In der nie endenden bernsteinfarbenen Nacht -  - E-Book

In der nie endenden bernsteinfarbenen Nacht E-Book

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Beschreibung

Grauen und Schönheit. Exil und Heimat. Liebe und Verlust. Wortgewaltig öffnen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ins deutsche Exil geflohen sind, den Blick auf ihre Welt. Vielfältig sind die Elternsprachen, vielfältig die Schicksale. Sie alle verbindet, unfreiwillig von zu Hause fortgegangen zu sein. Schilderungen vom Ankommen sind dabei und Schilderungen von Gefängnisaufenthalten, brutale Schilderungen manchmal, klare Analyse ein anderes Mal. Gnadenlose Offenheit und schäfchenwolkenleichte Gedichte. "In der nie endenden bernsteinfarbenen Nacht" versammelt Beiträge von Schriftstellern des Writers-in-Exile Programms, die aus dem Irak, aus Syrien und China, aus Russland und Afghanistan, aus der Ukraine und Kuba und aus vielen anderen Ländern nach Deutschland fliehen mussten. Mit Texten u.a. von Aslı Erdoğan, Volha Hapeyeva, Stella Nyanzi, Pinar Selek und Amir Valle. Auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte hat die Beauftragte für Kultur und Medien bei der Bundeskanzlerin das deutsche PEN-Zentrum beauftragt, Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu betreuen, die in Deutschland vor Verfolgung Schutz suchen. Seit 1999 sind mehr als sechzig Literatinnen und Literaten Fellows des Writers-in-Exile-Programmes gewesen. Herausgegeben wird diese Anthologie von Regula Venske, Präsidentin des PEN-Zentrums Deutschland, und Leander Sukov, Beauftragter des Writers-in-Exile Programms.

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stimmen aus dem exil

Der PEN steht für den Grundsatz eines ungehinderten Gedankenaustauschs innerhalb einer jeden Nation und zwischen allen Nationen, und seine Mitglieder verpflichten sich, jeder Art der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung in ihrem Lande, in der Gemeinschaft, in der sie leben, und wo immer möglich auch weltweit entgegenzutreten. Der PEN erklärt sich für die Freiheit der Presse und verwirft jede Form der Zensur. Er steht auf dem Standpunkt, dass der notwendige Fortschritt in der Welt hin zu einer höher organisierten politischen und wirtschaftlichen Ordnung eine freie Kritik gegenüber Regierungen, Verwaltungen und Institutionen zwingend erforderlich macht. Und da die Freiheit auch freiwillig geübte Zurückhaltung einschließt, verpflichten sich die Mitglieder, solchen Auswüchsen einer freien Presse wie wahrheitswidrigen Veröffentlichungen, vorsätzlichen Fälschungen und Entstellungen von Tatsachen für politische und persönliche Ziele entgegenzuarbeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass er, sofern dieses Buch externe Links enthält, diese nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung einsehen konnte. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2021 Kursbuch Kulturstiftung gGmbH, Hamburg

Satz: Annalena Weber – Buchdesign, Hamburg

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96196-200-6

Besuchen Sie uns im Internet: www.kursbuch.online

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Zuschriften bitte an [email protected]

Inhalt

Zum Geleit    Regula Venske

Grußwort der Staatsministerin Prof. Monika Grütters MdB

Zhou Qing

Berliner Haschisch stinkt nach Urin

Umar Abdul Nasser

Flüchtling sein

Neue Zugehörigkeiten

Vogel und Baum

Fragen in Zeiten des Friedens

Alexei Bobrovnikov

Monolog des Schläfenbeins

Yirgalem Fisseha

Ich bin keine Dichterin

Ich lebe noch (2011)

Nervöse Störung (2010)

Schreibst du denn? (2014)

Şehbal Şenyurt Arınlı

Fünf Theatermonologe

Aslı Erdoğan

In der Nacht wende ich mich an dich

Sajjad Jahan Fard

Das Ungleichgewicht der Köpfe

Yassin al-Haj Saleh

Exil, Heimat, Welt, Schreiben

Anzhelina Polonskaya

Tal der Vögel

Kalter Mai

Zurück zur Asche

In einem fremden Land

Kholoud Charaf

Fluchtmigranten

Rätsel

Ein Foto

Die Traurigkeit

Eine Gabe von Ishtar

Ein Ruf, erhört von einem reifen Menschen

Die Migrantin

Hast du den Ginster mit mir gegossen

Zeit der Rückkehr

Ein spöttisches Tagebuch oder: die unbeachteten Schuhe

Die Reise zweier Körper (Eine Geburt)

Kriegstagebuch: Die Reise eines Splitters im Körper

Nazli Karabiyikoglu

Vater und die Tekke

Barbaros Altuğ

Ausländer

Yamen Hussein

Pandemie

Entfremdung

Sternschnuppe über dem Dorf

Traum

Zuhause

Protest

Dorfhäuser

Wiedersehen

Ein Lachen

Ein, zwei Tage, eine Woche

Najet Adouani

Seit sie das Fest geschlachtet haben

Das Ende einer Frau

Verrat

Ein scheußlicher Abend

Hier ist das Nichts

Ich warte auf mich

Ich laufe in die andere Richtung

Der Vogel der Verzweiflung

Leere Versprechungen

Enoh Meyomesse

Die Gründung des Staates Kamerun durch Deutschland

Trauer-Tamtam für George Floyd

Mein Missgeschick trage ich stolz

Klage der weinenden Mutter

In der Finsternis haben sie mich eingesperrt

Die Hölle »vor Ort«

Zum Geleit    Regula Venske

»Der Mensch ist noch köstlich, dem seine Heimat süß ist; stark, wer sich auf jedem Boden heimisch fühlt; vollendet aber ist der, dem die ganze Welt als Exil erscheint«: So formulierte es Hugo von St.Viktor im 12.Jahrhundert. Die türkische Soziologin und Schriftstellerin Pinar Selek, die seit 1998 zum Opfer absurder juristischer Willkür in ihrem Heimatland Türkei wurde, zitiert diese Zeilen in einem Essay zum Thema Exil.1

»… vollendet aber ist der, dem die ganze Welt als Exil erscheint«? Einer engagierten Frau wie Pinar Selek geht es, wenn sie den »zweiten Augustinus« zitiert, sicher weniger um metaphysischen Trost in der Weltflucht als vielmehr – im Gegenteil – um die Beschwörung eines Lebensmutes, der sich trotz Verfolgung, Krieg, Elend und Gewalt den Verlockungen der Resignation widersetzt.

