In die Transitzone - Elena Messner - E-Book

In die Transitzone E-Book

Elena Messner

4,9

Beschreibung

Als Daniel das südeuropäische Makrique erreicht, ist die Hafenstadt gezeichnet von den Ereignissen der letzten Monate. Wo früher in den Yachtclubs Partys gefeiert wurden, suchen die Einheimischen nun das Meer nach ertrunkenen Flüchtlingen ab. Der Hafen ist durch Streiks stillgelegt, die Bevölkerung gespalten. Daniel zieht durch die Straßen und sieht sich schnell mit den Sehnsüchten und Ängsten der Menschen konfrontiert. Als sich das Gerücht verbreitet, dass ein neues Boot am Horizont aufgetaucht sein soll, eskalieren die Ereignisse ...

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ELENA MESSNER

IN DIE TRANSITZONE

ROMAN

INHALT

NEUIGKEITEN

ANSICHTEN

WASSERRINGE

TRANSPORT

ABMACHUNG

TEILNAHME

ZUSPRUCH

ANSAGE

RATTENGIFT

HOTEL

HINWEISE

KOTZGAS

ZUSAMMENHÄNGE

BEOBACHTUNG

TAUSCH

AHNUNG

BLUT

VERPFLICHTUNG

ANFANG

ZERSIEDELUNG

VERANKERUNG

BEISETZUNG

ZELLEN

MOBILISIERUNG

RÜCKZUG

ÜBERTRETUNG

FEHLER

RECHTSLÜCKEN

RICHTUNGEN

PROZESSE

DOKUMENTATION

KONTROLLE

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NEUIGKEITEN

Die Straße vor dem Lokal war überfüllt. Eine große Lust am Reden war zu spüren, Aufforderungen und Fragen wurden in den Beginn und das Ende anderer Sätze gerufen, Teile daraus aufgegriffen, abgewandelt, neu kombiniert – nichts blieb ohne Einschub oder Gegenargument. Wie viele Gespräche fanden da zugleich statt, schnitten sich gegenseitig ab, griffen ineinander? Das gedämpfte Rauschen der Klospülung im Inneren des Lokals war zu hören, dann das Knallen einer Tür, das Zurren, als eine Frau den Reißverschluss ihres Anoraks öffnete, Möwengeschrei und immer wieder das kurze Zischen beim Öffnen der Bierdosen oder das Knackgeräusch, wenn jemand eine Dose zerknüllte und in die Straßenecke warf. Ein paar Straßen weiter waren Felsenbuchten zu sehen, Häuser direkt auf Stein gebaut, eins ans andere gedrängt, dazwischen die Haustore oder Durchgänge zu kleinen Innenhöfen, verbunden durch nur halb asphaltierte, buckelige Wege, Hunde schliefen vor der Bar, die Mauern daneben waren von Sprayern eingefärbt worden, da hingen auch Werbeblätter für einige Bücher.

Eine Frau, offenbar die Besitzerin, kam auf die Straße hinaus, rauchte vor der Bar, nahm zwischendurch kleine Schlucke aus ihrem Glas, sie hatte ein dunkles Gesicht, ursprünglich weiße Haut, die von der Sonne verbrannt war. Aus ihrer kurzen Hose ragten die nackten Beine hervor. Danach kehrte sie mit einer kleinen Kreisbewegung zurück hinter die Theke, wo eine Karaffe Wasser und mehrere Tassen Espresso standen, jemand hatte sie wohl zubereitet, aber dann vergessen. Mehrere kleine Löffel lagen am Serviertablett daneben. Kurz stand sie im Duft des kalten Kaffees, ging wieder hinaus, um jemandem etwas zuzuschreien, stellte sich dann mit dem Telefon in der Hand in den Lokaleingang. Andauernd zerrte sie an ihren Locken, schob sie hinters Ohr, zog an einem ihr angebotenen Joint, blieb mitten in einem Witz stecken, den sie hustend ausstieß, gemeinsam mit dem weißen Rauch aus ihrem Mund. Sie wurde bloß mit »Nat!« angesprochen, ohne Beiwerk, ohne lange Anrede, ohne Grußwort, als wäre mit ihrem Namen alles gesagt, niemand schien sich an sie wenden zu können, ohne gleich lauter werden zu müssen, und auch sie richtete sich fast ausschließlich mit kurzen Ausrufen an die Leute, die alles um sie herum am Laufen zu halten schienen: »Ha!«, schrie sie, »Du!«, »Weg da!«, »Komm her!«, »Lass das!«, »Stopp!«, »Komm schon!«, »Sicher nicht!«, »Los!«

Die Frauen gingen von der Straße ins Lokal, setzten sich kurz auf die aufgestellten Hocker, stellten sich an das verstimmte Pianino in der Ecke, spielten darauf, tanzten ein paar Schritte, wollten wieder hinaus und drängten sich an der Besitzerin vorbei. Wein, kalte Pizzastücke und eine Plastikschale mit Chips und Erdnüssen wurden herumgereicht. Auf der Straße spuckte eine Frau, nachdem sie sich eine der Erdnüsse in den Mund gesteckt hatte, auf den Boden und warf ihr Haar zurück. Tiefe Falten führten von ihren Augen bis zu den Mundwinkeln.

