In Teuffels Küche - Eva Klingler - E-Book

In Teuffels Küche E-Book

Eva Klingler

4,9

  • Herausgeber: Silberburg
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Karlsruhe: Die altjüngferliche Paulina Teuffel, Angestellte der Evangelischen Kirchengebäudeverwaltung, ist mit 57 in Rente gegangen. Jetzt will sie ihr Leben ruhig und in geordneten Bahnen genießen. Da meldet sich plötzlich der Geist ihrer längst verstorbenen Oma - und die stellt sich als kratzbürstige Femme fatale heraus, die einst mit ihrem Liebhaber auf dem Weg nach Paris auf spektakuläre Weise ums Leben kam. Oma mischt nun nicht nur Paulinas trübes Liebesleben auf, sondern sorgt dafür - bis vor kurzem undenkbar -, dass sie zur Agentin für Kleinkünstler wie Clowns und Zauberer sowie für Schriftsteller avanciert. Und der Gipfel: Paulina soll endlich ihre insgeheim gehegte, aber lange verdrängte Leidenschaft für Kriminalgeschichten ausleben und einen Mord aufklären. Der passiert tatsächlich bald danach in Baden-Baden. Ausgerechnet eine von Paulinas Künstlerinnen wird der Tat bezichtigt. Paulina Teuffel besinnt sich auf die Tricks und Kniffe von Miss Marple und versucht mit Omas Hilfe, die Unschuld ihres Schützlings zu beweisen.

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Seitenzahl: 362

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Eva KlinglerIn Teuffels Küche

Eva Klingler

In Teuffels Küche

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Eva Klingler, geboren in Gießen. Sie studierte in Mannheim Germanistik und Anglistik, absolvierte ein Volontariat beim SWR und arbeitete als Lehrerin, Journalistin und Bibliotheksleiterin. Sie hat über zwanzig Romane, Krimis sowie Satiren in verschiedenen Verlagen veröffentlicht. Heute lebt sie als Autorin und Dozentin mit ihrem Mann in Karlsruhe und Sélestat.www.evaklinglerkrimis.de

1. Auflage 2015

© 2015 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © olly – Fotolia.comDruck: CPI books, Leck.Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1668-7E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1669-4Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1399-0

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Inhalt

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. In der Nacht auf den 14. Juni

Karlsruhe. Paulina. 14. Juni. Vormittags

Karlsruhe. Paulina. Ein halbes Jahr zuvor im Januar. Vormittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Vormittags

Karlsruhe. Paulina. Im Februar. Nachmittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Vormittags

Karlsruhe. Paulina. Im Februar. Nachmittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Vormittags

Karlsruhe. Paulina. Im Februar. Nachmittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Vormittags

Karlsruhe. Paulina. Im Februar. Nachmittags

Baden-Baden, Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Vormittags

Karlsruhe. Paulina. Im Februar. Nachmittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Früher Nachmittag

Karlsruhe. Paulina. Im Februar. Vormittags

Baden-Baden, Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Früher Nachmittag

Karlsruhe. Paulina. Im Februar. Vormittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Früher Nachmittag

Karlsruhe. Paulina. Im Februar. Nachmittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Nachmittags

Karlsruhe. Paulina. Im Februar. Nachmittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Nachmittags

Karlsruhe. Paulina. Im Februar. Nachmittags

Karlsruhe. Evangelische Gebäudeverwaltung. Anfang März. Vormittags

Karlsruhe. Paulina. Im März. Nachmittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Nachmittags

Karlsruhe. Paulina. Im März. Nachmittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Nachmittags

Karlsruhe. Paulina. Im März. Vormittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Später Nachmittag

Karlsruhe. Paulina. Im März. Nachmittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Später Nachmittag

Karlsruhe. Paulina. Im April. Abends

Rastatt. Das Hinterzimmer eines Spielsalons. Im April. Abends

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Früher Abend

Karlsruhe. Paulina. Im April. Nachmittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13. Juni. Abends

Karlsruhe. Paulina. Im Mai. Vormittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13./14. Juni. Nachts

Karlsruhe. Paulina. 10. Juni. Nachmittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 13./14. Juni. Nachts

