in diesen tagen... wächst das rettende auch nicht ohne unser dazutun - Ralf Schrader - E-Book

in diesen tagen... wächst das rettende auch nicht ohne unser dazutun E-Book

Ralf Schrader

0,0

Beschreibung

Es wird kein "nach der Krise" geben. Sie ist und bleibt präsent. Lyrische Texte zu Selbstvergewisserung und amüsant-bissig erzählte Geschichten aus dem Wahnsinn dieser Tage zeichnen das Bild eines Panoramas von Personen, die versuchen, ihr Dasein in der Pandemie (und darüber hinaus) mehr oder weniger vernünftig zu organisieren. Henner würde das Virus nicht (und überhaupt niemand und nix) an sich heranlassen. Pass bloß auf Du, würde er nur sagen. Ein Ehepaar ergreift die Initiative und probiert Neues, der Mann fällt dabei rein. Oliver möchte die Schule abbrechen und vielleicht bei der Bundeswehr als Corona-Fighter 'sein Ding machen'. Tina würde das vermutlich so kommentieren: Schwachsinn. Ein verspäteter Extrem-Biker übernimmt sich und entdeckt dabei einen umfassenden Angriff auf die sozialen Rechte. Josef Anders ist vereinsamt. Frau Gleich ist vernünftig, die Post ist freundlich. Der ideelle Gesamt-Steuerbürger, alternativlos und systemrelevant, nimmt an der Seite der Verteidigungsministerin an einer Video-Schalte mit dem US-Präsidenten und dem Boeing-Aufsichtsratsvorsitzenden teil, es geht um solidarity und die Anschaffung von neuem Fluggerät für die 'atomare Teilhabe' Deutschlands. Frau Ranke lebt im Altersheim und zieht eine überraschende Bilanz. Der Dicke Mann weigert sich zu verschwinden. Er würde noch viel Spaß haben. Sehr lange. Wie die Politik an der Zeit nach Corona jetzt schon arbeitet, wird in einem Interview geklärt, und wieso das Manöver 'Defender verschoben wurde, klärt Archie Decker auf. Corona-Leugner und Coronagläubige treffen sich auf dem Marktplatz, und die verlorene Ehre eines Kriegsverbrechers wird 75 Jahre nach seiner Hinrichtung erneut inspiziert. Leserin und Leser dieser und anderer spannenden Geschichten werden belohnt mit einem dialektisch konfigurierten Gedicht, in dem das Gefängnis dieser Tage einen Spalt breit geöffnet wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 90

Veröffentlichungsjahr: 2020

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


ralf schrader:

in diesen

tagen

... wächst das rettende auch

nicht ohne unser dazutun

entschleunigungs-texte

aus dem shut-down

marburg, mai 2020

[email protected]

Inhalt:

1. zustimmungen und fragezeichen. merkposten

2. Tugend der Geduld

3. In diesen Tagen

4. Corona-Fighter

5. Harry (umfassender Angriff). Eine Biker-Geschichte

6. Herr Anders

7. Frau Gleich

8. Solidarity

9. Frau Ranke zieht eine Bilanz

10. Der Dicke Mann

11. Das Interview: „Sind gut aufgestellt“

12. Warum das Manöver nicht stattfand

13. Unterm Müllsack (wieder gelesen und ergänzt am 8. Mai 2020)

14. Toleranz

15. Emma

16. einen spalt breit

Vorbemerkung

Vor dem Beginn dieser Tage, am 22. März, schrieb ich an einen Freund, der in einer Rundmail die Widersprüchlichkeit des Appells an Solidarität durch Isolation voneinander aufgezeigt und die Profitorientierung des Gesundheitswesens angeklagt hatte:

Lieber

...die vollzogenen und mit Sicherheit noch kommenden Maßnahmen sozial- und wirtschaftspolitischer Art tragen das Kainszeichen der undemokratischen Herrschaftsverhältnisse in diesem Land und seines Wirtschaftssystems: Verfügung über Kapital und Produktivvermögen wird nicht angetastet werden, die Großen werden behütet, einige werden in die Pleite gehen, da stellen sich schon die anderen neu auf - nur die Millionen, die gebraucht werden, um den Laden am Laufen zu halten, sollen die Taschen aufmachen. Und sie werden es müssen, wenn nicht eine Menge passiert und die Gewerkschaften wieder staatstragend einknicken. Deshalb sehe ich Deine Klage als einen Impuls, uns gemeinsam klarzuwerden, wie wir die Ziele eines grundlegenden Politikwechsels formulieren und mit wem wir die Diskussion darüber neu organisieren können, wenn wir die Verwüstungen, die uns zweifellos bevorstehen, gemeinsam inspizieren werden. Dabei wird es nicht nur um die Organisation des Gesundheitssystems gehen, sondern auch um den Zugang zu den übrigen notwendigen Gütern und die Lebenschancen der Menschen. Ich hoffe, dass es dann möglich sein kann, aus dem massenhaften Leidensdruck ein solidarisches "vorwärts, nicht vergessen!" zu organisieren, das dem zu erwartenden Gemenge aus Erleichterung, Illusion und Gleichgültigkeit entgegengesetzt werden könnte. Ich versuche, meine Kommunikation etwas zu entschleunigen, was nicht nur mir, sondern auch anderen gut tun wird...

Herzlich,

Wir verabredeten uns danach zu einem speziellen Austausch: Beide haben wir eine Schwäche für die Produktion von Texten. Der Projekttitel könnte der aktuelle Wahnsinn heißen.

in diesen tagen ist der Arbeitstitel für meine Texte.

Ich bin gespannt, ob das Projekt realisiert wird.

Zustimmungen und Fragezeichen.

Merkposten

1.

Der unaufhaltsame strom

mir gehörender tage

bestimmt durch plan & termin

verabredung, ungeduldiges warten

pause und atemschöpfen

ist abrupt versiegt.

Angehalten ist

das vorwärts. Das weiter

hat keine erkennbare richtung

Welche veränderung

wird mir da abverlangt?

Wie werde ich verändert sein?

2.

nun ist es verkündet. die nachrichten

bringen mich auf den stand, tag für tag.

die manchmal hilflosen auskünfte

der männer in weiß beruhigen mich nicht

appelle an die vernunft

scheinen ihre adresse zu finden, immer öfter

aber was ist die vernunft jetzt, was nicht?

besorgnis, aufmerksamkeit. nicht ruhe,

doch auch nicht angst.

Ich beginne mich zu gewöhnen.

ein stabiles hoch liegt über dem

weithin verstummten land.

absolut kein tropfen in sicht.

pause für die regensachen. der rucksack ist leicht.

gut für die stimmung. schlecht für den garten.

für wald und landwirtschaft auch.

3.

Makelloser himmel

stabile wetterlage

ein traum: ja

die leere der stadt

fast autofrei die straßen. die luft

(polaren ursprungs) so frisch.

zeit, in ruhe zeit zu verbrauchen

entschleunigung

genießen. Das sagt sich leicht. Aber

die beunruhigung

über die unsichtbare gefahr

und die jäh sichtbaren einschränkungen.

Sie befolgen müssen.

Kein treffen. Keine einladung.

Das schloss der ladentür abschließen

die klinke der tür nicht anfassen

diesen laden nicht betreten dürfen

die hand desinfizieren

das mittel dafür parat haben

personen ausweichen

mit befremden erkennnen

dass mir ausgewichen wird.

Die freude über den geöffneten supermarkt.

Den menschen

die hier arbeiten

die ich kenne

anerkennung signalisieren.

Der aufmunternde blick der kassiererin.

Die vernünftigkeit

der maßnahmen prüfen

sie schätzen lernen

misstrauen zurückstellen

mit all dem sich arrangieren. Das

ist keine unerträgliche mühsal. Noch.

4.

wer von der arbeit

heim-geschickt ist

tastet sich an neue umstände

heran. Die arbeit ist umgezogen

macht sich in der wohnung breit

konkurriert mit der kinderbetreuung

Jetzt hilft - unfreiwillige option -

der vorgezogene urlaub,

tage die für die reise

gespart waren. Sie

werden schnell

verbraucht sein.

Diese zeit dennoch

auch genießen, so lange sie ist.

Zwei selbstbestimmte wochen

mit den kindern draußen und gartenarbeit

und vorbereitung auf die wochen danach:

mit heim-arbeit & kinderbetreuung

Zugesperrt schule und kita.