Ein junger Mann sah ihr zu, stand eine Zeit lang unentschlossen vor der Bar herum, dann noch unentschlossener im Bareingang, den die Besitzerin gerade wieder freigemacht hatte.

»Heiß? Angst, reinzukommen?«

Man schubste ihn in das schwüle Innere des Lokals.

Sein Akzent und die höflich gewählten Worte, auch die Unsicherheit in der Stimme erregten sofort leises Kichern, als er fragte: »Bekommt man hier etwas zu trinken, ich bitte Sie sehr?« Kommentarlos drückte man ihm ein Bier in die Hand, und er setzte sich, legte seinen Rucksack zu seinen Füßen ab, danach bekam er Wein von einigen Frauen, die bald zu dritt um seinen Tisch herumstanden, auf ihn hinuntersahen: »Zigarette? Noch ein Bier?« Eine beugte sich nah zu ihm: »Massage?« Die Besitzerin wollte sie wegscheuchen: »Lasst ihn in Ruhe.«

Zu spät, zwei der Frauen hatten sich schon neben ihn gesetzt, auf Hocker, die sie unter seinem Tisch hervorgezogen hatten. Eine packte eine Stange Slim-Zigaretten aus und sagte: »Kann ich die gegen etwas eintauschen. Magst du?« Sie riss ein paar Zigarettenpackungen aus der Stange, wie man das Ende eines Baguettes abreißt, und er reichte ihr nach einem kurzen Wortwechsel ein paar Münzen, danach steckte er seine Gelbörse wieder in die Hosentasche. Die andere sah zu, schüttelte den Kopf, meinte zu ihrer Freundin, dass sie den Jungen nicht ausrauben solle: »Der kommt sonst nicht wieder«, daraufhin warf ihm die Erste genervt eine weitere Packung zu, ließ sie hoch durch die Luft fliegen: »Zufrieden?«

Er reagierte zu langsam, die Zigaretten fielen zu Boden, und er musste sie aufheben.

Wie konnte man so schmutzige Hände haben?

Die Frauen versuchten, den Mann zum Lachen zu bringen, sagten ihm immer mal wieder ein paar Schmeicheleien und Schweinereien. Zwischendurch ignorierten sie ihn und redeten nur miteinander. Andere Gäste kamen, und sobald sie den Jungen entdeckt hatten, sahen alle zu ihm herüber. Die Frauen, die ihn als Erste gesehen hatten, bauten aber mittlerweile mit ihren Körpern eine Art Mauer um ihn auf, und es war nicht klar, ob dies seinem Schutz dienen oder ihn mit Gewalt in ihrer Mitte halten sollte.

Ein Mann mit Gitarre kam ins Lokal, spielte ein Lied, die Musik aus den kleinen, scheppernden Lautsprechern war verstummt, und es war ruhiger geworden.

Mehrere Uniformierte waren durch den Lokaleingang zu sehen, sie drängten sich auf der Straße, kamen dann ebenfalls herein, scherzten mit einigen der Frauen, die sie zu kennen schienen. Sobald sie ihnen den Rücken zuwandten, verdrehten diese die Augen, eine sagte flüsternd zu ihrer Freundin: »Mit einem von denen, würdest du?« – »Sicher nicht, und wenn er’s mir zahlen würde.« Sie lachten, stießen sich gegenseitig an; eine sagte zu dem jungen Mann, der sie beobachtet hatte: »Das Klo ist da hinten.«

Die zu einem Haufen zusammengedrückten Schleifpapierstücke, die er in der kleinen Toilette im Nebenraum vorfand, waren unbrauchbar, feiner Sand bröselte aus der rauen Oberfläche des nass gewordenen und danach getrockneten Papierklumpens, als er einige Schichten voneinander zu lösen versuchte. Durch die dünnen Wände und das kleine Klofenster hindurch war die Gitarrenmusik zu hören. Die Spülung im Klo war falsch eingestellt, er wurde mit Wasser bespritzt, wusch sich lange die Hände, ging zurück in den Gastraum, da applaudierte man gerade heftig: »Bravo, bravo!« Der Gitarrist ging wieder nach draußen, stellte sich etwas abseits, hin zu ein paar jungen Frauen, die mitsangen, während eine immer wieder ausrief: »Schön ist das, als ob es dir die Brust und dahinter das Herz zerreißt.«

Es gab sofort viel Gerede, als der junge Mann seinen Platz am Tisch wieder einnahm. Einer der Uniformierten, ein hochgewachsener, schwarzer Mann, der als Einziger nüchtern schien, sah zu dem Neuen herüber, aber der merkte es zunächst nicht, es waren schon viele Blicke auf ihn gerichtet, und die Leute prosteten ihm von überall her zu.

