In der Schlinge - Miriam Rademacher - E-Book

In der Schlinge E-Book

Miriam Rademacher

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Beschreibung

Kommissar Markus Sennenberger ist kaum zurück von seiner Kur, schon hat er es mit gleich zwei Mordopfern zu tun. Beide Tatorte liegen in einer noblen Wohngegend, und es war die Hausangestellte, die die Leichen zuerst entdeckte.  Sennenberger und seinen Co-Ermittlern Derio Conte und Fiona Sacher ist schnell klar, dass die zwei Todesfälle miteinander zusammenhängen. Die Männer kannten einander und gehörten dem gleichen elitären Club an. Dort wird jedoch über einige Dinge ein Mantel des Schweigens gelegt. Und auch ein verschwundenes Gemälde gibt Rätsel auf. Der dritte Fall für die Soko Sennenberger.

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Miriam Rademacher

In der Schlinge

Ein Fall für die Soko Sennenberger

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Kommissar Markus Sennenberger ist kaum zurück von seiner Kur, schon hat er es mit gleich zwei Mordopfern zu tun. Der Historiker Gideon Wacker wurde zu Hause in seinem Büro erschlagen. Kurz darauf wird sein Freund Dominik Herbst leblos aufgefunden – offensichtlich wurde er vergiftet.

Sennenberger und seinen Co-Ermittlern Derio Conte und Fiona Sacher stehen vor der Frage, wie die zwei Todesfälle miteinander zusammenhängen. Die Männer gehörten dem gleichen elitären Club an. Dort wird jedoch über so einige Dinge ein Mantel des Schweigens gelegt. Und auch ein verschwundenes Gemälde, das zudem höchst umstritten ist, gibt Rätsel auf.

Der dritte Fall für die Soko Sennenberger.

Vita

Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie hat zahlreiche Fantasy-Romane, Krimis und Kinderbücher in verschiedenen Verlagen veröffentlicht.

Kapitel 1

Feiner Nieselregen fiel auf ihre Brillengläser und ließ die Weihnachtsbeleuchtung vor ihren Augen verschwimmen. Auf den dunklen Straßen am Stadtrand von Hannover schien alles friedlich, und galant übersprang Malin die Pfützen auf dem Gehweg. Sie befand sich auf dem Rückweg.

Vor fast zwei Stunden hatte sie sich von ihrem Arbeitgeber verabschiedet, ihm einen schönen Abend gewünscht und war aufgebrochen. Während des gesamten Heimwegs hatte sie durch die Fenster der öffentlichen Verkehrsmittel hinaus auf die belebten Straßen geblickt und versucht, nicht auf diese besondere Weise an ihren Chef zu denken, die ihrer Meinung nach unangemessen, aber doch nahezu unvermeidlich war. Dominik Herbst mochte nicht im klassischen Sinne attraktiv sein, aber er besaß alles, was Malin von einem Mann erwartete.

Der Mann war stets höflich, sprach leise und kultiviert und roch nach einer Mischung aus Seife und Aftershave. Sein Lächeln war sanft, seine Kleidung langweilig, aber edel und gepflegt. Und wenn Malin seine Hemden bügelte, erfreute sie sich an den Markenlabels im Kragen und den gut verarbeiteten Stoffen.

Seit fast zwei Monaten war Malin für Dominik Herbst tätig. Er nannte sie seine Haushälterin, sie selbst bezeichnete sich als Wirtschafterin, was irgendwie eleganter klang und der Vielzahl ihrer Aufgaben auch eher gerecht wurde.

Wenige Wochen im Dienst dieses Mannes hatten gereicht, um Malin in Liebe zu ihm entbrennen zu lassen. Dass er deutlich älter war als sie, störte sie nicht. In der Traumwelt, die sie Abend für Abend in ihrem Kopf entstehen ließ, passten sie beide großartig zusammen, gingen gemeinsam in Restaurants, wo sie geistreiche Gespräche führten, besuchten Opern oder bereisten die Welt auf einer geräumigen Jacht. An sexuelle Fantasien mit ihm als Verführer hatte sich Malin noch nicht herangewagt. Sie wollte diesbezüglich lieber auf die Wirklichkeit warten, um sich eine Enttäuschung zu ersparen. Lediglich Küsse tauschte sie in Gedanken mit ihm aus und wartete begierig auf den Tag, da die Wirklichkeit ihre Träume überholte. Doch dies würde heute Abend wohl kaum der Fall sein, denn Malin hatte sich einen Schnitzer erlaubt.

Sie sah auf ihre winzige Armbanduhr, deren Zeiger im Licht der Straßenlaternen aufblitzten. Fast acht Uhr abends. Dominik Herbst saß vermutlich bereits bei seinem Freund, dem Historiker Gideon Wacker, und fragte sich verwirrt und verärgert, was wohl aus seiner Lesebrille geworden war. Jener Lesebrille, die Malin plötzlich schmerzhaft gedrückt hatte, nachdem es ihr doch noch gelungen war, in der Stadtbahn einen Sitzplatz zu ergattern.

Erst da war ihr jener Moment wieder in den Sinn gekommen, da sie die von Dominik auf der Fensterbank des Badezimmers liegen gelassene Brille entdeckt und eingesteckt hatte, nur um sie in der Tasche ihrer Schürze erneut zu vergessen.

Mit seiner Brille in der Hand war Malin augenblicklich umgekehrt und hatte die nächste S-Bahn in die Gegenrichtung bestiegen. Ihr Arbeitgeber gehörte nicht zu jenen Menschen, die eine ganze Batterie von Lesehilfen im Haus zu verteilen pflegten, um immer eine parat zu haben. Er besaß nur diese eine, welche dank Malin nun nicht auffindbar war. Was, wenn er sie noch heute Abend benötigte, während er mit Wacker zusammensaß und über Dinge sprach, die ihren eigenen Horizont überstiegen?

Pech für Malin, dass sie nun noch einmal in den Rehwinkel zurückkehren musste. Hingegen konnte sie von Glück sagen, das Heim des besagten Gideon Wacker zu kennen. Zwischen den Häusern der Herren Herbst und Wacker standen nur zwei weitere Wohngebäude, ihr aktuelles Ziel befand sich somit lediglich einen Steinwurf von ihrem Arbeitsplatz entfernt.

Schon fiel ihr Blick auf die Hecke aus Kirschlorbeer, die Wackers Grundstück vor den Blicken Vorübergehender schützte, und sie öffnete das nur angelehnte Gartentor und lief mit schnellen kleinen Schritten über die Steinplatten zur Vordertür. Gerade als sie den Messingknopf über dem Namensschild drücken wollte, wurde ihr unerwartet geöffnet, und die Gestalt einer Dame im Pelzmantel, deren grau meliertes Haar einen betont jugendlichen Haarschnitt aufwies, trat heraus.

«Oh, Frau Wacker.» Malin deutete einen Knicks an, weil es ihr angesichts dieser sehr viel älteren und kultivierten Dame angebracht erschien. «Ich bin hier, um Herrn Herbst seine Lesebrille zu bringen. Ganz aus Versehen habe ich sie vorhin eingesteckt und nach Feierabend mitgenommen. Und weil er doch ohne seine Brille nicht zurechtkommt, bin ich gleich, als ich es bemerkt habe, hierhergeeilt.»

Die Ältere nickte wohlwollend, während sie gleichzeitig versuchte, einen verstohlenen Blick auf ihre Uhr zu werfen, wobei ihre teure Handtasche sich als hinderlich entpuppte.

«Gleich acht Uhr, gnädige Frau», gab Malin, die sich an die gerade erst abgelesene Zeit gut erinnerte, bereitwillig Auskunft.

