In der zweiten Reihe - Kathrin Thiemann - E-Book

In der zweiten Reihe E-Book

Kathrin Thiemann

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Beschreibung

Die Geschichte einer Frau. Die Geschichte einer Familie. Die Geschichte einer Nation. Das Leben in Nazi-Deutschland war nicht einfach. Vor allem dann nicht, wenn man nicht der Meinung der Diktatur war. Diese Geschichte ist die Biografie einer Frau die sich durchbeißen musste, ihre Kinder versorgen und ihren Mann wiederbekommen wollte. Eine Geschichte fernab der heutigen Normalität, damals aber nicht.

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In der zweiten Reihe

von Kathrin Thiemann

Buchbeschreibung:

Ein Erinnerungsroman. Eine Frauengeschichte. Die Geschichte einer Nation.

Kathrin Thiemanns Debütroman erzählt die Geschichte einer Frau, die ihre Familie, ihren Mann und sich selbst durch eine schwere Zeit bringen musste. Die dabei zeigt, wie wichtig es ist, nicht gleich aufzugeben.

Über die Autorin:

Kathrin Thiemann lebt in Marburg, geboren wurde sie 1960 in Siegen. Sie schreibt seit einem Bildungsurlaub auf der schönen Insel Baltrum.

In der zweiten Reihe

Ein Erinnerungsroman

von Kathrin Thiemann

Baltrum Verlag

Weststraße 5

67454 Haßloch

Impressum

©2021 Baltrum Verlag GbR

BV 2112 – In der zweiten Reihe

Umschlaggestaltung: Baltrum Verlag GbR

Bilder Cover und innen: Kathrin Thiemann

Lektorat, Korrektorat: Baltrum Verlag GbR

Herausgeber: Baltrum Verlag GbR

Verlag: Baltrum Verlag GbR,

Weststraße 5, 67454 Haßloch

Internet: www.baltrum-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Johann, Till und Wolfgang

Seid fröhlich in Hoffnung,

geduldig in Trübsal,

haltet an am Gebet.

Helenes Konfirmationsspruch

Römer 12,12

2019

Die beiden Kusinen fanden es interessant, auf des Großvaters Spuren unterwegs zu sein. In dem Wissen, dass ein Besuch der Gedenkstätte Buchenwald nicht leicht werden würde, wäre es sicher wichtig, anschließend darüber sprechen zu können.

Sie müssen sich einer Führung anschließen, bei der sie in praller Sonne über den damaligen Alltag im Lager hören. Der Leiter der Gruppe spricht über die unvorstellbar grauenvollen Dinge, die hier passiert waren. Sie fragt sich, wie er das schafft, immer und immer wieder über diese Zeit der furchtbaren Geschichten voller Brutalität und Hass, Menschenverachtung und Gleichgültigkeit zu berichten.

Sie werden aus dem Krematorium in den gekachelten Keller geführt, an dessen Wänden oben große Schlachter-Haken hängen, die ihrer Fantasie mehr Bilder bescheren als ihr gut tun.

Es ist genug.

Sie muss aussteigen aus der Gruppe und hier raus. Ihr leicht zu verwundendes Herz, das noch nicht einmal Krimis vertragen will, kann nicht mehr. Es ist übervoll.

Sie entfernt sich und kann ihrer Kusine noch signalisieren, dass sie weiter geht. Ihr fehlen die Worte, Tränen hat sie viele. Ihr ist übel und ihr Magen fühlt sich an, als hätte er sich verknotet. Gemeinsam schlendern sie schweigend unter dem wunderbaren blauen Himmel im Sonnenschein über den Platz, der Bruder schließt sich schweigend an.

Unvermittelt stehen sie davor.

Block 34.

Ein schlichter Sandstein, viereckig behauen und weniger als kniehoch. Auf seiner Oberfläche liegen neun kleine Steine, wie vom Boden aufgelesen. Rund gespülte, eckige, gebrochene, scharfkantige, ein kleiner ist ganz glatt, zwei sind winzig, verschwindend klein in einer Handfläche zu tragen, einer würde eine Jackentasche ausbeulen und hat es auf dem Weg hierhin vermutlich auch getan.

Zwischen den Steinen ist die Inschrift, die in die Oberfläche gehauen und mit grauer Farbe ausgemalt wurde, gerade noch lesbar.

Sie überlegt, ob sie die Steine ein wenig beiseiteschieben kann, aber ein Gefühl der Respektlosigkeit durchfährt sie.

Nein, denkt sie. Diese Steine drücken Schmerz, Verlust, Kummer und tiefe Trauer aus. Sie beiseitezuschieben steht ihr nicht zu.

Sie weiß ohnehin, was unter den Steinen zu lesen ist: Block 34.

In Block 34 war ihr Großvater zusammen mit anderen ‘Politischen‘ aus Münster und Polen eingepfercht, als er im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert war.

Eins

1934

Kinderspitzel

Wilhelms Arbeit als Pastor gestaltete sich in Gernau von Anfang an schwierig. Es stellte sich schon bald heraus, dass die hiesige Gestapo mit seiner Art nicht einverstanden war. Eine ehemalige Konfirmandin, inzwischen BDM-Führerin, versuchte, die Mädchen aus dem Konfirmationsunterricht abzuwerben. Das ließ er sich nicht gefallen und schrieb ihr einen ärgerlichen Brief. Doch er hatte sie falsch eingeschätzt, die junge Frau gab seinen Brief sofort an die Geheime Staatspolizei weiter. Er wurde vorgeladen und verwarnt.

Dabei blieb es nicht. Einige Kinder leidenschaftlicher Nazis, die dennoch zum Unterricht kamen, hörten genau hin und gaben alles, auch ganz lächerliche Dinge, ihren Vätern wieder. Zum Beispiel erzählte Wilhelm in der letzten Stunde vor den Ferien von seiner Reise nach Dänemark, was für ein herrliches Land es sei, von der Schönheit der Natur und dem guten Essen, der dänischen Butter. Das reichte für eine erneute Vorladung.

Auch in den Gottesdiensten saßen regelmäßig Spitzel, die seine Predigt mitschrieben. Das wurde deutlich an den Vorladungen, die ihn wieder und wieder zum Büro des Gestapoleiters führen.

»Ich kann nicht anders«, meinte er zu mir, »ich sage als Mitglied der Bekennenden Kirche vieles mit Angst und Zittern, weil ich es sagen muss. Sonst würde ich meinen Auftrag verleugnen und wäre nicht mehr ein Knecht Christi.«

Ich war stets froh, dass er ein aufrechter Mann mit einer Haltung war. Ich fürchtete mich aber auch deswegen. Hoffentlich würde uns und unserer Familie das nicht einmal zum Verhängnis werden.

1920

Eine Frau ohne Kenntnisse

Seine Klarheit und seine Haltung war, was mir zuerst an ihm auffiel. Ich war jung und lernte ihn, den Studenten der Theologie, während meines Studiums in Bonn kennen. Damals hatte ich eine andere Hoffnung für meine Zukunft, eine andere Vorstellung von meinem Leben. Ich durfte selbst studieren und das war damals etwas Besonderes.

Ich bin in Köln-Kalk aufgewachsen. Meine Mutter starb, als ich erst sechzehn Jahre alt war. In meinem letzten Schuljahr wurde Vater versetzt. Meine Geschwister Erich und Martha zogen mit ihm nach Paderborn. Dass ich die Stadt unmittelbar vor meinem Abschluss noch wechsle, hielt Vater nicht für sinnvoll. Ich hatte zwar von meinem Lehrer eine Empfehlung für das dortige Knaben-Gymnasium bekommen. Aber was, wenn ich dort nicht zurechtgekommen wäre? Also blieb ich in Köln. Vater fand ein möbliertes Zimmer in der Nachbarschaft und versorgte mich finanziell, so gut er konnte. Die Familie eines Kollegen kümmerte sich ein wenig mit um mich. Zunächst war das Alleinleben eine aufregende Sache, doch es war auch nicht leicht für mich. Die Versorgungslage nach dem Krieg war immer noch nicht einfach. Manchmal nahm ich die Brotkrusten aus der Schule mit nach Hause, damit ich dort noch etwas zu essen hatte. Einmal bekam ich ein ganzes Pfund Butter aus Paderborn geschickt. Das war ein Fest - Brotkrusten mit richtig dicker Butter!