Von solchen Erfahrungen, aber auch von Hoffnung und Solidarität können die Kolleginnen und Kollegen, die im Writers-in-Exile-Programm des deutschen PEN für ein bis drei Jahre »Zuflucht in Deutschland«2 finden, reichlich berichten. Etabliert wurde dieses Programm 1999 mit der Unterstützung des damaligen Bundesbeauftragten für Kultur, Michael Naumann, um, wie er es formulierte, »einen Teil jener ›Dankesschuld‹ abzutragen, die sich aus der Tatsache herleitet, dass während der Nazi-Diktatur so viele deutsche Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler in anderen Ländern Aufnahme fanden.«3 Auch weiterhin wird diese Arbeit vom BKM finanziert und hat in Monika Grütters eine leidenschaftliche Fürsprecherin gefunden. Unsere Gäste kommen aus Bangladesch, China, Georgien, dem Iran, Kamerun, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Nigeria, Russland, Sierra Leone, Simbabwe, Syrien, Togo, Tschetschenien, der Türkei, Tunesien, der Ukraine, Vietnam oder Weißrussland. Aus Algerien kam der erste Stipendiat im Writers-in-Exile-Programm: Hamid Skif, der vom Juli 1999 bis Dezember 2005 als PEN-Stipendiat in Hamburg lebte, wo er 2011, wenige Tage vor seinem 60. Geburtstag, viel zu früh starb. Ich selbst war ein wenig stolz darauf, dass ich Hamid Skif im Zusammenhang mit einer Anthologie über Verbrechen in der Bibel, die ich damals herausgab, zu seiner ersten – und wohl einzigen – Kriminalstory inspirierte. Darin schickte er die Propheten Abraham, Moses, Jesus und Mohammed ausgerechnet auf die Davidwache nach Sankt Pauli. In seiner Familie hatte es immer Religionsgelehrte und Imame gegeben, er selbst aber hatte seit seiner Jugend gegen jeden Dogmatismus rebelliert und musste sein Heimatland Algerien 1997 wegen Morddrohungen verlassen.4

Als unsere Gäste können die Kolleginnen und Kollegen bei uns erst einmal zur Ruhe kommen. Zwar können wir ihnen die erlittenen Traumata und ihre Trauer nicht abnehmen. Wir können uns indes bemühen, Öffentlichkeit für sie herzustellen, Kontakte zu Verlagen, Übersetzerinnen und Übersetzern und Redaktionen zu vermitteln und die in ihren Herkunftsländern oft berühmten, bei uns hingegen weitgehend unbekannten Autorinnen und Autoren dem deutschen Publikum vorzustellen. Im Laufe der Jahre sind so bereits mehrere Anthologien erschienen: Stimmen aus dem Exil, herausgegeben von Elsbeth Wolffheim (2005), Die Zeit ist ein gieriger Hund, herausgegeben von Michael Klaus, Ein Regen aus Kieseln wird fallen (2009), herausgegeben von Sigfrid Gauch und Claudia C. Krauße, Fremde Heimat, herausgegeben von Christa Schuenke und Brigitte Struzyk und 2017 die Anthologie Zuflucht inDeutschland, herausgegeben von Josef Haslinger und der damaligen Writers-in-Exile-Beauftragten und Vizepräsidentin des deutschen PEN Franziska Sperr.

Mit dem vorliegenden Band wird diese Reihe fortgesetzt. Ich freue mich, dass wir mit dem Hamburger Verleger Sven Murmann und der von ihm gegründeten Kursbuch Kulturstiftung einen engagierten Freund des PEN und unserer Arbeit gewinnen konnten, um der Sprache verfolgter Autorinnen und Autoren eine Stimme und ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. Ich danke allen Beteiligten herzlich für ihr Engagement und wünsche dem Buch, das Sie in Händen halten, viele interessierte Leserinnern und Leser. Möge es der Literatur neue Freunde gewinnen, neue Freundinnen und Unterstützer aber auch unserem Einsatz für die Freiheit des Wortes und »das Ideal einer einigen Welt und einer in Frieden lebenden Menschheit«, wie es in der Charta des internationalen PEN heißt.

»Vollendet aber ist der, dem die ganze Welt als Exil erscheint«: Es ist nicht unser eigenes Verdienst, wenn wir – vielleicht – in glücklicheren Umständen geboren wurden. Wir haben auch keinen Rechtsanspruch darauf, ungeschoren davonzukommen. Es ist Zufall. Vielleicht haben wir Glück. Wir könnten aber auch – davon erzählt uns die Literatur, und davon erzählen uns die Lebensgeschichten der hier vorgestellten Kolleginnen und Kollegen – der andere oder die andere sein.

Regula Venske

Präsidentin des PEN-Zentrums Deutschland und Mitglied des Boards von PEN International

Grußwort der Staatsministerin Prof.Monika Grütters MdB für die Anthologie des PEN-Zentrums Deutschland zu »Writers in Exile«

Ein ehemaliger PEN-Präsident, der in diesem Jahr verstorbene deutsch-iranische Schriftsteller SAID, hat die Erfahrung des Exils und den langen, steinigen Weg vom Heimatverlust bis zur »Heimstätte« einer fremden Sprache einmal in einer Rede beschrieben als Harren »in einem Zwischenland – zwischen zwei Flüssen: Hier das Persische, dort das Deutsche; jeder stillt einen anderen Durst. In einem Fluss schwimmt er mit, im anderen ringt (…) [er] um jedes Wort, um nicht zu ertrinken.« Die vorliegende Anthologie, die zum 100-jährigen Jubiläum des PEN erscheint, ist eine Hommage an jene, die in diesem Zwischenland zwischen zwei Flüssen leben und dabei gegen Unrecht anschreiben, statt unwürdige und ungerechte Zustände einfach zu akzeptieren. Denn der PEN ist nicht nur eine hoch respektierte Vereinigung Schreibender, sondern rückt seit seiner Gründung den Einsatz gegen die Unterdrückung, Zensur und Verfolgung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern in aller Welt in den Fokus seiner Arbeit.

Die Bedeutung eines solchen Engagements ist uns in Deutschland aus eigener historischer Erfahrung nur zu schmerzlich bewusst. Über 10000 deutsche Künstlerinnen und Künstler, darunter viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller, suchten nach 1933 im Ausland Zuflucht vor der nationalsozialistischen Diktatur. Ihr Schicksal mahnt uns, die Freiheit des Wortes und der Kunst zu verteidigen. So finanziert die Bundesregierung auch als Lehre aus der deutschen Geschichte seit über zwanzig Jahren aus dem Etat der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien das Programm »Writers in Exile«. Es bietet verfolgten Schriftstellerinnen und Schriftstellern bis zu drei Jahren einen Zufluchtsort: ein Dach über dem Kopf, finanzielle Hilfe, Unterstützung im Alltag und nicht zuletzt künstlerische Freiheit. Das PEN-Zentrum Deutschland leistet dabei nicht nur unmittelbare Hilfe, sondern setzt zugleich ein bedeutendes Zeichen für die Freiheit des Wortes und ist Vorbild für all jene, die sich für bedrohte Autorinnen und Autoren einsetzen wollen.

Der vorliegende Band gibt einen Einblick in das künstlerische Spektrum der »Writers in Exile«-Stipendiatinnen und -Stipendiaten. Die literarischen Formen sind ebenso vielfältig wie die Themen und biografischen Hintergründe der Autorinnen und Autoren. Und doch haben viele Texte ein gemeinsames Thema: Sie kreisen um die bestürzende und erschütternde Aktualität des Themas Exil; sie handeln von Abschied und Flucht, von Repression und Gewalt und vom Stranden in der Fremde. Dabei zeigen sie mit erschreckender Deutlichkeit, in welchem Ausmaß das Bewusstsein für den Wert der Freiheit der Kunst und der Medien im globalen Maßstab abnimmt. Autoritäre Regime nutzen die Corona-Pandemie, um diese Freiheiten weiter einzuschränken. Die Zahl politisch verfolgter Künstlerinnen und Künstler hat sich in den letzten Jahren dramatisch erhöht. Umso wichtiger ist es, daran zu erinnern, dass Grundfreiheiten Errungenschaften sind, die das dauerhafte Engagement überzeugter Demokratinnen und Demokraten erfordern.

Es ist unsere demokratische Pflicht und unsere historische Verantwortung, uns für jene Menschen einzusetzen, die gezwungen sind, ins Exil zu gehen und in einem »Zwischenland« auszuharren, wie der Dichter SAID es ausdrückte. Sie verdienen eine starke Stimme – in Deutschland und weltweit. Die Arbeit des PEN ist deshalb wichtiger denn je. Die Bundesregierung wird diese Arbeit auch künftig nach allen Möglichkeiten unterstützen.