Frau Wacker lächelte freundlich und antwortete mit ihrer wohlklingenden Stimme: «Was täten wir nur ohne Sie, meine Liebe? Die beiden Herren sitzen im Arbeitszimmer, die zweite Tür auf der linken Seite. Ich würde Ihnen diesen Gang ja abnehmen, aber ich bin auf dem Sprung und schon sehr spät dran. Wären Sie also so lieb, die Brille selbst abzuliefern?»

«Selbstverständlich.» Malin genoss es, für ihre Zuverlässigkeit gelobt zu werden. Anerkennung bedeutete ihr mehr als vieles andere, und Frau Wacker hatte stets ein freundliches Wort für sie, wenn sie einander auf dem Gehweg oder beim Bäcker an der Ecke begegneten.

Eilig schritt sie durch die von Frau Wacker offen gehaltene Haustür, zählte und wählte die zweite Zimmertür zu ihrer Linken, so, wie man es ihr aufgetragen hatte. Sie klopfte an. Erst zaghaft, dann lauter. Als niemand öffnete, blieb sie unschlüssig im Flur stehen. Schließlich entschied sie sich, leise zu rufen.

«Herr Wacker? Dominik? Ich bin es, Malin. Ich bringe die Lesebrille.»

Doch als auch weiterhin alles still blieb, wurde sie nervös. Hatte Frau Wacker sich geirrt? Waren die beiden Herren ausgegangen? Schien das nicht wahrscheinlicher, als dass beide Männer ihr Rufen überhört hatten?

Schon erwog sie, das Haus leise wieder zu verlassen und sich selbst bei ihrem Brötchengeber einzulassen, um ihm die Brille einfach aufs Kopfkissen zu legen, als sie ein ganz eigenartiges Gefühl überkam. Es war eine Vorahnung, davon war Malin augenblicklich überzeugt. Dieser plötzlich aufkommende Gedanke, dass etwas in diesem Haus nicht in Ordnung war und möglicherweise ihre Hilfe gebraucht wurde, gab ihr den Mut, die Klinke niederzudrücken und einen vorsichtigen Blick in das Arbeitszimmer zu werfen.

Zuallererst bemerkte Malin den Pfeifengeruch und erkannte sofort das an Vanille erinnernde Aroma des Tabaks wieder. Dominik war ohne Zweifel hier gewesen.

Darüber hinaus deutete alles darauf hin, dass sich jemand in diesem Zimmer aufhielt oder es doch zumindest bis vor Kurzem getan hatte. Im Kamin schwelten die Reste eines Feuers, eine Stehlampe aus Messing spendete goldgelbes Licht. Und doch konnte sie niemanden entdecken.

Gerade wollte Malin den Rückzug antreten, als sie die Hand bemerkte. Mit gekrümmten Fingern, an denen zwei auffällige Siegelringe schimmerten, lag dieses menschliche Körperteil dort auf dem beigefarbenen Teppich. Der Arm, zu dem sie hoffentlich gehörte, wurde durch eine Sitzgarnitur aus glänzend braunem Leder verdeckt.

Malin zögerte keine Sekunde länger. Sie stürmte in den Raum hinein, umrundete die Couchlandschaft und ging vor dem reglosen Körper des Hausherrn auf die Knie.

Wie sie es in ihrem Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte, sprach sie Gideon Wacker zunächst laut an und prüfte dann, als sie keine Antwort erhielt, seinen Atem.

Statt eines Spiegels hielt sie ihm einfach eine an den eigenen Lippen angefeuchtete Fingerkuppe unter die Nase – und spürte überhaupt nichts. Kein Hauch verließ noch diesen Körper. Auch der Brustkorb schien sich nicht mehr zu heben, und wenn sie ganz ehrlich zu sich war, dann hatte die Haut des Mannes bereits einen wächsernen Glanz angenommen. Ein schwacher Geruch von Urin lag in der Luft.

Malin erhob sich und sah auf den Toten hinab. Erst jetzt bemerkte sie den verdächtigen dunklen Fleck auf dem Teppichboden nahe Wackers linkem Ohr und darüber hinaus den schweren Glasaschenbecher, der nicht, wie es sich gehörte, auf einem Tisch stand, sondern auf dem Läufer vor dem Kamin lag.

Den Atem anhaltend, schlich Malin leise hinaus, schloss die Zimmertür hinter sich und überlegte fieberhaft, was nun zu tun war. Für sie gab es nicht den geringsten Zweifel, dass Gideon Wacker Opfer einer Gewalttat geworden war und auch sie selbst in großer Gefahr schwebte, falls der Mörder sich noch im Haus befand.

Sie musste sofort von hier verschwinden. Hilfe kam ohnehin zu spät, und wichtiger, als die Polizei zu informieren, erschien ihr der Gedanke, sich in Sicherheit zu bringen. Wie ärgerlich, dass sie Handys stets als neumodischen Unsinn abgetan hatte, jetzt wäre eines dieser Dinger sinnvoll gewesen.

Da entdeckte sie das schnurlose Telefon auf dem Sideboard, gleich unter dem Garderobenspiegel. Nun, wenn man es ihr so einfach machte, würde sie den Mut aufbringen und den Anruf doch noch von hier aus tätigen, bevor sie das Weite suchte. Lautlos huschte sie quer über den Flur und nahm das Gerät aus der Ladestation. Das Freizeichen klang erschreckend laut in ihren Ohren. Hastig drückte sie das Telefon an ihre Brust und lauschte. Im Haus blieb alles still. Womöglich war der Mörder bereits geflohen und sie doch allein? Allein mit der Leiche von Gideon Wacker, der, so wie sie den dunklen Fleck neben seinem Kopf interpretierte, einen Schlag auf den Kopf erhalten hatte?

Mit zitternden Fingern tippte sie die Nummer des Notrufs ein, flüsterte ihren Namen und gab bereitwillig Auskunft auf alle Fragen, die ihr gestellt wurden. Nicht ohne sich pausenlos nervös umzublicken, ob nicht doch noch eine Gestalt in ihrer Nähe auftauchte.

Als ihr Gesprächspartner sie aber aufforderte, es doch noch mit lebenserhaltenden Maßnahmen wie einer Herzmassage oder einer Mund-zu-Mund-Beatmung zu versuchen, legte sie auf. Wacker war tot, das hatte sie dem Fremden am Telefon mitgeteilt, und daran bestand ihrer Meinung nach gar kein Zweifel. Vermutlich wäre es klüger gewesen, gleich die Polizei zu verständigen, doch sie hoffte, der Mann in der Notrufzentrale würde wissen, was nun zu tun war. Keinesfalls aber wollte sie sich jetzt sportlich an einer Leiche betätigen, sondern zunächst an ihre eigene Sicherheit denken.

Mit zitternden Händen stand sie da und überlegte, wo sie sich bis zum Eintreffen der Ambulanz vor einem Mörder verstecken konnte, denn es wurde sicher von ihr erwartet, die Helfer in Empfang zu nehmen.

In diesem Moment kam ihr die Hausherrin in den Sinn, und rasch widmete sie sich erneut dem Telefon in ihrer Hand, um den Speicher des Telefonbuches aufzurufen. Gleich darauf rief sie das Handy von Lotte Wacker an, die bestimmt wissen wollte, dass sie gerade zur Witwe gemacht worden war.

***

Frau Wacker traf erst nach dem Notarzt und der Polizei ein, wofür sie den Verkehr und den erlittenen Schock verantwortlich machte. So war es tatsächlich an Malin gewesen, die Männer einzulassen, welche sie mit Fragen überschütteten, auf die sie keine Antworten hatte. Malin wusste nicht, ob Gideon Wacker an Vorerkrankungen gelitten hatte, und sie wusste auch nicht, inwiefern das von Relevanz sein sollte, da die Todesursache doch recht offensichtlich war. Die Leiche wies eine Kopfverletzung auf, und Malin ging davon aus, dass der Aschenbecher auf dem Fußboden bei seinem Tod eine entscheidende Rolle gespielt hatte.

