielten. Er war bereit gewesen. Er hatte gewartet. Er hatte sich insgeheim seit Langem danach gesehnt – nach jemandem, der ihn in den Archipel zurückrief.

Christopher steckte Zahn, Messer und Flasche, Geld und Handy in die Manteltasche. Dann holte er das Handy wieder heraus, schaltete es aus und legte es auf seinen Nachttisch. Er wollte nicht gefunden werden. Er schrieb eine Nachricht für seinen Vater – dieser schlief sicher noch, es war früh am Tag.

Dad, ich muss wieder zum Archipel. Die Drachen brauchen meine Hilfe. Allein diese Worte zu schreiben sorgte für ein elektrisierendes Kribbeln. Sei nicht böse, dass ich dich nicht um Erlaubnis gebeten habe. Mach dir keine Sorgen um mich – mir wird bestimmt nichts passieren. Er strich die letzten Worte durch: ›Mir wird bestimmt nichts passieren.‹ Sinnlos zu lügen. Stattdessen schrieb er: Ich werde auf mich aufpassen, strich aber auch diese Worte durch und schrieb schlicht: Ich habe dich lieb. Christopher.

»Beeilung!«, sagte Jacques.

Christopher zog sein Erdkundeheft aus dem Schulrucksack, es enthielt einen Aufsatz zu einem unbeschreiblich öden Thema: das System der belgischen Autobahnen; außerdem eine dreckige Sportsocke und eine matschige Banane – dann hielt er Jacques den Rucksack hin.

Der Blick des Drachen hätte eine Rose welken lassen. Er hätte einen Regenbogen vom Himmel gehauen.

»In diesem … faulig stinkenden, vergammelt miefenden Dreckloch von Sack lasse ich mich bestimmt nicht transportieren. Ich werde wie gewohnt auf deiner Schulter thronen wie ein mächtiger Kaiser auf seinem Streitross.«

»Unmöglich. Man würde dich sehen.«

»Dann fliege ich auf dem Rückweg wieder in der Deckung der Wolken.«

»Mit der Bahn wäre es schneller und einfacher.« Der winzige Drache wirkte erschöpft, doch Christopher war klug genug, das nicht laut zu sagen.

»Meinetwegen. Aber nicht in diesem Schmutzlappen.«

Christophers Mantel war lang und dick, und die Taschen waren geräumig. »Wie wär’s mit meiner leeren Tasche?«

Jacques beschnüffelte sie. »Besser. Schwer erträglich zwar, aber wenigstens stinkt es darin nicht wie ein kleiner Weltuntergang.«

Christopher hielt die Tasche auf, und der Drache flog hinein. Seine Schuppen fühlten sich heiß und trocken an, die Tasche erwärmte sich rasch.

»Und nun«, sagte der Drache, »brechen wir auf.« Er schnaubte, und eine Wolke Drachenrauch – nun weiß und leicht und fast lieblich – stieg aus der Tasche auf. Es roch, dachte Christopher, nach dem Archipel: nach Glimourie, nach einem weiten Himmel, an dem sich Longmas und Phönixe tummelten, nach den wilden, verzauberten Inseln.

Die Reise zum Zwischenweg

Eigentlich war es eine leichte Sache, wenn auch keine einfache – das sind zwei Paar Schuhe.

Während der Busfahrt zur Euston Station befürchtete Christopher, erwischt und gestoppt zu werden. Jacques trug nicht dazu bei, ihn zu beruhigen, er versuchte ein Kaugummi zu verschlingen, das er in der Manteltasche entdeckt hatte, und war irgendwann vollkommen verkleistert. Dann stieg Christopher in den Zug. Das Ticket kostete ihn die Hälfte seiner Ersparnisse. Jacques bestand darauf, mit Würstchen aus dem Speisewagen gefüttert zu werden, und beschmierte Christophers Mantel fröhlich mit Ketchup. Christopher wiederum dachte unaufhörlich an die Drachen – an ihr unergründliches Wissen und ihre gefährliche Schönheit.

Auf der Fähre erhob sich Christopher vom harten Plastiksitz und ging an Deck. Wegen Wind und Gischt blieben die anderen Passagiere drinnen.

Jacques kam triumphierend zum Vorschein und legte eine kaugummifleckige Klaue auf Christophers Kinn.