Prof.Monika Grütters MdB

Staatsministerin für Kultur und Medien

Zhou Qing

Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Berliner Haschisch stinkt nach Urin

Eine Kurzgeschichte

Wege, die du nie gehen wolltest, wirst du noch oft gehen. Menschen, die dir nie von Nutzen schienen, werden dir noch oft von Nutzen sein.

(Sprichwort)

Ich

Während ich auf dem Bahnsteig der Berliner U-Bahn-Station Ruhleben, der nördlichen Endstation der Linie U2, stehe und auf die U-Bahn warte, die partout nicht kommen will, höre ich das Kauderwelsch aus den Lautsprechern. Über zehn Jahre lebe ich nun schon hier, aber ich verstehe noch immer kein Wort Deutsch. Die Deutschen sollen pünktlich sein? Dass ich nicht lache! Ob nun ein Streik daran schuld ist oder sonst irgendetwas, immer mehr Flugzeuge und andere öffentliche Verkehrsmittel kommen hier verspätet.

Gelangweilt beobachte ich, wie vorne rechts vor der Station ein paar große, unterschiedlich dicke Fabrikschornsteine ihren Qualm ausstoßen – wie lüsterne Matronen in Kleidern, die nach oben immer blasser werden. Wie tanzende alte Frauen auf einem öffentlichen Platz wiegen sie sich kokett im Nachtwind und machen sich so lang wie möglich, strecken sich den Träumen entgegen, die der nächtliche Himmel und die Wolken ineinander verwoben haben.

Im Nu verschmelzen der Himmel, die Wolken und der Rauch aus den Schornsteinen zu einem einheitlichen Dunkel. Hat der dicke Qualm den Himmel und die Wolken geschwärzt? Oder haben der nächtliche Himmel und die Wolken sich verschworen und den Qualm so schwarz gefärbt wie sie selbst? Verdammt, ich habe keinen blassen Schimmer! Es ist mir genauso schleierhaft wie der idiotische Glaube der »Boxer« während des Boxeraufstands, die Kirchtürme mit ihrer phallusartigen Gestalt würden ihnen das Feng-Shui ruinieren, oder wie der schwachsinnige Traum des greisen Mao Zedong, dereinst vom Tor des Himmlischen Friedens aus einen Wald aus rauchenden Schloten zu sehen.

Oh Mann, habe ich gerade »Phallus« gesagt? Das klingt dann doch ein bisschen arg geziert. Ich erinnere mich noch, wie ein Wärter zu Beginn meiner Haftzeit einen ehemaligen Regierungsbeamten empfangen hat: »Und warum bist du hier?«

»Ich habe mit einer weiblichen Untergebenen, deren Mann in der Armee ist, Geschlechtsverkehr gehabt …«, kam die kleinlaute Antwort.

»Geschlechtsverkehr? Scheiße, ein Fick ist ein Fick! Oder bist du vielleicht ein Verkehrsmittel?«

Ist der Mensch wirklich das Produkt seiner Umgebung? Selbst unser Geruchssinn kann uns täuschen. Die Schlote sind so weit weg, und dennoch glaube ich in diesem Moment, ganz deutlich die Ausdünstungen von Schimmel und Urin zu riechen, die mir von den mit billigem Waschpulver geschrubbten hölzernen Bettgestellen aus dem Gefängnis so vertraut sind – es ist absurd!

Und diese absurde Station hier ist die Starthaltestelle sowohl für die U2 als auch für die U12, die auf halber Strecke voneinander abzweigen. Heute nehme ich die U2 und fahre zum deutschen Parlament, um dort eine Rede zu halten – cool, oder? Krass, oder? Drauf geschissen! So geht es nun mal auf der Welt zu: Alle paar Jahre hält man für alles Mögliche eine Gedenkveranstaltung ab und tut damit symbolisch seiner Pflicht Genüge.

Und vielleicht schaffe ich es heute, auch noch diesen bescheidenen Rest an Sinn zu zerstören. Ob es nun an dem dunkelgrünen Anzug liegt, den ich mir in stillem Einvernehmen mit den Grünen, die mich eingeladen haben, angezogen habe, oder – was wahrscheinlicher ist – daran, dass ich noch immer nicht weiß, worüber ich in ein paar Stunden reden soll, und deswegen zunehmend nervös werde – jedenfalls fühlt sich das orangefarbene Hemd, das mir an Rücken und Bauch spannt, nasskalt an, und meine Brillengläser sind beschlagen von dem Schweiß, der mir aus dem Gesicht sickert.

Durch meine dunstverschleierten Gläser starre ich zum x-ten Mal auf die Einladung, die ich mir für die Anfahrt ausgedruckt habe, nachdem ich sie von Google Translate habe übersetzen lassen.

Judith Kaiser

Wissenschaftliche Mitarbeiterin – Deutscher Bundestag – Büro Margarete Bause MdB, Sprecherin im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

Deutscher Bundestag, Platz der Republik 1 | 11011 Berlin

Telefon: +4930 … | Fax: +4930 … | E-Mail: …

Lieber Herr Chen,

wir freuen uns sehr, dass wir Sie als Referenten für unsere Expertendiskussion anlässlich des 30.Jahrestages des Tian’anmen-Massakers gewinnen konnten. Die Veranstaltung wird am 4.Juni von 18:00 bis 20:30Uhr von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in den Räumlichkeiten des Deutschen Bundestages abgehalten. Die Diskussion soll sich schwerpunktmäßig darum drehen, was die Niederschlagung der friedlichen Proteste für politische und wirtschaftliche Reformen und die grassierende Korruption und Vetternwirtschaft im heutigen China bedeutet. Wir hoffen, damit einen Beitrag zum Gedenken an das Tian’anmen-Massaker zu leisten, und wollen gleichzeitig die aktuelle Menschenrechtslage in China diskutieren.

Für die Veranstaltung werden wir eine deutsch-chinesische und eine deutsch-englische Verdolmetschung organisieren.

Mit freundlichen Grüßen

Judith Kaiser

Die chinesischen Schriftzeichen auf dem Papier drücken mir in die Augen wie der schwüle sommerliche Abendwind und dringen mir ins Gehirn. Eine bodenlose Mutlosigkeit überkommt mich, und mein Körper scheint in der Luft zu treiben, als hätte er jeden Halt verloren.

Ja, das ist es: Genau dieses Gefühl eines haltlosen Schwebezustands hat mich in den über zehn Jahren, die ich nun schon in Deutschland bin, nie mehr losgelassen. Als ich gerade hierhergekommen war, schrieb ich, wann immer ich irgendwo eine Rede halten sollte, vorher noch ein Manuskript oder zumindest einen groben Entwurf. Aber kaum war ich mit meinen Vorbereitungen fertig, erteilte mir der Veranstalter stets irgendeine höfliche Absage: »Wir haben gerade eine Städtepartnerschaft mit der chinesischen Stadt Sowieso geschlossen, deshalb würde Ihr Auftritt leider nachteilig …« Oder: »Unsere Schule hat jetzt ein wichtiges Kooperationsprojekt mit China gestartet, deshalb wäre es am besten … bitten wir Sie um Verständnis.«

Oder es hieß: »Wir sind eine Menschenrechtsorganisation, deshalb sollten Sie bei uns nicht über Literatur reden, sondern darüber, was Sie im Gefängnis erlitten haben …«

Jetzt, wo ich schon so lange in Deutschland lebe, kommt mir die hiesige Gesellschaft vor wie eine dieser hirnrissigen traditionellen chinesischen Apotheken mit ihren altmodischen, penibel geordneten Arzneischränken, in denen es für alles ein Fach gibt: eines für die Knollen der Gastrodia-Orchideen, ein anderes für die Raupenpilze – und was nicht in irgendein Fach passt, kann keine Arznei sein und folglich auch keinen Wert haben.