Vater war nach meinem Zeugnis der Reife der Meinung, dass ich eine gute Ausbildung erhalten sollte, weil er mich klug, fleißig und sprachbegabt fand. Das Lernen hatte mir in der Schule immer Spaß gemacht und auch herausgefordert, der Gedanke an ein normales Frauenleben, irgendwann nur noch kochen und putzen zu dürfen, erschreckte mich. Am liebsten wollte ich mich weiter mit meinem Lieblingsfach Religion beschäftigen und lernen, lernen, lernen. Deshalb unterstützte er mich in meinem Wunsch, Theologie zu studieren, obwohl nicht klar war, was ich damit anfangen sollte. Pastor konnte ich schließlich nicht werden, obwohl es damals zunehmend den Ruf nach einer Eigenständigkeit der Frauen gab. Sogar das Wahlrecht war gerade für uns eingeführt worden. Da Theologie also kein richtiges Studium sei, wie er meinte, empfahl er mir, mich auch noch im Fach Nationalökonomie einzuschreiben. Vielleicht konnte ich daraus einmal einen Beruf machen. Es würde sich zeigen. Jetzt wollte ich erst einmal studieren, und zwar, um meinen Wissensdurst zu stillen.

Um Studentin an der Rheinischen Friedrich- Wilhelms-Universität in Bonn zu werden, musste ich mich mit Handschlag an Eides statt verpflichten, die Gesetze und die Vorschriften treu und gewissenhaft zu beachten. Damit wurde ich unter die akademischen Bürger der Universität aufgenommen. Ich war aufgeregt und stolz. Wie schön das Leben doch war.

Ein kleines Zimmer fand ich in der Reuterstraße 55. Heimelig war es nicht, die Tapete war dunkel und die kleinen Fenster ließen nicht viel Licht und Sonne herein. Die einzige Lichtquelle war eine riechende Petroleumlampe, nicht mehr als eine Funzel. Aber es war günstig. Als Erstes hing ich meine Ahnengalerie an die Wand. Unser letztes Familienbild von 1915, als Mutter noch lebte. Das, auf dem meine kleine Schwester so keck auf der Balustrade sitzt. Und das Foto von 1903, ich war drei Jahre alt und saß mit meiner Puppe auf dem Schoß vor meinen Eltern auf einem kleinen Hocker. Mein ganzer Stolz, der neue Puppenwagen, war auch zu sehen. Schließlich das von 1905. Ich war fünf Jahre alt und stand bei meiner Tante Angelika, Vaters Schwester. Meine Großmutter hielt den kleinen Erich im Taufkleidchen auf dem Schoß. Meine Eltern waren im Hintergrund zu sehen.

Seit Mutters Tod freute ich mich über jedes Bild, das ich von ihr habe.

An meinem ersten Tag in der Theologischen Fakultät war mir bange zumute, aber ich atmete tief durch und lief im Strom mit den jungen Männern auf die Tür des Hörsaales zu.

Es gab zwar einige Frauen an der Universität, doch in der Theologie schien ich die Einzige zu sein. Mit klopfendem Herzen betrat ich das Hebräisch-Seminar, das ich mir aus dem Stundenplan herausgesucht hatte. Es war ein seltsames Gefühl, von so vielen, noch dazu männlichen Augenpaaren gemustert zu werden. Aber ich tat so, als sei das völlig normal, nahm meinen Platz ein, zückte Heft und Stift und machte ein möglichst unbeeindrucktes Gesicht. Der Professor betrat den Hörsaal und meinte nach einem kurzen Gruß: »Fahren wir dort mit der Übersetzung fort, wo wir letztes Mal aufgehört haben.« Ich hielt die Luft an, was meinte er? Es ging der Reihe nach, einer nach dem anderen übersetzte einen Text und bald war wohl auch ich dran. Ich konnte doch noch gar kein Hebräisch. Anscheinend saß ich hier gründlich falsch.

»Was mache ich bloß?« war mein einziger Gedanke. »Ich falle ohnehin auf, weil ich eine Frau bin, noch dazu eine ohne Kenntnisse.«

Mir wurde abwechselnd kalt und heiß. Die Gedanken tobten in meinem Kopf.

»Soll ich, wenn ich an der Reihe bin, sofort beichten, dass ich hier falsch sitze? Oder einfach schweigen und den Part ganz selbstverständlich an meinen Nachbarn weitergeben?«

Der Professor hatte mich sehr wohl schon bemerkt, alle anderen auch. Nur noch ein einziger Student saß zwischen der Blamage und mir – als die Glocke schellte und das Seminar vorbei war. Was für ein Glück! Aufrecht verließ ich den Hörsaal, wieder unter vielen Augen, die mir folgten.

Josef, lieber Josef mein

Ich fand allmählich die Seminare und Vorlesungen für das erste Semester, ich lernte Kirchengeschichte und büffelte hebräische Vokabeln. Das machte mich glücklich, dabei flog die Zeit an mir vorbei. Meinen Kopf und meinen Verstand zu füllen, war genau das, was ich mir gewünscht hatte. An die einsamen Wege als einzige Studentin hatte ich mich allmählich gewöhnt. Es war eben so. Ich blickte, wie ich es immer tat, auf das Gute in allem, dass ich studieren konnte.

Zwei Studenten bemerkte ich im Laufe der Zeit, die mich immer wieder besonders aufmerksam beobachteten. Ob sie dachten, dass ich es nicht merke? Ihre Gesichter leuchteten auf, wenn sich unsere Blicke trafen. Die beiden kamen und gingen oft zusammen und schienen Freunde zu sein.

Nach einer Weile traten sie auf mich zu und stellten sich mir mit einer angedeuteten Verneigung vor. Sie hießen Ernst Franke und Wilhelm Simon, beide studierten wie ich evangelische Theologie. Auch ich sagte meinen Namen: »Helene Schmidt, angenehm.« Wir reichten uns die Hände und wussten nicht so recht weiter. Ein gestammelter Satz über das schöne Wetter und wir gingen wieder auseinander. Ich hatte das Gefühl, die beiden hatten sich einen Ruck gegeben, um mich kennen zu lernen. Mit der Zeit begegneten wir uns häufiger, und damit entspannte sich die Situation. Manchmal wie zufällig auf dem Weg oder im Treppenhaus, sowohl in der Universität als auch in der Argelander Straße. Dort, im Studienhaus der Evangelischen Studentengemeinde, verbrachte ich wie sie nicht nur die Lernzeiten, sondern auch einen Teil meiner Freizeit.

Ich freute mich, die beiden auch in der dort tagenden Christlichen Studentenvereinigung wieder zu sehen. Sie diskutierten oft leidenschaftlich und auch gegeneinander, immer wieder ging es um den Einfluss der Marburger Richtung. Die besagte, dass Christus gar nichts war, der Mensch Jesus dagegen die herrlichste Gottesoffenbarung. Mich beeindruckte diese Art zu denken und auch die Diskussion darüber, so etwas hatte ich noch nie gehört.

Im Advent studierte diese Gruppe ein Krippenspiel für die Weihnachtsfeier ein und suchte dringend eine Maria. Das war endlich die Gelegenheit, sich gezielt mit mir zu verabreden. Theater, herrlich! Für so etwas war ich immer zu haben. Schon früher in der Schule versetzte ich mich gerne in andere Menschen hinein, hatte großen Spaß am Verkleiden und war auf Anhieb eine ganz andere Person. So auch bei diesem Krippenspiel. Auf diese Weise war es ganz leicht, den Mitstudenten zu begegnen, denn unsere Rollen waren klar.

Nach einer der Proben gesellte sich Herr Simon zu mir und bat darum, sich mein Kollegheft von Prof. Goeters ausborgen zu können. Er hatte eine Vorlesung verpasst, weil er in Wuppertal bei der Hochzeit seines Bruders gewesen war. Nun wollte er den versäumten Stoff nachholen. Natürlich gab ich ihm das Heft gerne, er schien eine ehrliche Haut zu sein und ich hatte nicht den Eindruck, dass dies ein aufdringlicher Kontaktversuch sei. Ich holte es aus meiner Tasche. Er streckte seine Hand aus, dabei blieb mein Blick an ihr hängen. Nur vier Finger und eine große Narbe. Kurz irritiert drückte ich ihm das Heft schnell in die Hand.

Am nächsten Morgen gab er es mir mit einem beeindruckten Blick zurück und den Worten:

»Sie haben die Vorlesung ja sehr gründlich mitgeschrieben. Vielen Dank. So habe ich wirklich gar nichts verpasst!«

Kein Wort zu meiner Reaktion. Dafür war ich ihm dankbar.