Sie saß auf einem Küchenstuhl, die zitternden Hände ineinander verknotet, und zeigte sich so kooperativ wie möglich. Sie tat, um was auch immer sie gebeten wurde, und sagte aus, was sie wusste. Letzteres war zugegebenermaßen nicht viel. Als endlich eine sehr blasse Lotte Wacker die Küche betrat und ihr über das Haar strich, fühlte Malin sich völlig erschöpft, glaubte aber doch, einen besseren Eindruck auf ihr Umfeld zu machen als die frischgebackene Witwe. Diese schien während ihrer kurzen Abwesenheit um Jahre gealtert zu sein. Die tiefen Falten um Mund und Nase waren Malin zuvor nicht aufgefallen.

Während die Hausherrin ihr ein paar aufmunternde Worte zuflüsterte, fühlte Malin Tränen der Erleichterung in ihren Augenwinkeln aufsteigen. Endlich wurde ihr die Last abgenommen, welche ohnehin nicht die ihre war. Im Grunde hatte sie mit dem Haushalt Wacker nichts zu schaffen. Es war der Zufall, der sie hierhergetrieben hatte und über die Leiche stolpern ließ. Wäre Dominiks Brille nicht gewesen, würde sie jetzt schon mit den Resten eines Auflaufs zu Hause vor dem Fernseher sitzen und einen Liebesfilm anschauen. Stattdessen hatte sie der Umgang mit den anwesenden Polizisten, Ärzten, und was sie noch alles darstellten, gnadenlos überfordert.

«Es tut mir so leid, Malin, dass du in solch eine scheußliche Sache verwickelt worden bist.» Lotte Wacker legte die Arme um sie und drückte sie kurz an sich, was Malin noch mehr zu Tränen rührte. Ausgerechnet die Frau, deren Mann tot in seinem Arbeitszimmer lag, nahm sich mitfühlend ihrer an. Es hätte umgekehrt sein sollen.

«Mir tut es ebenfalls leid», stotterte sie und erhob sich vom Küchenstuhl. «Was für ein schreckliches Verbrechen. Ihr armer Mann hat ein solches Ende nicht verdient.»

«Nein.» Lotte Wackers Miene verfinsterte sich. «Das hat er nicht. Und deswegen wird der Schuldige auch seine gerechte Strafe bekommen. Das schwöre ich.»

Malin fragte sich im Stillen, ob die Frau bereits einen Verdacht hegte, als ihr plötzlich Dominik Herbst einfiel, den sie ja eigentlich hier zu treffen gehofft hatte.

Unruhig blickte sie auf ihre Armbanduhr. Inzwischen ging es auf neun zu. Noch immer befand sich die Lesebrille, wegen der sie gekommen war, in ihrer Schürzentasche, was sie der Polizei bereits wahrheitsgemäß berichtet hatte. Ganz sicher würden die Beamten auch mit Dominik sprechen wollen. Womöglich war er der Letzte, der das Opfer noch lebend gesehen hatte.

Oder war er gar nicht hier gewesen? Aber dann hätte Lotte Wacker sie doch nicht ins Arbeitszimmer geschickt. Und hatte es nicht nach seinem Tabak gerochen? Nein, ihr Arbeitgeber musste hier im Haus gewesen sein und es vor dem Mord wieder verlassen haben. Sicher saß er nur einen Katzensprung von hier entfernt bei einem Buch und ahnte gar nicht, was vor sich ging. Es wurde allerhöchste Zeit, dass sie ihn informierte und sich um ihn kümmerte, vielleicht seine Hand hielt, bis der erste Schrecken über den Tod des Freundes überwunden war.

Lotte Wacker, die in diesem Moment von einer Beamtin mit ernster Miene beiseitegenommen wurde, war schon fast vergessen. Eilig suchte Malin nach einem Gesicht unter vielen, das autoritär genug wirkte, um ihr die Erlaubnis geben zu können, sich zu entfernen. Schließlich fing sie den Blick eines Mannes auf, der die meisten seiner Kollegen um ein gutes Stück überragte. Er schien ihr etwas älter als Dominik zu sein. Graue Strähnen durchzogen sein sandfarbenes Haar, und in seinem Gesicht spiegelte sich diese besondere Müdigkeit, die nicht durch Schlaf gelindert werden konnte.

Als er sich einen Weg zu ihr bahnte, gewann sie den Eindruck, dass er fast unmerklich humpelte. In seinem Mundwinkel hing ein unangezündeter Zigarillo.

«Frau Mendel, nicht wahr? Kann ich etwas für Sie tun? Macht Ihnen etwas Sorgen?» Er betrachtete sie mit einer Aufmerksamkeit, die ihr unangenehm war.

«Fräulein Mendel», korrigierte Malin automatisch. «Da bin ich altmodisch und bestehe auf diese Anrede. Wenn Sie meinen Wunsch bitte respektieren würden.»

«Selbstverständlich.» Der Zigarillo zuckte leicht. Sie hatte ihn amüsiert. «Ich spreche jeden so an, wie es gewünscht wird. Heutzutage gibt es da ja so viele Möglichkeiten.»

«Vielen Dank.» Malin verschränkte die noch immer zitternden Finger hinter dem Rücken. «Darf ich erfahren, wer Sie sind?»

«Mein Name ist Markus Sennenberger, ich leite diese Ermittlung. Frau Mendel, womit können wir Ihnen helfen? Es scheint fast so, als hätten Sie es eilig.»

Seine Worte vermittelten Malin den Eindruck, schon länger von ihm beobachtet worden zu sein. Eine weitere mitfühlende Seele, die sich um sie sorgte. Es gab ihr ein warmes Gefühl.

«Das ist sehr freundlich, danke. Es ist nur so, dass ich noch immer die Brille …»

«Ja, die Brille Ihres Arbeitgebers, von dem Sie glaubten, ihn hier anzutreffen.» Der Mann nickte wissend. Er musste ihre Aussage, die zuvor von einem kleinen Mann mit Haaren, so dunkel wie Maulwurfsfell, aufgenommen worden war, zumindest teilweise mit angehört haben. Wie seltsam, dass sie seine imposante Erscheinung nicht eher bemerkt hatte. Sie war wohl zu aufgeregt gewesen.

«Wie kamen Sie überhaupt auf den Gedanken, dass Ihr brillenloser Boss sich heute Abend hier aufhalten würde, Fräulein Mendel?» Aufmerksam betrachtete er sie und kaute dabei auf seinem Zigarillo.

«Weil er es mir doch selbst gesagt hat», gab sie bereitwillig Auskunft und blickte ein weiteres Mal ungeduldig auf ihre Uhr. Der Abend schritt voran, und sie wollte endlich zu Dominik Herbst. Zudem gab es ihrer Meinung nach nichts Hilfreiches mehr, was sie zur Arbeit der Polizei beitragen konnte. «Bevor ich heute Abend nach Hause ging, bot ich Herrn Herbst an, ihm noch einen Kaffee an den Schreibtisch zu bringen. Doch er hat dankend abgelehnt und erwähnt, dass er selbst ebenfalls gleich aufbrechen wollte, weil er von Herrn Wacker erwartet wurde.»

«Ah ja.» Der Zigarillo wanderte von einem Mundwinkel zum anderen. «Hat er auch den Grund für seinen Besuch bei Herrn Wacker erwähnt? In welcher Stimmung befand sich Ihr Chef? Wirkte er auf Sie wie immer, oder schien er Ihnen nervös zu sein?»

Malin öffnete den Mund, um alle Fragen zu verneinen, doch dann hielt sie kurz inne und überlegte.

«Na?» Der Mann namens Sennenberger wartete auf ihre Antwort.