Wer eine Zusage macht, der muss die Erwartungen auch erfüllen und erzählen, was die Leute hören wollen.

Und was wäre das? Vielleicht mein versuchter Ausbruch aus dem Gefängnis unter den Augen der Wärter? Immerhin gäbe das eine Geschichte ab, grotesker als jede Tragikomödie: Drei Männer bereiten gewissenhaft und ängstlich ihre Flucht vor – nur leider ist einer von ihnen ein Spitzel.

Aber meine Redezeit ist begrenzt, und wo soll ich mit meiner Geschichte anfangen?

Mit einem schrillen Quietschen und Knarren hält die U-Bahn endlich an der Station an. Wieder steigt mir der vertraute Geruch von mit Waschpulver geschrubbtem Holz in die Nase, ehe die Lautsprecherdurchsage zu plärren anfängt.

Das ist es: Ich nehme einfach die kollektive ideologische Schulung, die im Gefängnis per Lautsprecher übertragen wurde, als Einstieg – schließlich ähneln sich all diese öffentlichen Durchsagen, egal ob auf Deutsch oder Chinesisch, in ihrem wichtigtuerischen Ton.

Ein Tuten, und die U-Bahn setzt sich wieder in Bewegung. Inspiriert von der Durchsage, die mir so altbekannt in den Ohren plärrt, lege ich mir in Gedanken meine heutige Rede zurecht: Ich erinnere mich noch deutlich an den Nachmittag des 25.Juni 1990, als ich schon fast ein Jahr in Haft verbracht hatte. Warum gerade an diesen Nachmittag? Weil draußen herrliches Wetter herrschte und man uns trotzdem nicht zur Umerziehung durch Arbeit an die frische Luft ließ. Stattdessen mussten sich alle »Konterrevolutionäre« kerzengerade im Schneidersitz auf ihre blank geschrubbten harten Bettgestelle setzen und die »politische Schulung« über sich ergehen lassen – eine Schulung, die man mit einem landläufigen Ausdruck als »zum Steinewaschen langweilig« bezeichnen könnte, nur dass in unserem Gefängnis keine Steine, sondern Bettgestelle gewaschen wurden. Im tagtäglichen Wechsel schrubbten wir mit ausgemusterten alten Zahnbürsten, die wir in eine dickflüssige Lauge getunkt hatten, die Gestelle so ausgiebig, dass die Holzmaserung davon schon ganz bleich geworden war.

Chinesisch ist eine sehr bildliche Sprache: Schon der Ausdruck »im Gefängnis sitzen« für eine Haftstrafe verrät einiges. Bei Regen ließ man uns nicht zur Arbeit nach draußen, sondern befahl uns, auf den harten Pritschen sitzend zuzuhören, wie uns besonders beflissene Mitgefangene die Zeitung vorlasen: die ganze Renmin Ribao5 im Oktavformat von der ersten bis zur letzten Seite. Einen ganzen Nachmittag nahm eine solche Lesung in Anspruch. Wenn die Schulung vorbei war, waren viele von uns so steif in der Hüfte und den Beinen, dass sie nicht mehr aufstehen konnten, und mit der Zeit blieben von dieser Sitztortur wunde Stellen am Hintern zurück, manche nur so klein wie Kupfermünzen, andere handtellergroß.

Üblicherweise begann die ideologische Schulung damit, dass wir alle aus voller Kehle irgendwelche »revolutionären Lieder« schmettern mussten: darüber, wie großartig der Sozialismus ist und wie sich der Kapitalismus mit eingekniffenem Schwanz vom Acker macht.

Um Punkt drei Uhr nachmittags verstummten wir dann auf Befehl der Wärter, und aus den Gefängnislautsprechern erschallte die Stimme des CCTV-Nachrichtenmoderators: »Wie der Sprecher des Ministeriums für öffentliche Sicherheit bekanntgegeben hat, haben sich der Aufrührer Fang Lizhi6 und seine Frau Li Shuxian vor kurzem in einem Brief an die zuständigen Behörden gewandt und darin eingestanden, dass sie sich gegen die Vier Grundprinzipien für die Entwicklung Chinas gestellt und damit gegen die Verfassung der Volksrepublik China verstoßen haben. Aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands haben beide die Hoffnung geäußert, sich im Ausland ärztlich behandeln lassen zu dürfen. Gleichzeitig haben beide versichert, im Ausland keinerlei antichinesische Aktivitäten mehr zu entfalten. Angesichts der von ihnen geäußerten Reue und ihrer Erkrankung hat das Pekinger Amt für öffentliche Sicherheit ihnen aus humanitären Erwägungen und im Einklang mit einer Politik der Nachsicht gegenüber den am Aufruhr Beteiligten die Ausreise ins Ausland zwecks ärztlicher Behandlung erlaubt. Inzwischen befinden sich in den chinesischen Gefängnissen bereits keine am Aufruhr beteiligten Studenten mehr …«

Dieser letzte Satz, mit dem die Regierung um das Wohlwollen der Amerikaner buhlte, schoss mir hinauf bis zum Scheitel und hinunter bis an jedes Nervenende wie einer dieser nordostchinesischen Schnäpse, die einem wie ein glühendes Messer in der Kehle brennen.7 Fickt euch doch! Wenn ihr eins könnt, dann dummdreist der Welt ins Gesicht lügen – allein in diesem Gefängnis hier sitzen ja schon Dutzende Studenten und Dozenten, die damals verhaftet wurden! Die chinesischen Intellektuellen sind einfach nur Weicheier, die jede politische Kampagne brav über sich ergehen lassen. Aber ich, ich werde euch mit gutem Beispiel vorangehen – und aus dem Gefängnis ausbrechen! Danach überquere ich noch heimlich die Grenze, und dann soll die ganze westliche Welt die Wahrheit erfahren! Ich zeig euch, wo der Hammer hängt!

Kaum ist per Lautsprecher die nächste Station angekündigt, steigen die Leute auch schon geräuschvoll ein und aus. Dann verlässt die U-Bahn die Haltestelle Neu-Westend, und der unterirdische Streckenabschnitt beginnt.

Also weiter im Text …

Ein Mann, ein Wort! Ich musste mir nur noch ein paar Komplizen für meine Flucht suchen.

