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Es wird kein "nach der Krise" geben. Sie ist und bleibt präsent. Lyrische Texte zu Selbstvergewisserung und amüsant-bissig erzählte Geschichten aus dem Wahnsinn dieser Tage zeichnen das Bild eines Panoramas von Personen, die versuchen, ihr Dasein in der Pandemie (und darüber hinaus) mehr oder weniger vernünftig zu organisieren. Henner würde das Virus nicht (und überhaupt niemand und nix) an sich heranlassen. Pass bloß auf Du, würde er nur sagen. Ein Ehepaar ergreift die Initiative und probiert Neues, der Mann fällt dabei rein. Oliver möchte die Schule abbrechen und vielleicht bei der Bundeswehr als Corona-Fighter 'sein Ding machen'. Tina würde das vermutlich so kommentieren: Schwachsinn. Ein verspäteter Extrem-Biker übernimmt sich und entdeckt dabei einen umfassenden Angriff auf die sozialen Rechte. Josef Anders ist vereinsamt. Frau Gleich ist vernünftig, die Post ist freundlich. Der ideelle Gesamt-Steuerbürger, alternativlos und systemrelevant, nimmt an der Seite der Verteidigungsministerin an einer Video-Schalte mit dem US-Präsidenten und dem Boeing-Aufsichtsratsvorsitzenden teil, es geht um solidarity und die Anschaffung von neuem Fluggerät für die 'atomare Teilhabe' Deutschlands. Frau Ranke lebt im Altersheim und zieht eine überraschende Bilanz. Der Dicke Mann weigert sich zu verschwinden. Er würde noch viel Spaß haben. Sehr lange. Wie die Politik an der Zeit nach Corona jetzt schon arbeitet, wird in einem Interview geklärt, und wieso das Manöver 'Defender verschoben wurde, klärt Archie Decker auf. Corona-Leugner und Coronagläubige treffen sich auf dem Marktplatz, und die verlorene Ehre eines Kriegsverbrechers wird 75 Jahre nach seiner Hinrichtung erneut inspiziert. Leserin und Leser dieser und anderer spannenden Geschichten werden belohnt mit einem dialektisch konfigurierten Gedicht, in dem das Gefängnis dieser Tage einen Spalt breit geöffnet wird.
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Seitenzahl: 90
Veröffentlichungsjahr: 2020
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ralf schrader:
in diesen
tagen
... wächst das rettende auch
nicht ohne unser dazutun
entschleunigungs-texte
aus dem shut-down
marburg, mai 2020
Inhalt:
1. zustimmungen und fragezeichen. merkposten
2. Tugend der Geduld
3. In diesen Tagen
4. Corona-Fighter
5. Harry (umfassender Angriff). Eine Biker-Geschichte
6. Herr Anders
7. Frau Gleich
8. Solidarity
9. Frau Ranke zieht eine Bilanz
10. Der Dicke Mann
11. Das Interview: „Sind gut aufgestellt“
12. Warum das Manöver nicht stattfand
13. Unterm Müllsack (wieder gelesen und ergänzt am 8. Mai 2020)
14. Toleranz
15. Emma
16. einen spalt breit
Vorbemerkung
Vor dem Beginn dieser Tage, am 22. März, schrieb ich an einen Freund, der in einer Rundmail die Widersprüchlichkeit des Appells an Solidarität durch Isolation voneinander aufgezeigt und die Profitorientierung des Gesundheitswesens angeklagt hatte:
Lieber
...die vollzogenen und mit Sicherheit noch kommenden Maßnahmen sozial- und wirtschaftspolitischer Art tragen das Kainszeichen der undemokratischen Herrschaftsverhältnisse in diesem Land und seines Wirtschaftssystems: Verfügung über Kapital und Produktivvermögen wird nicht angetastet werden, die Großen werden behütet, einige werden in die Pleite gehen, da stellen sich schon die anderen neu auf - nur die Millionen, die gebraucht werden, um den Laden am Laufen zu halten, sollen die Taschen aufmachen. Und sie werden es müssen, wenn nicht eine Menge passiert und die Gewerkschaften wieder staatstragend einknicken. Deshalb sehe ich Deine Klage als einen Impuls, uns gemeinsam klarzuwerden, wie wir die Ziele eines grundlegenden Politikwechsels formulieren und mit wem wir die Diskussion darüber neu organisieren können, wenn wir die Verwüstungen, die uns zweifellos bevorstehen, gemeinsam inspizieren werden. Dabei wird es nicht nur um die Organisation des Gesundheitssystems gehen, sondern auch um den Zugang zu den übrigen notwendigen Gütern und die Lebenschancen der Menschen. Ich hoffe, dass es dann möglich sein kann, aus dem massenhaften Leidensdruck ein solidarisches "vorwärts, nicht vergessen!" zu organisieren, das dem zu erwartenden Gemenge aus Erleichterung, Illusion und Gleichgültigkeit entgegengesetzt werden könnte. Ich versuche, meine Kommunikation etwas zu entschleunigen, was nicht nur mir, sondern auch anderen gut tun wird...
Herzlich,
Wir verabredeten uns danach zu einem speziellen Austausch: Beide haben wir eine Schwäche für die Produktion von Texten. Der Projekttitel könnte der aktuelle Wahnsinn heißen.
in diesen tagen ist der Arbeitstitel für meine Texte.
Ich bin gespannt, ob das Projekt realisiert wird.
Zustimmungen und Fragezeichen.
Merkposten
1.
Der unaufhaltsame strom
mir gehörender tage
bestimmt durch plan & termin
verabredung, ungeduldiges warten
pause und atemschöpfen
ist abrupt versiegt.
Angehalten ist
das vorwärts. Das weiter
hat keine erkennbare richtung
Welche veränderung
wird mir da abverlangt?
Wie werde ich verändert sein?
2.
nun ist es verkündet. die nachrichten
bringen mich auf den stand, tag für tag.
die manchmal hilflosen auskünfte
der männer in weiß beruhigen mich nicht
appelle an die vernunft
scheinen ihre adresse zu finden, immer öfter
aber was ist die vernunft jetzt, was nicht?
besorgnis, aufmerksamkeit. nicht ruhe,
doch auch nicht angst.
Ich beginne mich zu gewöhnen.
ein stabiles hoch liegt über dem
weithin verstummten land.
absolut kein tropfen in sicht.
pause für die regensachen. der rucksack ist leicht.
gut für die stimmung. schlecht für den garten.
für wald und landwirtschaft auch.
3.
Makelloser himmel
stabile wetterlage
ein traum: ja
die leere der stadt
fast autofrei die straßen. die luft
(polaren ursprungs) so frisch.
zeit, in ruhe zeit zu verbrauchen
entschleunigung
genießen. Das sagt sich leicht. Aber
die beunruhigung
über die unsichtbare gefahr
und die jäh sichtbaren einschränkungen.
Sie befolgen müssen.
Kein treffen. Keine einladung.
Das schloss der ladentür abschließen
die klinke der tür nicht anfassen
diesen laden nicht betreten dürfen
die hand desinfizieren
das mittel dafür parat haben
personen ausweichen
mit befremden erkennnen
dass mir ausgewichen wird.
Die freude über den geöffneten supermarkt.
Den menschen
die hier arbeiten
die ich kenne
anerkennung signalisieren.
Der aufmunternde blick der kassiererin.
Die vernünftigkeit
der maßnahmen prüfen
sie schätzen lernen
misstrauen zurückstellen
mit all dem sich arrangieren. Das
ist keine unerträgliche mühsal. Noch.
4.
wer von der arbeit
heim-geschickt ist
tastet sich an neue umstände
heran. Die arbeit ist umgezogen
macht sich in der wohnung breit
konkurriert mit der kinderbetreuung
Jetzt hilft - unfreiwillige option -
der vorgezogene urlaub,
tage die für die reise
gespart waren. Sie
werden schnell
verbraucht sein.
Diese zeit dennoch
auch genießen, so lange sie ist.
Zwei selbstbestimmte wochen
mit den kindern draußen und gartenarbeit
und vorbereitung auf die wochen danach:
mit heim-arbeit & kinderbetreuung
Zugesperrt schule und kita.
Die enge in der wohnung.
Die fragen, wann
es vorbei ist, ohne
eine antwort, die weiterhilft
5.
Sich vorstellen was möglich wäre
das jetzt organisieren
mit den kindern. ausgelassene
unternehmungen
nachholen. Die sachen
gemeinsam packen
für das picknick am bach. oder im wald?
Planen. die utensilien. proviant. das durcheinander.
Den kuschelbär ganz bestimmt nicht vergessen.
Eine höhle zusammenbauen
am rand der lichtung
mit den kindern toben. Die kinder
beruhigen. Es gibt keine
großeltern, keine enkel.
Keinen osterbesuch.
Das alles mit bedacht
einbauen in den tag
ist jetzt schon mühsam, tut weh.
So viel vernünftigkeit
ist schnell verbraucht
irgendwann. Bald.
Improvisieren
so lange es geht.
Wie lange?
6.
bilderbuch-frühling. wer nicht mehr
zur arbeit muss, hätte jetzt zeit
für die wanderung zu zweit. intensive gespräche
für die alte fahrradstrecke. eine neue fahrradstrecke.
spüren, dass die kondition noch vorhanden ist.
daran arbeiten, dass die verschwundene kondition
wieder gewonnen wird.
zeit für ein neues rezept. für ein altes bewährtes rezept
für die grüne soße, den ersten heimischen spargel. zeit
für eine neue lektüre. zeit, dem beiseite gelegten buch
eine zweite chance zu geben. zeit ein buch zu schreiben
zeit, die garage zu entrümpeln. zeit, die garage
noch lange nicht zu entrümpeln zeit, das arbeitszimmer
aufzuräumen. zeit, es auf unbestimmte zeit zu verschieben
usw usw. zeit, lieber noch etwas zu lesen oder zu schreiben
zeit um zu telefonieren mit ... (nur zu, fantasie: es sind viele)
zeit, sich für das ankommende telefonat mehr zeit zu nehmen
in ruhe über die sonderbaren zeiten reden.
7.
befremdlich, stehen bleiben zu müssen am eingang
den kunden abzuwarten der nach erledigung des einkaufs
endlich herauskommt. mit beklommenheit
den supermarkt betreten. vermummte gesichter
und die vielfalt der vermummungs-varianten registrieren
den anderen kunden ausweichen. sich abstand verschaffen
kontaktlosigkeit herstellen. in die freie richtung ausatmen
dem impuls widerstehen, unnötige mengen der benötigten waren zu kaufen
ohne panik wahrnehmen, dass gesuchte artikel zeitweise verschwunden sind
erleichtert registrieren, dass sie wieder verfügbar sind
lernen auf desinfektionsrituale zu achten
vertraut fast befremdlich
8.
die unsicherheit begleitet mich
auf dem weg zum kleinen wochenmarkt.
Ich sehe, die tankfüllung gäbe es jetzt
zum unschlagbar günstigen preis
keine parkplatzsorgen. aber der schrecken
über das verschwinden der demonstrationen
für den frieden, den 1. mai, die zukunft, das recht auf arbeit.
Dennoch geduld leben. keine solidarität mit denen
die das schnelle ende der einschränkungen verlangen!
zeit für gewinn- und verlustrechnungen, für
verstörungen, fremdsein, hysterie, depression.
9.
Wo aber Gefahr ist, wächstDas Rettende auch.
Das mag sein. Wie viel Gefahr aber muss sein,
damit das Rettende eine Chance bekommt?
Welcher Konzern wäre nicht bereit,
die in Aussicht stehenden Milliarden
zu schlucken, ohne zu würgen?
Das Recht, mit miesester billigster Arbeit
fetteste Kohle zu machen für die Wenigen –
wird es in Verruf kommen?
Welchem Rüstungsgeschäft würde jetzt
die Ausfuhrgenehmigung verweigert?
Wer stoppt den Irrsinn
unserer ’nuklearen Teilhabe’ an den Atom-
kriegsvorbereitungen?
Warum wird das wegen der Pandemie
abgebrochene Groß-Manöver
‚Defender’ wieder fortgesetzt?
„Unsere Gemeingüter schützen-
Die Beschäftigten unterstützen“,
sagten die Busplakate zum 1.Mai.
Wertschätzende Worte sind jetzt
oft zu hören. Welcher Druck wird nötig sein
die Entscheider zu erinnern, wenn sie
in wenigen Wochen und Monaten wieder
alternativlose Taten begehen,
um Anlegern die Rendite zu sichern
weil das Geld realer ist
als Sentimentalitäten?
10.
variante
ein sehr demokratisches virus, sagten anfangs einige
es kennt keinen unterscheid, bedroht alle. viele
wollten glauben, mit der krise sei der moment gekommen,
da das gute hervorscheinen werde, selbstlose
zuwendung, herbeiströmende helfende hände
und manche erinnerten an das wort des dichters:
wo aber gefahr ist, wächst
das rettende auch.
war ihnen wenigstens ahnungsvoll bewusst
dass es sich da um ein dialektisches begreifen,
also das unentschieden im streit zwischen
dem triumphierenden und dem unterlegenen,
handelte, anzuwenden also auch
auf das jeweilige gegenteil?
heute, nach acht wochen, in denen die retter
übermenschliches leisteten und die entscheider
gigantische rettungsschirme aufspannen ließen
notiert die zeitung, unter der überschrift
corona macht nicht alle gleich:
das vermögen der 600 reichsten in den USA
wuchs in der zeit vom 18.03 bis zum 19.05.2020
um insgesamt 434 000 000 000 $ (= + 15 %).
zeitgleich verloren fast 39 000 000 menschen dort
ihren job und 98 223 ihr leben.
diese notiz ist aber noch meilenweit entfernt
von einer bilanz. und wem letztlich
das rettende zugute kommt
ist nicht sehr offen.
2. Tugend der Geduld
Er ging zum Kühlschrank und holte sich eine Flasche Knallhütter. Er schenkte sich ein, nicht zu schnell, es war ja Pils, und er begann, den Feierabend zu genießen. „Einfach mal ICH sein“, stand auf dem Etikett. „Gebraut für Nordhessen.“
Heiner, den sie dort, wo er herkam, Henner nannten, war ein friedfertiger Mann.
Gab es Streit, hielt er sich raus. Kam ihm einer blöd, sagte er nur: Pass bloß auf, du! Und schon war der Friede wieder hergestellt.
Eigentlich sagte Henner: Bassplohsuffdu! So hatte er es als Junge, zu Hause waren sie vier gewesen, von seinem Vater gelernt. Gab es Zores, brauchte der Fadder nur Bassuffdu zu sagen, und Ruhe kehrte ein. Kam es schlimmer, hieß es Bassplohsuffdu, und reichte selbst das nicht, deutete der Vater an, dass er den Lederriemen vom Hosenbund ziehen könnte. Der Vater war für friedliche Verhältnisse.
Henner war schon lange im Betrieb. Er war wer. Ihn schob keiner weg. Waren andere aufgeregt, sagte er: In der Ruhe liegt die Kraft. Auf die eigene Kraft konnte er sich verlassen. Haut es dich um, bist du zu schwach, sagte er, wenn er zusah, wie es einer nicht packte.
Mal abwarten, hatte Henner gesagt, als letztes Jahr der Betrieb verkauft wurde und die neuen Investoren angefangen hatten, einen großen Teil der Belegschaft auszusortieren. Sein Job war dann auch gar nicht betroffen. Die wussten schon, was sie an ihm hatten. Als dann die Arbeitszeit erhöht wurde, wäre er beinahe unruhig geworden. Aber er sagte sich: Schön langsam, und das war auch gut so, denn als nächstes musste man damit zurecht kommen, dass der Lohn gekürzt wurde. Da war was los im Betrieb, und wahrhaftig, beinahe wäre ihm der Kragen geplatzt. Aber dann boten sie ihm an, zusätzliche Stunden zu arbeiten. Er nahm an. Henner konnte, wenn nötig, ackern für zwei. Hauptsache, das Geld stimmte. Sie kamen damit aus. Blöd fand er nur, dass auch Leute Geld bekamen, die gar nicht arbeiteten. Für die musste er mit löhnen. Auf die Idee, dass er damit beinahe korrekt die neuen Anteilseigner des Betriebes gemeint haben könnte, kam er nicht.