«Nervöser als üblich erschien er mir nicht.» Malin sprach langsam, um Zeit zu gewinnen. Sie versuchte, sich diesen letzten Moment mit Dominik vor ihrem Weggang genau in Erinnerung zu rufen. «Aber verändert war er schon. Irgendwie aufgekratzt. Ich kann es nicht genau beschreiben, fürchte ich.»

Ihr Gegenüber schwieg einen Moment. Dann nahm er den Zigarillo aus dem Mund und stopfte ihn in seine Brusttasche. «Sagten Sie nicht, dass Herr Herbst in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnt? Dann wäre es doch eine gute Idee, wenn ich Sie dorthin begleiten würde, um selbst einmal mit dem Mann zu sprechen.»

Malin gefiel dieser Gedanke nicht besonders. Was sollte Dominik davon halten, wenn sie ihm die Polizei ins Haus schleppte? Und außerdem würde sich im Beisein des Beamten wohl kaum die Gelegenheit ergeben, einander sanft bei den Händen zu halten, bis der erste Schrecken vorüber war.

Doch als sie die Entschlossenheit in den Augen Sennenbergers erkannte, stimmte sie seufzend zu und ließ sich von ihm durch den Hausflur geleiten, wo seine Kollegen herumwuselten und sich unverständliche Dinge zuriefen.

Draußen, im Garten der Wackers, atmete Malin zum ersten Mal, seit sie das Haus betreten hatte, wieder auf. Der Regen hatte aufgehört, es roch nach feuchter Erde und frühem Wintereinbruch. Der Wind fuhr durch ihre Ponyfransen und zerrte an der Hochsteckfrisur, die sie sich bei Audrey Hepburn abgeschaut hatte. Sie lebte, atmete und hatte vermutlich gerade die schlimmste Stunde ihres ganzen Daseins hinter sich gebracht. Bald würde sie mit einer Wärmflasche und einer Tasse Kakao im Bett liegen und versuchen, die Leiche Wackers aus ihren Gedanken zu verdrängen. Die Welt drehte sich schließlich weiter.

An der Seite des Polizeibeamten erreichte sie den pflegeleichten Steingarten vor Dominiks Tür, zückte ihren Schlüssel und drückte doch noch rasch auf die Klingel, bevor sie ihnen beiden öffnete. Schließlich gehörte es sich nicht, einfach so irgendwo hereinzuplatzen, auch wenn man dort täglich ein und aus ging.

Im Haus empfing sie dieselbe Stimmung wie zuvor bei den Wackers. Das Licht im Flur brannte, einige Türen standen offen, doch über allem lag eine unheimliche Stille. Kein Fernseher lief, kein Radio spielte, und niemand kam ihnen entgegen.

«Hier stimmt etwas nicht», flüsterte sie und sah Sennenberger an. «Es fühlt sich alles ganz anders an als sonst.»

«Wo hält sich Herr Herbst abends denn für gewöhnlich auf?», fragte der Kommissar und blickte sich suchend um.

«Im Wohnzimmer. Gleich da vorn», gab Malin bereitwillig Auskunft und beobachtete, wie Sennenberger sich vorsichtig in die gewiesene Richtung bewegte. Nun humpelte er überhaupt nicht mehr. Im Gegenteil, er bewegte sich überraschend geschmeidig.

Mit einem Mal war Malin sehr froh, nicht allein hierhergekommen zu sein. Der große breitschultrige Polizist an ihrer Seite würde bestimmt dafür sorgen, dass ihr nichts zustieß. Gerade jetzt betrat er das Wohnzimmer, das Dominik stets als Salon bezeichnete, und war nur einen Augenblick später wieder bei ihr. Seine Antwort auf ihre unausgesprochene Frage bestand in einem Kopfschütteln. Dominik war nicht dort gewesen.

Malins zweiter Verdacht fiel auf das Büro gleich zu ihrer Linken. Dieses Mal ging sie voraus, um Sennenberger den Weg zu weisen. Die Tür war nur angelehnt. Und als sie, gefolgt von Sennenberger, eintrat, fiel ihr Blick sofort auf die zusammengesunkene Gestalt im seidenen Morgenmantel, deren Kopf auf der Tastatur des Laptops ruhte.

Oh nein. Nicht schon wieder, war das Erste, was ihr durch den Kopf schoss. Dann dachte sie an den Kakao, den sie heute Abend wohl nicht mehr trinken würde, und meinte zu fühlen, wie die Welt aufhörte, sich zu drehen. Es musste so sein, denn sie selbst schwankte leicht, als der Boden unter ihren Füßen abrupt abgebremst wurde.

Jetzt spürte sie, wie sie beiseitegeschoben wurde und Sennenberger an den Schreibtisch des Mannes, den Malin sich für ihre Träume von Liebe und Zweisamkeit auserkoren hatte, trat. Doch sie wollte nicht einfach beiseitegeschoben werden. Es war noch immer ihr Wunsch, Dominiks Hand zu halten, ganz egal, wie kalt sie sich jetzt auch anfühlen mochte. Sie gehörte zu ihm, auch in den Stunden nach seinem Tode. Malin trat vor, wurde aber von der breiten Brust des sich zu ihr umdrehenden Polizisten abgefangen, noch bevor sie Dominik erreichen konnte.

Dass sie weinte, begriff sie erst, als die Tränen auf seine Jacke tropften. Dass sie Dominiks Namen rief, nur weil der Polizist ihr ins Wort fiel, beruhigende Worte murmelte und sie festhielt. Malin wünschte, er würde aus dem Weg gehen, damit sie endlich zu Dominik gelangen konnte. Gleichzeitig hoffte sie, einfach ohnmächtig zu werden, um all das, was sich nun noch einmal in diesem Haus wiederholen würde, nicht ertragen zu müssen. Doch sie wurde nicht ohnmächtig. Sie registrierte die Bewegungen des Mannes, der sie hielt, und erkannte an seinem veränderten Tonfall, dass er jetzt nicht mehr mit ihr, sondern zu einem Unbekannten sprach, den er mit seinem Handy angerufen haben musste. Bald würden seine Kollegen eintreffen. Und zum zweiten Mal an diesem Abend und in dieser Straße würde der Tod eines Mannes durch einen Notarzt festgestellt werden.

Unbemerkt von dem Polizisten, der sie noch immer hielt, spähte sie an seinem Ellenbogen vorbei und erhaschte einen Blick auf die toten Augen Dominiks, dessen Wange noch immer auf der Tastatur lag. Malin glaubte zu spüren, wie ihr Herz brach. Aber eine erlösende Ohnmacht war ihr trotzdem nicht vergönnt.

Oktober 1968: Universität Wien

Alfons Leberer hatte den Beginn seiner Vorlesung versäumt, was er als ausgesprochen ärgerlich empfand, denn er mochte es sehr, wenn die jungen Studenten an seinen Lippen hingen.

Ein Blick auf die Wanduhr in seinem Büro verdeutlichte, wie wenig Sinn es noch machte, in den Hörsaal zu eilen. Es war bereits zu viel Zeit vergangen, als dass ihn dort noch ein unverdrossener Anhänger seiner kunstgeschichtlichen Vorträge erwarten könnte. Eine Entschuldigung seinerseits schien angebracht. Wenn er allerdings berichtete, was ihn ferngehalten hatte, würde man sich ihm gegenüber gewiss gnädig erweisen. Doch all das hatte keine Eile.

So widmete sich Leberer erneut dem Schatz auf seinem Schreibtisch, dem Fundstück, das einem seiner vielversprechenden Studenten auf einem Trödelmarkt, während seines Urlaubs an der belgischen Küste, in die Hände gefallen war. Dargestellt war ein biblisches Motiv, welches sich unschwer als die Jakobsleiter erkennen ließ. Selbige führte hinauf in einen tosenden Himmel, während Engel ihre Sprossen umschwebten und ein junger Mann am unteren Bildrand selig schlief. Fast noch interessanter als das Motiv war das Papier, auf dem die Skizze angefertigt worden war.