»Was tust du da?«

»Ich untersuche dein Gesicht. Wann sind wir uns im Glimouria-Archipel begegnet?«

»Vor fast einem Jahr.«

»Wie ist es dir ergangen? Mit deinem neu erworbenen Wissen, neuen Sorgen und neuen Freuden?«

Christopher lächelte. »Ich träume von ihr.« Er dachte nach wie vor täglich an Mal Arvorian. Er sprach in seiner Vorstellung mit ihr. »Aber ich weiß, sie ist da. Irgendwo. Ich weiß, sie ist irgendwo da draußen.« Sie hatte ihm gezeigt, dass die Welt viel größer war, als er gedacht hatte. Manchmal erwachte er mitten in der Nacht, und bei dem Gedanken an den Archipel erfüllte ihn eine tiefe, unbändige Freude.

»Hast du etwas von den Archipelagiern gehört? Von Nachthand, Irian oder Ratwin, der wohlriechenden Ratatoska?«

Christopher schüttelte den Kopf. »Ich wollte zurückkehren, aber mein Großvater hat mich daran gehindert. Wir müssen ihn irgendwie austricksen. Und mein Vater wird Panik schieben.« Er dachte an seinen liebevollen Vater, stets auf der Hut vor der Welt, und seine Vorfreude wurde durch ein nagendes Schuldgefühl getrübt. »Dein Drachenqualm wird ihn nicht gerade beruhigt haben.«

Jacques schnaubte. »Viele wären begeistert, wenn ein Drache seine Spuren in einem Zimmer hinterlassen hätte. Er sollte es als Gipfel der Innenarchitektur betrachten.«

Nachdem sie an Land gegangen waren, wurde es zunehmend dunkler und kälter. Christopher nahm ein klapperiges, feucht müffelndes Taxi zum Haus seines Großvaters. Die lange Fahrt kostete ihn sein letztes Geld. Als er sah, dass es nicht mehr reichte, bat er den Fahrer anzuhalten und legte den restlichen Weg zu Fuß zurück.

Nach einer Stunde Fußmarsch stand er vor dem Tor seines Großvaters. Er folgte dem Zufahrtsweg, der im schwarzen Schatten der Bäume lag. Jacques saß triumphierend auf seiner Schulter. Das Gefühl der Flügel, die über seinen Nacken schabten, rief Christopher ins Bewusstsein, dass dies die Realität war.

Sobald das Haus in Sicht kam, duckte er sich hinter einen Baum. Dahinter hervorlugend, sah er seinen Großvater Frank am Schreibtisch sitzen, und sein Herz tat einen Satz. Er wäre am liebsten zum Fenster gerannt, um gegen die Scheibe zu klopfen, zu winken – doch er durfte nicht gesehen werden.

Er schlich am Haus vorbei, ging den Hügel hinauf und bis zur Kuppe mit dem See, wo sich der Zwischenweg verbarg, der ihn zum Glimouria-Archipel bringen würde.

Je näher er dem See kam, desto größer wurde die Angst, die sich in seine Sehnsucht und Aufgeregtheit mischte. Immerhin ging es um eine Macht, die sogar Drachen zu töten vermochte, und er war bloß ein Mensch, wie sollte er das überleben?

Oben auf dem Hügel verlangsamte Christopher seine Schritte. Das Wasser des Sees glühte grünlich. Jacques forderte ihn durch einen leisen, wortlosen Ruf auf, sich zu sputen.

Christopher trat an den See. In den Wassertiefen war der grünliche, phosphoreszierende Lichtschein zu sehen. Er zog die Stiefel aus und hängte sie an den zusammengeknoteten Schnürbändern um seinen Nacken. Er zauderte. Jacques spürte sein Zaudern, machte sich bei dieser Gelegenheit aber ausnahmsweise nicht über ihn lustig.

»Du kannst nicht sowohl springen als auch nicht springen, Christopher«, sagte er. »Du musst dich entscheiden.«

Glaube ist paradox, denn er beruht darauf, dass man Undenkbares für denkbar hält, das wusste er von seinem Großvater. Christopher dachte abermals an die Drachen, er fragte sich, welches grausame Wesen Jagd auf sie machte. Er dachte an den Himmel über dem Archipel, an das unfassbare Blau der unfassbaren Gefilde, in die Mal damals aufgeflogen war.

