In 13 Jahren - Robert Stretfield - E-Book

In 13 Jahren E-Book

Robert Stretfield

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Beschreibung

Von idyllischen Landschaften und harmonischen Lebensentwürfen über historische Ereignisse bis hin zu schrecklichen Katastrophen, mysteriösen Einrichtungen und Aliens mit fragwürdigen Absichten: Liebhaber vielschichtiger Literatur kommen bei diesem Roman ebenso auf ihre Kosten wie Fans anspruchsvoller Science Fiction. Als Leser dürfen Sie sich auf eine Fülle von Denkanstößen und unerwarteten Wendungen freuen. Ob Technologien aus der Zukunft, außergewöhnliche Menschen, kaltherzige Aliens oder wundervolle Orte – "In 13 Jahren" ist ein Muss für jeden, der atemberaubende Spannung zu schätzen weiß.

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In 13 Jahren

Robert Stretfield

Science Fiction Roman

Alle Rechte, insbesondere aufdigitale Vervielfältigung, vorbehalten.

Keine Übernahme des Buchblocks in digitaleVerzeichnisse, keine analoge Kopieohne Zustimmung des Verlages.

Das Buchcover darf zur Darstellung des Buchesunter Hinweis auf den Verlag jederzeit freiverwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung desCoverbildes ist nur mit Zustimmungder Coverillustratorin möglich.

Die Bilder im Buchblock sind urheberrechtlichgeschützt und dürfen nur mit Zustimmungdes Künstlers verwendet werden.

Alle im Buch vorkommenden Personen, Schauplätze,Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden.

Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oderEreignissen sind rein zufällig.

www.net-verlag.de

Erste Auflage 2022

© Text: Robert Stretfield

© Coverbild: Robert Stretfield

Covergestaltung: net-Verlag

© Bildmaterial: Robert Stretfield

© net-Verlag, 09117 Chemnitz

printed in the EU

ISBN 978-3-95720-347-2

eISBN 978-3-95720-348-9

Inhalt

Vorwort

1. Kapitel In absoluter Dunkelheit

2. Kapitel Im Jahr 1348 nahe Florenz

3. Kapitel Licht im Dunkeln?

4. Kapitel Der florentinische Hochsommer 1348

5. Kapitel Unter der Oberfläche

6. Kapitel Der Zufluchtsort der florentinischen Flüchtlinge

7. Kapitel 29. Juli 1918 – mitten auf dem Atlantik

8. Kapitel England, nahe der Mündung der Themse

9. Kapitel Erste Enthüllungen im Konferenzraum

10. Kapitel Florida im Januar 2021

11. Kapitel Mexiko im Jahr 1520

12. Kapitel Die Rückkehr nach Florenz

13. Kapitel Der Teufelsplanet

14. Kapitel Sonnenfinsternis und Asteroideneinschlag

15. Kapitel Der Reserveplanet

16. Kapitel Die versiegelten Akten

17. Kapitel Florida im Februar 2021

18. Kapitel Gravitationstechnologien und ihre Vorteile

19. Kapitel Das geheime Treffen

20. Kapitel Eine inspirierende Bergwanderung

21. Kapitel Die Angriffsstrategie

22. Kapitel Unerwartete Neuigkeiten

23. Kapitel Ein aufschlussreiches Mittagessen

24. Kapitel Wenn blühendes Leben zur Bedrohung wird

25. Kapitel Alarmstufe: Grau

26. Kapitel Venedig im Jahr 2027

27. Kapitel Der große Speisesaal

28. Kapitel Der erste Kontakt

29. Kapitel Die Krisensitzung

30. Kapitel Die Bahnung neuer Wege

31. Kapitel Der Mond im Jahr 2031

32. Kapitel Viel Arbeit in der Angriffszentrale

33. Kapitel Die Mittagspause

34. Kapitel Die Neuausrichtung

35. Kapitel Eine schmerzhafte Entscheidung

36. Kapitel Unruhige Zeiten

37. Kapitel Andron kommt

38. Kapitel Auf der Erde – in naher Zukunft

39. Kapitel Katastrophale Entwicklungen

40. Kapitel Der zweite Kontakt

41. Kapitel Moderne Schlachten

42. Kapitel Verloren im intergalaktischen Raum

43. Kapitel Das intergalaktische Rad

44. Kapitel Die große Wiedersehensfeier

45. Kapitel Ein schicksalhafter Tag

46. Kapitel Traum oder Wirklichkeit?

Autorenbiografie

Vorwort

Mit dem ersten Buch der Science-Fiction-Reihe kreiert der Schriftsteller eine neue Science-Fiction-Welt ganz eigener Prägung: In dem Werk liegen Schönheit und Gefahr ebenso nah beieinander wie Genuss und Leid – als ob ein gutes Menü ohne eine bittere Pille nicht möglich wäre.

Dementsprechend dürfen sich Romanliebhaber bei »In 13 Jahren« auf ein in unzähligen Stimmungsnuancen schillerndes Lesevergnügen freuen, in dem der Autor bittersüße Eindrücke des Lebens an sich verarbeitet. Und dieses spannende Lesevergnügen hat mit dem ersten Band gerade erst begonnen …

1. Kapitel

In absoluter Dunkelheit

»Wie lange benötigen wir noch, um unser Ziel zu erreichen?«

»Lumbundo, Sie stellen die falsche Frage. Viel eher sollten Sie besorgt sein, ob rechtzeitig diejenigen Bedingungen vorherrschen werden, die wir für den Erfolg unserer Mission benötigen.«