Leberer hielt sich selbst für einen Mann, der sich auskannte, und in diesem Fall war es tatsächlich seine Nase und ihr unfehlbarer Geruchssinn, der ihm sagte, dass dieses Schätzchen Jahrhunderte auf dem Buckel hatte. Und dann diese ausgereifte Linienführung der nur grob skizzierten Engelsflügel. Leberer konnte gar nicht anders, als sich selbst einzugestehen, dass er eine Erregung empfand, wie sie ihm seit nahezu vierzig Jahren nicht mehr vergönnt gewesen war.

So hätte er fast das Klopfen an der Tür seines Büros überhört, und sein verspätetes und eher halbherziges «Herein» führte dazu, dass Kollege Pinkas Körner nur zaghaft eintrat und ein wenig ratlos inmitten der allgegenwärtigen Unordnung stehen blieb.

«Du weißt aber schon, dass du heute ein paar pickligen Emporkömmlingen von der Sixtinischen Kapelle erzählen wolltest?» Jeden seiner Schritte wohlüberlegt zwischen Bücherstapel setzend, kam er näher. «Geht es dir nicht gut, Alfons? Bist du krank, brauchst du Medizin?»

«Ein Beruhigungsmittel wäre schön, Kollege», erwiderte Leberer, ohne von der Skizze aufzusehen. Doch weil er unbedingt irgendjemandem von seiner Entdeckung erzählen musste, winkte er Körner, näher zu treten.

«Für was hältst du das hier?», fragte er und sah zu seinem Besucher auf.

Dieser kämpfte sich noch etwas näher an den Schreibtisch heran und studierte mit gerunzelter Stirn die farblose Darstellung. «Was willst du von mir hören, das du nicht schon selbst erkannt hast, Alfons? Eine alte Skizze zu einem biblischen Thema. Die Jakobsleiter, möchte ich meinen.»

«Klassizismus.» Leberer spürte beim Sprechen, wie trocken sein Mund war, er hatte seit Stunden keinen Schluck mehr getrunken. «Aber der Name, Pinkas, die Signatur am unteren rechten Bildrand. Komm herum zu mir und sag mir, ob du dasselbe daraus lesen kannst wie ich.»

Von einem Ächzen begleitet, erreichte der Kollege den Platz neben seinem Stuhl, beugte sich tief über das Papier, kniff die Augen zusammen und murmelte schließlich: «Rosso, würde ich behaupten. Ja, es scheint mir, dass es Rosso heißen soll. Der Vorname allerdings ist ein wenig verschludert worden. Wie nett von ihm, eine Skizze überhaupt zu signieren. Gibt es ein Gemälde zu dieser Arbeit?»

«Das weiß ich nicht», gestand Leberer. «Das weiß niemand. Denn von Giorgio Rossos Werken ist so gut wie nichts erhalten geblieben. Er war ein Zeitgenosse Tischbeins, hielt sich zur gleichen Zeit wie er in Rom auf, um seine Studien voranzutreiben. Sein Hang zu biblischen Motiven ist belegt.»

«Durch wen?» Körner beugte sich tiefer über das Bild.

«Zeitzeugen natürlich.» Leberer klang empört. «Rosso soll Tischbein in späteren Jahren sogar in Deutschland besucht und in Oldenburg gearbeitet haben. Leider brauchte es nur zwei Weltkriege, um alles, was er zu seinen Lebzeiten schuf, zu vernichten.»

Pinkas Körner trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. «Und hier hast du also eine lang verschollene Skizze ausgegraben, Alfons? Sei vorsichtig und lehn dich nicht zu weit aus dem Fenster. Hat dich jemand um deine Expertise gebeten?»

Leberer nickte. «Einer meiner Studenten hat diesen Zufallsfund während seiner Sommerfrische an der belgischen Küste getätigt. Der Junge hat eine gute Nase, genau wie ich. Giorgio Rosso war ein großer Künstler. Sieh dir das an, Pinkas, schau nur genau hin. Das Leitergeflecht ist schon in dieser Rohform ein Kunstwerk.»

«Es handelt sich ohne jeden Zweifel um eine gute und gefällige Arbeit», räumte sein Kollege ein. «Aber bist du dir wirklich sicher, dass du sie zweifelsfrei diesem Rosso zuordnen kannst? Wenn keine weiteren Werke von ihm erhalten geblieben sind, wenn du nie zuvor über ein Bild dieses unbekannten Künstlers gestolpert bist, wäre dann nicht ein wenig mehr Vorsicht angezeigt?»

Leberer fühlte, wie er ärgerlich wurde. Dies hier, vor ihm auf der Schreibtischplatte, war ein Schatz. Ein lang verschollenes Werk, eine Zeichnung, ausgeführt von einer begnadeten Hand. Und dass Körner sich weigerte, dies auf den ersten Blick zu erkennen, kam fast schon einer Beleidigung gleich.

«Ich habe über Rosso gelesen, ich weiß, wovon ich rede. Willst du mir meinen Kunstverstand absprechen, Pinkas?»

«Keinesfalls.» Sein Besucher hob abwehrend die Hände. «Wenn du dir sicher bist, dann lass den Jungen wissen, dass er einen historisch wichtigen Fund gemacht hat.»

«Das werde ich auch.» Leberer schob den Stuhl zurück und erhob sich. «Dieser Schatz gehört in die Sammlung eines gut geführten Museums. Ich werde mich persönlich darum kümmern, schließlich ist so ein Grünschnabel im zweiten Semester damit völlig überfordert. Es ist gar keine Frage, dass viele renommierte Häuser sich um den Ankauf reißen werden.»

«Ja, weil dein Name unter der Expertise steht», hörte er Pinkas Körner murmeln. Doch noch bevor Leberer erneut aufbrausen konnte, schob sein Kollege eine Frage hinterher. «Wann und wo hast du denn über Giorgio Rosso gelesen?»

Leberer unterstrich seine Antwort mit einer unwirschen Handbewegung. «Das weiß ich nicht genau, jedenfalls ist es noch gar nicht lange her. Ich werde die Quelle heraussuchen, sie muss hier irgendwo sein.»

Ein wenig unglücklich blickte er über die Stapel von Büchern auf dem Boden, die den Weg in die umstehenden Regale nicht gefunden hatten, weil dort schlichtweg kein Platz mehr für sie war.

«Alfons, sei bitte vorsichtig. Den eigenen Ruf ruiniert man sich nur einmal», beschwor ihn Körner.

Doch Leberer hörte ihm schon nicht mehr richtig zu. Was gab es Schöneres, als eine Entdeckung zu machen, die die Kunstwelt aufhorchen lassen würde?

Kapitel 2

Derio Conte fühlte sich unwohl. Der blaue Papieranzug, in den ihn Viktor Kernig von der Spurensicherung gezwungen hatte, raschelte bei jeder Bewegung, und das Ende des Reißverschlusses kratzte an seinem Kinn.

Doch Kernig, ein Mann mit ewig jung wirkendem Lausbubengesicht, war, was seinen Tatort anging, unerbittlich und ließ sich nicht den Arbeitsplatz kontaminieren, auch nicht von einem Kriminalkommissar.

«Bei unseren vorangegangenen Fällen hast du nicht auf diese alberne Kostümierung bestanden», erinnerte sich Derio und zerrte an der Kapuze, die seine Haare vielleicht daran hindern mochten, ausgerechnet in Kernigs Ermittlungssuppe zu fallen, aber auch die Sicht einschränkte.

«Bisher habt ihr mir die Mordopfer ja auch nur in freier Wildbahn serviert, da ist das Auffinden von verwertbarer DNS ohnehin ein Glücksspiel. Aber hier, in einem geschlossenen Raum, stehen unsere Chancen, den Mörder mittels modernster Methoden zu überführen, sehr viel besser.»