Eines Nachmittags, es war ein klirrend kalter Tag mit einer Menge Schnee, hörte ich es im Flur laut poltern. Ich saß im Mantel an meinem Schreibtisch, denn ich musste mir meine Kohlen gut einteilen. Was spielte sich da vor meiner Tür ab? Ich hatte keine Ahnung, lieber versuchte ich weiter, mich auf meine Vokabeln zu konzentrieren. Jetzt klopfte es laut an meiner Tür. Ich bekam einen Mordsschrecken. Das Gepolter hatte ich nicht einordnen können und ich befürchtete ... Ja, was befürchtete ich eigentlich? Vorsichtig öffnete ich die Tür einen kleinen Spalt. Zwei dick verpackte Männer standen keuchend vor meiner Tür, zwischen ihnen ein großer Sack.

»Fräulein Schmidt?« sagte der eine.

»Sie erkennt uns nicht«, erwiderte der andere.

Sie zogen lachend die Mützen vom Kopf und öffneten ihren Schal, da erkannte ich Wilhelm und Ernst, wie ich sie für mich schon nannte. Gemeinsam hatten sie den Sack zu mir und die Treppe hoch geschleppt, um mir ein Geschenk zu machen. Ich sah neugierig hinein. Briketts. Einfach so. Was für eine Freude.

Natürlich bat ich sie herein, damit sie sich wenigstens etwas aufwärmen konnten. Ein Brikett legte ich gleich in den Ofen, der bald schon seine Wärme verbreitete. Die beiden sahen sich um. Ernsts Blicke blieben an den Eisblumen am Fenster, Wilhelms an den Bildern hängen. Ich nahm sie von der Wand und stellte ihnen meine Eltern und Geschwister vor. Bald zogen sie wieder ab, sie sahen ja, dass ich lernte. Keck verabschiedete ich sie mit den Worten der Maria:

»Ihr Hirten, all mein Leben lang

weise ich für eure Lieb‘ euch Dank.«

Bei der nächsten Probe fielen mir natürlich bei dem Satz die Briketts ein und ich verhaspelte mich lachend.

In einem schlichten hellblauen Kleid und geschmückt mit einem zarten weißen Schleier stellte ich eine in den Proben vergnügte, später jedoch ernsthafte Maria dar, die sich lächelnd über eine Porzellanpuppe mit blauen Augen neigte.

Ernst gefiel mir gut in der Rolle des Josef, als Stiefkinds-Vater ganz dicht neben mir. Vor der Geburt des Jesuskindchens stützte er mich sanft und war anschließend sehr fürsorglich für die Puppe und mich da. Wir saßen auf beiden Seiten der Krippe und er legte seine Hände ganz dicht neben meine an das Holz, als ich sang:

»Josef, lieber Josef mein,

hilf mir wiegen mein Kindelein.

Gott, der wird dein Lohner sein

im Himmelreich der Jungfrau Kind Maria.«

Auch Wilhelm war ganz versunken in sein Spiel. Er kam als ein sehr aufrechter Hirte zu uns, mit einem kleinen Lämmchen auf dem Arm, dem Stab und einem großen Hut. Er fiel vor mir auf die Knie und drückte mir inbrünstig das Tierchen aus Wolle in die Hand.

Nach dem Spiel stiegen wir schnell aus den Kostümen und feierten. Der Saal war liebevoll geschmückt mit Tannenzweigen, Kerzen und sogar einem großen Weihnachtsbaum. Wilhelm war mein Tischherr, Ernst saß mit seiner Tischdame auf meiner anderen Seite.

Bei Tee und Gebäck hatten wir einen vergnügten Abend, wir plauderten zusammen, alles war ganz leicht. Es wurde zwei Uhr, als die meisten aufbrachen. Wilhelm bestand darauf, mich nach Hause zu bringen. Vor der Tür hielt er mir mit leuchtenden Augen ein Päckchen hin, mit blauem Band und etwas Tannengrün. Ich war überrascht. Ein Geschenk für mich? Das hatte ich nicht erwartet. Ja, ich mochte ihn, in seinem Blick lag so viel Tiefe, aber auch etwas Drängendes. So bin ich noch nie angesehen worden. Obwohl, Ernst und ich waren eben beim Krippenspiel auch so innig verbunden gewesen. Ich war verwirrt. Ich packte das Geschenk im Zimmer gleich aus. Es war Der wartende Acker von Sophie Renschel. Ich kannte es noch nicht, kroch in mein Bett und begann gleich zu lesen.

Schweben über der Wupper

Am nächsten Tag begannen die Weihnachtsferien. Zum Glück hatte ich meine Siebensachen schon zusammen gepackt, denn wir wollten früh aufbrechen. Ich hatte in der Nacht wenig Schlaf bekommen, ich hatte gelesen. Einen Teil des Heimweges konnten wir zu dritt reisen. Wir fuhren zu unseren jeweiligen Familien in die Weihnachtsferien. Ich freute mich auf meine jüngeren Geschwister, ich freute mich aber nach diesem Abend noch mehr auf unsere gemeinsame Fahrt. Am Morgen holte mich Ernst schon früh ab. Wie immer trug er keinen Hut. Dass er nicht fror?

Wir schellten bei Wilhelm.

»Bist du soweit? Beeil dich, wir frieren.«

Gemeinsam schlitterten wir auf vereisten Straßen zum Bahnhof. Das war diesmal kein Vergnügen, zumal wir mit schwerem Gepäck unterwegs waren. Ernst hatte auch noch seine Laute umhängen, die natürlich nicht zu Bruch gehen sollte.

Endlich im Zug kamen wir ins Plaudern und ich erzählte von meinem Geburtstag neulich, am 13. Dezember.

»Sie sind schon einundzwanzig Jahre alt, Fräulein Schmidt?« fragte Ernst.

Sie schauten sich erstaunt an.

»Wir haben Sie für deutlich jünger gehalten, höchstens achtzehn.«

Meinte er es ernst? Oder wollte er mir schmeicheln? Vorsichtig fragten sie mich nach meiner Kindheit und Jugend aus. Ich erzählte ihnen, dass ich aus einem Soldatenhaushalt stammte und deshalb statt mit Puppen lieber mit Pferden und Zinnsoldaten gespielt habe. Ich erzählte von Erich und Martha, meinen jüngeren Geschwistern.

Auch über Wilhelms Büchlein konnte ich schon berichten. Es waren Tagebuchaufzeichnungen, die in diesem Jahr gerade erst herausgegeben worden waren. Sie hatten mich so gefesselt, dass ich es noch in derselben Nacht in einem Rutsch durchgelesen hatte. Ernst kannte es auch bereits. So konnte er mitreden.

Für Ernst und mich gab es einen Aufenthalt von mehr als zwei Stunden, so dass Wilhelm uns zum Frühstück in sein Elternhaus einlud. Wir gaben unser Gepäck ab und machten uns auf den Weg durch die hügelige Stadt. Ganz oben auf den Sedansberg mussten wir laufen, dort wohnte seine Familie. Mir wurde beim Aufstieg so warm, dass ich ganz rote Wangen hatte, als Frau Simon uns die Tür öffnete. Ich konnte ihr den Gedanken förmlich ansehen, als sie mich musterte: »Wilhelm bringt einen Studenten mit – und eine Studentin, aha.« Ihr Sohn war der erste in der Familie, der studierte. Sie war sichtbar stolz auf ihn.

Ernst und mich platzierte sie auf ihr Sofa und verschwand in der Küche, um uns schnell etwas zum Frühstück zu zaubern. Wilhelm holte eine Gitarre und Ernst packte seine Lauteaus. Wir sangen aus Herzenslust, das konnten wir von Anfang an gut zusammen. Wir begannen bei Vom Himmel hoch und endeten sogar bei Wie schön blüht uns der Maien. Ernst hatte eine sehr schöne Tenorstimme und Wilhelm sang den Bass. Ich ergänzte sie mit meinem Alt, ich konnte zu vielen Liedern die zweite Stimme, denn zuhause hatten wir mein Leben lang viel gesungen.