Karlsruhe. Paulina. 14. Juni. Vormittags

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 14. Juni. Vormittags

Karlsruhe. Paulina. 14. Juni. Abends

Karlsruhe. Paulina. 15. Juni. Vormittags

Karlsruhe. Paulina. 15. Juni. Am späten Abend

Karlsruhe. Paulina. 16. Juni. Vormittags

Baden-Baden. Pfarramt Johanneskirche. 17. Juni. Vormittags

Karlsruhe. Paulina. 17. Juni. Nachmittags

Karlsruhe. Paulina. 18. Juni. Abends

Baden-Baden. Steigenberger Hotel. 19. Juni. Nachmittags

Karlsruhe. Paulina. 21. Juni. Nachmittags

Karlsruhe. Paulina. 26. Juni. Vormittags

Karlsruhe. Paulina. 27. Juni. Vormittags

Karlsruhe. Paulina. 28. Juni. Nachmittags

Karlsruhe. Paulina. 29. Juni. Später Nachmittag

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff. 30. Juni. Früher Nachmittag

Epilog

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Baden-Baden. Villa Freylingsdorff.In der Nacht auf den 14. Juni

Du hast gerade einen Menschen ermordet.

Nicht etwa einen Fremden, sondern jemanden, den du gut gekannt hast. Nichts im Leben bereitet dich auf diese Situation vor.

Du stehst da, das schwere Messer mit seinem massiven Holzgriff steckt noch in der Leiche. Es sieht grauenhaft aus. Da ist ja noch gar kein Blut. Warum ist da kein Blut? Kommt das noch?

Deine Gedanken rasen. Doch, da rinnt jetzt langsam etwas an der Seite heraus, an den Rändern der funkelnden Schneide des Messers. Wird dieser Körper am Ende ganz auslaufen? Du zitterst noch vor echter Wut und doch fühlt sich das Geschehen so seltsam irreal an, als ob du eine Figur in einem Kriminalfilm wärst.

Du blickst ungläubig auf eine Leiche, die gerade eben noch ein lebendes, fühlendes Wesen gewesen war und jetzt nur noch ein lebloser Haufen Gewebe ist.

Wie schnell das geht! Erstaunlich. Gut, dass du das jetzt weißt. Gerade eben konnte die Person noch sprechen, konnte keck ihr eigenes Todesurteil verkünden, jetzt ist sie schon stumm.

Welch winzig kleiner Schritt vom Diesseits zum Jenseits. Nie ist dir das so klar geworden wie jetzt.

Doch du musst das Messer abwischen. Keine Spuren. Du siehst dich hektisch um. Es ist ruhig. Niemand da. Taschentuch herausholen. Säuberlich abwischen. Keine schöne Arbeit, denn es ragt steil aus dem Körper und blitzt im Mondschein, der durch das Fenster fällt. Jetzt gilt es genau zu arbeiten. Dein eigener Herzschlag ist so laut wie zwei Presslufthämmer, den muss man doch weithin hören, doch es ist ganz ruhig im Haus. Alle schlafen.

Draußen vom Garten ein paar Käuzchen. Und das gewisse Vögelchen zwitschert. Dem muss man jetzt die Luft abdrehen.

Das Opfer hingegen ist still gestorben, als sehe es selbst ein, dass seine Tat ohne Zögern mit dem Tod bestraft werden musste.

Hättest du länger darüber nachgedacht und ihm Gelegenheit gegeben, sich zu rechtfertigen, wäre es vielleicht mit dem Leben davongekommen.

Es ist schwieriger, einen Menschen umzubringen, nachdem Todesangst und Flehen Zeit hatten, sich in den Augen einzunisten.

Nichts, was die Gerichtsmedizin untersuchen könnte, wird an dem Griff des Messers übrig bleiben. Natürlich wirst du es nicht mehr berühren. Keine Spuren hinterlassen.

Vom Garten her weht ein frischer würziger Wind. Die Katze raschelt leise im frühsommerlich üppigen Gebüsch, das so typisch ist für das mediterrane Klima in Baden-Baden.

Du bist jetzt fertig. Wirfst keinen Blick mehr auf das wie geschrumpft daliegende Opfer. Es sieht nicht gut aus, wie ihm der Mund offen steht und die Augen so starr an die Decke gerichtet sind.

Du hörst jetzt doch ein Geräusch vom Flur. Da kommt jemand. Ziehst die Tür zur Kammer zu. Kauerst still neben der Leiche. Wartest. Riskierst einen kleinen Blick in die Küche. Du grinst, als du siehst, wer da hereinschwankt.