Der Zufall spielte mir in die Hände: Mein Mithäftling Guo An8 verabredete sich in dem von beißendem Schimmelgestank geschwängerten Lagerhaus mit mir und redete nicht lange um den heißen Brei. »Du weißt doch, mich haben sie auch wegen Tian’anmen eingebuchtet. Ich bin bloß ein popeliger kleiner Arbeiter, aber ich habe mir ein Mädchen geangelt, die ist Studentin. Wenn ich jetzt noch meine vollen anderthalb Jahre hier absitze, brennt sie mir bestimmt mit einem anderen durch. Du bist ein harter Hund, lass uns zusammen stiften gehen. Danach schlagen wir uns mit unseren Mädchen ins Ausland durch. Für die Ausländer sind wir bestimmt Helden!«

Als er mein Zögern sah, bedrängte er mich nur noch mehr: »Vielleicht hast du’s schon mitbekommen: Der Vizedirektor Liu und ich sind knalledicke« – so drückten wir im Gefangenenjargon eine unverbrüchliche Beziehung aus. »Meine Leute haben bei ihm einen richtig tiefen Sickergraben gelegt« – sie hatten ihn also geschmiert. »Nur deshalb hat er mich zum Gruppenleiter gemacht. In meiner Stellung komme ich leicht an alles Gerät ran, das wir für unseren Ausbruch brauchen.«

Mit seinem großen, dunklen, von Pickeln übersäten Gesicht und seinem über eins achtzig großen, genauso pickligen Körper sah er tatsächlich wie der richtige Mitverschwörer für einen Gefängnisausbruch aus. Aber ich konnte mich noch immer zu keiner Entscheidung durchringen und verabschiedete mich in dem langsam dunkel werdenden Lagerhaus hastig von ihm. »Ich denk mal drüber nach.«

»Aber lass dir nicht zu viel Zeit damit«, drängte er mich. »Ich hab echt Schiss, dass meine Freundin nicht mehr lange auf mich wartet.«

In Wahrheit verlor nicht seine, sondern meine Freundin so langsam die Geduld. Als ich an diesem Abend in meine Zelle zurückkehrte, händigte mir der Wärter einen Brief von ihr aus, den er natürlich vorher aufgerissen und kontrolliert hatte. Nach ihrem Abschluss an der Uni war sie schon wieder in ihre nordostchinesische Heimat zurückgekehrt und hatte dort angefangen zu arbeiten.

Lieber Chen,

ich ertrage das Warten einfach nicht mehr. Ich weiß ja noch nicht mal, wann das alles endlich ein Ende hat. Ich habe wirklich Angst …

Wenn Du mir in Zukunft schreibst, dann schreib bitte nicht mehr die Adresse eures Gefängnisses auf den Umschlag. Ich bin gerade erst in diese neue Arbeitseinheit versetzt worden und habe Angst, dass sich die Leute hier über uns die Mäuler zerreißen.

Deine Dich liebende Zhou

Dieser Brief weckte nicht nur bange Vorahnungen in mir, sondern traf mich auch in meiner Selbstachtung. Also schrieb ich sogleich zurück:

Liebe Zhou,

ich vermisse Dich sehr! Tut mir leid, aber ich sitze hier wegen eines politischen Verbrechens ein. Wenn ich jetzt auch noch als Absender »Staatsrat« auf den Umschlag schreibe, habe ich eine Anklage mehr am Hals: wegen Betrug.

Absender vertraulich

Nachdem ich meinen Brief aufgegeben hatte, konzentrierte ich mich noch intensiver darauf, meinen Ausbruch vorzubereiten. Erst sagte ich Guo An zu, dann gewann ich Mu Xi, einen Kerl, der genauso groß und stämmig war, für unseren Plan. Um ihn zu überreden, reichte ein noch simplerer Grund: Nach seinem Abschluss an der Raumfahrtuni hatte ihn das Amt für öffentliche Sicherheit erst 1990 auf der Insel Hainan verhaftet und dann gleich zu vollen drei Jahren verdonnert. Wenn alle anderen politischen Gefangenen ihre Strafe schon abgesessen hätten, würde er als Einziger immer noch eine ganze Weile vor sich haben, und diese Aussicht machte ihm schwer zu schaffen.

Mit einem Trick, den ich bei den Insassen des Todestrakts aufgeschnappt hatte, machte ich mich daran, meinen Plan in die Tat umzusetzen: Mithilfe von Guo Ans guten Beziehungen ließ ich von draußen ein in Stücke gebrochenes Sägeblatt ins Gefängnis schmuggeln. Die Metallteile waren in Würsten und den aufgetrennten und wieder zugenähten Sohlen von Stoffschuhen versteckt. Wann immer ich mich unbewacht fühlte, nutzte ich jede Gelegenheit, um zwei der Gitterstäbe vor einem der Lagerhausfenster durchzusägen. Um nicht so viel Lärm zu machen, wickelte ich einen durchnässten alten Lappen um die Stäbe. Sobald ich das Sägeblatt bewegte, sickerte das Wasser aus dem Lappen in die Sägestelle und erstickte tatsächlich jeden Laut.

Nach über einem Monat verstohlener Plackerei – gut Ding will Weile haben – und dabei ständiger Angst im Nacken hatte ich endlich die beiden Stäbe so weit angesägt, dass ein leichter Ruck genügen würde, um sie durchzubrechen. Um die Sägestellen vor fremden Blicken zu verbergen, beschmierte ich sie mit einer dicken Schicht Schlamm.

Als Nächstes schmuggelte ich meinen Bettbezug und mein Laken ins Lagerhaus und riss sie dort abends heimlich zusammen mit Mu Xi in Streifen. Mit vereinten Kräften drehten wir aus den Streifen ein über acht Meter langes dickes Seil. In ein paar Tagen, in einer stürmischen, mondlosen Nacht, wollten wir damit aus dem Fenster klettern. Dann würde einer von uns per Räuberleiter die Gefängnismauer erklimmen und von dort das Seil herunterlassen, damit die anderen beiden ihm folgen konnten.

In dem Lagerhaus war es so stockduster, dass wir uns nur tastend darin orientieren konnten, aber während wir dasselbe Bettzeug, das meine Verflossene mit ihrem jungfräulichen Blut und Zhou mit ihrer Scheidenflüssigkeit getränkt hatten, in Streifen rissen und zu einem Seil drehten, nahmen auch unsere Träume Gestalt an – und unsere Albträume …

Du

Du verstehst es wirklich, mir noch aus der Ferne zu schaden! Du kontaktierst mich per WeChat, nur um mich nach diesen alten Geschichten zu fragen? Während Du im Ausland bist und mich mit Deinen Fragen löcherst, hast Du da mal daran gedacht, was für einen Ärger Du mir damit einbrockst? Weißt Du nicht, dass alles, was Du auf WeChat schreibst, überwacht wird? Du bist einfach unverbesserlich! Wenn man es ins Positive wenden will: Du bist hartnäckig. Aber im Grunde bist Du einfach nur ein Egoist, der bloß auf sein eigenes Gefühl hört. Die meiste Zeit lebst Du in deiner eigenen Welt – dreißig Jahre sind jetzt seit der Sache auf dem Tian’anmen-Platz vergangen, und Du kannst immer noch nicht loslassen!

Als Du aus der Isolationshaft rauskamst, habe ich extra den weiten Weg auf mich genommen, um Dich zu sehen. Vorher warst Du ein kräftiger Kerl von über neunzig Kilo gewesen, aber nach weniger als zwei Monaten waren von Dir nicht mal mehr fünfzig Kilo übrig geblieben! Als ich sah, wie Du in den Besuchsraum getappt bist – so als würdest Du beim ersten Windstoß umklappen –, habe ich den Wärter einfach ignoriert und mich auf Deinen Oberschenkel gesetzt – und der hat sich so knochig angefühlt, dass es mir wehtat! Und da sollte mir nicht schwer ums Herz werden? Und als Du kaum noch ein Jahr abzusitzen hattest, hattest Du nichts Besseres zu tun, als aus dem Gefängnis auszubrechen? Zum Glück haben sie Dich, als Du über die Mauer geklettert bist, nicht einfach totgeschossen, sondern nur von den Wachhunden niederreißen lassen. Was sollte ich mir denn da noch für Hoffnungen machen?