Schnell verrann die Zeit und wir mussten schon wieder los. Ein besonderes Erlebnis hatte Wilhelm noch für uns, eine Fahrt mit der Schwebebahn zurück zum Zug. Erstaunt betrachtete ich dieses seltsame Fortbewegungsmittel. Wir stiegen die Stufen hoch zur Haltestation, und zumindest ich stieg mit großem Interesse hinein. Zunächst war es ein ungewohnt schaukelndes Gefühl, aber sehr schnell fand ich es großartig. Wir konnten von hoch oben in die Fenster der Wohnungen schauen, unter uns das kleine Flüsschen, die Wupper. Ich hatte meine helle Freude daran, zeigte den beiden die schön mit Schwippbögen geschmückten Fenster und konnte mich nicht satt daran sehen. Wilhelm war natürlich schon als Kind mit der Bahn gefahren, Ernst dagegen war weniger begeistert und etwas blass um die Nase. Ihm war es unheimlich, keinen festen Boden unter den Füßen zu haben, vor allem wenn die Bahn sich in den Kurven auch noch neigte. Viel zu schnell war die Fahrt vorbei, ein beeindruckendes Erlebnis, jedenfalls für mich. Noch im Zug sprach ich immer wieder von dieser besonderen Art des Reisens. Während Ernst meine Freude daran nicht teilen konnte, merkte ich einmal wieder, wie groß meine Neugier und die Freude am Lernen und Ausprobieren von noch nie Erlebtem war.

In diesem Jahr hatte ich die Weihnachtsluft eindeutig schon vor den Feiertagen geatmet. Das bewegende Weihnachtsfest mit Schnee, mit Baum, Geschenken und der entsprechenden Stimmung hatte für mich schon in Bonn stattgefunden. Es waren die Proben für das Krippenspiel, die Aufführung gestern zusammen mit Ernst und Wilhelm, die innig-vertraute Stimmung und vor allem das Gefühl der Erwartung. Als ob etwas Schönes, Helles und Freudiges auf mich zukommen würde. Adventus, aus dem Lateinischen, heißt Ankunft, die Zeit der Erwartung und des Lichtes. Vermutlich wird es nicht der Sohn Gottes persönlich sein, aber vielleicht etwas ganz anderes?

Zuhause in Paderborn regnete und stürmte es heftig am Heiligen Abend. Durch das strahlende Gesicht meiner kleinen Schwester kam dann bei mir trotzdem eine kleine Weihnachtsfreude auf.

»Ist das dein Schatz?«

Am Ende der Weihnachtsferien, so hatten wir beschlossen, wollten wir auf gleichem Weg wieder gemeinsam nach Bonn fahren. Herr Franke und Herr Simon, im Stillen nannte ich sie schon lange Ernst und Wilhelm, waren mir nicht aus dem Kopf gegangen. Was für eine unbeschwerte Freundschaft hatte sich da entwickelt. Dass es so etwas zwischen Männern und Frauen geben konnte, ja, geben durfte, überraschte mich. War so das Studentenleben?

Ernst saß im letzten Waggon. Als der Zug in Paderborn einfuhr, sah ich ihn schon aus dem Fenster heraus winken. Seinen Kopf ohne den Hut erkannte ich sofort.

»Da hinten ist Herr Franke«, sagte ich zu Vater und Martha, die mich an die Bahn gebracht hatten. Vater nickte.

»Der Kommilitone aus der Theologie.«

»Ist das dein Schatz?« fragte Martha. Die Antwort sparte ich mir, weil Vater schon den schweren Koffer aufnahm und für mich bis zum letzten Wagen schleppte. Dort nahm Ernst ihn entgegen. Die beiden musterten sich kurz und wortlos. Eine Weile schauten wir gemeinsam aus dem Fenster dem Bahnsteig hinterher und sahen Martha mit Vaters großem weißen Taschentuch winken. Sie trug zum Glück leicht daran, dass ihre große Schwester schon wieder davon fuhr.

Wir berichteten uns von unsern Familienerlebnissen. Er hatte nicht viel zu erzählen, seine Weihnachten waren eher karg gewesen. Seine Eltern starben früh, er war bei seinen alten Großeltern gewesen, die auch nicht mehr gesund waren. Doch freute er sich mit an meinen Erzählungen über Marthas noch kindliche Begeisterung für das Weihnachtsfest. Erst recht jetzt, wo er diesen Wirbelwind kurz hatte erleben können.

Als wir in Barmen ausstiegen, hörte ich einen Pfiff, den Ernst erwiderte. Er richtete sich auf und ließ seine Blicke über den Bahnsteig schweifen. Er erblickte Wilhelm und beide winkten. Ich hatte noch beide Hände am Gepäck, als Wilhelm meine Hand vom Griff löste, in die seine nahm und sie vor Freude drückte. Die beiden Freunde begrüßten sich ebenso herzlich. Wilhelm hob meinen Koffer an, zog mit mir los zum anderen Bahnsteig und wir drei bestiegen den Zug in Richtung Bonn. Wir erzählten uns von den Ferien und sangen wieder, dass die Reise im Nu verging.

In Bonn versprachen mir die beiden, meinen Koffer später abzuholen und zu mir in die Reuterstraße zu bringen. Nachdem sie ihr eigenes Gepäck in ihren Zimmern ausgepackt hatten, zogen sie wieder los und schleppten den schweren Koffer herbei. Oben saß ich schon am geöffneten Fenster und hielt nach ihnen Ausschau. Die Nachmittagssonne schien so warm, ich hatte fast den Eindruck, dass ein Frühlingsahnen zu spüren war. Für einen Moment schloss ich die Augen und genoss die Wärme. Wie sollte ich den beiden bloß danken für ihre Mühe?

»Kann ich denn nicht auch einmal etwas für Sie tun? Ich könnte Ihnen doch einmal Ihre Strümpfe stopfen. Sie könnten dabei sitzen und lernen, wie man es macht.«

Sie lachten.

»Das haben wir in unserm Soldatenleben mehr als genug lernen müssen. Wir können es längst.«

Vergnügt zogen sie ab.

Vokabeln und Freundschaft

Jemand hatte ein Foto von der Krippenszene gemacht. Ernst und ich beschlossen, es zu vervielfältigen und an die Kommilitonen als Gruß zu verschenken. Als Gruß schrieben wir auf die Rückseite:

»Zur Erinnerung an unser Weihnachtsspiel von Helene Schmidt und Ernst Franke.«

Seinem Freund schrieb Ernst einen besonderen Gruß:

»Meinem Wegbruder!«

Das Semester ging weiter. Ich stürzte mich hinein in das Hebräische, eine Sprache mit den fremden und ungewohnten Buchstaben, ähnlich wie im Griechischen. Es machte mir große Freude, sie zu malen, und wenn ich es schaffte, einen Text zu übersetzen, war ich glücklich über meinen Erfolg. In meiner Tasche trug ich stets kleine Zettel mit Wörtern in beiden Sprachen und in Deutsch mit mir herum. So konnte ich in jeder freien Minute schnell ein paar Vokabeln lernen.

Wilhelm traf ich fast täglich im Kolleg und wir plauderten stets miteinander. Neulich erzählte er mir von seiner Freundschaft zu Ernst. Sie wohnten inzwischen zusammen in einer kleinen Zweizimmerwohnung, so dass sie abends oft lange zusammen saßen und sich das Herz gegenseitig ausschütteten. Sie hatten in ihrem Leben viel gemeinsam, zum Beispiel waren beide die Ersten in ihrer Familie, die studierten. So konnte ein tiefes Verständnis füreinander entstehen und die Notwendigkeit, einander zu unterstützen.

Eine solche Freundin hatte ich leider nicht. Im Gegenteil. Es gab nicht viele Frauen an der Universität und ich musste mich meistens alleine durchschlagen. Ich freute mich mit den beiden und für sie.

»Das ist fein, wenn man sich mit einem Menschen so gut versteht.«

Ernst dagegen sah ich leider nicht so oft, wie ich es gerne hätte, denn er gefiel mir ziemlich gut. Ich erinnerte mich immer wieder an unser Wiegenlied und seine Hände an der Krippe, ganz dicht an meinen. Er war außerdem so ein lustiger Vogel. Wir hatten einen ähnlichen Humor und er brachte mich oft zum Lachen. Ich ertappte mich dabei, dass ich bei den Andachten nach ihm Ausschau hielt und oft versuchte, mich neben ihn zu setzen.

Spaß oder Ernst

Als Wilhelm mich eines Tages zur Universität begleitete, lud er mich auf seine Bude ein, einen Kaffee zu trinken, bevor wir weiter ins Kolleg gingen. Ich lehnte es ab.