Wenn man etwas wagt, verliert man das Gleichgewicht und damit seinen Halt auf der Welt. Aber nichts zu wagen bedeutet, alles zu verlieren, was es wert wäre, gewonnen zu werden.

»Christopher.« Jacques’ Klauen bohrten sich in seine Haut. »Bitte.«

Drachen betteln nicht. Christopher wich drei Schritte vom Ufer zurück. Dann stieß er einen Schrei aus, einen Schlachtruf der Liebe, und ja – er spurtete los und sprang weit in den See.

Das Wasser war unbarmherzig kalt, es biss eisig in seine Haut. Nach ein paar Beinschlägen erreichte er die Tiefe, wo die Phosphoreszenz um sein Gesicht wirbelte. Er streckte eine Hand danach aus. Als er von einer Strömung erfasst wurde, spürte er einen unerträglichen Druck auf der Brust. Er schluckte Wasser und hatte das Gefühl, zu ersticken.

Christopher wirbelte in der Strömung herum und hielt verzweifelt Ausschau nach der Oberfläche. Er knallte mit dem Kopf gegen einen Felsen und würgte. Er werde ertrinken, schrie seine Lunge. Er strampelte panisch mit den Beinen, dann durchstieß er die Oberfläche, sein Kopf war an der kühlen Luft, und im Dämmerlicht erblickte er am Flussufer ein Gesicht, dessen Blick auf ihn gerichtet war.

Das Gesicht war sowohl menschlich als auch das eines Löwen. Es war uralt und schön. Im Mondschein schimmerte der Rücken des Geschöpfs bräunlich, die Beine waren sehnig und muskulös. Die Schwingen lagen gefaltet an den Flanken. Neben dem Geschöpf lag ein Schwert im taufeuchten Gras.

Es war eine Sphinx.

Christopher kannte das Gesicht. Auf einmal war es egal, dass er an der Stirn verletzt war, dass sein Blut das Wasser rötete. Er zog sich auf das Ufer.

»Naravirala!«, sagte er.

Naravirala

Die Sphinx sprang ihn an. Ein Prankenhieb, und Christopher ging in die Knie. Sie beugte sich über ihn und leckte sein Gesicht.

»Sei willkommen!« Nun leckte sie über den Schnitt auf seiner Stirn. Das stillte die Blutung. Sie nahm seinen Arm ins Maul wie eine Katze ihr Junges und zog ihn auf die Beine. Dann verpasste sie ihm einen so kräftigen Klaps auf den Kopf, dass er beinahe wieder umgefallen wäre.

Christopher lachte und hatte das Gefühl, von den uralten Mächten der Weisheit und Großherzigkeit verdroschen zu werden.

»Naravirala! Was tust du hier?«

»Ich bin hier, um dich auf meinem Rücken nach Sarkany zu tragen.« Sie breitete ihre atemberaubend schönen und weiten Schwingen aus. »Ich wurde von Jacques um Hilfe gebeten.«

»Ich bitte nie«, sagte Jacques und landete auf Christophers Ohr. Er schüttelte sich wie ein Hund, von seinen Schuppen stieg Dampf auf. »Wenn du es wagst, dieses Verb in meiner Biografie zu verwenden, Christopher, dann lasse ich die Unterwäsche, die du am Körper trägst, in Flammen aufgehen. Es war eher eine huldvolle Aufforderung.«

»Er hat schon ein Rätsel gelöst, und das musst du nun auch tun«, sagte die Sphinx.

»Und wenn ich versage?«, fragte Christopher. »Wirst du dich dann weigern, uns zu helfen?«

»Aber gewiss. Ich würde auch erwägen, dich zu verspeisen«, sagte Naravirala. Sie lachte nicht, und Christopher fiel ein, dass eine Sphinx nichts Menschliches hat und auch ihre Logik nicht der menschlichen Logik entspricht.