Eine der Frauen schenkte ihm nach, fragte: »Heute erst in der Stadt angekommen?«, und es folgten Zurufe und Fragen, die sofort weitergetragen wurden: »Neu in Makrique?« – »Das ist ja was.« – »Daniel heißt er.« – »Wie?« –»Daniel.« – »Ist der wirklich neu in der Stadt?« – »Was macht er hier?«

Der große Mann in Uniform hatte, als er den Namen des Fremden mitbekam, ein, zwei Schritte auf sie zu gemacht. Sein Ton vertrieb sofort ein paar der Frauen, als er fragte: »Auf Durchreise, Daniel?« Er wartete kurz und schob dann nach: »Bleibst du, Daniel?«

Etwas in seiner Stimme oder etwas in seiner Frage klang hart nach, außerdem betonte er den Namen des Fremden zu stark.

Der Angesprochene sah sich um, oder eigentlich sah er bloß weg vom Mann, und da war ein plötzliches Misstrauen, mit dem ihn viele betrachteten. Der Schwarze fragte wieder nach, diesmal auf Englisch: »Passing by?« Er wartete, probierte andere Phrasen: »Staying? Just Passing? Going through?«, und noch einmal: »Do you stay?«, sprach in der Landessprache weiter: »Warum bist du gekommen?«, bis endlich eine kurze Antwort kam, etwas in der Art wie: »Ich soll es mir ansehen«, auch die Worte »Information« und »Zusammenarbeit« fielen, und dann noch: »Küstenwache« und »Hafenamt«, was wieder Gemurmel und Gerede auslöste: »Schscht, der redet so leise.« – »Verstehst du ihn?« – »Hey, Kleiner, verstehst du uns? – »Versteht ihn irgendwer?« – »Sollen wir langsamer reden?« – »Understand?« – »Lasst ihn in Ruhe!«

Der Uniformierte beugte sich weit hinunter, schob seinen kahlrasierten Kopf vor den des Fremden und forderte ihn wie zur Strafe, weil er weiterhin keine eindeutige Antwort gab, auf: »Zeig uns deine Papiere.«

Kurz gab es einen Aufruhr, dann Scherze und Lachen, der Schwarze wurde zur Seite geschoben, während er feierlich, als hätte er diese Entdeckung als Erster gemacht, verkündete: »Hmnagut. Der versteht nicht gut, ist neu in der Stadt. Er hat hier etwas zu tun.« Seine Stimme war nun fast besorgt, als täte es ihm leid, dass er zuvor einen falschen Ton angeschlagen hatte.

Das machte die Sache auch nicht mehr gut, Daniel war verunsichert, während ihn einige weiter ausfragten: »Kommst du aus Überzeugung?« – »Kennst du jemanden hier?« – »Gefällt dir, was der neue EU-Kommissar beschlossen hat?« – »Was interessiert dich an Makrique?« Er zuckte als Antwort auf alle Fragen nur mit den Schultern oder sagte ab und zu etwas Ausweichendes.

Er fühlte sich schon erschöpft, bevor er richtig angekommen war. Warum fragten sie ihn gleich solche Dinge, offen und aggressiv? So wie sie schnatterten, blieb kein Platz für ein echtes Gespräch.

Aber sie ließen ihn nicht in Ruhe, es ging ständig so weiter, und alles, was er widerwillig über sich erzählte, wurde multipliziert und diskutiert: »Er ist nur auf Besuch?« – »Auf Besuch ist er!« – »Kooperation sagt er.« – »Na, dann.« – »Du willst wirklich in der Stadt bleiben?« – »Der will bleiben und mittun.« – »Gefällt’s dir bei uns in Makrique?« – »Das Meer mag er!« – »Aus dem Norden? Ihr habt doch auch im Norden Zugang zum Meer.« – »Ich geh nur noch ans Meer, um mich auszufurzen.« – »Deswegen ist er gekommen?« – »Er meint doch wegen der Meeresgrenze.« – »Hab’s nicht verstanden.« – »Er sagt, Makrique taugt ihm.«

Auf jeden Kommentar folgte zumeist noch eine Beleidigung oder ein Schimpfwort, an niemand Bestimmtes gerichtet, sondern an die Anwesenden insgesamt. Die waren zueinander nicht gerade höflich, warum sollten sie es dann zu ihm sein, tröstete er sich selbst.

Die Besitzerin stellte sich neben ihn, stand mitten im Geschnatter und den Rufen, holte eine zerknitterte Visitenkarte aus ihrer Hosentasche: »Nimm!« Auf der schwarzen Karte war in pinker Kursivschrift ihr Vorname geschrieben, Nathalie, darunter in Gelb einige Zahlen und in Blau eine Adresse, all dies war durchgestrichen worden, darüber handschriftlich ein anderer Straßenname und andere Zahlen eingefügt. Daniel steckte die Visitenkarte ein.