»Ich darf es nicht. Es könnte zu leicht falsch aufgefasst und beurteilt werden. Ein Mädchen darf nun einmal bei einem jungen Mann, der alleine wohnt, keinen Besuch machen. Und ich darf auch auf meiner Bude keinen empfangen.«

»Dann dürfen wir also auch nicht zu Ihnen kommen?«

»Lieber hätte ich es, Sie kämen nicht. Ich sage das nicht Ihretwegen. Wohnte ich hier bei meinen Eltern oder Verwandten, dürften Sie so viel kommen, wie Sie wollten. Dann würde ich mich freuen. Aber nicht hier, wo ich alleine bin in meinem Zimmer. Wenn es andere erfahren, können sie leicht Verkehrtes denken und erst recht, wenn ich es Ihnen gewähre und anderen nicht. Es sind nicht alle Menschen wie Sie beide. Man kann eben nicht allen jungen Männern so trauen wie Ihnen. Ich wollte das auch Ernst Franke sagen, weil auch er mich besuchen möchte. Erzählen Sie es ihm doch schon, damit es mir nicht so schwer fällt.«

»Das wird ihm sicher leidtun«, meinte er.

»Ja, das habe ich auch gemerkt und ich habe deshalb lange überlegt, wie ich Ihnen das sagen sollte. Aber ich finde keinen anderen Ausweg und sagen muss ich es. Es ist das Schlimmste für eine junge Frau, wenn sie ihren guten Ruf verliert.«

»Gut, ich gebe es an ihn weiter, aber es wird ihm weh tun. Sehen Sie, ich treffe Sie fast täglich im Kolleg und kann mit Ihnen sprechen. Er sieht Sie doch so selten. Darauf freut er sich immer. Es hat sich nun einmal unsere Bekanntschaft so entwickelt und da tut es weh, wenn sie droht abzubrechen. Machen Sie ihm doch die Freude, lassen Sie sich von ihm nach Hause begleiten oder setzen Sie sich in den Andachten neben ihn. Dann sieht er Sie auch zuweilen.«

Ich hörte es gerne, dass Ernst ein Interesse an mir hatte. Er gefiel mir, weil bei ihm mein Humor ein Echo fand. Wie Bälle flogen unsere Scherze manchmal zwischen uns hin und her. Er lachte oft laut über meine Witze von Tünnes und Schääl. Da ich in Köln aufgewachsen bin, habe ich diese beiden verinnerlicht. Mein Lieblingswitz ist:

»Guck mal, da is dinne Aahl. – Für dich immer noch das Fräulein Schmidt.«

Oder den, den meine Schulfreundin Gerti so gerne erzählte:

»Was gucken Sie mich so an? Ich habe mich heute für lange Ärmel gewaschen und musste dann kurze anziehen.«

Eines Tages wurden Ernst und ich von Elisabeth Dauner, der Frau unseres Professors, zum Kaffee eingeladen. Sie schaute mit prüfenden Augen zwischen uns hin und her. Ich fühlte mich nicht ganz wohl dabei. Was dachte sie und wie dachte sie über mich? Das Gespräch verlief jedoch sehr freundlich und ebenso verabschiedete sie uns auch.

Anschließend machten wir einen langen Spaziergang am Rhein entlang, meinem Rhein, der mir von Kindesbeinen an ein guter Freund war. Stundenlang konnte ich dem Vorbeiziehen des Wassers zusehen, ich hatte das Gefühl, meine Sorgen spülte er von mir und nahm sie mit sich fort. Im Moment allerdings hatte ich keine Sorgen, jetzt war ich zufrieden mit Ernst an meiner Seite.

Am nächsten Tag bekam ich eine Nachricht von Frau Dauner, dass sie mich gerne besuchen wolle. Das überraschte mich, doch natürlich empfing ich sie. Ich hatte mich in ihrem prüfenden Blick also doch nicht getäuscht. Zunächst sprach sie ganz allgemein.

»Ein Mädchen kennt keine Kameradschaft zwischen Mädchen und Jungen«, erklärte sie mir. »Zumindest im Unterbewußtsein spricht das Sehnen eine Rolle, das auf eine innigste, dauernde Verbindung zugehen will. Wenn es einmal durchbricht, gibt es kein Zurück mehr. Dann ist es, als hätten sie ihr Herz nicht mehr in Händen. Sie haben es jemand anderem gegeben. Will er es nicht, dann fällt es hin und zerbricht. Mädchen haben nicht die physische Kraft, über solch einen Bruch hinweg zu kommen. Sie brechen dann zusammen und sind für ihr Leben unglücklich.«

Worauf wollte sie hinaus? Ich hörte ihr aufmerksam weiter zu.

»Herr Franke muss sich sehr hüten im Umgang mit Ihnen, damit er nicht die Verantwortung für einen Zusammenbruch tragen muss.«

Das überraschte mich.

»Wie kommen Sie darauf, dass er es ernst oder auch nicht ernst mit mir meinen könnte?«

Darauf antwortete sie ganz eindringlich.

»Herr Franke hat eine ganz eigene Ansicht über das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen. Ich hörte, dass er in Ihnen einen guten Kameraden sieht, mit dem er ein paar Schritte Wegs gemeinsam gehen möchte. Wollen Sie das auch, ein paar Schritte Wegs gemeinsam?«

Ich überlegte schweigend. Noch bevor ich antworten konnte, fuhr sie fort.

»Es gibt jemanden, der nicht ein paar Schritte, sondern durch das ganze Leben mit Ihnen gehen möchte. Sie wissen, von wem ich spreche?«

Ich nickte.

»Schlafen Sie noch einmal darüber.«

Wie kompliziert plötzlich alles wurde. Ich wollte doch einfach bloß mit den beiden befreundet sein und ansonsten vor allem studieren. Warum sollte ich mich entscheiden müssen? Welch eine Sackgasse. Ich fand doch beide so klug, so belesen und fleißig. Ernst war außerdem sehr witzig, Wilhelm dagegen eher besonnen, allerdings auch ein Romantiker.

Ich fühlte mich überrumpelt und war auch erschrocken. Hatte ich etwa beiden Anlass gegeben, über eine nähere Verbindung nachzudenken? Hatte ich gar geflirtet? Ich wusste doch nicht einmal, wie das geht.

Ja, Ernst konnte flirten. Durch sein helles Lachen und intensives Strahlen hatte er mein Herz tatsächlich ein bisschen erobert. Es klopfte deutlich, wenn ich ihn sah. Ich musste es mir eingestehen. Aber auch Wilhelm war ich zugetan. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr gefielen sie mir. Beide.

Wieder tauchte die Frage auf, warum ich mich überhaupt entscheiden sollte? Frau Dauner war bei dem Gespräch sehr eindringlich gewesen. Fürchtete sie um den guten Ruf der Fakultät? Sollte es wirklich keine Freundschaft geben können?

Ich überlegte und wägte ab.

Ich sei zwar lustig, aber auch sachlich, nüchtern und unromantisch, hörte ich manchmal. Vielleicht war mir das jetzt hilfreich in meiner Ratlosigkeit. Also entschied ich mich.

Am nächsten Morgen traf ich an der Tür zum Kolleg Wilhelm, der mich erwartungsvoll ansah. Mir schoss das Blut in den Kopf, als ich ihn sah. Ich reichte ihm die Hand zum Gruß und wir gingen hinein. Ich hatte eine Ahnung, dass die beiden Männer sich darüber unterhalten hatten, für wen ich mich wohl entscheiden würde. Es bedeutete also das Glück des Einen das Unglück des Anderen. Was für eine Verantwortung.

Wilhelm setzte sich eine Reihe hinter mich. Seine Anwesenheit so dicht hinter mir machte mich nervös, immer wieder hatte ich das Gefühl, mich umdrehen und ihn aufmunternd anlächeln zu sollen, denn nach vielem Abwägen hatte mich für Ernst entschieden. Das tat mir für Wilhelm wirklich leid. Im Anschluss ließ er sich nicht nehmen, sich mit mir auf die Suche nach meinem verloren gegangenen Schlüssel zu machen, den wir sogar fanden. Er begleitete mich noch ein Stück zum nächsten Kolleg. Wir plauderten über das Wandern und als er Ernst erwähnte, schwieg ich lieber.

Am Nachmittag besuchte mich unerwartet Frau Dauner.

»Nanu«, sagte ich, »Sie kommen ja schon wieder.«

»Ja, ich bin geschickt worden, aber ich wäre ohnehin gekommen. Es muss nun Klarheit geschaffen werden. Die Herzen Ihrer Freunde sind zum Zerreißen angespannt. Wem werden Sie nun Ihr Herz schenken?«

Ich zögerte.