«Soll heißen, je besser die Ausgangsposition, desto umfangreicher sind deine Vorsichtsmaßnahmen? Sollte das nicht umgekehrt sein?» Derio runzelte die Stirn.

«Willst du dir jetzt ein Bild von der Situation machen oder weiter rumquengeln?» Kernig verdrehte die Augen.

«Also, was haben wir hier?» Conte blickte sich um, registrierte die nummerierten Schildchen, die Fundorte verdächtiger Gegenstände und Spuren bezifferten, und lauschte dem Klicken der Kameras von Kernigs Mitarbeitern. Alles wurde dokumentiert, die beiden leeren Cognacschwenker auf dem Couchtisch ebenso wie der blutverschmierte Aschenbecher vor dem Kamin.

«Unsere Tatwaffe dürfte zumindest feststehen.» Derio betrachtete das monströse Stück aus Glas, dem er das Gewicht eines Backsteins zutraute. Der kunstvolle Schliff am Rand des Aschenbechers hatte sicher seinen Teil dazu beigetragen, Gideon Wacker eine böse Kopfverletzung zuzufügen, die den unbescholtenen Mann in seinen frühen Siebzigern aus dem Leben gerissen hatte.

«Daran besteht kein Zweifel.» Kernig wies auf den Platz, an dem man den toten Wacker gefunden hatte. Inzwischen war die Leiche fortgeschafft worden, und nur ein kleiner dunkelroter Fleck verriet noch, was sich hier abgespielt haben musste.

«Verdächtig wenig Blut», stellte Conte fest. «Ich hätte gedacht, dass ein solch scharfkantiger und schwerer Gegenstand mehr Schaden anrichtet. Insbesondere am Kopf.»

«Oh, das täuscht.» Kernig versetzte der auffallend schräg im Raum stehenden Ledercouch mit seinen behandschuhten Fingern einen leichten Stoß, woraufhin sie auf unsichtbaren Rollen lautlos beiseiteglitt und den Blick auf eine große Blutlache freigab, die bereits einzutrocknen begann.

«Soll das bedeuten, die Leiche wurde bewegt? Oder doch eher das Möbelstück?» Derio warf Kernig einen fragenden Blick zu. «Hat Wacker selbst bei seinem Sturz das Sofa verschoben? Oder hat sein Mörder Tatort und Leiche nach seinen persönlichen Vorlieben arrangiert?»

«Oder ist das Blut von allein unter die Couch gelaufen, weil der Fußboden abschüssig ist?», schlug der Mann von der Spurensicherung vor und verdrehte die Augen. «Natürlich sind sowohl der Zweisitzer als auch die Leiche bewegt worden, und ich kann dir auch sagen, zu welchem Zweck.»

«Dann also bitte: heraus damit.» Derio verspürte bereits seinen ständigen Begleiter, die alte Ungeduld, in sich aufsteigen. Wenn jetzt noch schlechte Laune hinzukam, würde Kernig ihn und sein Temperament mal so richtig kennenlernen.

«Siehst du die abgerissene Gürtelschlaufe an seiner Hose?» Kernig deutete auf den beschädigten Stoff an Wackers Jeans. Tatsächlich war eine der Schlaufen gewaltsam abgerissen worden, und es schien noch nicht lange her zu sein.

«Und weiter?» In Derio wuchs der Wunsch, Kernig in seinen knochigen Hintern zu treten. Der sommersprossige Mann, dem seine Segelohren ein leicht affenartiges Aussehen verliehen, liebte es, seine Erkenntnisse häppchenweise zu servieren, aber jetzt war es langsam genug.

Sogar Kernig schien einzusehen, dass er den Bogen überspannte, und ließ sich zu einer umfassenden Erklärung herab. «Das Ganze hat sich allem Anschein nach folgendermaßen abgespielt: Wacker hatte seiner Couchgarnitur den Rücken zugedreht, als ihn der Aschenbecher traf. Mehrere mit großer Wucht ausgeführte Schläge auf den Hinterkopf ließen ihn nach vorn aufs Gesicht fallen. Sein Mörder widmete sich nach der Tat zunächst dem Schreibtisch seines Opfers und ließ dem austretenden Blut Zeit, mir einen Hinweis zu hinterlassen.» Der Spezialist wies auf einen dunklen Fleck abseits der großen Blutlache und ging voraus zu einem Schreibtisch, der vor einem Fenster mit üppig bestückter Blumenbank seinen Platz gefunden hatte. Mit einem Blick erkannte Derio, dass ein Schlüssel im Schloss der untersten Schublade steckte. Die dazugehörige Schlüsselkette hing traurig bis auf den Fußboden herab.

«Der Täter hat zunächst alle offenen Schubladen durchsucht. Als er dort nicht fand, worauf er aus war, fiel ihm ein, dass Wacker eine Kette am Hosenbund trug, die auf einen Schlüssel oder eine Taschenuhr hindeutete.» Kernig wies zunächst auf die wohl hastig zugeschobenen Laden, aus deren Schlitzen teilweise noch beschriebenes Papier herausragte, und anschließend auf das funkelnde Indiz unter dem letzten Schlüsselloch.

«Also hat er den Schlüssel im wahrsten Sinne des Wortes an sich gerissen. Dafür musste er den Toten herumrollen. Natürlich hätte er den Karabiner auch ganz leicht öffnen können, doch dafür war er wohl zu nervös.»

«Der Mörder war nervös?» Conte musterte Kernig. «Ist das nur ein Verdacht, oder hast du dafür Anzeichen entdeckt?»

«Die Mordwaffe ist ein Aschenbecher.» Kernig verdrehte erneut die Augen, um seine Überlegenheit zu demonstrieren. «Wie viele kaltblütige Mörder kennst du, die mit einem Aschenbecher bewaffnet losziehen? Nein, das war eine Tat im Affekt. Da waren Emotionen im Spiel. Vielleicht eine Verzweiflungstat, in jedem Fall ungeplant. Dieser Glasklotz war zudem Teil der Einrichtung des Opfers, und es befand sich sogar noch Asche darin. So plant man keinen Mord. Die Situation wird eskaliert sein und unser Mörder sich in heller Aufregung befunden haben. Außerdem hat er die Couch verrückt, um den sich ausbreitenden Blutfleck zu verdecken. Die Übersprunghandlung eines ordentlichen Menschen, der von seiner eigenen Tat angewidert ist und sein Opfer darüber hinaus persönlich kannte. Einer Hausfrau vielleicht, obwohl ich bei der Kraft, mit der hier zugeschlagen wurde, eher an einen Mann denken würde.»

«Er oder sie war also hochgradig erregt. Trotzdem wurde nach der Tat nicht einfach die Flucht ergriffen, sondern der Schreibtisch durchwühlt», stellte Derio fest. «Fehlt etwas?»

«Glaubst du, es gibt hier eine Inventarliste, in die der Mörder nach dem Entleihen von Unterlagen noch seinen Namen eingetragen hat?», spottete Kernig. «Finde gefälligst selbst heraus, ob etwas gestohlen wurde, das ist dein Job. Dort drüben allerdings scheint mir auf jeden Fall etwas zu fehlen.» Kernig wies auf die vertäfelte Wand nahe dem separaten Blutfleck.

Derio bemerkte zwar die am Boden liegende Wolldecke, verstand aber ihre Bedeutung nicht. Als er näher trat, fiel ihm der Abdruck im weichen Material auf. Hier hatte das Gewicht eines länglichen Gegenstandes seine Spuren hinterlassen. Nachdenklich betrachtete er die tiefe Furche und kam schließlich auf die naheliegende Lösung. Wie er wusste, war der Verstorbene Kunsthistoriker gewesen, in dieser schützenden Decke könnte sich also ein Objekt befunden hatte, mit dem Wacker bis zu seinem gewaltsamen Tod beschäftigt gewesen war. Ein Bild vermutlich. Ein Kunstwerk in einem schweren Rahmen.