Wer sagt’s denn? Da lässt sich doch was machen. Vielleicht ein netter Zufall. Die wird nichts merken.

Als es wieder ruhig ist, verlässt du den Tatort, schleichst nach oben, horchst und tust, was zu tun ist.

Mitleid fühlst du nicht.

Das hast du alles raffiniert gelöst. Du bist sowieso gerissen. Kannst dich verstellen. Kannst jede Rolle spielen. Keiner wird etwas merken. Keiner wird dich verdächtigen.

Du bist nämlich die unverdächtigste Person von allen.

Karlsruhe. Paulina.14. Juni. Vormittags

Das Telefon läutete um acht bei Paulina Teuffel. Sehr früh, zu früh.

In letzter Zeit hatte sie sich ganz gegen ihre jahrzehntelange Routine angewöhnt, etwas länger zu schlafen.

Neben ihrem Bett, nicht sauber gerahmt, nur so hingepinnt, hing einer der Sprüche ihrer Großmutter: »Der frühe Vogel kann mich mal!«

Für diese lapidare Weisheit hatte Mamas frommes, sauber in Eichenholz gerahmtes Dürerhäschen Platz machen müssen. Nicht auszudenken, was die feine Aurelia, geborene Ackermann, dazu gesagt hätte.

Heute Nacht hatte Paulina außerdem einen recht angenehmen Traum durchlebt, den man mit etwas Fantasie als erotisch bezeichnen konnte. Dies war noch niemals vorgekommen und war eindeutig ebenfalls auf Omas unheiliges Wirken zurückzuführen.

In dem besagten Traum lag sie kichernd am Strand, in einem sehr knappen Bikini, und ein Typ mit Strohhut knabberte an ihren Zehen. Der Traum endete exakt an dieser Stelle, weil Paulina nicht genau wusste, wie es weitergehen sollte. Vor allem hatte sie das Gesicht unter dem Hut nicht erkannt, was allerlei frivole Möglichkeiten offenließ.

Paulina sah auf die Uhr. Kurz nach acht.

Auf dem Weg zum Telefon blickte sie rasch in den Spiegel im Gang, der ihr jahrzehntelang eine ordentliche Frau im korrekten Kostüm gezeigt hatte. Heute Morgen warf er das Bild einer ungeduschten und zerstrubbelten Person im halb geschlossenen Morgenrock zurück, die wie ein zerrupfter Vogel aussah.

Gähnend hob sie den Hörer ab und meldete sich unvollständiger, als es sonst ihre Art war: »Hallo?«

»Chefin?«

Paulina wurde mit einem Schlag wach und ließ sich auf das brokatbespannte Telefonbänkchen, ein weiteres Überbleibsel von Mamas Möbeln, fallen. Das Ding, so hatte Oma befunden, war derart spießig, dass es schon wieder schön war.

»Patrick? Warum rufst du so früh an? Ihr habt doch bei den Auftraggebern übernachtet. Ist alles gut gegangen mit der Veranstaltung? Waren die Kunden zufrieden?«

Verlegenes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Paulina seufzte, nahm das Telefon mit ins Schlafzimmer zurück, setzte sich auf die Kante ihres Einzelbettes und zog die blau-weiß karierte Bettdecke über ihre Beine. Offenbar war etwas schiefgegangen mit der Lesung.

»Nicht so ganz, Chefin. Es ist da was Dummes passiert. Ich muss auch gleich gehen. Sie wollen nämlich auch mit mir reden.«

»Was denn? Wer will mit dir reden? Hat Viola nicht gut gelesen oder kam der Text nicht an?«

»Doch, doch, sie hat prima gelesen, und dann gab es noch ein Mitternachtsbüfett und es wurde ein bisschen was getrunken und der Hausherr und ich haben eine Runde Darts gespielt, aber ich hab ihn absichtlich gewinnen lassen, denn wir wollten ja unsere Gage und ich dachte, vielleicht legt er noch was drauf, wenn er gut gelaunt ist. Ist ein ehrgeiziger Typ, aber nett und naja …«

Patricks Stimme hörte sich an, als habe er nicht nur ein bisschen was getrunken.