»Ich bin doch noch so jung und weiß nicht, ob es sich um die große Liebe handelt.« Ich hielt inne, atmete tief durch und fuhr fort: »Aber ich denke, es ist Ernst Franke. Deshalb muss ich wohl mit ihm sprechen.«

»Und Herr Simon?«

»Herr Simon ist mir ein lieber Freund und Bruder. Ich habe ihn als Ernst Frankes Freund auch für den meinen gehalten. Das soll er mir auch bleiben. Oder glauben Sie, dass er mehr erwartet hat als Freundschaft?«

»Ja«, sagte sie darauf.

Ich schwieg. So viele Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Dann richtete ich mich auf und sagte: »Er soll mir ein Freund bleiben. Ich will ihm immer mit der entsprechenden Liebe entgegen kommen.«

Eine folgenschwere Entscheidung

Also ließ ich mich nach der nächsten Andacht von Ernst nach Hause begleiten und so kam eines zum anderen.

Von ihm bekam ich neben einem wild klopfenden Herzen meinen ersten Kuss, der mir erstaunlich gut schmeckte. Allerdings erzählte er mir auch, wie sehr Wilhelm für mich schwärmte. Mein etwas schlechtes Gewissen beschloss ich damit gut machen, dass ich Wilhelm das Du anbieten wollte, wenn ich ihn das nächste Mal sah. Ob ihn das wohl versöhnlich stimmen oder gar trösten könnte? Zumindest zeige ich ihm damit seinen Platz, dass er mein Freund bleiben könnte. Ich bat Ernst, es ihm auszurichten.

Am nächsten Abend fand ich vor meiner Tür ein kleines Maiglöckchen-Sträußchen, gebunden mit einem blau-seidenen Bändchen. Daneben lag eine Karte mit den Worten: »Glück auf den Weg! Wilhelm«

Er hatte es verstanden. Ich sah ihn nach der Vorlesung am nächsten Morgen, ging auf ihn zu und bat ihn in eine Fensternische.

»Komm, komm«, begrüßte ich ihn dabei und bot ihm meine Hand. Als er einschlug, sagte ich leise:

»Ich danke dir, Wilhelm«, und huschte davon zur Garderobe. Er kam hinter mir her und half mir in den Mantel.

»Helene, ich danke dir. Du schenkst mir viel Vertrauen.«

In seinem Gesicht stand geschrieben, dass er litt, aber auch, dass er sich Mühe geben wollte, mir ein Freund zu sein.

Am Sonntag ging ich mit Ernst in die Kirche. Wir hielten uns nicht an den Händen, das hätte sich nicht gehört. Dass Wilhelm erbleichte, als er uns zusammen kommen sah, bekam ich nicht mit.

Später erzählte Wilhelm mir von seiner zerstörten Hoffnung nach meiner Entscheidung und zeigte mir ein Gedicht aus diesen Tagen. Schwärmerisch wie er war, gab er so oft seinen Gefühlen Ausdruck.

»Nun muss ich schweigen und stille sein,

Darf heimliche Tränen dem Glück nun weihen,

Das ich verloren.

Muss schweigen und warten auf bess’re Zeit,

Bis mir der Himmel in Gnaden verleiht,

Was er erkoren.

Euch aber will ich als treuer Freund

Zur Seite stehen. - Doch wenn es scheint,

Dass ich genesen,

Denkt, dass dem Herze sein Liebstes geraubt,

Was ich erhoffte, was ich geglaubt,

Ist nie gewesen!«

Er hatte aber auch feststellen müssen, dass der Wettbewerb mit Ernst um mich ihn angespornt hat.

»Wer mich wohl lieber hatte? So hat sich die aus Selbstsucht mitbestimmte Liebe ins Unendliche gesteigert«, bekannte er. »Nach deiner Entscheidung hat sich eine Mattigkeit eingestellt. Was soll ich noch mitlaufen? Ernst hat das Ziel bereits erreicht. Ich frage mich, ob er ohne mich als Mitstreiter noch genauso laufen kann wie vorher?«

Er empfand sich zu der Zeit als einen mächtigen Einspanner, wie er später erzählte. Der Frühling zeigte ihm Menschen, die zu zweit zusammen waren, überall ein Knospen und Blühen. Und er war noch immer allein. Auf der Suche nach einem Inhalt für sein Liebe suchendes Herz machte er sich auf dem Papier Luft:

»Mein Herz ist von Liebe so übervoll,

Und ich weiß nicht, wem ich sie schenken soll.

Ruth gab ich sie erst, und sie nahm sie nicht an.

Helene bekam einen anderen Mann.

Drum bin ich sie heute noch immer nicht los!

Ach, lieber Himmel, was mach ich da bloß?«

Die beiden hatten beschlossen, ihre Männerfreundschaft sollte darunter nicht leiden. Ob sie das wirklich schafften?

Inzwischen war vorübergehend ein kurzes Frühlings-Ahnen eingekehrt. Trotz fleißigen Lernens fand ich viel Freude an Spaziergängen und gemeinsamem Singen, aber noch mehr an den interessanten Diskussionsrunden. Wilhelm sah ich nicht mehr so oft, er hatte sich in die Arbeit gestürzt und damit abgelenkt. Auch Ernst und ich mussten uns unsere gemeinsamen Stunden oft genug von den Lernzeiten abzweigen.

Wir verlobten uns. Trotz dieses aufregenden Ereignisses schien mir am Wichtigsten, zusammen weiter zu studieren zu können. Alles andere würde sich fügen.

Womit ich nicht gerechnet hatte, ist, dass ich nun mein Studium abbrechen musste. So waren die Universitätsregeln. Eine Frau, die das Eheleben vor Augen hatte, war als Studentin nicht mehr geduldet. Wofür auch, hieß es. Sie brauchte schließlich in Zukunft keinen eigenen Beruf. Die Verlobung bedeutete also mein akademisches Ende.

Ich war fassungslos. Hätte ich das vorher gewusst. Hätte ich mich dann auf Ernst eingelassen? Vielleicht nicht. Doch auf wen sollte ich nun ärgerlich sein? Er konnte doch auch nichts für diese Regeln.

Ich bestand darauf, dass ich dieses Semester wenigstens abschließen und noch das Hebraicum ablegen konnte.

Von der Universität bekam ich ein Abgangszeugnis, in dem steht, dass Fräulein Helene Schmidt als Studierende der Nationalökonomie an der hiesigen Universität immatrikuliert gewesen ist. Hinsichtlich ihres Verhaltens ist Nachteiliges nicht zu bemerken. In meinem Vorlesungsbuch wurde mir bescheinigt, dass ich Vorlesungen über hebräische Grammatik, Kirchengeschichte des Mittelalters, Einleitung in die Philosophie und allgemeine Volkswirtschaftslehre gehört habe. Die Prüfung im Hebräischen bestand ich schriftlich und mündlich mit sehr gut und erwarb damit das Zeugnis der Reife im Hebräischen. Immerhin.

Diese Dokumente wollte ich zwar gut aufheben, sie jedoch in der Schublade lassen. Denn sie waren der Beweis, dass ich einmal große Träume hatte und Freude daran, einen ganz anderen Lebensentwurf zu versuchen. Doch wirklich gewagt hatte ich es letztlich doch nicht.

Entzündungsfieber

Ernst wurde allmählich immer stiller, es fiel mir auf. Ich hatte mitbekommen, dass Wilhelm ihn scharf angegangen hatte, er würde sein Pensum nicht mehr schaffen, wenn ich an erster Stelle stünde – bei allem Verständnis.

»Nein nein, mir geht es gut, ich habe nur so viel Arbeit«, antwortete er auf mein besorgtes Nachfragen. Doch recht glauben konnte ich es ihm nicht, er war so blass. Am nächsten Tag in einer Diskussionsrunde sah ich, wie er dicke Schweißtropfen auf der Stirn hatte, obwohl es alles andere als warm im Raum war. Er glühte. Wilhelm und ich halfen ihm zurück in sein Bett. Am nächsten Morgen gab er mir Bescheid, dass das Fieber noch immer hoch war. Ich lief gleich hin und wir beschlossen, einen Arzt zu rufen, der auch bald kam. Er vermutete eine Rippenfellentzündung.

»Hier kann er nicht bleiben, es ist viel zu kalt. Wir müssen ihn wohl ins Krankenhaus bringen.«

Ich bekam einen großen Schrecken. Doch wusste ich ihn dort wenigstens gut versorgt. Leider konnte ich selber nicht mehr länger in Bonn bleiben, denn das Semester war vorbei und ich musste aus meinem Zimmer ausziehen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als zurück nach Paderborn zu meiner Familie zu fahren. Von dort aus schrieb ich Ernst fast jeden Tag und schickte ihm Päckchen mit allerlei, was ihm guttun könnte.