»Hier kommt dein Rätsel: Was kannst du nur halten, indem du es jemand anderem gibst?«

Christopher starrte die Sphinx an. Geld? Vielleicht die Hand? Und dann betrachtete er Jacques und den unendlich weiten Himmel über dem Archipel, und er begriff. »Dein Wort«, antwortete er. »Ich habe mein Wort gegeben, die Inseln zu beschützen.«

»Gut«, sagte Naravirala. »Etwas, das man nicht leichtfertig tun sollte. Ein Versprechen ist spitz und schwer: Es muss scharf sein wie eine Klinge und wuchtig wie ein Stein.«

»Mein Rätsel«, sagte Jacques selbstgefällig, »drehte sich um die Macht und weitere Eigenschaften von Drachendung. Ich hatte die Antwort sofort parat, wie du dir denken kannst. Naravirala, bist du nun zufrieden? Können wir aufbrechen?«

»Ja. Sarkany liegt auf der Insel Edem, südwestlich von hier.«

»Dann los!«, sagte Christopher. »Ich bin bereit.«

»Halt«, sagte Naravirala. »Eines noch. Ich habe etwas in den Sternen gelesen. Anfangs habe ich es ignoriert, aber im Laufe der letzten Nächte hat es mich immer stärker beschäftigt. Es gibt ein Kind, das in Schwierigkeiten steckt. Ein Mädchen, das vom Tod bedroht wird. Sie ist auf irgendeine Art mit dir und den Drachen verbunden.«

Christopher spürte sein Herz schneller schlagen. »Aber nicht … das Unsterbliche?«

»Nein«, entgegnete die Sphinx. »Dieses Mädchen ist etwas ganz Eigenes. Sie braucht dich, und du brauchst sie. Nur weiß ich nicht genau, wo sie ist – wir müssen sie suchen. Wir könnten natürlich auch beschließen, die Sterne zu ignorieren. Das wurde Tausende Male getan, und manchmal ist es weise.«

»Aber wer ist sie? Und welche Gefahr droht ihr? Was verbindet mich mit ihr?«

»Das weiß ich nicht. Sie ist ein Kind, das Hilfe braucht, mehr kann ich nicht sagen. Das ist das Dumme an den Sternen.« Die Sphinx sah ihn mit einem ironischen Augenblinzeln an. »Sie sind notorisch vage.«

Jacques schnaubte. »Ich verabscheue Sternen-Gequassel. Wenn sie uns etwas zu sagen haben, dann bitte schön verständlich, sozusagen schwarz auf weiß.«

Naravirala überhörte ihn. »Wärst du zu einem Umweg bereit? Das ist kein Befehl, ich frage nur. Es könnte gefährlich werden.«

»Ja, gern«, sagte Christopher. Sollte das Mädchen tatsächlich in Lebensgefahr schweben, dann mussten sie ihr helfen.

Naravirala sah Jacques an. »Und du?«

Das Gesicht des Drachen wirkte unwillig, doch er schnaubte weißen Rauch. »Wir haben die Sphinx um Hilfe gebeten, es ist also nur recht und billig, dass sie uns um Unterstützung bittet.«

»Also ja«, sagte Christopher. »Ja!«

Naravirala nahm das Schwert in ihr Maul und legte es Christopher vor die Füße. »Für dich«, sagte sie. »Die Klinge birgt Hitze und Licht. Sie ist uralt. Sie wurde aus Drachenobsidian gefertigt.« Sie ließ sich auf die Knie sinken, und Christopher schwang sich auf ihren Rücken und ließ sich im Schneidersitz zwischen ihren Schwingen nieder. Heftig pulsierend stemmten sich Naraviralas Muskeln gegen die Schwerkraft, dann flogen sie los.

Die Prinzessin von Dousha

In diesem Moment rannte die Prinzessin der Insel Dousha, Anya Phoebe Cornelia Argen, Herzogin der Silberberge, Komtess des Flügelwalds, über die Dächer ihrer Burg – mit Dreck unter den Fingernägeln und Blut auf der Lippe. Ein Dutzend königlicher Gaganas begleitete sie. Es herrschte Abenddämmerung, und die goldenen Schnäbel der Vögel glitzerten im letzten Tageslicht.