Und da fragst Du mich noch, wieso sich meine Gefühle geändert haben, als ich in meine Heimat zurückgekehrt bin? Wie hätte ich mich denn nicht ändern sollen? Scheiße, ich bin doch auch nur ein Mensch! Ich bin eine Frau, die jemanden braucht, der sie liebt! Ständig war ich in Sorge um Dich und habe nur gehofft, Du kommst früher wieder raus. Und um mich herum? Mein Vater schaute den ganzen Tag nur sterbenselend drein und hatte schreckliche Angst, seit man ihn als rechtes Element abgestempelt hatte, meine Mutter murmelte in einem fort vor sich hin, als würde sie Beschwörungsformeln aufsagen, und meine Kollegen beäugten mich mit ihren misstrauischen Blicken.

Obwohl ich Dich ermahnt hatte, konntest Du es trotzdem nicht lassen und schriebst wieder irgendwas von wegen Staatsrat – betrogen hast Du also auch noch!

Ich hatte hier draußen viel mehr zu leiden als Du. Ich sage es Dir jetzt mal geradeheraus: Was meinst Du, wie ich geschrien und geheult habe, als ich mitansehen musste, wie die Polizei Dich verhaftete! Sie haben Dir den Kopf blutig geprügelt, als wärst Du ein wildes Tier. Und dann haben die Leute von der Uni und die Soko von der Polizei mich Tag und Nacht durch die Mangel gedreht. Wie sollte ich denn damit fertigwerden? Ich war doch bloß eine Studentin im dritten Studienjahr!

Wenn sie mich nur verhört hätten, hätte ich es vielleicht noch ertragen, aber dann musste ich mir auch noch ständig diesen geilen Bock vom Leib halten! Du erinnerst Dich doch noch an diesen Typ von der Soko mit dem Schweinegesicht, der Xue hieß? Wenn sonst keiner im Raum war, hat er mich in einem fort begrapscht, bis ich am Ende zu ihm gesagt habe: »Sie wissen doch, was Chen für ein Hitzkopf ist. Wenn Sie mich mit dieser Hand weiter betatschen, hackt er sie Ihnen ab, wenn er wieder rauskommt!« Da hat er mich endlich in Ruhe gelassen.

Diese Geschichte kam mir auch zu Ohren, als ich wieder draußen war. Bei einem Fußballspiel, bei dem dieser Xue als Ordnungshüter im Einsatz war, lief er mir einmal mit seinem Assistenten über den Weg, da habe ich ihn vor allen Leuten zu Boden gerissen. »Du Versager … Versager …«, hat er bloß ganz bedröppelt gestammelt.

Und das soll mir wohl imponieren? Glaubst Du, Du bist als Märtyrer für alle anderen ins Gefängnis gefangen? Glaubst Du, alle halten Dich für einen Helden? Dieser eine Typ von unserer Uni, der früher wieder rausgekommen ist als Du – Pan Qing –, der ist extra zu mir gekommen, um mir zu sagen, dass Du Dich für Wunder wen hältst und rücksichtslos bist wie ein Gangster. Ich soll mich vor Dir in Acht nehmen, hat er mir gesagt! Und weil Du auch nicht in der Organisation warst, musstest Du am längsten in der Dunkelhaft bleiben, und sie haben Dir auch die längste Strafe aufgebrummt. Niemand hat sich für Dich starkgemacht, niemand wollte sich Deinetwegen Scherereien einhandeln. Man kann einem Menschen nicht ins Herz schauen.

Was ich alles für einen Ärger hatte! Und wo warst Du da? Ich hatte die Verhöre durch die Uni noch nicht hinter mir, da entdeckte ich, dass ich schwanger war! Was sollte ich denn da machen – als Studentin von auswärts, mit keinem aus meiner Familie, der mir hätte helfen können! In meiner Not ging ich zu diesem beschissenen Freund von Dir, diesem Yan, dem Regisseur von dem Filmstudio, der immer so tat, als wäre er Dein allerdickster Kumpel, solange Du noch hier warst. Zuerst war er auch zu mir scheißfreundlich, nahm mich mit zu sich nach Hause und meinte, er könnte sich gern um mich kümmern. An dem Abend lästerte er dann über Dich ab, was das Zeug hielt – und dann wollte er mir auch noch an die Wäsche! Ich habe das Fenster aufgerissen – seine Wohnung lag im vierten Stock – und war wirklich drauf und dran, Schluss zu machen. »Wenn du mich mit deinen Scheißwichsgriffeln angrapschst«, habe ich zu ihm gesagt, »dann springe ich hier aus dem Fenster. Dann hast du mein Leben auf dem Gewissen!«

Da ist ihm der Arsch auf Grundeis gegangen. Am nächsten Morgen bin ich wieder bei ihm ausgezogen. Und dann? Wozu soll ich Dir das jetzt noch auf die Nase binden! Ich habe keine Lust mehr, diese alten Geschichten noch mal aufzuwärmen! Wir sind beide schon über fünfzig, lass uns einfach ein normales Leben führen, ja? Ich bitte Dich darum, okay? Oh Mann.

Ich

Wieder so eine Durchsage in unverständlichem Kauderwelsch. Als ich den Kopf hebe, ist die U-Bahn schon an der Station Kaiserdamm angekommen. Hier treffen sich die U2 und die S-Bahn, und auch der Zentrale Omnibusbahnhof von Berlin liegt gleich um die Ecke.

So eine Station ist wie ein Mensch: Sie hat ihren eigenen Charakter und ihre eigene Atmosphäre. Kaum hat die U-Bahn angehalten, wogt eine Welle von Stimmen und Geräuschen herein: der Zusammenprall des Gepäcks der Leute, die eine längere Busreise unternehmen wollen, und das Fußgetrappel der Reisenden, die in die S-Bahn umsteigen, vermischt mit den gelegentlichen Entschuldigungen derer, die versehentlich gegeneinandergestoßen sind. Schlagartig ist die ganze Station von einer lärmenden Betriebsamkeit erfüllt, und im Abteil hat sich die Zahl der Fahrgäste auf einmal vervielfacht durch all die Leute, die mit Fernbussen von überallher gekommen sind und je nach Parfüm, Tabaksorte und Herkunftsort die unterschiedlichsten Gerüche an sich haben. Plötzlich fühle ich mich wieder in das Menschengewimmel von Peking zurückversetzt.

Der Mensch ist ein Krabbeltier: Er muss immer in Bewegung bleiben, sonst stirbt er.

Das pflegte mein Vater zu sagen, als er noch lebte.

Ein Tuten kündigt den längsten unterirdischen Streckenabschnitt der U-Bahn-Linie an. Auch in meiner Geschichte kommt das dicke Ende erst noch, und dabei ist meine Redezeit begrenzt, also lasse ich jetzt lieber alles Unwichtige beiseite.

Um Punkt zwölf Uhr Mitternacht hatten wir drei uns für unseren Ausbruch verabredet. Voll bekleidet lag ich schon Stunden vorher unter meiner Decke und wartete nur noch darauf, dass es losging. Aber während ich noch so dalag und mir das Herz bis zum Hals schlug, stürmte plötzlich eine Schar Polizisten, in den Händen Gewehre mit blitzenden Bajonetten, in die Zelle. Mühelos hatten sie im Lagerhaus das Seil gefunden, das wir dort versteckt hatten, und die beiden Gitterstäbe abgebrochen, die ich nahezu durchgesägt hatte.