Doch eine Besserung war nicht in Sicht. Nach drei Wochen hielt ich es nicht mehr länger aus. Ich musste mir ein eigenes Bild von ihm machen. Also packte ich meine Sachen und fuhr nach Bonn. Auf Nachfrage erlaubte mir meine Vermieterin, einzelne Nächte doch in meinem alten Zimmer zu schlafen, um meine Sorge zu mindern.

Endlich bei ihm erschrak ich noch mehr, als ich ihn sah. Er hatte mich in seinen kurzen Nachrichten stets zu beruhigen versucht. Er fieberte noch immer, bei meinem Besuch sogar hoch bis 40 Grad. Dann fantasierte er, zog an der Bettdecke und sagte immer wieder:

»Das muss weg, ich muss doch zu Helene.«

»Ich bin doch hier, lieber Ernst«, versuchte ich, ihn zu beruhigen, und strich ihm über sein verschwitztes krauses Haar. Er sah mich mit großen Augen an.

Nach einer Viertelstunde musste ich wieder gehen, versprach ihm aber, am nächsten Morgen noch einmal zu kommen.

Ich hatte ihm Eingemachtes mitgebracht, Kirschen und Mirabellen. Nur Obst konnte er essen, sonst lebte er von Wein und Kaffee, dazu etwas Zitronensaft, der das Fieber senken sollte. Wie sollte er von dem bisschen wieder gesund werden? Sein Ernährungszustand war schon vorher nicht gut gewesen. Ich hoffte sehr, dass es bald wieder mit ihm bergauf ging, aber, ob er im Sommer schon wieder würde studieren können?

Es wurde Mai, als ich ihn endlich aus dem Krankenhaus abholen konnte. Erst ganz allmählich kam er wieder zu Kräften. Er schrieb mir voller Freude, dass er zum ersten Mal wieder draußen in der Frühlingsluft gewesen war. Wilhelm hatte ihn abgeholt und sie hatten einen Spaziergang gemacht. Beim nächsten Besuch ist er zurück in sein Zimmer gegangen und hatte als Erstes zu seiner Laute gegriffen. Die Finger wollten zunächst nicht so richtig, doch fanden sie bald wieder ihren Weg über die Saiten. Allmählich dehnten sich seine Wege weiter aus und er wurde mit jedem kräftiger. Mich beruhigte das und wir überlegten, wie es weitergehen konnte. Dass er in diesem Sommersemester würde weiter studieren können, stand noch außer Frage, er würde aussetzen müssen.

Also beschloss ich, und Vater war davon nicht sehr begeistert, meinen Bräutigam über den Sommer zu uns nach Paderborn zu holen und zu hegen und zu pflegen.

Als ich ihn in Bonn abholte, wohnte in meinem Zimmer in der Reuterstraße inzwischen eine neue Theologiestudentin, Maren Ottsen. Eine fröhliche und sehr lebendige Frau, die mir sofort gefiel. Wilhelm, der mir half, meine Tasche aus der Reuterstraße zum Bahnhof zu bringen, bekam leuchtende Augen, als er sie sah. Fräulein Ottsen begrüßte ihn sehr keck, ich sah, wie ihm das gefiel.

»Sie müssen es machen wie Helene Schmidt,« meinte Wilhelm zu ihr, »Sie können Ihr Hebraicum gewiss auch nach einem Semester schon mit sehr gut machen.«

Auf dem Weg zu Ernst fragte ich ihn:

»Ist das nicht ein reizendes Mädel?« Und begann gleich, all ihre Tugenden aufzuzählen, die mir aufgefallen waren. Wie gut wäre es, wenn er auch endlich ein liebendes Herz fände, damit seine Seele Ruhe finden könnte.

Wilhelm brachte uns noch zum Bahnhof und rief uns nach:

»Glück auf den Weg!«

Zu Ernst meinte ich im Zug:

»Du, mir schwant was. Hast du Wilhelms Reaktion auf sie gehen? Sie bleibt wohl auch nicht lange hier.«

Wer suchet, der findet?

Ernst hat Post von Wilhelm bekommen. Es war endlich so weit, sein Herz hatte ein Gegenüber gefunden. Anders als wir erwarteten, war es nicht Fräulein Ottsen, sondern eine Pfarrerstochter, die er schon von Kindesbeinen an kannte. Immer wieder einmal kehrte er bei seinen Wanderungen in seinen Ferien dort ein. In diesen Tagen waren sie sich näher gekommen, schrieb er. Verlobt hatten sie sich noch nicht, aber er stand kurz davor, sie zu fragen. Er war des Lobes voll über sie, wenn ihr auch eine höhere Schulbildung fehlte. Das sei zwar nicht ausschlaggebend für eine Pfarrfrau, aber er hatte das Empfinden, dass man manches nicht mit solchen Mädchen besprechen könnte, weil es Sprachkenntnisse und philosophische Bildung voraussetzte. Natürlich war ihm ein Mädchen mit liebem und treuem Herzen eher willkommen als eines, das einem Wörterbuch der allgemeinen Bildung glich. Doch solch ein Mädchen zu finden war sehr schwer. Wichtig war ihm vor allem Gesundheit an Leib und Seele, ein achtbares Elternhaus und ein Herz, das seinen Heiland kennt. Das fand er in Gertrude Holstemeier.

Wir sahen uns an.

»Wilhelm hat ziemlich hohe Ansprüche«, meinte Ernst und ich pflichtete ihm bei. Da war ich dann tatsächlich nicht die Richtige für ihn gewesen.

Allerdings war Gertrude nicht so stürmisch wie er, schrieb er noch, sie empfand nicht mit seiner Glut.

Wieder sahen wir uns an.

»Wenn das mal gut geht«, sagte ich und diesmal pflichtete Ernst mir bei.

Schürze statt Buch

Da ich bald heiraten würde, riet mir mein Vater, jetzt ganz praktische Dinge zu lernen, nämlich das, was ich wohl als Pfarrfrau brauchte. Damit war ich überhaupt nicht einverstanden. Doch er setzte sich durch. Mit meiner Verlobung war mir nun ein anderer Weg vorgezeichnet. Seufzend nahm ich mir vor, ihn anzunehmen und nach meinem Konfirmationsspruch geduldig und fröhlich in Hoffnung sein. Was das noch alles für mich bedeuten sollte, konnte ich mir damals noch nicht vorstellen.

Solange Ernst noch studierte, machte ich zunächst einmal ein Haushaltsjahr. Da meine Mutter so früh starb, hatte ich von ihr in dieser Hinsicht nicht viel lernen können. Niemand hat mich in solche Dinge eingewiesen, also schien das wohl nötig zu sein - fand mein Vater. Er schrieb ein Bewerbungsschreiben auf eine Anzeige und empfahl mich in einen Pfarrhaushalt.

»Sie wünschen sich ein gebildetes junges Mädchen«, sagte er. Gebildet? Vielleicht konnte es doch gut werden? Also machte ich mich auf den Weg nach Wehrendorf an der Weser. Dort kam ich tatsächlich in einen gebildeten Haushalt. Die Bibliothek war eindrücklich.

»Ja, du darfst dir gerne ein Buch ausleihen und lesen. Aber erst, wenn die Arbeit getan ist«, sagte die Frau des Hauses. So strich ich beim Abstauben die Bücherreihen entlang und suchte mir schon einmal eines aus. Doch zum Lesen kam ich kaum. Ich war neben allem, was ein solcher Haushalt alles an Kraft verbraucht, auch für die Kinder zuständig. Das war das Schönste in diesem Jahr. Die Kinder mochten mich und ich mochte sie. In erster Linie, das musste ich leider sehr schnell erkennen, war ich allerdings für die Wäsche verantwortlich, Stopfen, Bügeln und vor allem Waschen. Warum sollte ich dafür ein gebildetes junges Mädchen sein?

Ich fürchtete, dass ich wohl mein ganzes Leben lang, meine vom eisigen Wasser schmerzenden Finger spüren würde. Im tiefsten Winter musste ich nämlich die Wäsche im Wasser reiben, spülen und auswringen. Ich nahm mir fest vor, wann immer möglich diese Arbeit zu vermeiden und abzugeben. Vielleicht würde ich ja in unserem zukünftigen Pfarrhaushalt auch Hausmädchen bekommen. Zu ihnen würde ich immer freundlich sein. Unsere Bücher dürfen sie ausleihen und ich würde ihnen viel über Kunst erzählen.