Im dunkelsten Winkel des Dachs bewegte sich etwas. Anya erstarrte und flüsterte: »Wer da?«

Doch es war nur Coren, ein junger Gagana mit struppigem Gefieder, selbstbewusst wie ein König. Es flatterte auf ihre Schulter. »Beeilung. Er kommt die Treppe herauf.«

Anyas Zimmer befand sich ganz hinten im Westflügel. Wenn sie aus dem Fenster auf die Brustwehr glitt, hatte sie einen Blick auf die herrschaftlichen Gärten, die tiefer gelegenen Dächer und die laute Stadt, sie konnte sogar den Ozean sehen, wo die geflügelten Einhörner badeten.

An diesem Abend war Anya nicht wegen des Ausblicks draußen. Sie war draußen, um einen Tod zu verhindern.

Sie war von Gallia gewarnt worden. Die alte Gagana-Dame war vorhin durch das Fenster hereingeflogen und hatte so schrill und panisch gekrächzt wie noch nie. »Das Ei! Anya! Er will das Ei rauben!«

Eine Wache – ein Fremder, Gallia hatte ihn noch nie gesehen – hatte einen Gagana mit der Armbrust abgeschossen. Das war eine beispiellose Tat, denn königliche Gaganas waren gesetzlich geschützt.

Der Soldat hatte zufrieden genickt und zu seinem Kameraden gesagt: »Und jetzt hol das Ei. Dafür bezahlt er uns schließlich.«

Wer würde für ein Gagana-Ei töten? Das war unfassbar! Die Gaganas waren nicht bloß Vögel, sie waren Anyas Freunde und liebste Gefährten. Sie waren so weise wie nur irgendein Mensch – weiser als die meisten, wie Anya dachte. In dieser Burg, deren Alltag auf Regeln und Vorschriften fußte, erfüllten sie die Luft mit Licht und Gesang und dem Rauschen ihrer Flügel.

Das Ei gehörte Felin, die nun tot am See der Burg lag. Der See war von hier aus nicht zu sehen. Anya kannte Felin nicht gut, wusste aber, wo sie nistete: Auf einem Schornstein am äußersten Rand des Westlichen Karrees, denn dort war es warm.

Sie rannte tief geduckt über das Schieferdach, das auf dieser Seite zum Burghof abfiel. Hier war sie noch nie gelaufen, und sie hatte ein flaues Gefühl im Magen, während ihre Füße nach Halt suchten.

»Vorsicht«, sagte Gallia. Der alte Vogel, der dicht über ihrem Kopf geflogen war, landete in ihren Haaren. »Der Schiefer!«

Zu spät. Anya trat auf eine lose Platte, die sich löste, in die Tiefe fiel und krachend aufprallte. Doch Anya Argen war nicht umsonst darauf gedrillt worden, stundenlang in einer Pose zu verharren. Sie konnte mit einem Buch auf dem Kopf Pirouetten drehen; ihr Gleichgewichtssinn war unerschütterlich. Sie fing sich und ging in die Hocke.

»Beeilung!«, rief Coren. »Er kommt immer näher!«

Anya tastete sich weiter, und da war das Ei: klein, silberig, zart wie mundgeblasenes Glas. Sie nahm es, als wäre es das kostbarste Porzellan auf der Welt, und vor Erleichterung ging ihr das Herz auf. Dann machte sie kehrt, um in ihr Zimmer zurückzueilen.

Die Falltür auf dem Dach erbebte. Ein Knarren, dann wurde sie angehoben.

Sie ließ sich mit einem leisen Schrei auf den Bauch fallen und presste sich auf den Stein. Der Schatten bot Deckung, aber nicht genug. Man würde sie erwischen. Man würde ihr das Ei abnehmen.

Die Falltür wurde aufgeklappt. Anya fluchte. Der Soldat ließ seinen Blick über das Dach schweifen.

Anya wartete, bis sein Kopf komplett aus der Falltür ragte. Dann rief sie: »Coren! Attacke!« Coren stieß einen schrillen Schrei aus und ging auf die Augen des Mannes los. Der Mann brüllte auf.

Anya rief: »Gemeinsam! Jetzt!« Daraufhin stiegen alle um sie versammelten Gaganas auf und schossen auf ihn zu. Er brüllte wieder und tauchte in der Falltür ab – und Anya rannte zurück in ihr Zimmer, das Ei gegen die Brust gedrückt.

Auf ihr Bett gekauert, untersuchte sie das Ei. Es war unversehrt, sie konnte keinen Riss entdecken.