Lumbundo zog die Brauen hoch, schloss die Augen und atmete tief durch. Diese unzufriedenstellende Antwort hatte der Wissenschaftler und preisgekrönte Kampfsportexperte nun doch nicht erwartet. Er empfand den Kommentar jedoch keineswegs als respektlos, sondern vielmehr als entwaffnend ehrlich – und ausgesprochen beunruhigend. Obwohl ausgedehnte Diskussionen nicht zu dem zählten, was er als zielführend erachtete, erforderte Russels Unheil bergende Feststellung doch geradezu eine Fülle von Rückfragen. Um ihm Freiraum bei einer detaillierten Erläuterung zu geben und um das Wichtigste des aktuellen Problemstands möglichst schnell in Erfahrung zu bringen, entschied sich Lumbundo, einen einfachen und zugleich herausfordernden Satz an Russel zu richten: »Ich bin in den letzten drei Jahren davon ausgegangen, dass unser Jahrtausende währendes Projekt vor einem glanzvollen Abschluss steht.«

»Wissen Sie, Lumbundo, als Leiter dieser Unternehmung muss ich insbesondere die Probleme im Blick haben. Und von diesen haben wir wahrlich mehr als genug. In der Tat ist die aktuelle Entwicklung unserer strategischen Maßnahmen vielversprechend. Doch was unsere Vorfahren taten …, das war eigentlich nicht weniger vielversprechend.«

Lumbundo sah Russel fragend an, aber dieser blieb den zweiten Teil seiner Antwort keineswegs schuldig: »Wie Ihnen bekannt ist, waren die Eingriffe und vorbereitenden Arbeiten unserer Vorgänger oft erfolgreich. Doch diese Erfolge waren nie wirklich nachhaltig. Das liegt einfach daran, dass wir es mit einem System zu tun haben, das äußerst komplex ist. Zudem scheint es nicht nur auf unsere Eingriffe zu reagieren und diese zu kompensieren – wir haben zunehmend Hinweise darauf, dass es Gegenmaßnahmen Dritter sind, die unsere Zielsetzungen immer wieder vereitelt haben.«

Lumbundo war überrascht, das hatte er nicht erwartet. Nun wollte er es von Russel doch genauer wissen: »Habe ich das richtig verstanden, Sie gehen von spontaner Regeneration oder sogar von kompensierenden Eingriffen Dritter aus? Unserem technischen Niveau ebenbürtig? Wenn das stimmte, wäre tatsächlich mehr als unsere Mission in Gefahr – das ganze politische Machtgefüge wäre infrage gestellt …«

Wie es sich für eine Führungsperson gehört, blieb Russel – zumindest ließ er sich keine Regung anmerken – gelassen. Er erwiderte in sachlichem Ton: »Ich sehe es genauso wie Sie. Lassen Sie uns hoffen, dass unsere neueste Entwicklung so schnell und effektiv wirkt, dass sie sich einfach nicht aufhalten lässt. Dann finden wir bei unserer Ankunft die Situation vor, die wir für unsere weiteren Aktivitäten benötigen.

2. Kapitel

Im Jahr 1348 nahe Florenz

Vater und Tochter standen am Fenster ihres Landhauses und starrten gebannt auf das dekorative Pflaster, das den kleinen Park ihres Anwesens zu einer ausgesprochen eleganten Oase der Entspannung werden ließ. Doch es war nicht etwa die Perfektion des Ortes, die den Anlass zu dieser Faszination gab. Nein, es war vielmehr das Gegenteil davon. Das Pflaster war an verschiedenen Stellen uneben und ermöglichte es dem Regenwasser, sich zu kleinen Lachen zu sammeln. Und eben eine dieser Pfützen war tief und breit genug, damit ein prächtiger Amselherr diese als komfortable Badewanne nutzen konnte. Er sprang ins erquickende Nass und wieder hinaus, er schlug mit seinen Flügeln auf das Wasser, er trank, er putzte sich – kurz: Er genoss das Leben.

Es war die Unbefangenheit seines Tuns, die Vater und Tochter auf andere Gedanken kommen ließ. Und das war aufgrund der ganzen Situation wahrlich nur schwer möglich.

»Das ist ein schönes Schauspiel, das seinesgleichen sucht, nicht wahr, meine Tochter?« Als er das sagte, kamen ihm die Tränen und tropften auf das Parkett des Salons, dessen geschmackvolle Einrichtung unter normalen Umständen triste Gedanken geradezu unmöglich gemacht hätte.

»Ja, Vater, das ist ein schönes Naturschauspiel, das sogleich für gute Laune sorgt! Doch wieso weinst du wieder?«

»Ach, Tochter, wir sind hier und können die Natur betrachten, gut essen und sicher schlafen – doch meine liebe Frau, deine dich liebende Mutter … und dein Bruder … sie haben es nicht geschafft.«

»Auch ich habe die Polizeieinheiten gesehen, welche gleich hinter unserer Kutsche die Straße abgeriegelt haben. Aber Mutter und Bruder werden sie wohl nichts getan haben, oder?«

»Nein, Tochter. Sie werden unsere Familie wohl nur zurück nach Hause geschickt haben. Doch du weißt, unser Stadthaus ist inmitten der roten Zone. Dort wütet die Pestilenz ganz fürchterlich. Die Menschen, die in diesem abgeriegelten Bereich bleiben müssen, sind besonders gefährdet. Viele werden es nicht schaffen.« Bei den Worten setzte er sich auf einen prunkvollen Stuhl und tupfte sich die Tränen ab.

»Du denkst, dass wir meinen Bruder und die Mutter nicht wiedersehen werden?«

»Ich weiß es nicht. Ich hoffe aus ganzem Herzen, dass wir sie wieder in unsere Arme schließen können. Auf alle Fälle weiß ich, dass der Himmel nicht nur erfrischenden Regen schickt, sondern auch schreckliche Krankheiten. Doch warum jetzt? Warum haben wir ganz plötzlich eine Seuche mitten unter uns, die fast 600 Jahre lang ausgerottet war? Gerade dann, wenn der Handel floriert, wenn es den meisten Menschen gutgeht und wenn Wissenschaft, Kunst und Kultur in voller Blüte stehen. Es ist fast so, als wollte uns das Schicksal allzu viel Gutes einfach nicht gönnen.«

Der Tochter traten auch die Tränen aus den Augen, aber sie schlug sie nieder. »Ich sehe es genauso wie du, Vater. Ach, es ist einfach nur schrecklich! Erst kommen die Ratten, dann die Flöhe und nur wenige Wochen danach sterben so viele Menschen auf einmal!«

Beide sahen wieder zur Amsel hinaus, die es sich gerade unter einem Dachvorsprung gemütlich gemacht hatte. Hier war es sicher und trocken. Gerade richtig, um sich das Gefieder zu putzen, glattzustreichen und sich auf einen befreienden Flug im Sonnenschein vorzubereiten.

3. Kapitel

Licht im Dunkeln?

Der Konferenzraum

Lumbundo und Russel hatten gemeinsam ein Treffen anberaumt. Allerdings sollten die Wissenschaftler und Entscheidungsträger, die für das Gelingen des Jahrtausendprojektes unentbehrlich waren, nicht einfach nur über die aktuelle Problemlage informiert werden. Die beiden Führungspersönlichkeiten wollten Erfahrungen austauschen, zukünftige Probleme im Vorfeld sichtbar machen und – so schauderhaft es bei näherer Betrachtung sein mochte – wirklich nachhaltige Lösungen entwickeln.

Lumbundo hatte seinen gesamten Stab mitgebracht, darunter Ärzte, Physiker und Mathematiker. Besonders wichtig war ihm auch die Anwesenheit von Psychologen, Mikrobiologen und Biotechnologie-Spezialisten. Ein Evolutionsbiologe war ebenfalls zugegen. Und Russel wollte es sich als Leiter der gesamten Mission zum richtigen Zeitpunkt nicht nehmen lassen, den Teilnehmern des Treffens einen Einblick in seine überwältigenden Informationssammlungen und fortschrittlichen Überwachungstechnologien zu geben.

Zu seinen Leuten zählten Militärstrategen ebenso wie Programmierer, Analysten und diverse Fachberater.

Russel ergriff als Erster das Wort: »Zunächst einmal möchte ich Sie hier in unserer fachübergreifenden Runde begrüßen. Nach meinem letzten Gespräch mit dem Leiter unserer Abteilung für spezielle Angelegenheiten, Felix Lumbundo, habe ich mich zu diesem Schritt entschlossen.«

»Gibt es einen konkreten Anlass?«, fragte Regard, der ranghöchste Militärstratege der Runde.

»Dieser ist in der Tat vorhanden«, entgegnete Russel. »Ich stimme mit Lumbundo überein, dass wir immer weniger Zeit haben, um unsere Aufgaben rechtzeitig und vor allem erfolgreich zu erfüllen. Momentan stellt sich die Situation für mich so dar: Wir haben uns einen Plan für die Transformation eines Systems zurechtgelegt. Dieses System reagiert jedoch auf unsere Maßnahmen. Und das tut es immer schneller und effektiver. Wir möchten sogar Eingriffe Dritter nicht mehr ausschließen.«

Regard entgegnete: »Das ist allerdings erstaunlich – und besorgniserregend. Wie können wir diesen Fehlentwicklungen entgegenwirken?«

»Nun, zunächst wird Sie Lumbundo auf den neuesten Stand in Sachen Biotechnologie bringen. Im Anschluss haben wir uns beide überlegt, dass es sinnvoll wäre, die Fehlentwicklungen der letzten Jahrhunderte und deren wahrscheinlichste Ursachen durchzugehen. Schließlich stellen unerwartete Fehlschläge den Grund für unsere Mission dar. Die Welt hat sich für Nachhaltigkeit entschieden – sorgen wir dafür, dass sie diese in unserem Sinne auch bekommt.«

Das war das Stichwort für Lumbundo, der Russels Aufforderung gerne nachkam. Fraglos war ihm der Erfolg der gemeinsamen Unternehmung genauso wichtig wie seinem Missionsleiter. Er begann mit fester Stimme: »Ich möchte meine Ausführungen mit der Skizzierung einiger Grundlagen beginnen, da nicht sämtliche Teilnehmer auf den Gebieten von Genetik, Gentechnik und deren praktischer Anwendung für unsere Zwecke bewandert sind. Allerdings wissen Sie alle, wie wichtig diese Arbeitsfelder für unser Vorhaben sind: Wir möchten unsere Zielsetzungen möglichst gewaltfrei und insbesondere ohne Verluste von Humankapital in unseren Reihen umsetzen. Dazu bedient sich unsere Fachabteilung nicht nur fortschrittlicher technischer Hilfsmittel. Unser Metier sind Bakterien, Viren, mRNA und weitere vielversprechende Forschungsobjekte der Mikrobiologie, die nicht selten Jahrtausende alt sind.«

4. Kapitel

Der florentinische Hochsommer 1348

Das wunderschöne Landhaus mit seinem entzückenden kleinen Park war ein verlässlicher Zufluchtsort für Vater und Tochter geworden. Die Sonne schien hoch am Himmel, die Grillen zirpten, und die Bäume des Anwesens boten ein zauberhaftes Spiel von Licht und Schatten, das selbst die heißesten Tage zu einem angenehmen Erlebnis machte. Doch plötzlich unterbrachen glockenhelle Rufe das Konzert der Grillen, die keinen einzigen Ton mehr von sich gaben – als wüssten sie die Tragweite dessen abzuschätzen, was sich in den kommenden Stunden und Minuten ereignen sollte.

»Vater, Vater! Es gibt Neuigkeiten. Ein Bote ist angekommen. Er bringt Kunde aus Florenz – aus der roten Zone. Vielleicht weiß er Neues von Mutter und Bruder zu berichten.«

Dem Vater, der im Salon bei einer Tasse Tee Entspannung suchte, entging kein einziges Wort, das seine Tochter rief. Blitzschnell war er im Garten. Gerade als er die Delle des geschmackvoll gestalteten Pflasters erreichte, welche vor wenigen Wochen eine Amsel für ihr Badevergnügen genutzt hatte, stieß er beinahe mit seiner Tochter zusammen: »Beruhige dich, Liebes, und erzähle mir alles der Reihe nach!«

»Vater, soeben habe ich mit unserer Nachbarin, Fräulein Augustine, gesprochen. Vor einer halben Stunde ist ein Bote eingetroffen, der Neuigkeiten aus dem florentinischen Sperrgebiet zu berichten weiß.«

»Ein Bote, bist du sicher? Ein offizieller Repräsentant der Stadtregierung … und er hat persönlich mit ihr gesprochen?«

»Nein, Vater. Direkt gesprochen haben die beiden nicht. Sie war nur dabei, als er im Galopp angeritten kam, in Windeseile auf dem Marktplatz abstieg und nach dem Arzt des Dorfes verlangte. Dabei gab er allerhand Neuigkeiten zum Besten. Etwa, dass die Behörden in der roten Zone Feuer gelegt hätten, um weitere Ansteckungen zu verhindern.«

»Tochter, mir schwant Fürchterliches. Wieso verlangte der Reiter denn nach einem Arzt?«

»Fräulein Augustine sagte, er hätte Blut gespuckt, vermutlich weil er überanstrengt wäre.«

»Liebes, schlimmer hätte es nicht kommen können. Nun haben wir die Seuche bei uns. Wenn jemand aus der Nähe der roten Zone kommt und Blut spuckt, dann hat er höchstwahrscheinlich die Lungenpest, und es geht mit ihm zu Ende! War Augustine in unmittelbarer Nähe des Reiters, und bist du ihr etwa zu nahe gekommen?

»Nein, ich sprach mit ihr aus einiger Entfernung. Uns trennten Zaun und der kleine Bach, der unser Grundstück durchfließt. Auf dem Marktplatz kam Augustine dem Boten jedoch ziemlich nahe, da sie neugierig war.«

Der Vater wurde deutlich unruhig. Seine Gedanken kreisten. »Meine liebe Tochter, so traurig es ist – wir müssen unser Anwesen verlassen und weiterziehen«, sagte er, nachdem er einen Entschluss getroffen hatte.

»Aber Vater, was wird aus Mutter und Bruder? Und wohin sollen wir gehen?«

Ihr Vater stellte sich vor die Tochter. Er sah auf sie hinab, strich ihr eine Strähne aus der Stirn und sprach: »Du erinnerst dich sicher noch, was deine Mutter uns zurief, als wir getrennt wurden?«

»Ja, sie sagte: ›Geht und bringt euch in Sicherheit!‹«

»Und genau das werden wir tun, Tochter. Du bist deiner Mutter und mir viel zu lieb und teuer. Also sollst du kein sinnloses Opfer einer tödlichen Seuche werden. Komm, bereite alles vor! Wir brauchen Proviant. Bitte verliere nicht unnötig Zeit mit unwichtigem Reisegepäck und nimm nur das Nötigste mit! Alfred soll die Pferde vor die Kutsche spannen und sich ebenfalls vorbereiten!«

So malerisch das Landhaus auch sein mochte – zweifelsohne hatte der Bote die Pest ins Dorf eingeschleppt. Der Aufenthalt im nahegelegenen Familienanwesen wurde daher von Minute zu Minute gefährlicher. Das war dem Familienoberhaupt mehr als klar. Er fragte sich, warum die Leute auch so unvernünftig waren und weder Abstand zu Fremden hielten noch die Quarantänebestimmungen der Obrigkeit beachteten. So würde die Seuche noch lange unkontrolliert weiter wüten, viele kluge und fleißige Köpfe dahinraffen und die Lebensbedingungen aller auch nur im Ansatz betroffenen Menschen nachhaltig verschlimmern. Solange es möglich war, sich in sichere Gebiete zu flüchten, würde er bis an das Ende der Welt reisen, um seiner Tochter ein menschenwürdiges Aufwachsen zu ermöglichen. Schließlich war sie das Einzige, das ihm von seiner Frau geblieben war.

5. Kapitel

Unter der Oberfläche

Es war ein fantastisches Panorama, das die unzähligen Sterne der Milchstraße boten. Wie edle Perlen aneinandergereiht und zur Mitte hin zu einem dichten milchigen Funkeln verschmelzend. Sie bildeten einen reizvollen Kontrast zu den bizarren Felsformationen am Boden, die kaum Schatten warfen und wie stumme Boten unheilvoller Ereignisse wirkten. Selbst dem besten Bühnenbildner wäre es schwergefallen, eine solche Kulisse künstlich nachzubilden. Und ein dort stehender Beobachter wäre von dem Widerstreit zwischen Licht und Dunkelheit hingerissen gewesen – wenn es denn einen solchen Zeugen gegeben hätte.

Doch so fesselnd das Naturschauspiel an der Oberfläche auch sein mochte – viel entscheidender war, was sich darunter verbarg. Ein Geologe hätte allerdings seine Mühe, die Geheimnisse des Untergrunds zu enthüllen. Schallwellen, Röntgenstrahlen oder Bohrer würden gleichermaßen dabei versagen, Hunderte Meter fester Felsmasse zu durchdringen. Zudem war es nicht nur Gestein, das es zu überwinden galt. In den Fels waren Barrieren eingearbeitet, deren einziger Sinn es war, für neugierige Augen und Ohren unüberwindlich zu sein. Hätte es ein Forscher vermocht, die Schutzhüllen zu durchdringen und die rund dreihundert Meter hinabzusteigen, so wäre er aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen.

Hier tönte es: »Adenin, Uracil, Adenin und Guanin, Cytosin, Adenin. Gefolgt von dem Codon Uracil, Adenin, Adenin, das den Replikationsprozess der RNA beendet. Sie sehen also, wir haben bei diesem Forschungsobjekt den genetischen Bauplan so verändert, dass es die spontane Wandlungsfähigkeit von V4H3 erlangen konnte … und die Virulenz von X7G9.« Wir befinden uns ganz offensichtlich im Konferenzraum, in dem Lumbundo die Teilnehmer der interdisziplinären Runde auf den neuesten Stand der biotechnologischen Entwicklungen bringt.

»Und wieso hat Ihr Team nicht gleich die Letalität von X7G9 mit eingebaut, Lumbundo? Wäre das Problem damit nicht rascher aus der Welt geschafft?«, fragte der Psychologe der Gruppe herausfordernd, dessen biotechnologische und strategische Kenntnisse sich, im Vergleich zu den anderen Anwesenden, etwas in Grenzen hielten.

Lumbundo stellte sogleich klar: »Achtung, Mason, Ihr Vorschlag würde keinen größeren Erfolg von Life8 bedeuten – im Gegenteil.«

Nun begann Lumbundo mit wissenschaftlichen Erläuterungen zu dem Sachverhalt, die an dieser Stelle jedoch nicht so aufregend und unglaublich sind wie ein eingehender Blick auf die Anlage, deren höchsten Punkt eben jener Konferenzraum war. Auch ist die Bezeichnung Konferenzraum nicht in jeder Situation die richtige. Vielleicht wäre Kommunikationsraum manchmal passender. Denn der rund vierhundert Quadratmeter große Saal war aus guten Gründen als höchster Punkt der gesamten Anlage errichtet worden.

Hier war es möglich, Signale zu senden und zu empfangen, die nicht zu den üblichen Kommunikationsmitteln dieser Unternehmung zählten. Er bildete gewissermaßen eine Technologieschnittstelle. Diese Schnittstelle sollte allen vorstellbaren Informationsbedürfnissen der Nutzer als auch sämtlichen nur erdenklichen Eventualitäten gerecht werden. Und den hohen Anspruch konnte sie – zur vollsten Zufriedenheit der Experten – bisher stets herausragend erfüllen.

Es mag sein, dass sich nun der Eindruck aufdrängt, es handele sich bei dieser tief im Fels eingebetteten Einrichtung um eine Art von Bunker, der nur eine vergleichsweise kleine Anzahl von Auserwählten beherbergt, die einer speziellen Mission nachgehen. Was die Mission angeht, ist das sicher richtig – sämtliche Bewohner wissen, welche Aufgaben sie zu erfüllen haben und welchem Zweck das dienen soll. Doch ein Bunker oder eine kleine Anlage ist diese absolut fortschrittliche Stadt nun wahrlich nicht.

Ja, richtig, tief im Fels in absoluter Dunkelheit im scheinbaren Nirgendwo gehen Tausende Individuen ihrer Arbeit nach, genießen ihre Freizeit und folgen dabei einer speziellen Mission. Deren Zielsetzung ist Jahrtausende alt und so ungeheuerlich, dass sie nicht einfach nur mit zwei Sätzen beschrieben werden kann. Doch jeder Blick auf die Arbeit der Spezialisten bringt Licht ins Dunkel. Die Frage ist nur, ob dieser Blick auf das Ungeheuerliche wirklich riskiert werden sollte.

Dem ganzen Projekt steht Russel vor. Sein Reich ist die Kommando- und Einsatzzentrale, die sich direkt unterhalb des Konferenzraumes befindet. Hier laufen sämtliche Informationen zusammen: die eigene traditionelle Kommunikation mit der Heimat, die Neuigkeiten aus dem Konferenzraum oder auch die Erkenntnisse aus der Arbeit der Bewohner der futuristisch anmutenden Stadt. Hier werden die Entschlüsse gefasst. Entschlüsse, die große Folgen haben.

Russel wird übrigens gleich im Konferenzraum sprechen. Sein Vortrag wird von allen Anwesenden mit Spannung erwartet. Schließlich hat der erfahrene Missionsleiter den größtmöglichen Überblick. Häufig ist es seine fundierte Einschätzung, die zukünftige Probleme schon im Vorfeld zu erkennen hilft. Seine Gedanken, Meinungen und Entscheidungen sind es, die in letzter Konsequenz Leben oder Tod bedeuten.

6. Kapitel

Der Zufluchtsort der florentinischen Flüchtlinge

Der Herbst des Jahres 1348 ließ die Insel in den entzückendsten Farben schillern. Das Blau des Meeres kontrastierte mit dem Grün der Wiesen besonders eindrucksvoll. Doch das war nur ein kleiner Teil der überaus reizvollen Naturszenerie, die wie ein vollkommenes Gemälde wirkte. Der gleißend helle Himmel, die dunkelbraune Erde, die geheimnisvoll wirkenden Felsstrukturen oder die prächtigen Bäume mit ihren zahlreichen Blättern, deren Farbskala vom verführerischsten Rot über orangene Töne bis hin zu leuchtendem Gelb reichte – fraglos war diese Insel ein Ort, an dem der Himmel den Menschen sehr nahe war. Und ohne Zweifel ließ dieses naturbelassene Inselrefugium sensibel veranlagte Gemüter sogleich sehnsuchtsvoll an arkadische Landschaften denken.

Doch für solche Eindrücke hatten die neuen Bewohner des rustikal wirkenden Anwesens, das aus Granit scheinbar für die Ewigkeit errichtet worden war, keine Augen. In diesem Moment wurde ihre ganze Aufmerksamkeit von dem Anblick gefesselt, der sich im größten Zimmer des Haupthauses bot. Hier waren sie alle versammelt: Vater, Tochter und ihr Diener Alfred sowie die Köchin und zwei Mägde. Das Objekt ihrer Begierde war eine reichhaltig gedeckte Tafel, wie sie vollkommener nicht sein konnte. Ob frischer Hummer, saftige Schinkenraritäten und aromatische Wurstsorten oder Äpfel, Melonen, Trauben und würzige Käsevarianten: Der Tisch war geradezu überschwänglich gedeckt. Dieses Festmahl ließ den Anwesenden das Wasser im Munde zusammenlaufen.

In dem Moment richtete der Vater das Wort an seine Tochter und an die neu gewonnenen Freunde: »So lasst uns denn alle gemeinsam essen und unsere glückliche Ankunft in diesem Hause als auch das Leben an sich feiern! Wenn mir bei der Einweihung unserer neuen Universität jemand gesagt hätte, dass ich in nicht allzu ferner Zukunft ein Flüchtling sein würde, ich hätte es ihm nicht geglaubt. Noch dazu ein Flüchtling vor einer Seuche. Lasst uns die Mühsal unserer Wege und Irrwege der letzten Wochen wenigstens kurz vergessen und greift nach Herzenslust zu!«

Das ließen sich die geneigten Hungrigen nicht zweimal sagen. Allerdings ging es trotz des jovial, ja beinahe dekadent wirkenden Festmahls gesittet, geradezu andächtig zu. Bevor sich die Tochter an den Tisch setzte, gab sie dem Redner einen Kuss auf die Wange und meinte ganz leise: »Das hast du wunderbar gesagt, Vater, ganz wunderbar.«

Alle aßen in dem Bewusstsein, dass sie es lediglich der vorausschauenden Planung des Hausherrn zu verdanken hatten, überlebt zu haben. Und dazu gab es auch jeden Anlass. Schließlich sollte die Zahl an Pestopfern über die nächsten Jahre in die Zehntausende gehen. Und wenn eine Stadt wie Florenz durch eine solche Katastrophe den Großteil der Bevölkerung verliert, ist das in jeder Hinsicht vernichtend. Die Tragik der dramatischen menschlichen Schicksale war für die Überlebenden kaum zu ertragen, und dennoch: Für den Hausherrn war die Zukunft etwas, das zwingend geformt werden musste – zum Positiven hin.

Nachdem die sechs Flüchtlinge gegessen und sogar einige fröhliche Gespräche geführt oder Anekdoten zum Besten gegeben hatten, begann das Familienoberhaupt, an die nächsten Jahre zu denken: »Ich freue mich, dass wir unseren Appetit wiedergefunden haben. Gerne sollen wir auch weiterhin so gut essen und trinken wie heute. Lasst uns aber morgen schon anfangen, die nächsten Monate und Jahre zu planen! Wir müssen an die Zeit denken, in der die Pest besiegt und eine Rückkehr möglich sein wird. Eine Frage wird uns dabei sehr bewegen: Wie können wir unsere Lebensart erhalten und an die goldene Zeit der Stadt anknüpfen?«

7. Kapitel

29. Juli 1918 – mitten auf dem Atlantik

»Was machen Sie denn hier in dieser Verkleidung, Doc, als Patient?«

»Ahoi, Leutnant, dasselbe wie Sie. Ich lege mich hin und hoffe auf Besserung.«

»Hat Sie das Killerfieber auch erwischt?«

Der Doktor, der eigentlich die Krankenstation des Schiffs leitete, das dem Amerikanischen Expeditions Corps gehörte, nahm sich für seine Antwort diesmal mehr Zeit. Schließlich ging es dem Mann, der vor Kraft normalerweise nur so strotzte, richtig schlecht. Auch war es so, dass er sich der Ausmaße der Ansteckungen bewusster war als andere. Schließlich war er als erfahrener Militärarzt und gelernter Hygieniker vom Fach. Nachdem er sich auf das Krankenbett gelegt hatte, das gleich neben demjenigen des Leutnants stand, gab er die Antwort, die dieser – traurig genug – schon erwartet hatte: »Ja, mich hat das three-day fever auch erwischt. Das war aus medizinischer und statistischer Sicht ja kaum anders zu erwarten.«

Obgleich der Leutnant selbst schwer angeschlagen war und nur mit Mühe atmen konnte, so war er von dem zweiten Teil der Antwort doch sehr verblüfft. Er wendete sich daher mit einer weiteren Frage an den Doktor. Diesmal klangen seine Worte jedoch nicht mehr nach dem Galgenhumor, der die Rede dieses fröhlichen charakterstarken Menschen bei so manchem Gespräch wie selbstverständlich begleitete. Diesmal klangen seine Worte ernst, bitterernst: »Doktor, wie genau meinen Sie das? Das mit der Erwartbarkeit meine ich.«

Der Arzt, der aufgrund seiner militärstrategisch relevanten medizinischen Kenntnisse bei dieser Thematik zu absoluter Diskretion verpflichtet war, brach sein Schweigen. Schließlich konnte es sein, dass er den Abend nicht mehr erleben würde. »Mein lieber Leutnant. Viele Passagiere an Bord sind so schwer krank, dass sie den Transfer an die französische Westfront wahrscheinlich nicht überleben werden. Ein Drittel der Männer kämpft jede Stunde darum, nicht in kurzer Zeit ebenfalls hier liegen zu müssen. Nur rund dreißig Prozent unserer Leute an Bord dieses Schiffes sind überhaupt in der Lage, ihren Dienst ordnungsgemäß zu verrichten. Und unser Truppentransporter ist kein Einzelfall.«

»Ich wusste, dass es schlecht um unsere Mission steht, aber so schlecht? Und die Situation an Bord ist kein Einzelfall?«

Der Leutnant erwartete diesmal keine Antwort auf seine Frage, schließlich war er noch nicht fertig. Er ruhte sich einige Sekunden aus und hob dann erneut an: »Ja, ich verstehe. Am Ende kommen wir in Frankreich mit Hunderten Toten an, und diese werden dann als Opfer von Kriegshandlungen gelistet. Oh, ich verstehe, warum die Krankheit als Spanische Grippe bezeichnet wird. Auf der iberischen Halbinsel gibt es keine Militärzensur. Und prompt sieht die Welt den Ursprung des Krankheitsausbruchs in Spanien – weil dort frei berichtet wird und das gewaltige Ausmaß dieser Pandemie mehr als klar zu erkennen ist.«

Diesmal ergänzte der Doktor mit einer ordentlichen Portion Galgenhumor: »Hoffen wir, dass General Pershing überhaupt genug Truppen haben wird, um seine Offensive zu starten. Wir brauchten eher selbst Hilfe. So in den Krieg zu ziehen, ist ja geradezu lächerlich.«

Klare Worte sind seit Menschheitsgedenken häufig problematisch. Sie erregen Aufsehen. Sie rufen Gegner auf den Plan, von denen der Redner nicht einmal ahnen konnte, dass es sie geben würde. Klare Worte machen einsam und vernichten Karrieren. Aber im Angesicht des Todes finden viele Menschen den Mut, derart klar Stellung zu beziehen. Natürlich müssen solche Äußerungen weder objektiv noch richtig sein. Tragisch wird es dann, wenn die Worte ungehört und ohne die geringste Wirkung verhallen. Dann dreht sich die Erde weiter, und alle anderen Menschen leben wie bisher, ohne von solchen Äußerungen lernen zu können – bis sie vielleicht in eine ähnliche Lage kommen.

Der Doktor und der Leutnant waren mutmaßlich einem schnellen Tode geweiht. Sie würden sich von niemandem das Wort verbieten lassen und sagen, was auch immer sie gerade dachten und fühlten. Es war allerdings kein Mensch zugegen, der gesund genug war, um den Inhalt ihrer Unterhaltung hören zu können.

Der Leutnant wusste die Aussagen des Doktors mit einer sarkastischen Bemerkung zu krönen: »Wissen Sie, Doktor, wenn Sie 250.000 Soldaten benötigen und rund eine Million zur Verfügung haben – dann stört es Sie nicht, wenn zehn, dreißig oder fünfzig Prozent noch vor dem Einsatz einer Seuche zum Opfer fallen. Sie haben im schlimmsten Fall ja immer noch mehr als doppelt so viele Truppen, wie für Ihre Mission erforderlich sind.«

»Ja, Leutnant, Sie haben recht. In einer Pandemie zu Kriegszeiten ist das Leben von Individuen, zumal von Militärangehörigen, keinen Dollar wert. Immerhin: Wenn wir überleben, dann ist es fraglich, ob wir am Kriegsgeschehen teilnehmen können. Die meisten Kranken in den besten Jahren tragen so gravierende Lungenschäden davon, dass sie ein Leben lang gezeichnet sind. Nun ja, im Gegensatz zu vielen anderen haben wir zumindest Aspirin zur Verfügung – das ist momentan eine Mangelware.«

»Doc, lassen Sie uns an etwas Schönes denken, damit wir den Mist hier überleben! Hätte ich von dem Ausmaß dieser Grippewelle gewusst, ich wäre vor dem Kriegsgericht gelandet. Schließlich ist es nicht meine Art, meine Männer auf ein Himmelfahrtskommando zu schicken, ohne dass sie davon wissen. Soldaten sind auf den Tod bei Kampfhandlungen vorbereitet, nicht auf den Tod durch Krankheit aufgrund beengter Raumverhältnisse auf einem Schiff.«

»Ich habe eine gute Neuigkeit für Sie«, sagte der Doktor.

»Ist das Ihr Ernst?«

»Aber ja, so unglaublich es klingt. Hier, wo wir liegen, haben wir permanent Frischluftzufuhr. Das erhöht die Überlebenswahrscheinlichkeit im Vergleich zu den Lazarettliegen auf den Decks unter uns um rund die Hälfte.«

»Ich weiß das zu schätzen, Doc …, dass Sie an mich gedacht haben. Gehen wir zusammen einen Drink trinken? Ich meine, wenn wir es beide schaffen sollten?«

»Auch zwei oder drei, mein Lieber, auch zwei oder drei.«

8. Kapitel

England, nahe der Mündung der Themse

Irgendwann um die Mitte des neunten Jahrhunderts war es dann so weit: Die rau wirkenden Männer, die mit absoluter Hingabe zu kämpfen wussten, wollten sich ein liebevolles Familienleben nicht mehr nehmen lassen. Zumindest nicht für Monate und Jahre. Zu schwer hätten die Verluste der letzten Zeit gewogen, wenn die streitbaren Seefahrer die Früchte ihrer Arbeit nun nicht auf angemessene Weise würden genießen können. Die Gelegenheit war günstig. Schließlich hatte ein unsichtbarer Feind unter den Engländern dafür gesorgt, dass es keine nennenswerte Gegenwehr gab. Die Zeit erfolgreicher Raubzüge und kräftezehrender Heimreisen wandte sich langsam ihrem Ende zu. Schon längst ging es nicht mehr nur darum, Kloster und reiche herrschaftliche Sitze zu plündern.

Jetzt begann für die als Wikinger bekannten Kämpfer das Zeitalter der Eroberungen. An der Mündung der Themse fingen sie an, strategische Punkte zu besetzen. Das Ziel war kein geringeres als die Schaffung eigener Städte und Königreiche. Und dieser Plan sollte in den kommenden Jahren mehr als erfolgreich sein. Gerade rüsten sich Ole und Sedrik für ihren Landgang und für ihre nächste Schlacht. Ihr Gespräch ist sehr aufschlussreich und wird von einem vergleichsweise weit entfernten Ort aus sowohl beobachtet als auch gehört.

»Sedrik, du hast deine Streitaxt diesmal nur eine halbe Stunde lang geschärft, rechnest du mit keiner Gegenwehr?«

»Gegenwehr? Ole, unser Gegner ist von unserem Anblick verängstigt, von unserem Kampfgeist gelähmt …« Sedrik kam bei seiner Antwort ins Stocken. Die kämpferische Rede, mit der er begonnen hatte, wandelte sich urplötzlich.

Ole nahm einen nachdenklichen Ton wahr, der nur kultivierten und feinsinnigen Menschen zu eigen ist: »Und, du weißt … die Krankheit, die Lars, Olaf, Leif und viele weitere unserer im Kampf unbezwingbaren Gefährten ereilt hat …, unter den Engländern wütet sie noch viel härter. Vermutlich werden wir bei unserem Eroberungszug kaum bewaffnete Gegner, sondern vielmehr pflegebedürftige Kranke sehen. Durch Pocken entstellte Menschen oder Sterbende.«

»An den Anblick der entzündeten Pusteln werde ich mich wohl nie gewöhnen. Auf mich wirkt das schauderhafter als unsere furchteinflößenden Rüstungen. Ja, du hast recht. Das wird vermutlich eine eher einfache Landnahme. Doch irgendwann, wenn es tief ins Landesinnere geht, werden wir gewiss auf eine schlagkräftige englische Streitmacht treffen.«

»Wenn wir das Glück haben sollten, Ole, dann wird meine Streitaxt so geschliffen sein, dass sie unsere Gegner leichter zerteilen wird, als ein heißes Messer frische Butter schneidet. Selbst wenn ich tagelang daran arbeiten sollte.«

Beide vernahmen ein eigenartiges Surren und wendeten ihre Köpfe in die Richtung, aus der es kam – direkt gen Himmel.

»Ein merkwürdiger Vogel ist das, Sedrik, findest du nicht auch? Jetzt fliegt er ganz weit oben … und so schnell.«

»Eine ungewöhnliche Mischung aus Grau und Blau, recht groß und dennoch keine majestätischen Schwingen, scheinbar über einer Stelle schwebend und dann wieder Kreise drehend – vielleicht sollten wir diesen komischen englischen Vogel mit seiner metallischen Stimme erlegen und als Trophäe ausstellen. Aber er fliegt einfach zu hoch, als dass wir seiner habhaft werden könnten. Angst hat dieses außergewöhnliche Tier sicherlich nicht, es hätte schon längst außer Sichtweite sein können.«

»Sieh nur, was für einen runden Schatten es wirft. Seine Ausmaße müssen gewaltig sein!«

»Männer«, schallte es da vom Boot des Anführers herüber, »noch ehe die Sonne am höchsten steht, nehmen wir unsere neue Heimat in Besitz. Mögen unsere Schwerter und Äxte todbringend scharf, unsere Feinde durch Krankheit geschwächt und unsere Siege besonders glanzvoll sein! Rückt vorwärts, unser Königreich wartet nur darauf, erobert zu werden!«

Schon waren alle Gespräche über die englische Tierwelt oder über die unheilvolle Seuche Themen der Vergangenheit. Jetzt ging es darum, eine hoffnungsvolle Zukunft für das eigene Volk zu gestalten. Und das ließen sich die Kämpfer der Wikinger sicherlich nicht zweimal sagen. Noch bevor die Nacht anbrach, waren die gewünschten Siege errungen, die vorhandenen Reichtümer erbeutet und Dutzende Kilometer Land in Besitz genommen. Land, das seinen Eroberern hochwertige, fest gemauerte Unterkünfte und nicht zu unterschätzende Vorräte an Speisen bot. Wahrlich – in England ließ es sich herrlich leben.

Von alldem unbeeindruckt drehte der Vogel, der die Aufmerksamkeit der Wikinger erregt hatte, seine Kreise. Er war auch Monate später noch da. Wenn er nur hätte sprechen können – als wortgewandtem Zeitzeugen wäre ihm die Aufmerksamkeit unzähliger neugieriger und wissbegieriger Menschen sicher gewesen.

Immerhin bot die Vogelperspektive nicht nur einen guten Blick auf die erfolgreichen Eroberungszüge der Wikinger oder auf den Aufbau ihrer Königreiche auf englischem Boden. Nein, ein Blick aus der Luft offenbarte auch die dramatischen Zustände, für welche die furchtbare Seuche bei den englischen Verteidigern sorgte. Tausende Pockenopfer schwächten ihre Reihen derart, dass der Siegeszug der kämpferischen Seefahrer nicht aufzuhalten war.

9. Kapitel

Erste Enthüllungen im Konferenzraum

Ausnahmslos alle wichtigen Wissenschaftler und Führungspersönlichkeiten von Rang hatten sich in gespannter Erwartung versammelt. Würde Russel bestehende Unklarheiten restlos beseitigen und die Anwesenden auf den gleichen umfassenden Informationsstand bringen? – Sie hofften es. Letztendlich konnte davon wahrlich viel abhängen. Da Russel noch nicht zugegen war, zeigten sich die meisten Teilnehmer erleichtert, als Lumbundo das große Podium betrat, welches von drei entsprechend großzügig dimensionierten interaktiven Präsentationsflächen flankiert wurde. Vielleicht konnte sich nun die Anspannung verflüchtigen, die viele der Teilnehmer empfanden.

Verschiedene Punkte der besagten Flächen fingen an zu leuchten und tauchten den Wissenschaftler in weißes Licht, während die indirekte Saalbeleuchtung automatisch gedimmt wurde. Fraglos hatte der so in Szene gesetzte Lumbundo nun die volle Aufmerksamkeit der Anwesenden. Allerdings hätte es dieses Effektes nicht bedurft, denn sein wissenschaftliches Renommee war exzellent. Nicht wenige der Teilnehmer bewunderten den jovial wirkenden, jedoch mit einem brillanten Verstand ausgestatteten Perfektionisten.

»Ich begrüße Sie ganz herzlich zur Fortsetzung unserer interdisziplinären Runde. Heute soll es um das große Ganze gehen … und um die Stellschrauben, welche die größten Auswirkungen auf unsere Unternehmung haben. Wie Sie wissen, hat sich das Umfeld, in dem wir tätig sind, im Laufe der Jahrtausende drastisch gewandelt. War es am Anfang das nahezu rein Kreatürliche, das von natürlichen Entwicklungen geprägt war und allenfalls von spontanen Entwicklungen beeinflusst wurde, haben wir es heute mit einer ungleich komplizierteren Situation zu tun.« Lumbundo blickte einen Augenblick lang aufmerksam ins Publikum. Dann sprach er in demselben Tonfall weiter: »Früher konnte ein Team aus gut informierten Biologen alle unsere Zielsetzungen selbständig angehen. Heute benötigen wir – aufgrund der vorhandenen gesellschaftlichen und historischen Komplexität – Anthropologen, Soziologen, Psychologen und viele weitere Professionen, etwa Physiker, Chemiker und Mathematiker. Alle diese Spezialisten sind zudem davon abhängig, dass ihnen Informatiker sowie Hacker zuarbeiten und dass ihnen umfassende Datensammlungen als auch Überwachungseinrichtungen zur Verfügung stehen.«