Trugschluss

Als wir uns an Weihnachten endlich wiedertrafen, war es plötzlich aus mit Ernst und mir. Er löste die Verlobung, weil ich ihm zu kalt war und zu unnahbar, sagte er. Immer wieder hatte er deshalb auch Augen für andere Mädchen gehabt und verließ mich dann endgültig. Obwohl wir uns doch einander versprochen hatten, hielt ihn das nicht von einer Trennung ab.

»Ich hatte es mir fest vorgenommen, aber ich schaffe es nicht«, sagte er. »Kaum kommt ein Anstoß von der Seite, ist es mit meinem Entschluss vorbei.«

Was war an mir so schwierig? Liebte ich nicht tief genug? War ich nicht leidenschaftlich genug? Nein, leidenschaftlich war tatsächlich nicht meine Sache, aber ich war treu und blieb es auch. Ich hatte schon immer den berühmten langen Atem, der mich durch Höhen und Tiefen getragen hat. Vielleicht hätte ich die Leidenschaft noch lernen können. Hatte ich ihm etwa vorschnell mein Wort gegeben? Ich versuchte, Ernst keine Vorwürfe zu machen, aber es gelang mir nur schwer. Ich war sehr gekränkt. Zum einen, weil er mich vor vollendete Tatsachen gestellt hat. Zum anderen war es eine Schmach, verlassen zu werden. Sollte ich die Trennung vor meiner Familie mit der fehlenden Leidenschaft begründen? Nein, da würde ich mich schämen.

Nun kam mir ein anderer Gedanke, der mich erstarren ließ. Für das Leben mit ihm hatte ich mein Studium aufgegeben, das war das Schlimmste. Zurück an die Universität war jetzt vermutlich nicht mehr möglich. Vater wollte davon nichts mehr wissen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto wütender wurde ich auf Ernst. Wie hätte mein Leben ohne diese dämliche Verlobung aussehen können? Ich weinte aus Enttäuschung und aus Wut – wenn mich niemand sah. Die Blöße gab ich mir nicht.

1922

Listen statt Schürze

Endlich war dieses schreckliche Jahr geschafft. Nein, die Arbeit im Haushalt war nichts für mich. Ohne einen Mann an meiner Seite musste ich ohnehin Geld verdienen. Zurück in Paderborn bekam ich bei Vaters Arbeitgeber, dem Reichswehrministerium, eine Anstellung, in der Abteilung Heeresunterkunftsamt. In diesem Büro war es schön warm und insgesamt sehr viel angenehmer als in einer Waschküche. Dort wurde ich Büro- und Kassengehilfin, meine Aufgaben waren das Aufstellen von Lohnlisten, Krankenkassen, Invalidenversicherung und verschiedene Steuerangelegenheiten.

»Sie müssen die Ihnen übertragenen Arbeiten mit Sorgfalt und Fleiß pünktlich und gewissenhaft ausführen und Ihre volle Arbeitskraft den dienstlichen Pflichten widmen«, sagte mein Vorgesetzter. Darauf wurde ich mit Handschlag verpflichtet.

»Gleichwohl verpflichten Sie sich, über dienstliche Tätigkeit strengste Verschwiegenheit zu bewahren, das gilt auch noch nach Ausscheiden aus dem Dienst.«

»Jawohl, verstanden.«

Jeden Monat klebte ich mir gewissenhaft eine Steuermarke für meine Angestelltenversicherung in ein kleines Heftchen. In dem dafür vorgesehenen Feld musste ich diese handschriftlich mit dem jeweiligen Datum entwerten. Manchmal fragte ich mich, ob die Vorlesungen der Nationalökonomie dafür gut gewesen waren. Ich war froh, überhaupt eine Arbeit zu haben. Solch kleine Tätigkeiten sorgfältig zu erledigen, machte mich zufrieden. Es erinnerte mich ein wenig an meine Briefmarken-Sammlung. Auch damit konnte ich mich lange beschäftigen.

Manchmal wurde ich gefragt, ob mir diese Arbeit gefiel. Auf jeden Fall fand ich sie besser als das Haushaltsjahr. Immerhin entsprach sie meiner Sorgfalt und meinem Ordnungssinn im Kleinen.

Wilhelm sagte später über mich: »Die Mutter ist in den kleinen Dingen ganz groß und in den großen Dingen ganz klein.« Dazu schwieg ich dann.

Leises Anklopfen

Eine Postkarte von Wilhelm kam vom Bodensee. Er studierte inzwischen in Tübingen und war zu Beginn der Semesterferien ein paar Tage auf Schusters Rappen unterwegs. Er dachte an mich, freundlich war die Postkarte. Ich fragte mich, ob Ernst ihm von der Auflösung unserer Verlobung berichtet hatte. Standen die beiden noch in Kontakt, waren sie noch Freunde?

Kurz darauf kam ein ausführlicher Brief. Hier schrieb er über sein bevorstehendes Examen und dass er auf der Suche nach einem Platz für ein letztes, ein besonderes Semester war. Utrecht stand zur Debatte. Er würde überall in Europa hingehen, am liebsten bliebe er allerdings in Deutschland. Und dann kam sein noch immer aktuelles Thema. Er schrieb mir ganz offen, wie es seine Art war, über die Einsamkeit. Er berichtete von seiner Unfähigkeit, ein Mädchen in Liebe an sich binden zu können, im Gegenteil, sie mit seiner Leidenschaft eher zu erschrecken. Dass er ausgerechnet mich zu diesem Thema als Ziel seiner Gedanken auswählte, überraschte mich.

Gleich setzte ich mich an den Sekretär und griff zu Papier und Feder.

»Lieber Wilhelm.

Ich würde mir an Deiner Stelle nicht so viel den Kopf darüber zerbrechen, wer einmal Deine Weggenossin sein wird. Lege alles in Gottes Hand. Wenn er Dich glücklich machen will, dann wird er Dir schon zur Zeit die Augen öffnen und Dir die Richtige in den Weg schicken. Binde Dich nur nicht eher, als bis Du die frohe Gewissheit hast: ,Sie ist die mir von Gott bestimmte‘, und als bis Du die Kraft in Dir fühlst, auch für sie die Verantwortung übernehmen zu können. Helene.«

Er ging mir immer wieder durch den Kopf. Auch die Worte von Elisabeth Dauner, dass er das ganze Leben mit mir gehen wollte. Damals ahnte ich nicht, wie kurz mein Weg mit Ernst werden würde. Der hatte mich verzaubert mit seinem Strahlen, seinem Charme. Nun verzauberte er eine andere.

In Wilhelms Antwortbrief las ich, dass er demnächst auf dem Weg nach Bielefeld sei. Er wollte sich Bethel ansehen, den Stadtteil, in dem die Anstalten lagen und mich gerne auf dem Weg dorthin besuchen. Ob mir das recht sei? Das war es natürlich. Ich freute mich auf den Besuch, denn ich hatte ihn lange nicht gesehen, gewiss eineinhalb Jahre. Zuletzt im Mai 1921, als Ernst aus dem Krankenhaus entlassen wurde und er uns zum Bahnhof brachte.

Er strahlte, als er aus dem Zug stieg. Er sah gut aus, zufrieden und stattlich. Vater gestattete es, ihn bei uns einzuquartieren. Ich zeigte ihm meine Bücher und wir saßen stundenlang zusammen und blätterten darin herum. Dann ließ er sich von mir durch die Stadt führen, wir gingen zusammen spazieren und holten Vater vom Büro ab.

Beide umschifften wir das Thema Ernst, bis Wilhelm irgendwann tief Luft holte:

»Ernst hat mir deinen Abschiedsbrief gezeigt.«

Also wusste er jetzt Bescheid. Jahre später erzählte er mir, dass Ernst ihm auch gesagt hatte:

»Jetzt kannst du gehen, der Weg ist frei.«

Wie gut, dass er jetzt schwieg.

Doch neugierig war ich auch.

»Wie geht es Fräulein Ottsen?«

»Das weiß ich nicht, ich habe sie seit dem Winter nicht mehr gesehen.«

Also hatte ich mich damals geirrt, als ich dachte, mit ihnen beiden könnte es etwas werden.

Jetzt schwieg Wilhelm wieder und ich fragte nicht weiter. Er hatte es also in dem Brief wirklich ernst gemeint, als er von seiner Einsamkeit sprach.

Vorwärts geschaut!