Anya pustete auf das Ei, um es zu wärmen. Sie würde ihrem Vater alles erzählen, dachte sie, sobald seine herrschaftlichen Pflichten dies erlaubten. Er liebte die Gaganas. Er wüsste, was zu tun war. Das wusste er immer.

Sie tastete nach ihrem Anhänger: eine kleine Silberscheibe, die sie von ihrer vor zehn Jahren verstorbenen Mutter geerbt hatte. Anya nahm die Kette nie ab. Es tröstete sie, den Anhänger zu berühren; als Baby hatte sie daran gebissen. Und sie biss auch jetzt sanft darauf.

Irgendetwas war faul in der Burg Argen. Was sich gerade zugetragen hatte, war ein weiterer Beweis dafür.

Der Glimouria-Archipel

Anyas Heimat war der sonnenhelle, südlichste Teil des Glimouria-Archipels.

Im Archipel waren siebenunddreißig Drachenarten zu finden und Meerfrauen mit schillernden, sieben Meter langen Schwanzflossen. Im Ozean lebten Behemoths, die ein Dutzend Menschen auf einmal fressen konnten, und auf der Sphinx-Halbinsel (ein einfallsloser Name, wie Anya fand) waren Sphinxe zu Hause.

Die Sphinxe schrieben mit ihren Krallen in das Berggestein: Mathematik, Astronomie und Geschichte, sie ritzten sogar Witze ein, die leider unübersetzbar waren.

Zu den historischen Fakten, die sie so festhielten, gehörte auch die Geschichte der Insel Dousha und der Familie Argen: die letzte Königsdynastie des Archipels.

Die Insel Dousha wurde seit über tausend Jahren von Königen oder Königinnen aus der Familie Argen regiert. Gleich zu Beginn ihrer Herrschaft war die Burg Argen erbaut und komplett versilbert worden; Schmiede hatten das Metall hauchdünn geklopft und auf jedem einzelnen Stein befestigt. Wie es in den Annalen hieß, war sie von atemberaubender Schönheit gewesen. Wenn auch nicht sehr praktisch. Die Sonne hatte das Silber aufgeheizt, sodass das Gras Feuer fing und das Gefieder der Vögel in den Gärten zu kokeln begann.

Inzwischen war das Silber durch den Zahn der Zeit, durch Regen und Diebstahl fast verschwunden. Dennoch war die Burg noch mit Silber gesprenkelt, und aus der luftigen Perspektive eines Phönix betrachtet, glitzerte sie nach wie vor im Mondschein.

Es war ein merkwürdiges Jahr gewesen. Das Heer war immer größer geworden, in den Straßen sah man ungewöhnlich viele Soldaten. Eigentlich hätte auf Dousha längst Frühling sein sollen, aber der Schnee hatte sich hartnäckig gehalten. Der Himmel wirkte unruhig. Die Menschen meinten, das verheiße nichts Gutes.

Der jetzige König, Seine Majestät Halam Argen, war gerade siebzig geworden. Er hatte einen herrischen Kiefer, einen schmalen Mund und Falten, die von lebenslangem Stolz und von Skepsis zeugten.

Anya Argen – mit Haaren, dunkelblond wie ein fahler Mond, braunen Augen und Gagana-Narben an jedem Finger und überall auf den Unterarmen – war seine Enkelin.

Als sie das Ei zum Feuer trug, um es dort zu wärmen, ahnte sie nicht, dass sich ihr Leben bald verändern würde – von Grund auf und für immer.

Die Grammatik der Vögel

Anya lebte in der Burg, aber das war nicht immer so gewesen. Tatsächlich hätte sie diese liebend gern in Flammen aufgehen lassen, wenn sie die Möglichkeit und genügend Streichhölzer zur Hand gehabt hätte.

Bis vor einem Jahr hatte sie mit ihrem Vater in einem Haus aus Sandstein gelebt, das in den tiefen Wäldern jenseits der Burg Argen stand. Dort sausten geflügelte Einhörner über die Baumwipfel, um im großen See zu trinken. Als Baby hatte Anya einmal versucht, eines zu streicheln, und wäre sie von Gallia nicht bei den Haaren weggerissen worden, dann wäre sie nach allen Regeln der Kunst zerfleischt worden.