«Das sieht mir nach einem möglichen Motiv aus. – Ich komme gleich wieder», ließ Derio Kernig wissen und verließ das Arbeitszimmer. Hinter sich hörte er den anderen irgendetwas murmeln, doch da es sich ohnehin nur um eine spitzfindige Bemerkung handeln konnte, achtete er nicht weiter darauf.

Während er sich auf die Suche nach der Frau des Toten machte, fragte er sich, wo Sennenberger nur so lange blieb. Sein Vorgesetzter war schon vor einer ganzen Weile vom Tatort verschwunden, angeblich, um die junge Frau, die den Toten gefunden hatte, zu einem weiteren möglichen Zeugen zu begleiten. Ein weiterer Zeuge war sicher von Nutzen, Derio konnte Sennenbergers raschen Abgang daher nachvollziehen, fürchtete nur, dass dieser bei anderen Kollegen auf weit weniger Verständnis stoßen würde. Zeugen konnte man schließlich auch später noch einbestellen, man musste ihnen nicht nachlaufen, noch bevor die Spuren am Tatort gesichert waren.

Lotte Wacker, einer Frau, der man die Weltgewandtheit und den starken Willen förmlich ansah, saß in Gesellschaft seiner Kollegin Fiona Sacher mit einem Glas Wasser am Küchentisch und schien sich bereits gefangen zu haben. Sie war noch immer recht blass, doch wer konnte ihr eine leichte Schwäche verdenken, wo ihr Mann doch soeben gewaltsam aus dem Leben gerissen worden war? Derio hatte andere Frauen in dieser Situation gesehen, die nur noch ein Schatten ihrer selbst gewesen waren und Tage und Wochen gebraucht hatten, um den ersten Schockmoment zu überwinden.

«Frau Wacker?» Als er sie ansprach, hob sie den Blick. «Fühlen Sie sich in der Verfassung, mir eine Frage zu beantworten?»

«Ich habe zwar das Gefühl, seit Stunden nichts anderes zu tun, als Fragen zu beantworten, aber bitte sehr.» Sie deutete auf einen Küchenstuhl am Kopf der Tafel, der mit prächtigen Schnitzereien verziert war. «Nehmen Sie doch Platz.»

«Vielen Dank.» Derio registrierte, dass die Armlehnen seiner Sitzgelegenheit Pranken glichen, und nahm vorsichtig auf der mit Stroh bespannten Fläche Platz. Es war offensichtlich, dass der Kunsthistoriker auch Sammler gewesen war und sein Haus auf ganz individuelle Weise eingerichtet hatte.

«Frau Wacker, können Sie mir sagen, woran Ihr Mann zuletzt gearbeitet hat?» Derio fing den Blick seiner Kollegin auf, in dem unverhohlene Neugier lag, während sie mit dem Bleistift zwischen ihren Fingern spielte.

«Er schrieb an einem Aufsatz, soviel ich weiß. Für das Jahrbuch des Kulturvereins. Das tat er immer rund um die Weihnachtszeit. Das Buch geht bald in den Druck, vermute ich.» Lotte Wacker sah versonnen zur antik wirkenden Deckenlampe empor. «Und er arbeitete zeitgleich an irgendeinem Gutachten. Man hat ihn oft um seine Meinung gebeten, wenn es um Kunstgegenstände und deren Wert ging.»

Derio warf Fiona einen bedeutungsvollen Blick zu, woraufhin diese begann, sich Notizen zu machen. «Und das Kunstwerk, welches er beurteilen sollte, befindet es sich hier im Haus?»

«Allerdings.» Jetzt hatte er Lotte Wackers ganze Aufmerksamkeit. «Wie sollte er es einschätzen können, ohne es zu sehen? Sicher gibt es Stücke, die man allein anhand eines Fotos bewerten kann. Aber Gideon verließ sich gern auf seine Augen, seine Hände, seine Nase und seine Erfahrung und rief im Zweifelsfall noch weitere Spezialisten hinzu. In diesem Fall handelte es sich um das Bild eines hochgeschätzten Malers, von dem kaum Werke erhalten sind.»

«Dieses Bild», fuhr Conte fort, «hat es in eine Decke gehüllt an einer Wand im Arbeitszimmer Ihres Mannes gelehnt?»

«Das ist eine eigenartige Formulierung.» Sie hob fragend die Augenbrauen. «Heißt das etwa, das Gemälde ist verschwunden?»

«Davon müssen wir derzeit ausgehen.» Derio nickte. «Wissen Sie, ob Ihr Mann sich bereits eine Meinung gebildet hatte? War er der Auffassung, ein echtes Kunstwerk zu beurteilen?»

«Da müsste ich in seinen Unterlagen und Notizen nachsehen. Brauchen Sie die Antwort darauf sofort?» Sie machte Anstalten, sich zu erheben.

«Das wäre wünschenswert, nur kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht erlauben, den Tatort zu betreten.» Derio dachte an die unterste Schublade im Schreibtisch des Opfers. Er zweifelte nicht daran, dass sie der Aufbewahrungsort für Gideon Wackers aktuelle Arbeiten gewesen war.

«Aber ich müsste nur rasch hinauf in unser Schlafzimmer», widersprach Lotte Wacker. «Mein Mann hat mit Vorliebe im Bett geschrieben. Eine Marotte von ihm. Soll ich einmal nachsehen, was ich auf seinem Nachttisch finden kann?»

Derio, der sich rasch von seiner Überraschung erholte, nickte und wollte gerade anbieten, die Frau zu begleiten, als sein Handy klingelte und Sennenbergers Name auf dem Display aufblitzte. Rasch nahm er das Gespräch an und bedeutete Lotte Wacker, kurz zu warten, als Sennenbergers brummige Stimme auch schon mit einem Monolog begann.

Schweigend lauschte Derio den Worten seines Freundes und Vorgesetzten. «Okay» und «verstanden» waren die einzigen Kommentare, die er zu dem Telefonat beitrug, das gespannt von Fiona Sacher und der Hausherrin verfolgt wurde. Schließlich legte er auf.

«Kriminalhauptkommissar Sennenberger befindet sich nur ein paar Häuser von hier entfernt vermutlich an einem zweiten Tatort.» Er steckte sein Handy weg und ließ Lotte Wacker dabei nicht aus den Augen. «Dominik Herbst ist ebenfalls tot.»

«Dominik», hauchte die Hausherrin und sank zurück auf ihren Stuhl. «Wie ist das möglich? Was geht hier nur vor?»

«Das würden wir ebenfalls nur zu gerne wissen.» Fionas Blick klebte förmlich an Derio. «Was erwartet der Chef von uns? Sollen wir rüberkommen?»

Derio schüttelte den Kopf. «Er hat bereits Verstärkung angefordert, wir beide machen hier weiter. Aber wir sollen ihm Kernig schicken, sobald wir ihn und seine Leute entbehren können. Er sagt, mit den anderen Stümpern von der Spurensicherung arbeitet er nicht.»

Fiona gab ein kurzes Schnauben von sich. «Diese Nachricht sollte man Viktor besser nicht im Originalton überbringen, sonst kommt der von seinem hohen Ross überhaupt nicht mehr runter.»

«Dominik ist tot.» Lotte Wacker sah wieder bedeutend blasser aus als noch vor wenigen Minuten. Die zweite schlechte Nachricht an nur einem Abend schien sie an ihre Grenzen zu bringen. «Die arme Malin. Sie muss in einer fürchterlichen Verfassung sein. Dominik war für sie viel mehr als nur ihr Arbeitgeber.»

«Was meinen Sie damit?» Fiona zückte unauffällig erneut den Bleistift, um sich Notizen zu machen. «Bestand eine besondere Vertrautheit zwischen den beiden?»