Der Uniformierte hatte sich endlich weiter abseits hingestellt, er nickte ihm aus der Entfernung mehrmals aufmunternd zu, merkte dabei genau, dass seinem Blick ausgewichen wurde, und rief durch den Raum: »Nat, du solltest Tassioni Bescheid geben!«

Ihre Antwort blieb knapp, über mehrere Köpfe hinweg: »Die wird es schon noch erfahren«, aber der Schwarze schrie, wieder nur an sie gerichtet, als sei der, um den es ging, gar nicht da: »Wissen Malika und Hakim schon von ihm?«

Auch diesmal blieb Nat kurz angebunden: »Die Mokaddems werden es herausfinden, wenn sie es herausfinden.«

Die Fragen gingen derweilen weiter im Kreis, richteten sich an alle und an den Neuen: Wie er die derzeitige Situation in Europa einschätzte, was er von der Welt dachte, in der sie leben mussten, warum er allein, ob er überhaupt allein hergekommen war?

Immer wieder wehrte Daniel die Fragen der Umstehenden lächelnd ab und sagte mehr als einmal: »I’m just visiting«, und dann später etwas Gegenteiliges, als sei er sich selbst nicht sicher. Auch zuckte er weiterhin mit den Schultern und versuchte, nicht zum Uniformierten hin zu schauen, der ihm zuzwinkerte und dreimal eine Geste wie zum Gruß – oder als Warnung?, als Drohung? machte: Er tippte sich mit zwei Fingern an die dunkle Stirn, formte mit dem Mund den Namen: »Daniel«, und deutete mit beiden Daumen nach oben.

Wie konnte es sein, dass sie einfach nicht von ihm abließen?

Seine Antworten blieben recht allgemein: dass er aus dem Norden gekommen war, dass die Lage sich auch bei ihnen nicht verbessert hatte, aber auch nicht verschlechtert, dass er mit der lokalen Küstenwache seit Längerem in Kontakt war. Er nannte einen Namen, niemand reagierte darauf. »Zwecks Zusammenarbeit!«, das Wort wiederholte er noch einmal, als ob er nun doch Lust hatte, sich darüber auszutauschen, aber keiner reagierte darauf. Er unterbrach sich beim Reden mehrmals selbst, um hastig zu trinken, und kniff dabei die Augen zusammen, als ob er sich nur schwer konzentrieren konnte.

Nachdem er nun doch, wenn auch stockend, zu sprechen begonnen hatte, ließ die allgemeine Neugierde rasch nach. Nur wenige Leute ließen sich von seiner Art zu reden, von seinen langen Pausen und seinem Akzent nicht abschrecken und blieben bei ihm sitzen. Die Frauen waren bald wieder draußen, sie lachten und sangen.

So leicht war das also?

ANSICHTEN

Eine Wendeltreppe aus Stahl führte nach oben, in eine kleine Wohnung über der Bar. Daniel stand in einer Küche, die mit Geschirr vollgestellt war. Durch eine Tür sah er ins Badezimmer, dort waren überall Gläser und Fläschchen aufgestellt, die matt glitzerten, als wären sie mit Schleim oder Öl gefüllt. Nur wenig Licht fiel durch ein kleines Fenster herein, er trat näher und sah auf die Straße. Eine der Frauen, die mit ihm geredet hatten, stieg gerade in einen quer neben dem Lokal geparkten Laster, der über und über mit Sprüchen besprayt war.

Nat zog ihn ins Wohnzimmer, warf ein paar Bücher und Socken vom Sofa und setzte ihn dorthin. Vor der großen Fensterfront, von der aus man auf die Dächer der Häuser gegenüber schaute und dahinter das Meer im Dunkeln erahnen konnte, stand ein breiter Abstelltisch. Er entdeckte einen großen Haufen Fotografien von Menschen auf Schiffen, die mit geschlossenen Augen auf die Welle warteten und just in der Sekunde, bevor sie ihnen ins Gesicht platschen würde, eingefangen worden waren, Bilder von Ruder-, Segel-, Motorbooten mit Werbeaufschriften, Fahnen in Rot, Blau, Weiß, kleine Gestalten, die unter ihnen herauswuchsen. Immer wieder war Wasser abgelichtet, das gegen Holz, Metall, gegen die gläsernen Windschutzscheiben der Motorboote schlug, viele Schnappschüsse von Menschen, die an Segeln zerrten. Hunderte, wenn nicht Tausende Fotografien musste sie gemacht oder zusammengetragen haben, einige mit dem gleichen Motiv. Sie wühlte in ihnen, deutete auf eine, zog eine andere hervor, tauchte mit beiden Händen in den Haufen, um ein neues Bild herauszufischen, während sie mit ihm sprach, ihn fragte: »Schön, oder?«, auf eines der Fotos deutete: »Fest des Windes«, oder: »Von der Regatta letztes Jahr« und ihm vorschwärmte: »So ein Wochenende hast du noch nicht erlebt«, »Das war vielleicht was«, »Das sieht man einmal und nie wieder.«

Dabei zog sie ihn kurz an sich. Die enge Berührung tat ihm gut, aber sie sagte gleichzeitig mit strenger Stimme: »Denk bloß nicht, dass alle in der Stadt mit unserem Aktionsplan einverstanden waren. Viele haben uns im Stich gelassen und sind in den letzten Wochen einfach ausgereist.«

Nach einer Pause ließ sie ihn wieder los und führte die Bierflasche an die Lippen: »Was ja nichts Neues ist«, fast pfiff sie den Satz in ihr Bier, zog weitere Fotografien hervor, scheinbar wahllos, aber jedes Mal war doch etwas darauf zu sehen, was sie ihm zeigen wollte. Eine Serie schob sie achtlos beiseite: Sie zeigte eine Frau, die sich ein schwarzes Tuch um den Kopf geknotet hatte, sich damit zugleich den Mund verband. Dieselbe Frau auf anderen Fotos, wie sie sich – offensichtlich am selben Tag – das Tuch um die Augen gebunden oder um den Hals gelegt hatte und eine Grimasse schnitt, als wäre sie am Ersticken. Sie stand an einem Hafen, auf manchen Fotos war im Hintergrund eine Menschenmenge zu sehen. Mal hatte sie sich das Tuch um die Schultern gelegt und lächelte, mal hielt sie es in der zur Faust geballten Hand.

Als Nat bemerkte, dass Daniel gerade diese Bilder genauer betrachtete, hielt sie inne und meinte: »Das ist Marguerite Tassioni. Musst sie unbedingt kennenlernen, wenn dir an Kooperationen gelegen ist. Die sieht recht daneben aus, ist sie aber nicht.« Dabei deutete sie auf eine Nahaufnahme, auf der die Frau das Tuch in den Wind hielt, eine kleine schwarze Fahne, im Hintergrund das Meer. Andere Fotos zeigten sie als schmalen Strich in einer Menge, umringt von Menschen, und dahinter Boote, die im Hafen lagen.

Sie stand auf, holte und öffnete ein zweites Bier, obwohl sie das erste noch nicht ausgetrunken hatte.

»In letzter Zeit sind viele weggegangen. Und du kommst uns also besuchen?«

Jetzt gingen die Fragen wieder los, ähnliche wie die, die ihm die Menschen unten im Lokal gestellt hatten: Wie er hergekommen sei, ob er zu Fuß unterwegs sei, ob sie ihn an den Grenzen einfach durchgelassen hätten. Hatte sie ihm nicht zugehört, als er den anderen schon so vieles zu erklären versucht hatte? Sie fragte immer weiter, drängte ihm das geöffnete Bier auf: »In der Nacht gereist? Und den ganzen Tag? In der Hitze?«

Bevor er antworten konnte, lachte sie über die Nahaufnahme eines vom Kreischen verzerrten Kindergesichtes, das von einer Welle erwischt worden war, und er ahnte, dass sie ihm keine echten Fragen stellte, nur höflichkeitshalber vorgab, etwas über ihn erfahren zu wollen, denn zu Wort ließ sie ihn nicht wirklich kommen. Als sie sich einen Joint drehte, bot sie ihn auch ihm an, er lehnte ab. Sie deutete wieder auf ein Foto. Darauf war ein Surfer zu sehen, der ins Wasser gefallen war und sich an seinem an der Meeresoberfläche schwimmenden Segel festhielt. Die Fotografin hatte genau in dem Moment abgedrückt, als er auftauchte und Wasser spuckte.

Noch einmal servierte sie ihm kalten Couscous und Käse und fragte, ob er einen Kaffee dazu wolle. Er nickte.

»Echten Kaffee gibt’s nicht, nur Pulver. Willst du?«

Er schüttelte den Kopf, sie zuckte mit den Schultern: »Dann eben nicht.« Und gleich darauf sagte sie, sie sei müde.

Vor der Haustür standen sie kurz herum, sie redete, er schulterte den Rucksack, sie küsste ihn auf beide Wangen, erklärte ihm den Weg in die Innenstadt, steckte sich dabei eine Zigarette in den Mund und redete nuschelnd weiter darüber, wie er am besten zum Hafenamt käme, wobei sie noch sagte, dass er überall schlafen könnte, denn viele Häuser stünden leer.

Den Weg zur Küstenstraße fand er leicht, dankbar für das Halblicht, das den Morgen ankündigte.

Wo er auch hinsah, saßen Männer auf der Straße – sofort war er sich sicher, dass es die Hafenarbeiter sein mussten, über die so viel in der europäischen Presse geschrieben worden war. Ihre Blicke waren ihm unangenehm, sie sahen ihn mit eingeübtem Gleichmut an und wirkten gebrechlich, waren wahrscheinlich schon pensioniert oder nach jahrzehntelangem Schuften früh gealtert. Er ging an einem Monument vorbei, zu dessen Füßen besonders viele saßen, ein Triumphbogen für die Orienttruppen im Großen Krieg, dahinter der blaue Abgrund, das Meer. Die Männer hockten auf den Bänken unter den steinernen Figuren, die im Morgenlicht wie erstarrte Schatten aussahen, Daniel musste die Augen schließen; vom Blick in die Sonne, die hinter den Dächern hervorkam, wurde ihm schwindelig.

Jetzt nicht schon den ersten Fehler begehen, der dann den nächsten und wieder nächsten nach sich ziehen würde.

Das Gemurmel klang kehlig, tief aus dem Hals hervorgepresst. Zwar sahen die Männer, zumindest empfand er das so, alle gleich aus mit ihrer dunklen Haut, aber im Vorbeigehen merkte er, dass sich hier mehrere Sprachen mischten. Waren das Nordafrikaner, Italiener?, Spanier?, Griechen vielleicht? Sahen in Makrique alle alten Männer so aus? Die Gesichter blieben weiterhin auf ihn gerichtet, sie sahen ihm von den Sitzbänken aus zu, einer deutete mit seinem Spazierstock auf ihn und schüttelte den Kopf. Sie beobachteten ihn, nippten an ihren mitgebrachten Teebechern. Als wären sie einfach sitzen geblieben in ihrem Ruhestand, der vielleicht nicht gerade großartig war, so als Lebensabschnitt, danach kam ja nicht mehr viel, der aber sicher auch viel schlimmer hätte sein können, und außerdem: Das Leben davor konnte auch nicht viel besser gewesen sein. Auf staubigen Autobahn-Baustellen und in Bussen, das Übliche, man kannte das ja, auf Gerüsten und in Kränen, ständig mit dem Ziel, etwas zur Seite zu legen, damit man bald nach Hause zurückkehren konnte, und dann war man dennoch in dem Blech oder Beton der Arbeitersiedlung geblieben. Anfangs das Übermaß an Arbeit, das späte Nachhausekommen, und jetzt das Übermaß an freier Zeit, das Sitzen vor dem Glas Tee, vielleicht ein Domino- oder Kartenspiel, ein Spaziergang entlang der Küstenstraße.

Die Alten waren wirklich überall, und das um diese frühe Uhrzeit schon. Sie wirkten anders als die Uniformierten, die er in der Bar kennengelernt hatte, diese von Alkohol und Witzen aufgeblasenen Kerle, die sich ständig auf die Schultern und den Rücken geschlagen hatten, dabei die weit offen stehenden Münder in ihren Gesichtern. Mit Ausnahme des großen Schwarzen, der nicht getrunken hatte, der ihm diese seltsamen Blicke und Grußgesten zugeworfen hatte und ihn genau so beobachtet hatte wie jetzt die Männer, an denen er vorbeiging.

Da war er wieder, der leichte Verfolgungswahn, der auch schon in ihm hochgestiegen war, als er den Blick des Uniformierten gefühlt hatte. War das nur der Rest von Alkohol in seinem Blut oder die Folge des Schlafmangels?

Vor ihm lag der Stadtstrand, von dem Nat ihm erzählt hatte. Der Weg stimmte zumindest, der Stadtkern konnte also nicht mehr weit sein. Er sprang über das Gerüst und landete im weichen Sand, der bei jedem Schritt nachgab, was ihn beim Gehen ziemlich anstrengte.

Das Meer sah aus der Nähe ruhig aus, es hatte keinen richtigen Schwung, wirkte aber angenehm frisch. Sich hineinwerfen, um den Schmutz von seinem Körper zu waschen? Er konnte sich nicht dazu überwinden, obwohl der Morgenwind warm war, und vergrub die Hände in den Taschen seines Kapuzenpullovers. Der Wind trieb weiße und blaue Plastiksäcke über den Sand, ließ die Türen zu den Umkleidekabinen hin- und herschwenken, bunte Blasen ploppten vor Daniels Augen auf, Kinder im Sand und ihre Eltern, die barfuß umherliefen, Plastikspielzeug und farbige Badehandtücher, aber das verging schnell wieder. Neben dem Sandstrand ragten Felsen aus dem Meeresboden, und darauf war eine Betonformation gesetzt, die an einen Pilz erinnerte, Metalldrähte und aufgerissenes Plastik ragten aus der Platte hervor. Auf der anderen Seite erkannte er die Ruine eines Gebäudes, das zu einem Schwimmklub gehört haben musste, halb abgerissen, mitten in den Renovierungsarbeiten hatte man gestoppt. In Beton eingelassene Glasfronten, auf mehreren Terrassen umgestoßene Liegestühle, die Pools waren lange nicht mehr frisch aufgefüllt oder gereinigt worden, es sammelte sich schimmliger Belag auf den Böden, und in einigen stand dreckiges Regenwasser, das nicht abgeronnen war.

Im Grunde ein schöner Strand. Und doch gab es wahrscheinlich nicht viele Orte, an denen man sich fremder fühlen konnte.

Ob es an ihm lag?

Die allgemeine Verlassenheit erinnerte ihn an die Zollstation und den Kontrollposten, wo er gestern auf dem Weg in die vom Binnenland abgetrennte Stadt aufgehalten worden war. Diese letzte Grenze, die er hatte passieren müssen, war kaum gesichert gewesen, und große Teile des Drahtzaunes waren zerschnitten, man merkte rasch, dass die Grenzanlage aus noch andauernden Konflikten hervorgegangen war, dass sie provisorisch hochgezogen und dann vernachlässigt worden war. Obwohl sie sicher von irgendwelchen Kartographen noch nicht fertig berechnet und endgültig festgelegt worden war, standen da zwei Kontrolleure in Uniform neben einer rot-weiß-gestreiften Schranke vor der Hinweistafel: »You are entering a border area!«, über das jemand den Spruch: »You are leaving our free international area to defend!« gesprüht hatte.

Man hatte ihm abgeraten, sich vom Norden her zu nähern und am Atomzentrum vorbeizugehen, wegen der Polizei, der Feuerwehr und dem Militär. Vom Süden her sei es leichter, da wurden die Stadtgrenzen weniger streng bewacht. Beide waren aber nichts im Vergleich zu den Grenzen zum Mittelmeer hin, die schon durch ihre Erscheinung deutlich machten, dass es ihre Funktion war, die Küstenabschnitte, die man für »sensibel« hielt, komplett abzuriegeln.

Das Meerwasser und der moosige Belag in den Pools riefen ihm mehr und mehr Bilder der letzten Tage ins Gedächtnis. Viele Male war er von Polizisten aufgehalten worden, die sein Gepäck kontrollierten, noch bevor er auch nur in die Nähe der Stadt gekommen war. Niemand hatte aber ernsthaft versucht, ihn von der Einreise abzuhalten, wahrscheinlich, weil er aus dem Landesinneren kam, nicht vom Meer her, und obendrein einen gültigen europäischen Pass hatte. Ein dicker Kontrolleur, der einen gutmütigen Witz machen wollte, hatte zwinkernd auf seinen großen Rucksack gedeutet: »Ihre Geldbörse, nehme ich an?«, und danach beinahe mitleidig geseufzt: »Sind Sie sicher, dass Sie nach Makrique weiterreisen wollen?«

Im Sand steckte eine Spielzeugschaufel, daneben eine kleine Plastikgießkanne. Mit den Füßen schob er sie leicht an, spürte den Sand in seinen Schuhen, die brennende Blase, die aufgeplatzt war und in die das zermahlene Gestein eindrang.

Die Umgebung wirkte durch das sich ausbreitende Licht wie ausgebleicht und beruhigte ihn, denn es passte nicht zu den Eindrücken der letzten Monate, dem ganzen Mischmasch aus offiziellen Empfängen, Besprechungen mit Inlands- und Auslandsgeheimdiensten, gehetzten Verhandlungen und Deklarationspapieren, Hoffnungen auf eine endlich gültige Strategievereinbarung, auf die nächste positive Evaluation oder sonst was. Und hier dagegen diese Sanftheit vor seinen Augen, welch ein Widerspruch.

Warum hatte er »Ja!« gesagt zur vorgeschlagenen Dienstreise? Die vielen entnervten Berater, die Vertreter von Menschenrechts- und Entwicklungshilfebehörden, Beamte, die zu ihnen in die Büros kamen, Fragen stellten, überflüssige Debatten anzettelten, Berichte einforderten oder als Vorschläge getarnte Befehle weitergaben, da begann man sich eben für die Vorgänge zu interessieren.

Als die Idee eines Vernetzungstreffens im Süden Europas in der Sitzung aufgekommen war, hatte er – und zwar als Einziger! – seinem Vorgesetzen erklärt, er habe die nötigen Sprachkenntnisse und das Know-how dafür, nämlich Erfahrung im Umgang mit Kommunikationssoftware für internationale Behörden. Obschon er rasch gemerkt hatte, dass man ihm ohnehin von allen Seiten zunickte, hatte er noch hervorgehoben, die Koordination des Austausches von Feuerwehren und Wasserwachten sei zu Ausbildungszeiten sein Schwerpunkt gewesen und das Wissen über integrierte Datenbanken sowie das Sammeln von Informationen zu technischen Fragen solcher Projekte mittlerweile sein Spezialgebiet. Am Ende bedrängte er den Chef und betonte mehrmals, er sei der Richtige für den Job.

Seine Erinnerungen lösten sich auf, jetzt bemerkte er auch den Uringeruch, den der Wind mit sich trug. Am Strand stehen zu bleiben schien ihm nun doch ein wenig lächerlich, so auf halbem Weg, nur weil der Ausblick schön war. Er musste das Gebäude der Küstenwache finden beziehungsweise das der Schifffahrtsbehörde, oder wie auch immer die Kollegen sich hier nannten. Auf einem Papier hatte er sie als »Kompanie für maritime Sicherheit«, auf einem anderen als »Meeresgendarmerie« gelistet gefunden, gemeint war wohl beide Male dieselbe Freiwilligenbrigade, die sich in der Stadt in den letzten Monaten formiert hatte. Man kam ja mit den vielen Namen ebenso durcheinander wie mit den neuen Gesetzen.

Zurück auf der Küstenstraße verscheuchte er mehrere magere Katzen, die ihn mit gesträubtem Fell anfauchten und den Weg freimachten, um sich, sobald er vorbei war, wieder zusammenzurollen und zu Füßen der Mauer in Schatten zu verwandeln.

Daniel war überrascht, als der Hafen vor ihm lag, leerstehende Imbissbuden, kleine Cafés, Fast-Food-Ketten, auf dem Uferbeton übereinandergestapelte Plastikstühle und Plastiktische, wie ineinander verkrochen; Tische um Tische gruppiert, Stühle um Stühle, als hätten sie sich von ihren früheren Ordnungen zu befreien versucht. Die Vitrinen und Fensterfronten der Bistros, Pubs und Restaurants glitzerten schon in der Morgensonne, überall lag Müll.

Etwas weiter weg sah er eine Festungsanlage, und daneben endlich den ehemaligen Yachtklub, in dem, zumindest seinen vielleicht schon wieder veralteten Informationen nach, die Küstenwache untergebracht sein sollte. Er betrachtete die Boote, schon überfielen ihn weitere Erinnerungen, immer schwerer fiel es ihm, auseinanderzuhalten, was Gegenwart und was Vergangenheit war und was vielleicht schon Bilder im Schlaf. Er hatte das Gefühl, die Stadt in einem computergenerierten Raster zu sehen, als kleinen Punkt darauf sich selbst an diesem Kai, markiert in einem Viereck, auf digitalen Karten, die nur dem Handel und dem Militär bekannt waren.

Das Gebäude schien verlassen, wo waren die Kollegen? Wo waren überhaupt Menschen in dieser Stadt? Die ja im Grunde keine echte Stadt mehr war, sondern genau genommen nur noch ein Grenzstreifen, jedenfalls auf den Landkarten. Lebte niemand mehr hier? In der Presse waren so viele Gerüchte über diesen Ort verbreitet worden, es konnten doch nicht alle Zeitungsartikel so stark übertrieben oder gelogen haben, als sie berichteten, dass es hier zuging wie nirgendwo sonst.

Er ging über einen kleinen Holzsteg, um ins Gebäude zu treten, aber die Tür war verrammelt, deswegen warf er seinen Rucksack in eines der daneben angelegten Boote, stieg danach selbst hinein und wollte sich kurz ausruhen.

Man würde ihn schon nicht verhaften deswegen.

Sofort verhedderte er sich beim Hinlegen in einem Fischernetz, das zum Trocknen ausgelegt war, er spürte die Knoten und kleinen Gewichte in den Schnüren – oder waren es Schwimmer, eingenähte Korkstücke?, jedenfalls zwickten und piksten sie ihn, bohrten sich in seinen Rücken und, als er sich umdrehte, in seinen Bauch. Das Stechen und Scheuern an seinen Wangen, als er den Kopf tiefer in das Netz vergrub, um sein Gesicht vor der Sonne zu verstecken, das Kratzen auf der Haut, der leichte Geruch von Salz und Moder, auch das Morgenlicht, das ihn weiter blendete, obwohl er die Augen geschlossen hatte, das war ihm nun alles schon gleich.

WASSERRINGE

Die Haut des Mannes, der sich über ihn beugte, glänzte in der Sonne. Einige hellere kleine Flecke bildeten Muster auf den dunklen Wangen, vielleicht Narben aus der Kindheit. Nur seine Stirn war frei von Farbschattierungen oder Unreinheiten. Der Gesichtsausdruck war misstrauisch.

»Ich bitte …«, murmelte Daniel auf die Frage, was er da mache, »… bitte Sie sehr, ich will weiterschlafen, ich bitte Sie.«

»Was machst du hier?«, fragte der Mann erneut, und: »Wer bist du?« Der Schatten, den er über Daniel warf, schien riesig, jetzt rüttelte er ihn sogar an den Schultern, und Daniel gab ein flehendes Geräusch von sich. »Please …«, murmelte er, »… please …«, und wiederholte in mehreren Sprachen das Wort »Schlaf!«

Als der andere endlich verstand, dass es sich bei dem Eindringling um einen Ausländer handelte, legte er den Kopf schief, skeptisch, nicht mehr böse, sein Blick wurde weicher. Er blieb aber weiterhin so nah vor ihm stehen, als wolle er ihn nicht aus den Augen lassen. Zwei andere Kerle hüpften ins Boot, sie versuchten, Daniel hochzuziehen und vom Boot zu drängen, aber er wehrte sich, redete auf sie ein, langsam kam er zu sich.

Man wusste nicht Bescheid, sein Kontakt hatte offensichtlich niemanden vorab informiert, keiner wusste von etwas; auch nicht, als er seinen Namen sagte und erklärte, dass er eigentlich schon vor mehreren Tagen hätte eintreffen sollen, dass sich aber seine Abreise ständig verzögert hatte. Er richtete Bestellungen, Grüße, Nachrichten aus und betonte, dass es um Informationsaustausch ging, vielleicht sogar um eine künftige Zusammenarbeit, nannte noch einige Namen, aber das sagte denen alles nichts. Nach dem fruchtlosen Wortwechsel sprangen die zwei wieder an Land.