Sogleich wurde ich allein in eine Dunkelzelle geworfen, die ihrem Namen alle Ehre machte: ein Loch von nicht einmal drei Quadratmetern, unter dem Wachraum und zwei Stock unter der Erde, ein Ort, der etwas Unwirkliches hatte und mich schmerzlich erfahren ließ, was es heißt, »von der Außenwelt isoliert« zu sein – denn hier gab es keine Geräusche, keine Zeit, kein Licht und damit natürlich auch keinen Wechsel von Tag und Nacht. Wer hier nicht lauthals gegen die Wände drauflosgebrabbelt hätte, hätte seine Sprache, mehr noch: seinen Verstand verloren.

In der Stille klären sich die Gedanken. Als ich in der Nacht dort hockte, in einem Dunkel, das so tief war, dass ich die Hand nicht vor Augen sehen konnte, dämmerte mir, dass ich einer Intrige zum Opfer gefallen war. Und mir fiel wieder ein, wie mich, kaum war ich in diesem Gefängnis gelandet, ein paar Mithäftlinge aufgesucht hatten, die gleichfalls wegen des Tian’anmen-Massakers einsaßen. Sie hätten, so erzählten sie mir, heimlich einen BBC-Bericht über chinesische Dissidenten gehört, die in Paris die Federation for a Democratic China gegründet hätten, und nun wollten sie sich dieser Vereinigung anschließen und im Verborgenen die »Sektion Nordwest« gründen.

»Ihr habt wohl zu viele Schwarten wie Roter Fels9 gelesen, die euch das Hirn weich gemacht haben?«, schnauzte ich sie an. »Wenn ihr hier im Knast eine Partei gründet, macht ihr euch der Gründung einer konterrevolutionären Organisation schuldig! Wenn sie euch erwischen, schlagen sie euch die Köpfe ab! Da mache ich auf keinen Fall mit.«

Sie hielten mich bestimmt für einen Angsthasen, denn hinter meinem Rücken gründeten sie trotzdem ihre »Organisation«. Aber prompt bekam auch die Gefängnisleitung Wind von der Sache. Der stellvertretende Direktor Liu frohlockte schon, was für ein dicker Fisch ihm da ins Netz gegangen war: In seinen Augen war dies das erste Mal überhaupt in der Geschichte der Volksrepublik China, dass politische Gefangene im Gefängnis eine solche konterrevolutionäre Untergrundorganisation gegründet hatten.

Mit der Aussicht auf vorzeitige Haftentlassung als Lockmittel gewann er Guo An für seinen Plan: Guo sollte sich in die Organisation einschleusen und sie dazu anstiften, einen Gefängnisausbruch für eines ihrer Mitglieder zu organisieren, das Kontakt mit dem Ausland aufnehmen sollte. Damit wäre der Weg frei, um die gesamte Organisation zu zerschlagen.

Deren Hauptmitglieder jedoch agierten, als würden sie der Kommunistischen Partei angehören. Kaum hatte man mich in die unterirdische Dunkelzelle geworfen, riefen sie eine Dringlichkeitsbesprechung ein, bei der sie zwei Entschlüsse fassten: erstens sofort alle schriftlichen Beweisstücke zu vernichten, die gegen sie verwendet werden konnten; zweitens wenn nötig, alle Schuld auf mich zu schieben. Denn sie hatten Angst, dass ich, der ich zuerst verhaftet worden war, sie denunzieren könnte.

»Schützen wir die Organisation! Opfern wir Außenstehende!« Den ersten Teil ihres Mottos konnte man immerhin noch als konsequent betrachten (so absurd das Motiv dahinter auch war), aber der zweite Teil war nur noch dumm – schließlich hatten sie all ihre Aktivitäten hinter meinem Rücken betrieben, was also hätte ich verraten sollen? –, schlimmer noch: Sie führten ihren Kampf mit einer inhumanen Logik.

Wenn man ans Schicksal glaubt, muss einem China wirklich als ein Land erscheinen, das zum Unheil verdammt ist: Alle dort, egal ob sie die Kommunistische Partei unterstützen oder bekämpfen, denken in den gleichen Bahnen.

Zur Essenszeit klopfte ein »Zweierknacki« – so nannten wir die Häftlinge, die nur eine kurze Strafe abzusitzen hatten und mit leichten Arbeiten wie der Essensausgabe betraut waren – mit einer hölzernen Reiskelle an die Röhre aus Hartplastik, die in die Tür eingelassen und etwa so breit wie eine große Emaille-Teetasse war. Sogleich kroch ich dann, mein Plastikbesteck in den mit Handschellen gefesselten Händen, zur Tür, um das Essen auf meiner Seite der Röhre in Empfang zu nehmen. Wenn ich mich nur einen Moment verspätete, drohte mein Mithäftling das Essen einfach in der Finsternis stehen zu lassen, weil ihm die Wärter jedes Wort mit mir verboten hatten. Das Tocktocktock der Kelle auf der Hartplastikröhre war fast das einzige Geräusch von draußen, das ich zu hören bekam.

Einmal, als mir ein »Zweierknacki« mit der Taschenlampe das Essen brachte, drang ein schwacher Lichtschimmer durch den schmalen Türspalt und fiel auf eine Schar Ameisen, die unter einem, wie mir schien, gewaltigen Getöse ein paar Reiskörner fortschafften, die ich versehentlich auf dem feuchten Boden verstreut hatte. Der Anblick dieses Spektakels wurde von da an zu meinem größten Vergnügen.

Diese winzigen Kreaturen, die mir vorher gänzlich unbedeutend erschienen waren, schenkten mir nicht nur einen Moment der Zerstreuung, sondern auch eine neue Sichtweise, die mich tief berührte: Dinge, die uns Menschen nichtig vorkommen, können für die Ameisen genauso titanische Taten bedeuten wie für uns die größten Bauten, die wir vollbracht haben oder noch vollbringen. Mehr noch: Wenn wir achtlos irgendwohin pinkeln, kann diese Lache für die Ameisen eine verheerende Flut darstellen; und wenn eine Schar Ameisen auf einen Basketball krabbelt, muss diese Leistung sie mit einem solchen Stolz erfüllen, als hätten wir einen Wolkenkratzer erbaut. Wenn aber einer von uns diesem Basketball einen Tritt versetzt, muss es sich für die Ameisen anfühlen, als würde die Erde in rasendem Lauf unter ihnen rotieren. Wer einmal seinen Blickwinkel verändert, entwickelt nicht nur ein ganz neues Verständnis für seine Lebensumstände, sondern auch Gefühle wie Ehrfurcht, Demut und Dankbarkeit.

Jeden Tag redete ich in einem fort auf die Wand ein: Ich sagte die Namen aller Menschen auf, die ich kannte, und wenn ich damit fertig war, die Namen aller Bücher, die ich gelesen hatte, und aller Artikel. Kurz: Ich redete und redete …

Und jeden Tag brüllte ich die Wand an: »Um Karriere zu machen, hat Vizedirektor Liu Guo An dazu gebracht, seine Mithäftlinge zur Gründung einer Organisation und zum Ausbruch anzustiften! Das ist gegen jede Moral!«

Mein Geschrei rief Liu schließlich höchstselbst auf den Plan. Durch die Zellentür hindurch suchte er das Gespräch mit mir. »Hör endlich auf, so einen Scheiß zu krakeelen! Du bist doch noch nicht mal in die Organisation eingetreten, dir kann man nur einen gescheiterten Ausbruchsversuch zur Last legen. Wenn du den Mund hältst, lasse ich dich hier raus. Ich kann dich sogar zum Außendienst abstellen.« (Im »Außendienst« verrichtete man kleine Arbeiten außerhalb des Gefängnisses.)