«Weniger, als Malin es sich wünschte.» Lotte Wacker rang die Hände. «Sie hat ihn doch geliebt. Jeder, der nicht mit Blindheit geschlagen war, musste das bemerken. Das arme Kind. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, verstehen Sie? Dass aus ihrer Schwärmerei für Dominik niemals mehr geworden wäre, hätte sie nicht eingesehen.»

Derio fing einen von Fionas bedeutungsschwangeren Blicken auf. Anscheinend konstruierte seine Kollegin in Gedanken schon die Hintergründe zu diesem Fall, und Malin Mendel spielte darin eine tragende Rolle.

«Dominik Herbst war heute Abend noch bei Ihrem Mann im Arbeitszimmer, und Sie haben nicht bemerkt, wann er das Haus verlassen hat?», fragte Derio nun Informationen ab, die schon längst erfasst worden sein mussten. Doch mittlerweile war die Situation eine andere. Dominik Herbst konnte sich zu den Vorkommnissen des Abends nicht mehr äußern.

«So war es.» Lotte Wacker nickte. «Dominik und mein Mann waren gut miteinander bekannt, sie verkehrten in den gleichen Kreisen. Es war nicht ungewöhnlich, dass Dominik vorbeischaute, und auch nichts Besonderes, wenn er ging, ohne sich von mir zu verabschieden. Manchmal war ich nicht Teil ihrer Welt, in der es nur um Kunst und Kultur ging. Gerade in letzter Zeit war der Kontakt enger.»

«Warum das?», wollte Derio wissen.

«Es war doch sein Bild, für das Gideon eine Expertise erstellen sollte.»

«Sein Bild?», echote Fiona. «Sie meinen das, was jetzt nicht mehr an seinem Platz steht?»

«Genau.» Lotte Wacker zuckte mit den Schultern. Erst langsam, dann immer schneller. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Derio begriff, dass seine Zeugin zu weinen begonnen hatte. Schon fiel die erste Träne auf den Küchentisch.

«Kaffee», rief Fiona und wurde plötzlich geschäftig. «Ich werde Ihnen einen starken Kaffee kochen.»

Derio, der an Kaffee durchaus ebenfalls Interesse gehabt hätte, nicht aber an einer verzweifelten Frau, die ihm momentan keine Auskünfte mehr geben würde, trat aus der Küche heraus in den Flur. Während sein Blick über die vielen Gemälde an den Wänden glitt, purzelten seine Gedanken durcheinander. Gideon Wacker und Dominik Herbst. Zwei Männer, Freunde, Nachbarn, die an ein und demselben Abend sterben mussten. Warum? Wegen eines Bildes? Oder gab es noch mehr, was die beiden zu Lebzeiten verbunden hatte?

Dominik: Sechs Wochen zuvor

Dominik Herbst war bester Laune, als er die Lobby des Luisenhofes betrat. Im Vorübergehen winkte er der Empfangsdame freundlich zu und lenkte seine Schritte direkt auf die zweiflügelige Tür zu, hinter der sich das Kaminzimmer verbarg. Dort tagte heute sein Club. Jeden Montagabend trafen nach und nach die Herren ein, mit denen Dominik seine Freizeit am liebsten verbrachte. Kluge Köpfe mit einer Neigung zur Kunst und Kultur und einem unerschütterlichen Glauben, wenn auch nicht an Gott, so doch zumindest an Traditionen.

Als er eintrat, wurde er fast augenblicklich von Ingolf Zeiger begrüßt. Die Leichenbittermine des Organisten und der etwas zu lange Händedruck riefen Dominik in Erinnerung, dass seine Fröhlichkeit am heutigen Abend einigen bitter aufstoßen könnte, und sein Lächeln erstarb.

«Es tut mir so leid für Sie.» Der Blick des Mannes suchte den seinen. «Er war Ihnen ein guter Freund, Sie werden ihn sicher vermissen.»

Dominik nickte, drückte seine Hand ebenso fest und murmelte eine Zustimmung. Dann täuschte er einen Hustenanfall vor und entkam auf diese Weise Zeiger und seinen salbungsvollen Worten.

Bis die Drinks herumgereicht wurden, hatte Dominik viele Hände geschüttelt und so oft seine Betroffenheit versichert, dass er schon fast selbst dran glaubte. Natürlich sollte der Tod eines Menschen kein Anlass zur Freude sein. Schon gar nicht der eines langjährigen Gefährten, eines guten Menschen, der Dominiks Leben mit seinem Wirken und seinem Geld viele Jahre lang beeinflusst hatte. Besagtes Geld würde jetzt, da der Tote aus guten Gründen kinderlos verschieden war, einer Nichte zufallen, die dafür sicher Verwendung haben würde.

Dominik war besagtes Geld egal. Gernot Roth, so hieß der Verstorbene, hatte ihm, seinem besten Freund und Mitbewohner, etwas viel Besseres vermacht. Und das war, neben all der Trauer, doch ein Grund zu großer Freude und sorgte dafür, dass er sich eher heiter als niedergeschlagen fühlte.

Wäre es nach Dominik gegangen, er hätte eine Lokalrunde für alle Clubmitglieder geschmissen und sie auf das Wohl des verstorbenen Gernot anstoßen lassen. Dies wäre sicher mehr im Sinne des Verblichenen gewesen als all die traurigen Gesichter und die gemurmelten Beileidsbekundungen, die heute Abend über Dominik ausgeschüttet wurden.

Da wurde unvermittelt ein Cognacschwenker klirrend gegen den seinen gestoßen, und eine vertraute Stimme flüsterte: «Auf Gernot, den alten Lustmolch. Möge er in Frieden ruhen. Leeren wir eine Flasche guten Rotwein auf den Verlust?»

Dominik hob den Kopf und begegnete dem Blick Gideon Wackers. Der Kunsthistoriker, dessen weißer Haarschopf wie der von Albert Einstein frisiert war, bemühte sich im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern nicht um einen traurigen Gesichtsausdruck. Er sah sogar außerordentlich zufrieden aus, was Dominik gefiel und, wie er wusste, auch Gernots Zustimmung gefunden hätte.

«Achtundachtzig Lebensjahre», fuhr Gideon fort. «Das ist doch eher ein Grund zum Feiern als zur Traurigkeit, möchte man meinen. Schau mich an: Ich habe auch schon meine siebzig Lenze und bin dem Tod näher als dem Leben. Wenn ich wüsste, dass ich diese Party noch bis zu meinem achtundachtzigsten weiterfeiern dürfte, wäre ich damit mehr als zufrieden. Mal ehrlich: Irgendwann wird es ja auch langweilig. Und was will man noch auf der Welt, wenn alle Freunde schon ins Gras gebissen haben?»

«Gernot war aber nicht einsam», widersprach Dominik und nippte an seinem Cognac.

«Natürlich nicht. Er hatte ja dich.» Gideon schien amüsiert, und als Dominik schwieg, fuhr er fort. «Ach, nun komm schon. Jeder hier wusste, wie ihr zueinander standet. Sicher wurde es nicht thematisiert, Gernot gehörte noch einer Generation an, der für solch delikaten Dinge schlichtweg die Worte fehlten. Aber in der heutigen Zeit können die Leute doch gar nicht laut genug über ihre Neigungen und Vorlieben sprechen.»

«Ich halte es lieber auch weiterhin wie Gernot», erwidert Dominik und setzte eine ausdruckslose Miene auf. «Meine Privatangelegenheiten gehen niemanden etwas an.»

«Das verstehe ich sehr gut.» Gideon Wacker nickte eifrig. «Es ist nur fraglich, ob du diesbezüglich im richtigen Club bist. Du weißt ja, wie die Leute so sind. Du solltest nur wissen, dass … falls du mal einsam bist … Behalte einfach im Hinterkopf, dass ich nur ein paar Häuser von dir entfernt wohne.»