Man sah Anya niemals ohne die königlichen Gaganas mit ihren goldenen Schnäbeln, silbernen Krallen und ihrem schimmernden schwarzen Gefieder. Manchmal war es nur Gallia, ihre ständige Begleiterin; manchmal ein halbes Dutzend junger Vögel, deren Kopf und Nacken noch flaumig waren. Coren hatte ihr in einem Anfall übermütiger Freude die Spitze eines Ohrs abgebissen. Er hatte sich nicht bei ihr entschuldigt. »Im Gegenzug für meine Freundschaft steht mir ein winziges Stückchen deines Ohrs zu. Es war ja nur ein klitzekleines Appetithäppchen.« Über Nacht saß der ganze Schwarm, gut dreißig Vögel, auf ihrem Bettgestell und den Vorhangstangen.

Die Gaganas waren nicht ganz einfach. Das Fenster musste zu jeder Zeit geöffnet sein, sogar bei Schnee. Außerdem, das konnte Anya nicht bestreiten, müffelten sie etwas. Trotzdem waren sie die größte Freude ihres Lebens. Kinder verirrten sich selten in den Wald, daher waren die Vögel in ihrer Kindheit ihre besten Freunde. Sie waren die Geschöpfe, die sie am innigsten liebte, jedenfalls nach ihrem Vater. Und ihre Liebe wurde erwidert, ungestüm, auf Vogelart. Corens Schnabel war ihr Wecker, und Gallia biss behutsam die Spitzen ihrer Haare ab, sie musste also nie zum Friseur.

Und vor allem waren die Vögel ihre Lehrer und Lehrerinnen.

»Ich möchte«, hatte ihr Vater zu den Gaganas gesagt, »dass Anya eine andere Bildung erhält als ich, eine, die mit der Geldgier des Königshofs nichts zu tun hat. Wollt ihr sie unterrichten?«

Also war sie von den Vögeln in Geschichte, Philosophie und Mathematik unterrichtet worden. Sie hatten ihr auch die uralten, fröhlichen, überschwänglichen Gagana-Lieder beigebracht, die von Burgen und Drachen und Rache handelten. Die Vögel hatten sie den Schwertkampf gelehrt, indem sie zu dritt und mit angespitzten Stöcken im Schnabel gegen sie gekämpft hatten. »Ich muss nicht zur Schule«, pflegte Anya zu sagen, »ich habe ja die Vögel.« Sie wurde den für die Gaganas typischen Tonfall nicht mehr los, daran hatte sogar der kürzliche Sprachunterricht nichts ändern können. Außerdem sah sie selbst irgendwie vogelartig aus: Ihre Hände und Füße waren lang und geschmeidig, ihr Blick erfasste alles im Nu.

Ihr Vater, Argus Argen, war der älteste Sohn und Thronfolger des Königs, träumte aber davon, Botaniker zu sein. Er war groß und lächelte viel, und wenn er redete, schien er Funken zu sprühen. Anya hatte ihm von Kindesbeinen an geholfen, neue Hybriden zu züchten und aufzupäppeln. Etwa eine Rosenbrennnessel mit Blütenblättern, die ein herrliches Kribbeln auslösten, oder ein Löwenmäulchen, das Fingerkuppen abbeißen konnte. Gemeinsam züchteten sie Haarkresse, die die Haare täglich zweieinhalb Zentimeter wachsen ließ, und Honigblätter, die man sich aufs Toastbrot legen konnte. Anya hatte gerade laufen gelernt, da durfte sie ihrem Vater schon zur Hand gehen – ihm richtig helfen, nicht nur zuschauen, sie durfte beschneiden, kappen und pflanzen. Gemeinsam kreuzten sie siebenunddreißig Pflanzen miteinander, um Froschkraut zu züchten, mit dem man sensationelle zehn Minuten unter Wasser atmen konnte – aß man zu viel davon, dann sorgte es, wie Anya schmerzhaft feststellen musste, aber für einen unangenehmen Ausschlag am Po.

Argus beschützte jedes Lebewesen, das den Garten durchstreifte. Er weigerte sich sogar, Schnecken zu töten. »Wir sind mit allem Leben verwoben«, sagte er, »alles, was lebt, ist heilig.«