Die enge in der wohnung.

Die fragen, wann

es vorbei ist, ohne

eine antwort, die weiterhilft

5.

Sich vorstellen was möglich wäre

das jetzt organisieren

mit den kindern. ausgelassene

unternehmungen

nachholen. Die sachen

gemeinsam packen

für das picknick am bach. oder im wald?

Planen. die utensilien. proviant. das durcheinander.

Den kuschelbär ganz bestimmt nicht vergessen.

Eine höhle zusammenbauen

am rand der lichtung

mit den kindern toben. Die kinder

beruhigen. Es gibt keine

großeltern, keine enkel.

Keinen osterbesuch.

Das alles mit bedacht

einbauen in den tag

ist jetzt schon mühsam, tut weh.

So viel vernünftigkeit

ist schnell verbraucht

irgendwann. Bald.

Improvisieren

so lange es geht.

Wie lange?

6.

bilderbuch-frühling. wer nicht mehr

zur arbeit muss, hätte jetzt zeit

für die wanderung zu zweit. intensive gespräche

für die alte fahrradstrecke. eine neue fahrradstrecke.

spüren, dass die kondition noch vorhanden ist.

daran arbeiten, dass die verschwundene kondition

wieder gewonnen wird.

zeit für ein neues rezept. für ein altes bewährtes rezept

für die grüne soße, den ersten heimischen spargel. zeit

für eine neue lektüre. zeit, dem beiseite gelegten buch

eine zweite chance zu geben. zeit ein buch zu schreiben

zeit, die garage zu entrümpeln. zeit, die garage

noch lange nicht zu entrümpeln zeit, das arbeitszimmer

aufzuräumen. zeit, es auf unbestimmte zeit zu verschieben

usw usw. zeit, lieber noch etwas zu lesen oder zu schreiben

zeit um zu telefonieren mit ... (nur zu, fantasie: es sind viele)

zeit, sich für das ankommende telefonat mehr zeit zu nehmen

in ruhe über die sonderbaren zeiten reden.

7.

befremdlich, stehen bleiben zu müssen am eingang

den kunden abzuwarten der nach erledigung des einkaufs

endlich herauskommt. mit beklommenheit

den supermarkt betreten. vermummte gesichter

und die vielfalt der vermummungs-varianten registrieren

den anderen kunden ausweichen. sich abstand verschaffen

kontaktlosigkeit herstellen. in die freie richtung ausatmen

dem impuls widerstehen, unnötige mengen der benötigten waren zu kaufen

ohne panik wahrnehmen, dass gesuchte artikel zeitweise verschwunden sind

erleichtert registrieren, dass sie wieder verfügbar sind

lernen auf desinfektionsrituale zu achten

vertraut fast befremdlich

8.

die unsicherheit begleitet mich

auf dem weg zum kleinen wochenmarkt.

Ich sehe, die tankfüllung gäbe es jetzt

zum unschlagbar günstigen preis

keine parkplatzsorgen. aber der schrecken

über das verschwinden der demonstrationen

für den frieden, den 1. mai, die zukunft, das recht auf arbeit.

Dennoch geduld leben. keine solidarität mit denen

die das schnelle ende der einschränkungen verlangen!

zeit für gewinn- und verlustrechnungen, für

verstörungen, fremdsein, hysterie, depression.

9.

Wo aber Gefahr ist, wächstDas Rettende auch.

Das mag sein. Wie viel Gefahr aber muss sein,

damit das Rettende eine Chance bekommt?

Welcher Konzern wäre nicht bereit,

die in Aussicht stehenden Milliarden

zu schlucken, ohne zu würgen?

Das Recht, mit miesester billigster Arbeit

fetteste Kohle zu machen für die Wenigen –

wird es in Verruf kommen?

Welchem Rüstungsgeschäft würde jetzt

die Ausfuhrgenehmigung verweigert?

Wer stoppt den Irrsinn

unserer ’nuklearen Teilhabe’ an den Atom-

kriegsvorbereitungen?

Warum wird das wegen der Pandemie

abgebrochene Groß-Manöver

‚Defender’ wieder fortgesetzt?

„Unsere Gemeingüter schützen-

Die Beschäftigten unterstützen“,

sagten die Busplakate zum 1.Mai.