»Schämen Sie sich gar nicht?«, schrie ich, dass es mir fast die Kehle zerriss. »Sie haben Dutzende von jungen Leuten in Haftstrafen reingeritten, die sich auf Hunderte von Jahren summieren, und das alles nur für Ihre Karriere!«

Als er mir mit seiner rauen Stimme antwortete, drohte er mir unverhohlen: »Wenn du weiter so einen Schwachsinn verbreitest, lasse ich dich hier drin verrotten. So einen Schlappschwanz wie dich kriege ich schon noch weich!«

Diese gelegentlichen Anfeindungen wurden zum sehnsuchtsvoll erwarteten Lichtstrahl in meiner Finsternis.

Meine Religion ließ sich in einem Wort zusammenfassen: leben. Oder um es ein bisschen auszuführen: lebend wieder rauskommen, und sei es wie ein Vieh.

Die vier

Die U-Bahn wird langsamer und neigt sich leicht zur Seite. Als sie gemächlich aus dem dunklen Tunnel hinausfährt, ist mir das plötzlich einfallende Sonnenlicht so unerträglich wie der reflektierende Schnee, den ich durch die mit einem weißen Handtuch fest verbundenen Augen wahrnahm, als ich nach einundfünfzig Tagen in Dunkelhaft auf einer Bahre aus der Zelle getragen wurde. Nicht genug damit, dass ich in diesen einundfünfzig Tagen nicht umhergehen konnte, ich fürchtete auch, dass ich infolge des langen Dunkels beim jähen Anblick grellen Lichts erblinden könnte – eine Angst, die alle erfahrenen Gefangenen kennen.

Wie ein alter Ochse, der sich mühsam einen Hang hinaufgeschleppt hat, hält die U-Bahn keuchend an der Station Gleisdreieck. Und genau wie ein Ochse, dem vor übergroßer Erschöpfung die Beine zucken, bis sich das Zittern auf den ganzen Körper ausgebreitet hat, wackelt auch der Wagen.

»Die Berliner U-Bahn ist aber auch wirklich in einem erbärmlichen Zustand! Uralt ist sie, und dann stinkt sie auch noch nach Urin. Da ist die Pekinger U-Bahn aber um Welten besser!«, ruft eine helle, laute Stimme mit Pekinger Akzent, und ein paar junge Leute, die man als »noch grün hinter den Ohren« bezeichnen könnte, springen und drängen sich in das Abteil.

Wer in der Fremde gestrandet ist, redet vor lauter Einsamkeit manchmal nur um des Redens willen. Ich erinnere mich noch, wie ich gerade erst nach Berlin gekommen war und niemanden kannte, mit dem ich Chinesisch sprechen konnte – wenn ich da zufällig auf der Straße ein paar Chinesen begegnete, schloss ich mich ihnen an, in der Hand meine Jahreskarte für die Museen, nur um ein wenig in den Genuss zu kommen, meine Muttersprache zu sprechen.

Als sich die jungen Leute gesetzt haben, wechseln wir einen Blick miteinander.

»Freut mich, euch kennenzulernen«, spreche ich sie an. »Seid ihr Studenten oder Touristen? Wenn ihr Studenten seid, könnt ihr gern mal zum Essen zu mir nach Hause kommen – immerhin sind wir Landsleute!«

»Super!«, ruft eines der Mädchen – drei von den vieren sind Mädchen –, ein schmächtiges Temperamentsbündel. »Ich freue mich auch sehr, und da spreche ich auch im Namen der anderen. Wir sind alle Austauschstudenten und gerade erst hier angekommen. Heute machen wir einen kleinen Ausflug. Wie lange sind Sie denn schon in Deutschland? Und was machen Sie beruflich?«

»Ich bin schon ziemlich lange hier. In der Hauptsache schreibe ich.«

»Wow!«, ruft ziemlich theatralisch ein anderes Mädchen, das ein rundes Gesicht, gelb-grün gefärbtes Haar und neckische Sommersprossen an den Nasenflügeln hat. »Jetzt kennen wir einen Schriftsteller!«

»Und du bist der Hahn im Korb und sagst gar nichts?«, wende ich mich an den Jungen, während ich meine Visitenkarte unter ihnen verteile.

»Die Partei hat die Führung über alles inne! Wir drei Mädchen sind alle schon Parteimitglieder, aber er ist nur Kandidat, deshalb muss er auf unsere Kommandos hören!«, ruft das schmächtige Mädchen, das sich augenscheinlich für witzig hält, und nimmt meine Visitenkarte entgegen.

Während das Abteil vor sich hin ruckelt, äugen die jungen Leute verstohlen auf meine Visitenkarte, und ihre jugendlichen Gesichter nehmen im Wechselspiel von Licht und Schatten, das durch die Fenster fällt, einen unsteten, nicht zu deutenden Ausdruck an.

Dann, noch ehe die U-Bahn an der nächsten Station anhält, schießen die vier wie auf Kommando von ihren Plätzen auf und stecken mir meine Visitenkarten so geschwind in Hände und Brusttaschen, als könnten sie sich daran jeden Moment die jugendlichen Finger verbrennen.

Wieder übernimmt die Schmächtige das Reden.

»Wir geben Ihnen Ihre Visitenkarte lieber wieder zurück, sonst handeln wir uns noch Ärger ein. Wir wussten ja nicht, dass Sie …«

»Nur keine Angst! Ich bin chinesischer Staatsbürger wie ihr …«

Aber noch bevor ich ausgeredet habe, haben die vier fluchtartig das Abteil verlassen. Herein sind sie gesprungen, aber hinausgestürmt sind sie wie Bauern, die bei starkem Wind auf dem Dreschplatz das Getreide worfeln.

Offensichtlich hatten sie eigentlich nicht vorgehabt, schon nach einer Station wieder auszusteigen.

Während ich ihnen noch wie vor den Kopf geschlagen nachstarre, ertönt im Abteil die vertraute Melodie von »Katjuscha«, gespielt auf einem altmodischen Akkordeon. Wie ging der Text noch gleich?

Die Blumen des Mai blühen überall auf freiem Feld

Und verbergen das Blut der Märtyrer …

Ach, nein, stimmt ja gar nicht! Ist das nicht aus »Die Blumen des Mai«10? Und wie war der Text von »Katjuscha« noch mal?

Jetzt fällt es mir wieder ein:

Ringsum prangten Birnenblüten,

Nebelschleier trieben überm Fluss.

Auf dem steilen Ufer stand Katjuscha,

Sang so strahlend schön wie Frühlingsglanz …

Während mir noch der Liedtext durch den Kopf geht, fährt die U-Bahn in die Station Stadtmitte ein. Von den Pfeilern auf dem Bahnsteig steigt ein schwerer Geruch nach Haschisch auf.

Diese Station sei ein beliebter Ort, um Haschisch zu verschieben, hat mir ein Freund einmal erzählt. Und das Haschisch, das hier verkauft werde, stinke nach Urin.

Dieser Geruch färbt jetzt auch auf die Melodie von »Katjuscha« in meinem Kopf ab.

Und worüber soll ich nun heute Abend reden?

Darüber, dass in Berlin mehr Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas herumlaufen als in Peking?

Oder über meinen vorab aufgeflogenen Ausbruchsversuch aus dem Gefängnis vor neunundzwanzig Jahren?

Egal worüber ich rede, am Anfang oder Ende werde ich fragen:

Wenn ich noch einmal vor derselben Entscheidung stünde wie vor neunundzwanzig Jahren, würde ich dann wieder einen solchen Ausbruchsversuch riskieren, um in den Westen zu fliehen?

Umar Abdul Nasser

Flüchtling sein

Aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch