In allen Spiegeln ist sie Schwarz - Lolá Ákínmádé Åkerström - E-Book

In allen Spiegeln ist sie Schwarz E-Book

Lolá Ákínmádé Åkerström

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Beschreibung

Ein mitreißender, tiefgründiger und bewegender Roman über drei ganz unterschiedliche beeindruckende, starke Frauen, den man nicht mehr aus der Hand legen will! Die erfolgreiche Marketing- und Diversitätsexpertin Kemi Adeyemi wird aus den USA nach Schweden geholt, um ein PR-Fiasko im Zusammenhang mit einer rassistischen Kampagne zu beheben. Kann sie wirklich etwas bewegen oder ist sie lediglich das neue Aushängeschild? Ein zufälliges Treffen in der Businessclass auf dem Weg in die USA katapultiert Flugbegleiterin Brittany-Rae Johnson in ein Leben voller Reichtum, Luxus und Privilegien – ein Leben, von dem sie nicht sicher ist, ob sie es will, und für das sie einen hohen Preis zahlen muss. Muna Saheed, eine Geflüchtete aus Somalia, will in Stockholm endlich Fuß fassen und sich zugehörig fühlen, doch das fällt ihr wegen ihrer traumatischen Flucht und ihrer Zeit in einem Aufnahmezentrum für Geflüchtete in Schweden schwer. Ein Lichtblick sind ihre neuen Mitbewohnerinnen. »In allen Spiegeln ist sie Schwarz« ist ein temporeicher, nuancierter und dennoch leicht zugänglicher Roman, der wichtige gesellschaftliche Themen wie Rassismus, Sexismus und Klassismus anspricht und zeigt, was es bedeutet, sich als Schwarze Frau in einer weiß dominierten Gesellschaft zurechtzufinden.

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Über dieses Buch

Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Schwarze Frauen, drei Geschichten, drei unterschiedliche Lebensrealitäten. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. »In allen Spiegeln ist sie Schwarz« erzählt die großen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit.

Über die Autorin

Lọlá Ákínmádé Åkerström, geboren in Lagos, mit 15 in die USA migriert, lebt mit ihrer Familie in Stockholm. Sie ist eine preisgekrönte Reisejournalistin, Rednerin, Fotografin und Autorin. Ihre Arbeiten sind unter anderem in der New York Times, dem National Geographic, in The Guardian und im Lonely Planet erschienen. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Lọlá ist außerdem Herausgeberin von Slow Travel Stockholm, einem Online-Magazin, das sich der Erkundung von Schwedens Hauptstadt widmet.

Über die Übersetzerin

Yasemin Dinçer, geboren in Frankfurt am Main, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Sie hat unter anderem Werke von Oyinkan Braithwaite, Minna Salami und Shirley Hazzard aus dem Englischen übertragen und ist mehrfache Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Lọlá Ákínmádé Åkerström

In allen Spiegeln ist sie Schwarz

Roman

Aus dem Englischenvon Yasemin Dinçer

Hinweise auf sensible Inhalte befinden sich im Impressum.

Für alle, die sich jemals unbeachtet, unerwünschtoder unsichtbar gefühlt haben …

Eure Stimme ist machtvoller, als ihr denkt.

Ihr habt das Recht, zu existieren,ohne euch zu erklären.

Lasst euch niemals von der Welt einreden,eure Kämpfe wären nichtig.

Inhalt

Über dieses Buch

Über die Autorin

Über die Übersetzerin

Teil eins

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Teil Zweiter

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Teil drei

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Teil vier

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Anmerkung der Autorin

Du bist niemals allein

Danksagung

Teil eins

Eins

Kẹmi

Amerika hatte Kemis Liebesleben zerstört.

Es hatte ihre Würde zerfetzt, die Schnipsel in die Luft geworfen und dabei schrill gelacht wie eine Hyäne. Kemi fühlte sich verdammt dazu, fragwürdige Kandidaten aufzulesen, und sie war es leid, ihre unsichtbare Rüstung zu tragen. Ein zwei Tonnen schweres Abwehrsystem, das der Welt entgegenschrie, sie brauche keinen Mann.

Sie konnte diese Last nicht länger tragen.

In letzter Zeit las sich ihr Datingleben wie ein Dossier der Schmach. Alles begann mit jenem denkwürdigen Abendessen mit Deepak.

»Ich habe dir doch erzählt, dass ich Softwareentwickler bin, oder?« Schon nach zwanzig Minuten fing Deepak an zu schwadronieren. Kemi starrte ihn einfach nur zornig an. Dass er zum sechsten Mal beiläufig seine Karriere erwähnte, erschien ihr keiner verbalen Antwort würdig. Den Rest des Abends streute Deepak dann in regelmäßigen Abständen seine Liebe für »Schwarze Hintern« in seine Monologe ein.

Darauf folgte das stumme Date mit Earl, einem weißen Buchhalter aus Ohio, der Vorstellungen von einem Serienmörder heraufbeschwor. Earl starrte die ganze Zeit an ihrem Gesicht vorbei ins Nichts. Wann immer er versuchte, Kemi mit seinen Adleraugen anzuschauen, wanderte sein Blick zu ihrem Ausschnitt, um dann wieder zu der faszinierenden Leere hinter ihr zurückzukehren.

Sie war sich nicht sicher, ob er schüchtern oder heimtückisch war.

Und wie könnte sie den jamaikanischen Immobilienmakler Devan vergessen, dessen Blick jeder weißen Frau folgte, die an ihrem Tisch vorbeischlenderte, während er seine unbeirrbare Liebe für die Sisters beteuerte?

Amerika hatte Kemis Grenzen ausgetestet und ihre Entschlossenheit unfreiwillig ein Boot Camp durchlaufen lassen. Allen Datingumfragen, die sie gelesen hatte, zufolge war sie – als Schwarze Afrikanerin – neben asiatischen Männern die am wenigsten erstrebenswerte Beziehungskandidatin.

Jene Umfragen besagten, die erste Wahl falle stets auf jemand anderes.

Dieses Urteil nagte an Kemi, höhlte sie aus und brachte eine schwächere Version ihrer selbst zum Vorschein, die jeden Verehrer durch die skeptische Linse der Paranoia betrachtete. Aber als hätte sie eine masochistische Ader, kehrte sie immer wieder zu jener App zurück, die sie so zuverlässig wie präzise enttäuschte.

»Mach dir keine Sorgen, mein Schatz.« Die lang gezogenen Worte ihrer Mutter drangen plötzlich in Kemis Bewusstseinsstrom, wenn sie gerade damit beschäftigt war, auf ihrem iPhone Gesichter nach links oder rechts zu wischen.

Danach gingen diese Worte über zu einer Minipredigt, gefolgt von einem Tadel: »Gottes Zeit ist die beste. Geh in die Kirche! Verschwende nicht länger deine Zeit! Lass dich nicht unnötig vom Teufel verleiten, sọ gbọ? Hörst du mir zu?«

Ihre Mutter verteilte ihre Zärtlichkeit stets mit einer gesunden Portion Realismus. Kemi nickte automatisch zu jeder beiläufigen Bemerkung, im vollen Bewusstsein, dass ihre Mutter am Telefon war und sie nicht sehen konnte.

Um ehrlich zu sein, war Kemi es leid, bei Familiendiskussionen, in Konferenzräumen und auf langweiligen Dates ständig zu nicken. Sie war es leid, die archetypische »starke Schwarze Frau« zu sein, die keine Verletzlichkeit kannte. Das jahrelange Vortäuschen, die Berührung eines Mannes nicht zu brauchen, hatte seinen Glanz verloren.

Sie war einsam.

»Ernsthaft? Wie machst du das, Guurrl?« Connors Boston-irischer Akzent durchschnitt ihre Konzentration wie eine schrille Radiofrequenz. »Du bist eine bemerkenswerte Frau!«

Sie sah nicht zu ihm auf. Wann immer Connor in gekünstelten Slang verfiel, wandte Kemi den Blick ab, um seine Würde zu wahren. Sie hatte gerade die von einer Werbeagentur zugeschickten neusten Marken-Layouts überprüft. Mit auf die Finger gestützter gerunzelter Stirn hatte sie den Werbetext überflogen und dabei das Gesicht verzogen über eine Sprache, die deutlich machte, dass hier eine einzige Sichtweise eine globale Kampagne verantwortet hatte, die unterschiedliche Perspektiven widerspiegeln sollte.

Kemi war noch immer sauer auf Connor, der darauf beharrt hatte, dass sie den Text ein weiteres Mal überarbeitete, obwohl sie ihm versichert hatte, es sei Zeitverschwendung. Er hatte sie einfach aus seinem Büro gewinkt und behauptet, wenn irgendjemand aus Scheiße Brownies backen könne, dann sei es Kemi.

»Was?«, fragte Kemi halbherzig, während sie den vor ihr liegenden Mist weiterlas.

»Ich sagte«, erwiderte Connor in die Länge gezogen, »dass du eine bemerkenswerte Frau bist, Kemi. Herzlichen Glückwunsch!« Er trat nun vollständig in ihr Eckbüro mit seinen Panoramafensterscheiben, das sie mental vom Großraumbüro trennte. Physisch tat es das jedoch nicht, so sehr Kemi sich auch danach sehnte.

Sie wollte, dass er aus ihrem Bereich verschwand. Aber er fuhr fort: »Du bist landesweit zur Marketing-Expertin des Jahres ernannt worden. Schon wieder! Herzlichen Glückwunsch!« Auf seinem leicht sommersprossigen Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Er verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust, die Hemdsärmel bis zu den Ellbogen aufgerollt.

Kemi antwortete mit einem tiefen Atemzug, sagte dann: »Danke, Connor«, und ließ ihre Worte zu einem Lächeln ausklingen.

»Nun ja, bedank dich beim Komitee! Wir können die Neuigkeit noch nicht veröffentlichen, weil sie bis Mitte Mai gesperrt ist, aber wir sollten es schon feiern. Ich lasse Rita einen Kuchen und ein paar Flaschen Champagner besorgen«, fügte er hinzu.

»Danke schön, aber ich möchte wirklich kein Aufheben darum machen. Es ist eine riesige Ehre, aber –«

Er unterbrach sie: »Nun, wir werden aber ein Aufheben darum machen, um dich, also wird Rita für Freitag den Kuchen und den Champagner besorgen, okay?«

Sie lächelte erneut, diesmal breiter, wobei sie ihre tiefen Grübchen zeigte. In diesem Moment bemerkte sie ihn. Schon wieder. Connors nackten Blick. Dieses Verweilen für den Bruchteil einer Sekunde, das Kemi offenbarte, dass ihr Chef sie wollte.

Sie wandte sich abrupt von ihm ab und wieder dem Werbetext zu, den zu verbessern sie sich bemühte. »Nochmals danke, Connor«, sagte sie, um ihn endlich loszuwerden. Sie spürte seine bedrohlich aufragende Präsenz, bis Connor sich umdrehte und davonschritt. Kemi sah noch rechtzeitig auf, um einen Blick auf seinen vertrauten Gang zu erhaschen, den sie in den letzten vier Jahren beinahe wöchentlich hatte verfolgen können. Jenes Stolzieren, das allen, die ihm entgegenkamen, unmissverständlich mitteilte, dass er den Laden führte, auch wenn er nicht der eigentliche Besitzer der Firma war.

Kemi konnte nicht länger bei Andersen & Associates bleiben.

Gedanken an eine Kündigung schwammen ihr jeden Tag durch den Kopf. Montags sprangen sie herein, wenn Connor das Team für ein Meeting zusammenrief. Dienstags zogen sie Bahnen, wann immer er Kemi auf dem schmalen Grat zwischen Flirten und Herumkommandieren umkreiste. Mittwochs tauchten sie nach Luft schnappend auf, sobald er zu Kundenbesuchen das Büro verließ. Und dann ging es im Schmetterlingsstil weiter bis zum Wochenende, wenn Kemi diese Gedanken abzuschütteln versuchte.

Auch wenn sie sich langsam in ihrer Exekutivfunktion eingelebt und ein paar Kundenportfolios von den roten in die schwarzen Zahlen gebracht hatte, erinnerte Connor McDonoughs Blick Kemi daran, dass sie noch immer eine Probe war, die entnommen und getestet werden konnte. Oder eher gekostet. Er war bereits mit seiner ersten Wahl verheiratet, aber er wollte sie probieren wie Käse auf Zahnstochern, der auf einem Wochenmarkt Vorbeikommenden feilgeboten wurde.

Er hatte nicht vor, etwas zu kaufen. Er war einer jener Männer, die sich nachts an den Kühlschrank schleichen wollten, um sich dort zu überfressen, während alle schliefen, nur um am nächsten Morgen wieder zu ihren Diäten – ihren Ehefrauen – zurückzukehren.

Connor hatte sich im Laufe der Jahre erfolglos bemüht, seine lüsternen Blicke zu verbergen. Er bezeichnete alles, was Kemi tat, als »bemerkenswert«, auch wenn sie bloß ihren Job erledigte, was sein mittelmäßiger Versuch war, sich durch leere Schmeicheleien näher an sie heranzuschleichen.

Kemi nahm die losen Blätter des grauenhaften Werbetextes von ihrem Schreibtisch und fing an, sie eins nach dem anderen zu zerreißen. Sie riss und riss und verstreute die Fetzen wie Konfetti über ihren Schreibtisch und ihr Büro mit seiner Aussicht auf den Capitol Hill in der Ferne, umrahmt von hellrosa Kirschblüten.

Wie kaltes Wasser ins Gesicht einer Betrunkenen unterbrach das hohe Summen ihres Telefons Kemis Papierfetzenparade, gefolgt von der ebenso hohen Stimme ihrer Sekretärin Nicole.

»Ms. Adeyemi?«

»Ja?«

»Hier ist eine Ingrid John Hansen aus Schweden auf Leitung eins. Soll ich sie durchstellen?«

Sie hatte den Namen noch nie zuvor gehört, allerdings war Kemi gewöhnt daran, dass Nicole Namen verunstaltete. Ihre Sekretärin leitete den Anruf an sie weiter.

»Kemi Adeyemi«, meldete sie sich.

»Kemi, ich bin Ingrid Johansson von von Lundin Marketing in Stockholm«, kam als Antwort in einem stark melodischen Tonfall, der gleich einen Musicalsong anzustimmen schien.

Kemi kannte den Namen »von Lundin«, jenes internationale Unternehmen, das kürzlich in einen weltweiten Skandal verwickelt gewesen war, der wahrscheinlich mit einem ebenso faulen, schlecht recherchierten Werbetext begonnen hatte, wie jenem, den sie gerade zu Konfetti verarbeitet hatte.

Ingrid redete weiter, ehe Kemi antworten konnte.

»Es ist mir eine Ehre, die Gelegenheit zu haben, direkt mit Ihnen zu sprechen. Ich leite das weltweite Talentmanagement, und wir haben soeben eine brandneue Spitzenführungsposition geschaffen, die direkt unserem CEO Johan von Lundin unterstellt sein wird. Auch wenn er lieber Jonny genannt wird«, brachte sie mit einem einzigen Atemzug hervor. In Ingrids Akzent klang der Name eher wie »Yonny«. »Wir haben ganz neu die Position einer Leiterin für globale Diversität und Inklusion geschaffen, und wir glauben, dass Sie perfekt für diesen Job wären.«

Kemi ließ Ingrids Worte sacken. Sie wurde gerade von einer der größten Werbeagenturen der Welt abgeworben.

Die Worte »Wie haben Sie mich gefunden?« purzelten unelegant aus ihr hervor. Sie konnte sie nicht mehr zurücknehmen. Selbstverständlich war sie leicht zu finden.

»Wir verfolgen die National Marketing Awards, und wir wissen, dass Sie letztes Jahr Marketing-Expertin des Jahres geworden sind. Sie haben bereits mit großen Marken zusammengearbeitet, und wir wissen, dass Sie an einigen Kampagnen mit der größten Diversität beteiligt gewesen sind. Wir brauchen Ihr Talent und Ihre Expertise.«

»Nach dem IKON-Fiasko, nicht wahr?« Kemi wollte es nicht ansprechen, aber sie musste es tun. IKON war ein internationales schwedisches Modelabel, das von von Lundin vermarktet wurde, und eine seiner Werbekampagnen würde in zukünftigen Marketinglehrplänen zweifellos als Fallstudie herangezogen werden, um ein deutliches Beispiel dafür zu geben, wie man es nicht machen sollte.

Darin kam der Satz »Lass deine Farbe draußen, die brauchen wir nicht« vor, um eine Reihe von Blusen und Kleidern aus zarter, elfenbeinfarbener Spitze zu bewerben. Diese Kampagne erboste die schwedische Gesellschaft, von Minderheiten in den oberen Schichten bis zu neu angekommenen Zugewanderten, und zog die Aufmerksamkeit der internationalen Presse auf sich, die sich bereitwillig auf die Integrationsprobleme des Landes stürzte. Dieser Text hätte niemals über das Pitching-Stadium bei von Lundin hinausgehen dürfen. Außer, dem Team mangelte es tatsächlich an Diversität, und aus diesem Grund schwieg Ingrid nun am anderen Ende der Leitung. Der Anruf roch nach Schadensbegrenzung.

»J-ja«, antwortete Ingrid nach zwei Sekunden Stille. »Das war ein unglücklicher Vorfall, aber er hat uns auch gezeigt, wie dringend wir unser Spitzenmanagement diversifizieren müssen. Wir benötigen starke Stimmen am Tisch, und wir wollen Sie, Kemi«, fügte sie hinzu. »Wir brauchen Sie hier in Schweden.«

»Ich danke Ihnen für das Angebot, Ms. Johansson, aber mein Leben ist hier in den Staaten.« Kemi blickte auf ihre Armbanduhr. Zehn Uhr fünfzehn an einem Montagmorgen, ihre Woche begann erstaunlich.

»Das verstehe ich, und ich bin mir sicher, Andersen ist froh, so ein bemerkenswertes Talent an Bord zu haben, aber es wäre großartig, wenn Sie bitte ein Treffen mit uns in Betracht ziehen könnten.«

Bemerkenswert. Da war das Wort schon wieder.

»Ich kann nicht nach Stockholm fliegen.«

»Oh, nein«, sang Ingrid. »Jonny wird zu Ihnen kommen.«

Brittany-Rae

Brittany-Rae Johnson wurde als Tochter von Zugewanderten der ersten Generation geboren, die aus Jamaika geflohen waren und sich in der schwülen Hitze von Atlanta, Georgia niedergelassen hatten, ohne ihr die Gründe dafür je klar zu nennen. Sie wuchs als einziges Kind ihrer Eltern auf und wurde an ihre jamaikanischen Wurzeln erinnert, wenn sie am Wochenende in Onkel Dajuans Haus drei Straßen weiter Ziege mit Curry aßen und ihre Eltern zu Patois wechselten.

»Jamaica boring!«, scherzte ihr Onkel häufig, während sie sich auf die vor ihnen auf den Tellern liegenden Erinnerungen an ihre Heimat stürzten.

»Langweilig?«, begann Brittany eine vergebliche Diskussion. »Die Leute fahren in ihren Flitterwochen dorthin.«

»Sag ich doch«, antwortete er, während er die Knochen zersplitterte. »Sie fahren dahin für lovey-dovey, machen Babys, rauchen Ganja und kehren dann zurück in ihr echtes Leben. Langweilig!« Wenn er fertig war, leckte er sich einen Finger nach dem anderen ab. Das Paradies des einen …

Ihre Eltern steckten bis zur Rente in finanziellen Schwierigkeiten. Dieses Schicksal sollte nicht auch Brittany ereilen, wenn sie es irgendwie verhindern konnte.

Als daher Samuel Beaufount auf den Schwingen von Ruhm und Wohlstand in ihr Leben geschwebt kam, hatte Brittany sich an ihn gehängt wie an einen Bagger, der sie aus Patois, Ziege und Ganja herauszog.

Sie hatte davon geträumt, auf eine Modeschule zu gehen, um Designerin zu werden, hatte sich vorgestellt, wie sie Entwürfe skizzierte, über Stoffen brütete und ihre eigene Linie auf die Laufstege von Paris und London brachte. Aber Beaufount hatte sie von ihrem Weg abgebracht und stattdessen auf den Pfad des Modelns geführt.

Vor fünfzehn Jahren kam er, seine selbstgefällige Aura ihm voraus, in Brittanys Textildesignklasse marschiert. Als der legendäre Designer hinter Beaufount – einer gehobenen Herrenmarke und der ersten Wahl für Metrosexuelle, die auf pinkfarbene Hemden und türkisfarbene Hosen standen – würde er für ein Semester ihr Gastdozent sein. Das war seine Art, dem Designnachwuchs etwas zurückzugeben, wie die Pressemitteilung seiner Firma verkündete.

Seine Anwesenheit erforderte daher ihrer aller gespannte Aufmerksamkeit. Er wirkte viel größer und breiter, als er ihnen im Fernsehen erschienen war. Das gedankenlose Geplauder unter den Studierenden erstarb in dem Augenblick, in dem Beaufount in ihren Klassenraum schlenderte. Er glitt herein in einem rosa gestreiften Hemd unter einem grün karierten Anzug, abgerundet von einer Krawatte mit grünen Pünktchen, die platinblonden Haare nach hinten gegelt.

Seine braunen Augen musterten jede einzelne Person im Raum, und sein Blick signalisierte Zustimmung oder Ablehnung, ohne dass er dafür Worte brauchte. Bis er bei Brittany angelangt war und wie magisch vor ihren Tisch gezogen wurde, wo er sich aufbaute, während die Klasse mit angehaltenem Atem wartete. Er blickte ein paar Sekunden, die sich für Brittany wie eine Ewigkeit anfühlten, auf sie herab und wählte sie aus. Sobald sie den Anflug von Angst überwunden hatte, war eine andere Emotion in Brittany aufgestiegen. Beaufount hatte ihr das Gefühl gegeben, das erlesenste Wesen zu sein, das er je gesehen hatte.

»Du solltest nicht hier sein«, sagte er schließlich in einem tiefen Bariton, der im Widerspruch zu seinem extravaganten Äußeren stand. »Du solltest modeln.«

Kaum eine Woche später wurde Beaufount zu ihrem Manager. Das erste Mal, dass er sie in eine Ecke drängte, geschah nur zwei Wochen nach jener ersten Begegnung in ihrer Textilklasse.

Beaufount blieb das erbarmungslose Gewicht, das ihren schmalen, einen Meter achtzig langen Körper niederdrückte. Sie hatte noch immer mit niemandem darüber gesprochen, abgesehen von einer Therapeutin, zu der sie vielleicht einmal im Monat ging, wann immer sie sich zu sehr für sich selbst schämte.

Nicht einmal ihre beste Freundin Tanesha war in irgendetwas davon eingeweiht, dabei hatte Tanesha direkt neben ihr gesessen, als sie zu Beaufounts Lieblingsprojekt wurde.

»Möchtest du etwas Besonderes sehen?«, hatte Beaufount Brittany gefragt, als er sie auf sein ausgedehntes Anwesen am Rand der Innenstadt von Atlanta eingeladen hatte. Als Antwort hatte sie gelächelt und dann genickt, ehe sie ihre Porzellanteetasse mit den goldenen Ranken auf dem zierlichen Tisch abgestellt hatte.

Er führte sie durch ein kompliziertes System aus prunkvollen Zimmern, bis er vor einer goldenen Flügeltür stehen blieb. Er warf einen Blick über die Schulter auf Brittany, ein kokettes Lächeln auf den Lippen, ehe er mit dramatischem Schwung beide Flügel auf einmal öffnete.

Seine gegenwärtigen Arbeiten. Der Schrein für Entwürfe, die sich langsam von kreativen Hirngespinsten in voluminöse Roben verwandelten, die jeweils Tausende Dollar wert waren.

Der begehbare Kleiderschrank verschluckte eine in Ehrfurcht erstarrte Brittany, und Beaufount schloss leise die Tür hinter ihnen.

Sechs Monate, nachdem er ihr Manager geworden war, brach Brittany die Modeschule ab. Fünfzehn Jahre später stand sie mit achtunddreißig Jahren als Flugbegleiterin in der Bordküche und servierte reichen Leuten Wasser oder Sekt in kleinen Gläsern.

Brittany hatte beobachtet, wie die Wohlhabenden in ihre Kabine schwebten. Diese Menschen umgab eine Aura der Unantastbarkeit. Sie konnte sie erschnuppern wie ein Bluthund. Oftmals kleideten sie sich dezent, trugen nur wenige Klunker, vielleicht ein einzelnes Schmuckstück – das allerdings den Gegenwert eines Jahresgehaltes hatte. Es war der Unterschied zwischen jenen, die sich in einem mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Restaurant ein Menü leisten können, und jenen, die aus einer Laune heraus gleich das ganze verdammte Restaurant kaufen.

Brittany hatte sich häufig gefragt, wie sich dieser Mantel aus undurchdringlichen Privilegien um ihre eigenen Schultern anfühlen würde.

In ihren frühen Zwanzigern hatte sie ein paar Monate lang mit Samuel Beaufount Privilegien gekostet, aber während später aus Jahreszeiten Jahrzehnte wurden, hatte Brittany Dimensionen gesehen, die weit über sein Vermögen hinausgingen.

Die ersten Passagierinnen und Passagiere der Businessclass von British Airways trudelten nun herein, schoben ihr Handgepäck in die Fächer über ihren Köpfen und reichten Anzugjacken an Brittanys Kolleginnen und Kollegen weiter, die durch die Kabine streiften, um für allgemeines Wohlbefinden zu sorgen.

Brittany warf einen raschen Blick in den winzigen Spiegel über den geparkten Speisewagen, um ihr Make-up zu überprüfen und lose Strähnen ihrer schnurgeraden Extensions zurückzustreichen, ehe sie das Tablett hochnahm und den Gang hinunterschritt. Ihre kirschroten Lippen weiteten sich zu einem Lächeln, als sie mit ihrer Routine begann, Gläser verteilte und die Fluggäste fragte, ob sie Sekt oder Wasser wünschten. Sie kam dabei nie aus dem Schritt, bewegte sich von einer desinteressierten Person zur nächsten und hielt nur gelegentlich inne, wenn eine Hand nach ihrem Tablett griff.

Die Kabine war recht leer. Brittany war an diesem Donnerstagabend auf dem letzten Flug von London nach Washington im Einsatz. Die meisten Geschäftsreisenden hatten frühere Verbindungen genommen, um es noch rechtzeitig zu Gesellschafterversammlungen zu schaffen oder um bei üppigen Abendessen Deals abzuschließen.

»Willkommen an Bord«, sagte sie und blieb vor Sitz 6A stehen, wo ein Mann mit aus dem Gesicht gekämmtem blondem Haar aus dem Fenster schaute. Er trug ein himmelblaues Hemd, und oberhalb seiner linken Hand, mit der er ruhelos auf sein Knie trommelte, war eine Titanarmbanduhr zu erkennen. »Möchten Sie etwas trinken? Vielleicht ein Glas Sekt?« Er drehte sich um und fixierte sie mit einem stechenden Blick aus graublauen Augen. Sie verlagerte unbehaglich das Gewicht, während er sie weiter anstarrte.

»Möchten Sie etwas trinken, Sir?«, wiederholte sie.

»Ja, ja, selbstverständlich«, antwortete er, in einem Akzent, der eine leicht nordische Einfärbung hatte. Er griff nach einem Glas Wasser und hielt über dessen Rand hinweg Blickkontakt, während er es in einem Zug leerte. Sie lächelte und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als er erneut den Arm ausstreckte.

»Noch eins … bitte.« Er griff nach einem weiteren Glas und wiederholte das Über-den-Rand-Beobachten, was sie nervös machte. Wenn das seine Art zu flirten war, hatte sie kein Interesse.

»Danke.« Er reichte ihr gerade beide Gläser, als eine große schlanke Frau mit ähnlich blondem Haar keuchend den Gang entlanggeeilt kam. Sie trug ein bis zum Kinn zugeknöpftes Herrenhemd.

»Oj! Förlåt att jag är sen!« Außer Atem, die Wangen leicht gerötet, ließ sie ihre Tasche auf den leeren Sitz neben dem blonden Mann fallen.

Die große Frau wirkte gestresst, und Brittany bot ihr Hilfe beim Ankommen an – griff nach ihrer Tasche und verstaute sie im Gepäckfach –, während sie den Blick des Mannes auf ihrem ganzen Körper spürte. Die Aufgeregtheit der Frau versicherte Brittany, dass die beiden aus Skandinavien stammen mussten. Das Boarding für die Economyclass war noch im Gange. Im Grunde war die Frau gar nicht zu spät dran.

»Ingen fara, Ingrid.« Der Mann hielt eine Hand mit gespreizten Fingern hoch und bewegte sie langsam hin und her, anscheinend der Versuch, sie zu beruhigen.

»Möchten Sie etwas Wasser, Ma’am?«

Die Frau nickte, und Brittany entfernte sich, um für Ingrid Wasser zu holen.

Als Ingrids Durst gestillt war und der Mann sein unnötiges viertes Glas Wasser bekommen hatte, entschied Brittany, für die Sicherheitseinweisung den Gang zu wechseln, um sich seinem eindringlichen Blick zu entziehen. Unangemessene Geschäftsmänner gehörten zu ihrem Job. Aber dieser hier irritierte sie, und sie konnte spüren, wie sein markantes Aussehen sie langsam aus der Fassung brachte.

Kurz darauf hob das Flugzeug in den Himmel ab. Sobald der Pilot das Lämpchen für den Gurt ausgeschaltet hatte, holten Fluggäste in der ganzen Kabine ihre Laptops hervor. Ein paar andere zogen ihre Schuhe aus und lehnten sich in ihren Sitzen zurück, bereit, die nächsten, für teure Tickets erkauften, acht Stunden zu verschlafen. Die Frau, die der blonde Mann Ingrid genannt hatte, saß bereits an ihrem Laptop.

Brittany war es leid, andere Menschen zu bedienen – eine Aufgabe, die sie nie hatte haben wollen, in einem Beruf, den sie nie angestrebt hatte. Sie war es leid, loszueilen, um auf all die Launen und Wünsche der Fluggäste einzugehen. Sie war es leid, Interesse vorzuspielen, wenn sie gefragt wurde, welches Menü aus stark verarbeitetem Flugzeugessen sie empfehlen würde. Als würden sie in einem schicken Restaurant speisen und nicht gerade in einem Metallrohr über dem Atlantik sitzen.

Mittlerweile eine erfahrene Flugbegleiterin, war Brittany realistisch genug, um zu wissen, dass eine Karriere in der Mode zu einem so späten Zeitpunkt in ihrem Leben ein Wunder erfordern würde. Also wartete sie geduldig, während der blonde Mann ihr kostbare Minuten stahl, um sich zwischen Rindfleisch und Fisch zu entscheiden.

»Hm«, überlegte er und studierte mit gerunzelter Stirn die Speisekarte.

»Der Rinderschmorbraten wird mit in der Pfanne geschwenktem Wurzelgemüse und Wildbrokkoli serviert«, erklärte sie, um eine Entscheidung anzustoßen.

»Das klingt wirklich gut«, antwortete er lächelnd. »Aber …«

»Aber?«

»Der Wolfsbarsch sieht auch gut aus.«

Er entschied sich schließlich für den Fisch, den er dann jedoch kaum anrührte. Als Brittany sein Tablett abholen wollte, trommelte er wie in Trance mit den Fingern darauf. Ingrid schien diese Angewohnheit nicht zu stören. Er blickte zu Brittany auf, und seine Finger stellten ihren wilden Tanz ein.

Sobald die Kabinenbeleuchtung für den Nachtflug gedimmt wurde, stahl sie sich zurück in die Privatsphäre der Bordküche. Sie zog ihre marineblaue Schürze aus, strich sich den Rock glatt und wollte sich gerade umdrehen, als eine große Gestalt den engen Raum zwischen ihnen blockierte.

»Gute Güte!« Brittany erschrak, sammelte sich jedoch schnell wieder. Sie hasste enge Räume. Insbesondere, wenn sie von großen Männern eingenommen wurden. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Der Mann von 6A war ein paar Zentimeter größer als sie, und seine Pupillen weiteten sich, um sich an das schwache Licht anzupassen.

»Ich habe Sie gar nicht nach Ihrem Namen gefragt«, sagte er und streckte die Hand aus. Sie lächelte schwach und ergriff sie.

»Brittany.«

Als Antwort musterte er mit seinen graublauen Augen rasch ihr Gesicht. Dann kramte er in seiner Hosentasche und zog eine druckfrische Visitenkarte aus hochwertigem Papier hervor. »Hier ist meine Karte.«

Sie nahm sie entgegen und wendete sie, um sie zu lesen. »Von Lundin Marketing … Klingt interessant. Was machen Sie?«

»Ich verkaufe Leuten Zeug, das sie nicht brauchen.«

Sie kicherte über seine Antwort. Er lachte auf eine unerwartet jungenhafte Weise, ehe sein Mund sich in eine ernste gerade Linie zurückverwandelte.

»Ich würde Sie gern zum Essen ausführen.« Seine Stimme klang unsicher, doch seine Intensität war unverändert.

»Mr. von Lundin.«

»Jonny. Bitte nennen Sie mich Jonny.«

»Ich danke Ihnen für das Angebot, Mr. von Lundin«, setzte sie an, »aber ich habe einen Freund.«

Muna

»Hamama.« Turteltaube.

Das Wort, das Ahmed auf Arabisch ausgesprochen hatte, erschreckte Muna. Sie saß neben ihm auf einem kleinen Korbstuhl auf der geräumigen Veranda. Zwischen ihnen stand ein dürftiger Metalltisch mit abblätternder weißer Farbe. Vor ihnen lag ein stiller See, der in der Morgensonne glitzerte, während die Blätter der benachbarten Eichen sanft im Wind raschelten und Vogelgesang die Luft erfüllte. Mohn und Gänseblümchen sprießten überall auf Solsidan, diesem ausgedehnten Anwesen, das einst ein Kloster gewesen war und nun ein Aufnahmezentrum für Asylsuchende beherbergte, tief verborgen in der üppigen Landschaft drei Stunden nördlich von Stockholm.

Die Mönche waren seit Langem fort, und ihr verlassenes Kloster war von einer Philanthropin oder einem Philanthropen aus Schweden gekauft worden, die oder der anonym bleiben wollte. Innerhalb von wenigen Monaten hatte diese ungenannte Person das verwitterte Gelände, auf dem sich Wohnräume und eine zu einem Speisesaal umfunktionierte große Kapelle befanden, restaurieren lassen und die Türen für Geflüchtete und Asylsuchende geöffnet, die vor Kriegen in verschiedenen Teilen der Welt geflohen waren, darunter Somalia, Irak, Libyen und Syrien.

»Hamama«, wiederholte Ahmed, bevor er sich erneut Muna zuwandte und sie mit seinen in der Morgensonne glitzernden honigfarbenen Augen anlächelte.

Muna war früh aufgestanden und hatte sich an ihre tägliche Aufgabe gemacht, um das Hauptgebäude herum zu fegen und die vom Wind verteilten Blätter und Blüten auf Haufen zusammenzuschieben, die sie später beseitigen würde. Als sie auf die Veranda getreten war, hatte sie Ahmed entdeckt, der mit beiden Händen eine Tasse Kaffee hielt, an deren Seite ein Riss nach unten verlief. Er hatte wieder einmal ins Leere gestarrt, und Muna fragte sich, was ihm wohl durch den Kopf ging. Sie fragte sich, ob er genau wie sie wiederkehrende verzweifelte Träume hatte. Den meisten ihrer Mitgeflüchteten hier erging es so. Muna wusste noch immer wenig über Ahmed, bis auf die Tatsache, dass er Kurde war und seine Beziehung zu ein paar anderen Männern aus Syrien in ihrem Zentrum vergiftet zu sein schien.

Wenngleich seine Muttersprache Kurdisch und ihre Somalisch war, bildete das Arabische eine Brücke zwischen ihren Welten. Muna hatte gerade an ihm vorbeigefegt, als er ihr mit wortlosen Gesten zu verstehen gab, sie solle damit aufhören und sich zu ihm setzen.

Fünf Minuten waren nun vergangen, seit Muna ihren ockerorangefarbenen Jilbab zurechtgezupft und sich auf einen Korbstuhl neben Ahmed gesetzt hatte. Fünf Minuten des Schweigens.

»Ich kann die Laute von so vielen Vögeln unterscheiden.« Ahmed nahm einen Schluck von seinem kalten Kaffee. »Tauben, Rotkehlchen, Nachtigallen, Wasserläufer, Drosseln.« Sie sah stumm zu, wie er ein weiteres Mal an seinem Kaffee nippte. »Ich kenne sie alle.«

»Woher kennst du all diese Vogelstimmen?«

»Ich war früher der beliebteste Gärtner – nein, Landschaftskünstler – von ganz Aleppo«, erzählte er. »Man nannte mich einen Zauberer, weil ich aus Wüstensand Gartenoasen erschaffen konnte.« Er hielt den Blick auf den See gerichtet und beobachtete die kleinen Kräuselungen auf dessen Oberfläche. »Prinzen haben mich mit ihren Privatjets einfliegen lassen, damit ich ihnen Meisterwerke erschaffe«, fuhr Ahmed kurzatmig fort. »Ich wusste genau, welche Blume wo einzupflanzen war, welche Farben ich kombinieren musste, wie man Schönheit aus Hässlichkeit entstehen lässt. Eden aus der Hölle. Sie wollten mich. Brauchten mich.« Muna sah zu, wie er die tröstende Tasse hob, betrachtete sein gut geschnittenes Profil, wie sie es in den letzten neun Monaten schon häufiger getan hatte. Sie hatte zugesehen, wie sein Gesicht langsam von einem dunkelbraunen Bart bedeckt wurde, den zu rasieren er sich weigerte. Hatte gesehen, wie seine Stirn sich vor Schmerz runzelte, während seine Honigaugen irgendeinen Punkt in der Ferne suchten.

Er war erneut abgelehnt worden. Das wusste sie. Sie wussten es alle. Ihm war vom Migrationsverket – der schwedischen Migrationsbehörde – die Aufenthaltsgenehmigung verweigert worden, und nun blieb ihm nur noch die letzte Instanz. Er konnte nicht mehr. Die emotionale Erschöpfung forderte ihren Tribut, zog ihn tiefer hinunter in einen Zustand, in dem er nur noch selten lächelte.

Dabei wollten alle jungen Frauen im Zentrum Ahmeds entwaffnendes Lächeln sehen.

Muna erinnerte sich an jenen Abend, an dem ein großer Bus sie, Ahmed und fünfzig weitere Geflüchtete aus Südschweden den weiten Weg bis zu diesem Zufluchtsort mitten in den schwedischen Wäldern gebracht hatte. Dunkelheit hatte die Landschaft eingehüllt, und eine neue Form von Angst war in ihr aufgestiegen. Die Angst vor der Isolation an einem fremden Ort.

In Somalia hatten sie die Reise zu dritt begonnen. In Solsidan war Muna jedoch allein aus dem Bus gestiegen. Ihre Mutter Caaliyah und ihr jüngerer Bruder Aaden lagen irgendwo tief am Grund des Mittelmeers. Aaden war zuerst aus dem Schlauchboot gefallen, und Muna hatte gesehen, wie ihre Mutter sich nach ihm streckte, ehe sie selbst über Bord ging, ihr blauer Jilbab wie eine Qualle im Wasser treibend, bis er außer Sicht geriet. Die starken Arme eines Mannes aus Algerien, eng um Munas Taille geschlungen, hatten sie davon abgehalten, ebenfalls wie eine Qualle auszusehen. An jenem Tag hatte Muna erfahren, wie laut sie schreien konnte.

Als sie Wochen später Schweden erreichte, war sie immer noch heiser. Sie blieb wie angewurzelt neben dem Bus stehen, ihren kleinen Beutel in der Hand, in demselben ocker-orangefarbenen Jilbab, den sie auch an diesem Tag trug.

Ahmed hatte sich umgedreht und sie gesehen. Er erkannte ihre Beklommenheit und streckte die Hand aus, um ihr beim Tragen ihres Beutels zu helfen, der so gut wie nichts wog. Muna blickte ihn an und nickte zum Dank. Damals hatte sie zum ersten Mal die Sonnenstrahlen von Ahmeds Lächeln gespürt.

SOLSIDANS ASYLCENTER: Muna las diese Worte auf einem Metallschild neben der hölzernen Flügeltür, als sie an jenem Tag flankiert von zwei kurzen Reihen aus Personal – drei Personen auf jeder Seite –, nacheinander einen großen Saal betraten.

»Välkomna till Sverige!«, begrüßte sie ein weißer Mann mit dicken Brillengläsern, der sich ihnen als Solsidans Leiter Mattias vorstellte und auf seinen schwedischen Gruß ein »As-salāmu ’alaykum!« folgen ließ. Mattias war stämmig und sah aus, als wäre er in seinen Fünfzigern.

Auf Muna wirkte Mattias verdächtig fröhlich für die späte Stunde. Die Gruppe antwortete ihm schwach. Sie waren hungrig und müde. Die meisten hatten seit Wochen nicht geduscht.

Mattias führte sie nebenan in eine Kapelle, in der bereits frisches Sauerteigbrot und Suppe aus Wurzelgemüse auf den neuen Schwung Bewohnerinnen und Bewohner warteten. Es war kurz vor elf Uhr abends gewesen, als sie sich in jener verschnörkelten Kirche an den ovalen Tischen versammelt hatten, um Suppe zu schlürfen und Brot darin einzutunken.

Muna hatte sich stumm zu einer Gruppe eritreischer und somalischer Frauen gesetzt, die mehrere Kinder auf ihren Knien und Hüften balancierten. Ein Baby begann, mit kehligen Lauten des Unwohlseins zu weinen, und Muna befürchtete, dass dieses Baby gerade seine letzten Tränen vergoss. Es musste durch bergiges Gelände und als Meere bezeichnete Abgründe gereist sein, unter Bedingungen, die einen erwachsenen Mann umgebracht hätten. Muna hatte unterwegs bereits miterlebt, wie Babys in ähnlichem Alter zum letzten Mal weinten. Sie erkannte jenes tiefe Versinken im Schmerz, den keine Muttermilch lindern konnte. Eine Bastion der Verzweiflung, die keine Ärztin zu heilen vermochte. Muna ging davon aus, dass diesem Baby nur noch wenige Tage auf dieser Erde bleiben würden.

Sie hatte die Veränderung bemerkt, als an den Tischen ähnliche Sprachen und Dialekte zueinanderfanden. Araber, Afghaninnen, Somalier und Eritreerinnen trafen und versammelten sich, während Ahmed allein an seinem Tisch saß. Sie hatte den gut aussehenden Fremden studiert, der ihr mit ihrem Beutel geholfen hatte, und sich gefragt, was wohl seine Geschichte war.

Zwei Jahre später hatte ihr Zufluchtsort sich unbeabsichtigt in ein Gefängnis verwandelt, und Mattias war ihrer aller Richter, Gefängnisdirektor, Bankangestellter und omnipräsenter Hüter. In den vergangenen neun Monaten hatte Ahmeds Charakter sich langsam in einer Resignation aufgelöst, die Muna Angst einjagte.

»Schau mal!« Ahmed zeigte auf einen bescheidenen Garten, kaum zwanzig Meter entfernt von der Stelle, an der er und Muna gerade saßen. »Meine gelben Rosen blühen.« Mattias hatte ihm erlaubt, mit seinen Fingern endlich wieder in der Erde zu graben. Er hatte Ahmed jenes kleine Stück Garten zur freien Verfügung überlassen. Schließlich sei es so tüchtig von Ahmed, dass er Gärtner sei, wie Mattias stets wiederholt hatte.

»Sie sind wunderschön.«

»Ja. Genau wie du, Muna.«

Bei diesem Kompliment senkte sie schüchtern den Blick. Sie hatte noch nie davon gehört, dass ein Kurde eine Beziehung mit einer Somalierin eingegangen wäre, also blieben seine Komplimente nicht mehr als das – Schmeicheleien ohne Aussicht auf eine Romanze. In Munas Welt führte Umwerben zu einer Ehe, andernfalls war es nichts als nutzloses Theater.

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie, um seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.

»Ich weiß es nicht, liebe Muna, aber ich bin müde.«

»Bitte sprich nicht so. Insha Allah khair. Habe Hoffnung.«

Er lachte gequält. »Hoffnung?«

»Ja, Ahmed. Hoffnung.«

Sie konnte ihm nicht sagen, dass sie endlich anerkannt worden war. Ihr war gestattet worden, in diesem Land zu bleiben. Aber Muna wollte Solsidan nicht verlassen. Sie kannte nichts und niemand anderen. Sie konnte ihren Freund nicht im Stich lassen. Aber er wusste es bereits.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte er und blickte in ihr glattes Gesicht, das von ihrem Jilbab oval umrandet wurde. »Ich habe es gehört.«

»Es tut mir leid.«

»Braucht es nicht. Allah will es noch nicht für mich. Er versucht, mir etwas beizubringen.«

»Hast du nicht schon genug gelernt?«

Ahmed verzog das Gesicht und nahm noch einen Schluck aus seiner fast leeren Tasse. Muna betrachtete weiter sein Profil, die lange Narbe, die seine linke Wange hinunterlief, den neuen blauen Fleck unter seinem linken Auge, den er von einer Rangelei mit einem anderen Bewohner hatte, der ihm ins Gesicht gespuckt und ihn als Stellvertreter der Kurden beschimpft hatte, die versuchten, sich aus Syrien ihr eigenes Gebiet herauszubrechen und das Land damit auseinanderzureißen.

Wie Muna hatte auch Ahmed hier niemanden. Also saßen sie oftmals lange Zeit schweigend beisammen. Trösteten sich mit der Tatsache, dass sie nicht ganz allein waren, solange sie beide da waren. Nach zwei Jahren wusste sie noch immer nur sehr wenig über ihn.

Sie sah zu, wie er seine Lippen zu einer harten Linie zusammenzog, die Arme vor der Brust verschränkt, der Blick verloren. Und sie wusste, dass weder Mattias noch irgendjemand anderes Ahmed auf irgendeine Weise dazu bringen könnte, dieses Land zu lieben. Er hatte überhaupt nicht herkommen wollen.

Ahmed unterbrach Munas Gedanken, indem er nach ihrer Hand griff, worauf sie heftig zurückzuckte. Ihm war klar, dass er sie nicht so berühren durfte, aber das Leuchten in seinen Augen verriet ihr alles, was sie wissen musste.

»Ich wünschte, ich könnte dich heiraten, Muna.«

»Ich glaube, du suchst gern Ärger, Ahmed. Ich kann es in deinen Augen sehen.«

Er lächelte. »Der Ärger scheint mich stets zu finden.«

»Aber das ist nun nicht länger so. Sieh dir an, wo du bist. Sieh dir an, wo wir sind.« Muna strich sich in unnötiger Übertreibung mit einer Hand über die Brust.

Der Frühling hatte dem Kloster neues Leben eingehaucht nach einem langen, harten Winter, in dem sie alle ihre Entscheidung verflucht hatten, überhaupt um ihr Leben zu fliehen. Wäre Solsidan ein exklusives Retreat auf dem Land, würden die Leute viel Geld für einen Aufenthalt hier zahlen, vermutete Muna. Schmale Wanderpfade führten einmal um den ganzen See herum, schlängelten sich durch Eichenwälder und Wiesen mit Wildblumen. Bald würde es Zeit sein, Blaubeeren zu pflücken, wie Mattias es ihnen im letzten Jahr gezeigt hatte. Bald würden sie Blaubeerkonfitüre und Saft aus den herben Beeren machen, und Limonade aus den Zitronen des Lebens.

Die Vögel zwitscherten lauter, als die Sonne immer höher stieg. Mittlerweile war es hell, und alles und alle erwachten zu neuem Leben. Muna saß neben einem Mann, der jeden einzelnen Vogel in diesem Konzert erkannte, und sie sehnte sich danach, dass er sich ihr gegenüber öffnete. Ihr mehr darüber erzählte, weshalb er geflohen war. Die lange Narbe erklärte, die sein Gesicht hinunterlief, ob er den bernsteinfarbenen stechenden Blick von seiner Mutter oder seinem Vater hatte, und ob die beiden noch am Leben waren.

Denn auch sie wollte sich ihm gegenüber öffnen. Wollte ihm von ihrem Bruder Aaden berichten, der Fußball mit einer obsessiven Leidenschaft geliebt hatte, und von ihrer Mutter Caaliyah, die sie beide augenblicklich gepackt hatte und mit ihnen um ihr Leben geflohen war, nachdem Munas Vater Mohammed getötet worden war. Sie wollte Ahmed in allen Einzelheiten erzählen, wie sie sie alle verloren hatte.

Aber Muna stellte fest, dass Ahmed keine Wurzeln schlagen wollte. Nicht emotional. Das eigene Leben zu entwurzeln war zu schwer, als würde man qualvoll Zähne ausziehen, und sie spürte, dass Ahmed in seinem Leben schon zu oft ungewollt irgendwo herausgerissen worden war.

Also blieb sie geduldig mit ihm.

»Zumindest ist es hier friedlich. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir frei sein werden, aber es ist ruhig und schön, am See zu wohnen.« Ihre Stimme ließ sie schließlich im Stich, als ihr bewusst wurde, dass sie ihren eigenen Worten nicht glaubte.

Sie sah, wie sein Kiefer sich verspannte. Ahmed schaute sie an.

»Meine liebe Muna«, begann er. »Ich bewundere deinen Optimismus. Aber ich würde lieber nach Hause zurückkehren und im Kampf um etwas sterben, als tatenlos hier im Paradies zu leben und den Vögeln zu lauschen.«

Zwei

Kẹmi

»Schweden?«, wiederholte Kehinde am anderen Ende der Leitung. Die Kakofonie im Hintergrund wies darauf hin, dass es bald Zeit zum Abendessen war und Kemis Zwillingsschwester Kehinde gerade versuchte, Kemis Neffen unter Kontrolle zu bringen. Sie hätte wissen sollen, dass nicht der richtige Zeitpunkt zum Anrufen war.

»Ja, Schweden«, fuhr Kemi fort, während sie die Pennsylvania Avenue hinunterlief, wie immer spät von der Arbeit kommend. Nach Ingrids Anruf hatte sie über den Notizen gegrübelt, die sie sich dabei gemacht hatte.

Ms. Johansson und Mr. von Lundin würden nach Washington, DC fliegen, um sich am Freitag mit ihr zum Mittagessen zu treffen. Später an jenem Nachmittag wollte Connor im Büro ihre Leistungen mit Kuchen feiern, da sie nun die »heißeste Braut« auf dem Markt war – seine Worte.

Connor hatte vorhergesehen, dass die Konkurrenz versuchen würde, Kemi abzuwerben, ohne zu wissen, dass Jonny bereits den ersten Schritt getan hatte. A&A war Plankton im Vergleich zu von Lundin, einem Hai.

Kemi fühlte sich geschmeichelt. Wären doch nur ihre Datingaussichten so vielversprechend wie ihr Arbeitsleben. Dann könnte sie die berauschende Macht genießen, über die sie derzeit verfügte, da zwei mächtige Männer hinter ihr her waren.

»Was war nochmal mit Schweden?« Kehindes Mangel an Konzentration unterbrach Kemis Gedanken wie eine schlechte Telefonverbindung, ehe Kehinde jemanden im Hintergrund anschrie und scheppernd etwas fallen ließ.

»Eins der größten Marketingunternehmen der Welt möchte, dass ich nach Schweden ziehe und ihre Leiterin für globale Diversität werde!«, brüllte Kemi halb ins Telefon.

»Herzlichen Glückwunsch! Nimm an und geh. Gott weiß, dass du dein Leben in vielerlei Hinsicht mal aufmischen musst.«

»Einfach so?«

»Ja, einfach so. Hör zu, meine Soße brennt gleich an. Komm übers Wochenende runter nach Virginia, dann können wir uns in Ruhe unterhalten. Die Kids fragen nach ihrer coolen Tante.« Kehinde legte auf.

Kemi steckte ihr Telefon ein und wanderte weiter die Pennsylvania Avenue hinunter. Es war ein warmer Frühlingsabend, und kleine Kirschblütenblätter wehten umher. Wann immer sie Zweifel hatte oder von ihrer Unentschlossenheit gelähmt wurde, ließ Kemi ihre Zwillingsschwester Entscheidungen für sie treffen und ihr so beim Heben der Last helfen. Hauptsächlich, weil die beiden eine telepathische Verbindung zu haben schienen und instinktiv wussten, was für die andere das Beste war. Insbesondere, wenn die andere sich dagegen wehrte.

Wie es bei allen Yoruba-Zwillingen Brauch war, hatte man sie bei der Geburt Taiwo und Kehinde genannt. Taiwo bedeutet »die Welt zuerst kosten«, und Kehinde bedeutet »danach kommen«. Aber sobald sie alt genug war, um diese Entscheidung zu treffen, also nachdem ihr Vater zum letzten Mal ihre Studiengebühren bezahlt hatte, beschloss Kemi, stattdessen die Kurzform ihres mittleren Namens Oluwakemi – »Gott kümmert sich um mich« – zu verwenden, vor allem, um die metaphorische Nabelschnur zu Kehinde zu durchtrennen, damit die beiden sie selbst sein konnten und nicht dadurch definiert wurden, dass sie eineiige Zwillinge waren.

Dennoch nannten ihre Eltern und alle in ihrem erweiterten Familienkreis sie nach wie vor Taiwo, ohne sich um ihre Entscheidung zu scheren.

Mit achtzehn Jahren waren die Zwillinge von Lagos in die Vereinigten Staaten gezogen, um an der University of Richmond zu studieren. Kehinde hatte sich in einen Informatikstudiengang vertieft, was den Vorstellungen ihrer Eltern eher entsprach, während Kemi in Marketingseminaren herumgetrödelt hatte. Ohne die Eltern waren die Zwillinge sogar noch näher zusammengerückt, hatten auch ihr weiterführendes Studium gemeinsam in Richmond abgeschlossen und nie gewagt, sich in Amerika voneinander zu trennen.

Fünfzehn Jahre nach ihrer Ankunft hatte Kemi sich dann nach DC getraut, während Kehinde noch immer in einem Vorort von Richmond lebte.

Kehinde sagte, sie solle den Job annehmen. Ihr Leben »aufmischen« – eine provokante Aussage, die Kemi so verstand, dass sie aufhören sollte, sich in jenem Sumpf der Verzweiflung zu suhlen, in dem sie gerade steckte.

»Du verdienst jemanden, der dir in jeder Hinsicht ebenbürtig ist.« Kehindes oftmals wiederholten Worte schwebten ihr durch den Kopf, als eine Nachricht auf ihrem iPhone aufploppte. Ein potenzieller Verehrer auf der Suche nach einem Date.

»Du hast so hart gearbeitet, um den Punkt zu erreichen, an dem du jetzt in deinem Leben und in deiner Karriere bist«, dröhnte Kehindes Stimme in ihrem Kopf weiter. Kemi schob die Gedanken an ihre Schwester beiseite, während sie die Nachricht las. Ein junger, gut aussehender afroamerikanischer Elektriker war an ihr interessiert.

»Hör mal, ich weiß, dass Liebe nichts mit Herkunft oder Karriere zu tun hat, aber mal im Ernst, wenn eine leitende Marketing-Expertin Verabredungen mit Hausmeistern in Betracht zieht, dann läuft irgendetwas schief.« Ein Elektriker, der regelmäßig Sport treibt, gerne liest und thailändisches Essen mag – Kemis Lieblingsessen.

»Ich meine, was würden Daddy und Mommy sagen, wenn du jemanden mit nach Hause bringst, der deines Standes nicht würdig ist?« Sie wischte sich durch Fotos des Elektrikers in verschiedenen Stadien der Entkleidung, auf denen er seinen Waschbrettbauch präsentierte, der wie aufgemalt aussah.

»Wie auch immer, ich weiß, dass du einsam bist und keine Lust mehr hast zu suchen, aber Gottes Zeit ist immer die beste. Sieh doch nur, wie Er Lanre in mein Leben brachte, als ich einen Ehemann am wenigsten erwartete, eh?« Kemi fragte sich, ob sie auf diesen Bauchmuskeln wohl eine Münze springen lassen könnte.

Und dann klickte sie auf »Annehmen«, um es herauszufinden.

Ein paar Tage später starrte Kemi auf den nervösen blonden Schönling vor sich. Sie hatte bemerkt, wie die Leute sich nach ihm umdrehten, als Jonny hinter Ingrid hereinspaziert kam, wobei manche sich sicher fragten, ob er ein Model sei, während andere sich daran zu erinnern versuchten, in welchem Film sie ihn gesehen haben mochten.

Nun drehte Jonny sein Buttermesser, klopfte mit manikürten Fingern auf den Tisch und spielte an allem herum, was nicht festgeschraubt war. Ingrid ließ sich von seiner Überspanntheit nicht stören und führte bei Steaks, die für ein Mittagessen viel zu üppig waren, die gesamte Unterhaltung. Jonny hatte darauf bestanden, sie in das teuerste Steakhouse in Washington, DC auszuführen. Offensichtlich wollte er Kemi zeigen, dass er sich all ihre Forderungen leisten konnte.

Wenn Jonny glaubte, seine Restaurantwahl würde ihr imponieren, dann entschied Kemi in diesem Augenblick, dass er einen eher schwachen Eindruck hinterließ.

»Kemi, wir würden uns geehrt fühlen, wenn Sie unser Angebot ernsthaft in Betracht ziehen würden«, erklärte Ingrid strahlend.

»Ich hoffe, meine Anwesenheit hier legt nichts Gegenteiliges nahe«, erwiderte Kemi, ehe sie einen Bissen von dem zarten Filet Mignon nahm, das schmolz, sobald es ihre Zunge berührte.

»Natürlich. Das bezweifeln wir nicht, und wir sind Ihnen dankbar, dass Sie sich die Zeit genommen haben, uns an diesem schönen Freitag zu treffen«, fuhr Ingrid fort und spießte mit ihrer Gabel ein paar Blätter aus ihrer Salatschüssel auf. Kemi wurde verlegen, als sie sich am Tisch umblickte und feststellte, dass sie die Einzige war, die bei ihrer vorzüglichen Mahlzeit zulangte.

Jonny butterte und verschlang zwei frisch gebackene Brioche-Brötchen, hatte sein Steak jedoch nicht angerührt. Seine Gedanken schienen abzuschweifen und umherzuflattern, und Kemi war sich nicht sicher, ob sie überhaupt irgendetwas mit ihren Anwerbungsbemühungen zu tun hatten. Für Kemi zeigte dieses Gezappel einen Mann, der sich in seiner Haut unwohl fühlte. Die Blicke der anderen Gäste waren noch immer auf ihren Tisch gerichtet, und Kemi fragte sich, ob er es leid war, dass Fremde ihn von überallher anstarrten.

Litten ausgesprochen attraktive Menschen auf diese Weise?, fragte sich Kemi. Eingesperrt in den Käfig ihres Körpers, während die Welt um sie herumglitt, sich bei ihrem Erscheinen wie das Rote Meer teilte und sie wie erstarrt anglotzte?

Aber so weit war die Welt noch nicht. Sie war noch nicht bereit, sich anzuhören, wie umwerfend schöne Menschen ihre Schönheit als eine Benachteiligung darstellten. Für diesen Kampf würden sie von Kemi kein Mitleid bekommen. Stattdessen nervte Jonnys Gezappel sie ohne Ende.

»Wie viel wollen Sie haben?«, mischte Jonny sich wieder ein, ließ seinen Blick auf ihr ruhen als Warnung, sich ihm nicht noch einmal zu verweigern. Dies war eine Seite an ihm, die zeigte, dass er seine Privilegien mit Leichtigkeit zu nutzen wusste, um andere einzuschüchtern, dachte Kemi. »Was es auch ist, wir zahlen doppelt so viel.«

»Sie verlangen von mir, mein Leben hier aufzugeben. Das ist keine Entscheidung, die ich so einfach zwischen zwei Bissen treffen kann«, erwiderte Kemi. »Ganz egal, wie gut das Steak ist.« Sie hielt seinem Blick stand.

»Selbstverständlich«, sagte Jonny. »Aber ich werde Ihnen diesen Wechsel leicht machen. Ich werde nicht nur Ihr derzeitiges Gehalt verdoppeln, sondern mich auch um alles andere kümmern. Ihre Sachen nach Schweden transportieren, Ihr Auto eingeschlossen. Sie zu einem Sprachkurs anmelden. Ich werde den Umzug nach Stockholm für Sie so schmerzlos wie möglich gestalten. Das verspreche ich Ihnen, Kemi.«

Sie hörte auf zu kauen und blickte ihn an. Sie konnte ihm die Unterstützung geben, die er brauchte. Da saß er, einer der mächtigsten Männer in Werbung und Marketing, und servierte ihr seine Firma auf dem Silbertablett. Ein winziger Teil von ihr erfreute sich an seiner Verzweiflung. Alles nur, weil er wusste, dass er »diversifizieren« musste, und nicht begriff, wie er dieses Schlagwort in konkrete Handlungen umsetzen sollte, die über das Einstellen von braunen Gesichtern hinausgingen. Jonny war bereit, dem Problem so viel Geld hinterherzuwerfen, wie er konnte, da er wusste, dass er es beheben musste, um am Markt zu bleiben.

»Also, diese neue Stelle«, begann Kemi, »ist die nur Show?« Die Möglichkeit, dass sie eingestellt wurde, nur um eine Diversitätsquote in einem fremden Land zu erfüllen, war mehr, als sie emotional verkraften könnte. Im Land eines anderen Menschen zur Requisite zu werden, war das Letzte, was sie brauchte. Ihr Herz konnte keine weiteren Kämpfe mehr austragen.

Ihre direkte Frage überraschte ihn.

»Nur Show?«, wiederholte er und verengte die Augen zu Schlitzen. »Natürlich nicht. Niemals würde ich Sie so missachten. Ich schaffe diese neue Stelle einer globalen Leiterin für Diversität und Inklusion, weil uns ohne sie etwas fehlt. Das erkenne ich. Wir müssen inklusiver werden.«

»Was bedeutet Inklusivität für von Lundin Marketing?«, forderte Kemi ihn heraus. »Dieser Tage wird nämlich oft mit Schlagwörtern um sich geworfen, ohne dass echte Absichten dahinterstecken.«

Jonny funkelte Kemi an, während Ingrid aufhörte, in den Salatblättern herumzustochern, und Jonny anblickte, auf seine Antwort wartend.

»Nun …«, setzte Jonny an und legte sich seine Replik zurecht. »Inklusion bedeutet –«

»Lassen Sie mich gleich zum Punkt kommen«, unterbrach Kemi ihn. »Wie divers ist Ihr Spitzenmanagement?«

Sie beobachtete, wie sich augenblicklich sein Kiefer anspannte und sein Blick aufflackerte. Er mochte es nicht, unterbrochen zu werden. Dass Kemi ihm ins Wort gefallen war, als er noch nicht fertig gesprochen hatte, hatte ihn irgendwie körperlich aus dem Gleichgewicht gebracht, denn er begann nun, seine Finger zu spreizen und wieder zu Fäusten zusammenzuziehen, und wiederholte diese Bewegung, während er sie starr anblickte. Kemi runzelte die Stirn und musterte ihn. Jonny von Lundin hatte ein paar Ticks, die sie nicht richtig einordnen konnte. Sie wusste nicht, ob er einfach daran gewöhnt war, immer seinen Willen zu bekommen, ob er mit nervösen Zuckungen zur Welt gekommen war, oder ob es noch irgendetwas anderes war.

Ingrid sprang ein, um ihr Gespräch wieder in Gang zu bringen, da Jonny wie erstarrt schien.

»Als Personalleiterin versichere ich Ihnen, dass Jonny und ich dieses Problem aktiv angehen. Angefangen damit, Sie einzustellen, Kemi.«

Sie – besser gesagt, Kemi – beendeten ihr Mittagessen, und Jonny brachte die beiden Frauen zur Tür, wo der Parkdienst mit seinem gemieteten Sedan vorfuhr und für Ingrid und Kemi die Türen aufriss.

»Jonny fährt gern selbst«, erklärte Ingrid, als hätte sie Kemis Gedanken gelesen. »Außer in London. Dort nimmt er sich einen Fahrer.«

Jonny fuhr sie zurück zu Andersen & Associates, wo sie wusste, dass Connor, Rita, Nicole und ihre anderen Kolleginnen und Kollegen mit Kuchen und Champagner auf sie warteten. Sie fühlte sich wie eine Ehebrecherin, die sich aus dem Bett ihres Liebhabers schlich und, ohne zu duschen, nach Hause zurückkehrte. Sie wusste, dass ihr nervöses Verhalten sie verraten würde.

»Es war mir ein Vergnügen, Ingrid und Jonny«, dankte sie den beiden, bevor sie aus dem Wagen stieg.

»Das Vergnügen ist ganz auf unserer Seite, Kemi«, antwortete Ingrid.

»Ich teile Ihnen meine Entscheidung nächste Woche mit. Gute Reise zurück nach Stockholm.« Mit einem kurzen Winken kehrte sie in ihr Gebäude zurück.

»Da ist sie!« Connors Stimme empfing Kemi, als sie auf ihr Büro zuging. Er hielt zwei Champagnerflöten in den Händen, schritt auf sie zu und reichte ihr eine. Sie lächelte schwach und drehte sich zu den etwa zwanzig versammelten Kolleginnen und Kollegen um, die bereits angefangen hatten, eine quadratische Torte aufzuteilen und Stücke aus purpurrotem Biskuit herauszuziehen. Red Velvet, ihr Lieblingskuchen.

Connor folgte ihrem Blick auf die Süßspeise. »Du wirkst auf mich wie ein Red-Velvet-Mädchen, also habe ich Rita diese Torte besorgen lassen.« Sein Blick kehrte zu ihr zurück und streifte über ihre Brust. Kemi griff instinktiv zum Ausschnitt ihrer Bluse, um ihn zurechtzuziehen. Connor biss sich vielsagend auf die Unterlippe.

Sie nahm ein Stück Kuchen entgegen und nippte an ihrem Champagner, der sich in ihrer Kehle in Feuer verwandelte. Irgendjemand begann, mit der Kuchengabel gegen ein Glas zu schlagen, und bald ertönte eine Kakofonie von gegen Glas schlagendem Besteck.

»Ein Toast auf die großartige Ms. Adeyemi«, fing ihre Assistentin Nicole an. »Es ist mir eine solche Ehre, dich zur Chefin zu haben.«

»Bravo!« Kolleginnen und Kollegen erhoben ihre halb leeren Gläser. Jemand anderes klopfte gegen sein Glas, um einen Toast auszusprechen.

»Kemi, du bist ein Riesengewinn für diese Firma. Ohne dich wäre A&A verloren«, sagte Bill, ein Vertriebler aus Nebraska.

»Bravo!« Alle nahmen erneut einen Schluck Champagner.

Kemi erstarrte, als sie Connors Handfläche auf ihrem unteren Rücken spürte, während dieser sich nah an sie heranschob, um ein paar Worte zu sagen.

»Ihr wisst ja alle, dass Kemi in meinen Augen ein Rockstar ist.« Er grinste jungenhaft. Die hellen Sommersprossen auf seiner Nase und sein rötliches Haar ließen ihn um Jahre jünger wirken als Ende vierzig. »Einmal zur landesweiten Marketing-Expertin des Jahres gewählt zu werden, ist schon erstaunlich …«

Er drehte sich zu Kemi um und fixierte sie erneut mit einem nackten Blick aus seinen haselnussbraunen Augen. Die Hitze von Connors Hand auf ihrem unteren Rücken schoss ihr die Wirbelsäule hinauf. Es ähnelte dem Gefühl, wenn man sich die Zunge an heißer Suppe verbrennt.

»Aber zwei Jahre hintereinander? Das ist, Scheiße nochmal, unglaublich, wenn ihr meine Ausdrucksweise entschuldigt«, fügte Connor hinzu, ehe er mit seiner Champagnerflöte gegen Kemis stieß. Mit dieser Berührung hatte Connor eine Grenze überschritten und ihren Entschluss gefestigt. Sie würde nach Schweden ziehen.

Inmitten des Jubels der Kolleginnen und Kollegen, die ihre Auszeichnung feierten, beugte Kemi sich zu Connor hinüber.

»Ich muss mit dir reden«, flüsterte sie. Er nickte, leerte den letzten Schluck aus seinem Glas und führte sie dann unter den Blicken der neugierigen Belegschaft zu seinem Büro.

»Ist alles in Ordnung?« Seine Stirn zog sich besorgt in Falten, als er die Tür hinter ihnen schloss. Sie holte tief Luft.

Um ehrlich zu sein, mochte sie ihre Arbeit bei A&A. Ihre Karriere war so weit aufgeblüht, wie Connor es zuließ. Aber das war die Krux an der Sache. Connor war ihre Decke. Er behauptete, ihrer Arbeit zu vertrauen, aber dann setzte er sich allzu oft über Kemis Entscheidungen hinweg, um seinen Status zu demonstrieren. Das war Connors Art, zu sagen: Gib mir, was ich mir wünsche, und ich gebe dir, was du willst. Sie würde nie in der Lage sein, ihn vom Thron zu stoßen.

Währenddessen erschuf Jonny für sie einen eigenen maßgeschneiderten Thron, und sie würde allein entscheiden. Wie konnte sie das ablehnen?

Kemi war bereit, zu gehen. Sie hatte von Lundins Angebot noch nicht angenommen, aber in absehbarer Zukunft weiterhin in Connors Dunstkreis zu verharren, wäre das schlimmere Schicksal. Sie würde das Risiko eingehen.

Connor rückte näher, worauf sie einen Schritt rückwärts machte, was ihn innehalten ließ.

»Was ist los?«

»Ich gehe.«

»Warte, was?«

»Ich verlasse Andersen.«

Die Neuigkeit schien ihn körperlich zu treffen. Er riss die Augen weit auf, blähte die Nasenlöcher und ließ die Muskeln seiner starken, sommersprossigen Arme – die durch bis zu den Ellbogen aufgerollte Ärmel stets entblößt waren – spielen.

»Du gehst? Warum?«

»Ich habe ein Angebot von einer anderen Firma bekommen und wäre dumm, wenn ich es nicht annehmen würde, Connor. Es ist rein geschäftlich.«

»Rein geschäftlich?«

»Nimm es nicht persönlich.«

»Wer ist es?«

»Das ist nicht wichtig. Ich hatte gehofft, du würdest dich für mich freuen.«

»Dann habe ich dich also nie glücklich gemacht?«

Er fragte sie aus, als würde sie ihn für einen seiner Freunde verlassen. Seine Besorgnis verwandelte sich in eine stille Wut, die unter der Oberfläche simmerte.

»Connor, ich brauche diesen neuen Job.«

»Also gut …« Er biss sich auf die Unterlippe. »Was kann ich da noch sagen, außer: Herzlichen Glückwunsch.«

»Ich wollte es dir nicht auf diese Weise mitteilen.«

»Schon okay. Wir kriegen das schon hin.« Sie glaubte ihm nicht, aber irgendwie musste es weitergehen.

»Danke für dein Verständnis.«

Er lachte deutlich verletzt in sich hinein. »Ich habe es mir nicht ausgesucht, aber ich hoffe, wen auch immer du mir, uns vorgezogen hast, hat es verdammt nochmal verdient. Ich hoffe, diese Person ist vor dir auf den Knien herumgerutscht, denn du bist jeden Cent wert.«

Sie nickte als Antwort. Connor ging zu ihr und zog sie mit seinen starken Armen in eine Umarmung. Sie spürte, wie sein Gesicht sich zu ihrem Hals beugte und er ihren Zitrusduft tief einatmete, während seine Hände ihren Rücken entlang ein paar Zentimeter weiter nach unten wanderten und dann innehielten, ehe sie eine unangebrachte Stelle erreichten. Kemi wusste, dass er diese Grenze niemals überschreiten würde. Er war sie die letzten vier Jahre auf Zehenspitzen entlanggeschlichen.

»Gib uns noch einen Monat, ehe du gehst«, verlangte er in die Richtung ihres Halses, sein Atem heiß auf ihrer Haut.

Kemi schubste ihn energisch von sich. Sie sah zu, wie ersich sammelte, ein beschämtes Grinsen im Gesicht. Dann nahm sie einen tiefen, erdenden Atemzug, bevor sie ihm knapp antwortete, frustriert darüber, dass er sie ein letztes Mal zwang, ergeben zu nicken.

»Ich bin mir sicher, das lässt sich machen.«

Er nickte, nahm seinen Trostpreis entgegen, ehe er sich zum Gehen wandte.

»Connor«, rief sie. Er wirbelte erneut herum. »Bitte sag es den anderen noch nicht.«

Er schürzte die Lippen und demonstrierte mit einem weiteren kurzen Nicken seine stille Solidarität, um dann mit großen Schritten das Büro zu verlassen.

Brittany-Rae

»Johan von Lundin.« Mit lang gezogenen Vokalen las Jamal laut den Namen auf der Visitenkarte, die er auf ihrem Nachttisch gefunden hatte. Er hob die Karte an seine Nase und roch daran. »Hmm … White Savior. Was ist das? Das Weißbrot der Woche?«

»Hör auf!«, sagte Brittany ungehalten, während sie versuchte, ihren BH zu schließen. Sie saß auf der Kante ihres gemütlichen Bettes in ihrem gemeinsamen Reihenhaus in Alexandria, Virginia, zehn Autominuten entfernt von Washington, DC.

»Komm, ich helfe dir.« Jamal ließ die Decke von seinem straffen nackten Körper gleiten und rutschte näher. Statt ihr zu helfen, machte er jedoch ihren Versuch zunichte und zog sie zu einem hungrigen Kuss zurück auf das Bett, während Brittany in scherzhaftem Erschrecken kreischte.

»Ich wollte nur noch ein bisschen mehr«, schnurrte er gegen ihre Lippen, und sie vertiefte den Kuss, ehe sie sich ihm erneut entzog.

»Ich muss los, Baby«, sagte sie und versuchte noch einmal, aufzustehen. »Ich muss zur Arbeit.«

Er rang sie sanft nach unten für einen weiteren Kuss, bettelte sie an, zu bleiben. Ständig reiste sie irgendwo um die halbe Welt, und er blieb zurück und wartete darauf, sie in seine Arme schließen zu können, ehe sie wieder verschwand. Zu viele Jahre ging das nun schon so.

Sie hatten sich in einer Dachterrassenbar im Dupont-Circle-Viertel in Washington kennengelernt. Jamal hatte das grazile Model in einem roten hautengen Einteiler in Begleitung einer Freundin hereinschlendern sehen. Sie hatte sich auf der Suche nach einem Sitzplatz umgeschaut, bis ihr Blick auf ihm landete. Er hatte sein Glas zuprostend erhoben, und sie hatte die Geste mit einem gespielt schüchternen Lächeln erwidert, das nahelegte, dass auch ihr gefiel, was sie sah. Jamal schlängelte sich durch die Menge auf sie zu, wurde auf dem Weg jedoch von Bekannten hierhin und dorthin gezogen. Als er sich endlich breit vor ihr aufstellte, brachen sie gleichzeitig in Gelächter aus.

»Das war ja der reinste Hindernisparcours«, bemerkte Brittany, ehe sie mit ihrem Cocktailglas an seins stieß. »Gut gemacht.«

»Zumindest habe ich es bis hierher geschafft«, lachte er.

»Brittany.« Sie streckte ihm ihre sorgfältig manikürte Hand entgegen, die er begierig ergriff, als wäre sie eine Auszeichnung für das Vollenden des Parcours.

»Jamal«, stellte er sich vor. »Kommst du öfter hierher?«

»Ja, wann immer ich in der Stadt bin.«

»Bist du nicht von hier?«

»Nicht so richtig. Ich fliege beruflich immer von Dulles aus. Ich bin Flugbegleiterin«, fügte sie hinzu. Aus irgendeinem seltsamen Grund fühlte sie sich wohl genug, um diesem Fremden ihre Routine zu offenbaren.

»Verstehe. Welche Airline? Wenn ich fragen darf, natürlich.«

Sie wich dieser Frage aus. Sie wollte zuerst mehr über diesen großen, dunklen und gut aussehenden Brother erfahren, der Selbstvertrauen und Eleganz ausstrahlte.

»Ich bin dran«, flirtete sie. »Bist du aus der Gegend?«

»Durch und durch aus DC. Ich bin Anwalt. Wirtschaftsanwalt. Ich verfolge böse Typen in Anzügen.«

»Wie mutig«, neckte sie ihn. »Magst du deine Arbeit?«

»Vielleicht kann ich dir das bei einem Abendessen erzählen?«, antwortete er. Sie lächelte, und sie stießen erneut an.

Das war nun vier Jahre her, und ihre Beziehung war mit jedem Jahr stärker geworden. All ihre Bekannten sagten, sie seien das perfekte Paar. Gut aussehende, stattliche Erscheinungen. Das ehemalige Model und der ehemalige Basketballer.

»Wie lange sollen wir das noch so machen?« Jamal strich ihr über den Rücken, fuhr mit dem Finger über dessen glatte Vertiefung, für einen Augenblick abgelenkt von seiner Aufgabe.

»Was meinst du?«

»Du weißt genau, was ich meine.«

»Hör mal, wir haben Zeit. Ich muss mir meinen nächsten Schritt überlegen«, begann sie.

»Können wir uns den nicht gemeinsam überlegen?« Seine streichelnde Hand hatte innegehalten.

Brittany atmete tief durch und biss sich auf die Unterlippe. Die letzten zwölf Monate ihrer Beziehung hatten sie zusammen in diesem bequemen Zustand verbracht. Sie hatten sich nicht nach vorn bewegt, hatten aber auch keinen Schritt zurück getan. Sie hatten beide davon gesprochen, eine Familie gründen zu wollen, aber Brittanys Arbeitszeiten machten dies