Wertschätzende Worte sind jetzt

oft zu hören. Welcher Druck wird nötig sein

die Entscheider zu erinnern, wenn sie

in wenigen Wochen und Monaten wieder

alternativlose Taten begehen,

um Anlegern die Rendite zu sichern

weil das Geld realer ist

als Sentimentalitäten?

10.

variante

ein sehr demokratisches virus, sagten anfangs einige

es kennt keinen unterscheid, bedroht alle. viele

wollten glauben, mit der krise sei der moment gekommen,

da das gute hervorscheinen werde, selbstlose

zuwendung, herbeiströmende helfende hände

und manche erinnerten an das wort des dichters:

wo aber gefahr ist, wächst

das rettende auch.

war ihnen wenigstens ahnungsvoll bewusst

dass es sich da um ein dialektisches begreifen,

also das unentschieden im streit zwischen

dem triumphierenden und dem unterlegenen,

handelte, anzuwenden also auch

auf das jeweilige gegenteil?

heute, nach acht wochen, in denen die retter

übermenschliches leisteten und die entscheider

gigantische rettungsschirme aufspannen ließen

notiert die zeitung, unter der überschrift

corona macht nicht alle gleich:

das vermögen der 600 reichsten in den USA

wuchs in der zeit vom 18.03 bis zum 19.05.2020

um insgesamt 434 000 000 000 $ (= + 15 %).

zeitgleich verloren fast 39 000 000 menschen dort

ihren job und 98 223 ihr leben.

diese notiz ist aber noch meilenweit entfernt

von einer bilanz. und wem letztlich

das rettende zugute kommt

ist nicht sehr offen.

2. Tugend der Geduld

Er ging zum Kühlschrank und holte sich eine Flasche Knallhütter. Er schenkte sich ein, nicht zu schnell, es war ja Pils, und er begann, den Feierabend zu genießen. „Einfach mal ICH sein“, stand auf dem Etikett. „Gebraut für Nordhessen.“

Heiner, den sie dort, wo er herkam, Henner nannten, war ein friedfertiger Mann.

Gab es Streit, hielt er sich raus. Kam ihm einer blöd, sagte er nur: Pass bloß auf, du! Und schon war der Friede wieder hergestellt.

Eigentlich sagte Henner: Bassplohsuffdu! So hatte er es als Junge, zu Hause waren sie vier gewesen, von seinem Vater gelernt. Gab es Zores, brauchte der Fadder nur Bassuffdu zu sagen, und Ruhe kehrte ein. Kam es schlimmer, hieß es Bassplohsuffdu, und reichte selbst das nicht, deutete der Vater an, dass er den Lederriemen vom Hosenbund ziehen könnte. Der Vater war für friedliche Verhältnisse.

Henner war schon lange im Betrieb. Er war wer. Ihn schob keiner weg. Waren andere aufgeregt, sagte er: In der Ruhe liegt die Kraft.
Auf die eigene Kraft konnte er sich verlassen. Haut es dich um, bist du zu schwach, sagte er, wenn er zusah, wie es einer nicht packte.

Mal abwarten, hatte Henner gesagt, als letztes Jahr der Betrieb verkauft wurde und die neuen Investoren angefangen hatten, einen großen Teil der Belegschaft auszusortieren. Sein Job war dann auch gar nicht betroffen. Die wussten schon, was sie an ihm hatten. Als dann die Arbeitszeit erhöht wurde, wäre er beinahe unruhig geworden. Aber er sagte sich: Schön langsam, und das war auch gut so, denn als nächstes musste man damit zurecht kommen, dass der Lohn gekürzt wurde. Da war was los im Betrieb, und wahrhaftig, beinahe wäre ihm der Kragen geplatzt. Aber dann boten sie ihm an, zusätzliche Stunden zu arbeiten. Er nahm an. Henner konnte, wenn nötig, ackern für zwei. Hauptsache, das Geld stimmte. Sie kamen damit aus. Blöd fand er nur, dass auch Leute Geld bekamen, die gar nicht arbeiteten. Für die musste er mit löhnen. Auf die Idee, dass er damit beinahe korrekt die neuen Anteilseigner des Betriebes gemeint haben könnte, kam er nicht.