Paulina richtete sich auf. »Patrick, wie viel war ein bisschen getrunken?«

»Bisschen viel!«

Im Vertrag stand, dass Paulinas Kleinkünstler während ihres Auftrittes keinen Alkohol konsumieren durften. Das war notwendig geworden, nachdem kürzlich einer ihrer Jongleure sturzbetrunken von der Bühne gefallen war. Direkt ins Dekolleté der mehr als 80-jährigen Jubilarin.

»Ja, und?«

»Naja, jedenfalls sind jetzt die Bullen vor Ort.«

»Polizei? Was denn für eine Polizei? Wieso denn das? Waren Drogen im Spiel?«

»Die Kriminalpolizei und, hm, Chefin, Sie werden das nicht gerne hören …«

Paulina verdrehte die Augen. »Für Ratespiele ist es zu früh, Patrick. Was ist passiert?«

»Viola ist in Unterschungshaft. Sie wird gerade vernommen.«

»Um Himmels willen. Wegen was denn?«

»Es ist was mit der Gastgeberin.«

»Was?«

»Man verdächtigt sie, Frau … wie heißt sie noch … Freilingshauser …«

»Freylingsdorff, Patrick. Vielleicht merkst du dir mal die Namen deiner Auftraggeber so genau wie die der Mädchen, mit denen du ins Bett gehst.«

»Die merk ich mir auch nicht immer, Fifty. Nur, wenn sie mehr als zweimal drinliegen. Also, Viola wird verdächtigt, einen Mord begangen zu haben.«

»Beweg dich nicht von der Stelle, Patrick. Ich komme so schnell wie möglich.«

Paulina Teuffel war eigentlich eine bedächtige, vorsichtige und langsame Autofahrerin, die von denen gehasst wurde, die hinter ihr mit exakt Tempo 30 durch eine 30er-Zone gondeln mussten. Vor allem, als sie noch den kleinen Dienstwagen der Evangelischen Gebäudeverwaltung Nordbaden gefahren hatte, um ihren Kindergärten Besuche abstatten zu können, pflegte sie schon meterweit vor jedem Fußgängerübergang anzuhalten und höflich zu warten, bis auch die letzte Passantin über die Straße gekrochen war.

»Wir sind immer im Dienst«, hatte sie den jungen Kolleginnen gern verkündet. »Und als Mitarbeiter der Kirche haben wir eine gewisse Vorbildfunktion.«

Die jungen Dinger, die viele Jahre nach ihr im Büro angefangen hatten, verdrehten dann genervt die Augen und selbst der Chef, Herr Stefani, schien wenig beeindruckt von dem Pflichtbewusstsein seiner Abteilungsleiterin vom »Bereich Betreuungseinrichtungen, Abteilung Vorschulkinder«.

Diese Art von späten Mädchen in hochwertigen und korrekten Büro-Kostümchen und mit gezähmtem, praktisch kurz geschnittenem Haar sowie nur einem Hauch von dezentem teurem Make-up starb allmählich aus, sprich, sie ging in Rente; wenn man Glück hatte, als Chefin sogar in Frührente, so wie diese Paulina Teuffel jetzt eben auch.

Doch heute Morgen war alles anders.

Paulina raste gerade mit fast überhöhter Geschwindigkeit auf der B 36 in Richtung Baden-Baden. Es kam ihr zugute, dass Sonntag war, also die baustellenträchtigen Ausfallstraßen des ständig am Verkehrskollaps entlanghangelnden Karlsruhe nicht von Lastwagen verstopft waren.

An sich keine Freundin von Schmuck, trug Paulina lediglich einen Karneolring, ein schlichtes Familienerbstück aus der von ihr bevorzugten Ackermann-Linie, und der schnitt ihr jetzt schmerzhaft ins Fleisch, so heftig umklammerte sie das Lenkrad.

Sie passierte Ettlingen. Und landete prompt nun doch in einem Stau.

Ein Wohnmobil lag quer auf der Straße und blockierte beide Spuren. Mehrere Kinder und ein Hund tobten drumherum. Offenbar war niemand verletzt.

Paulinas Herz pochte. Hier würde es vorläufig nicht weitergehen. Keine Ausweichmöglichkeit. Hinter ihr bildete sich eine unzufriedene und hupende Autoschlange. Ellbogen ragten resigniert aus den Fensterscheiben, Finger schnippten nervös Asche auf den Boden. Aus den hinteren Fenstern blickten wahlweise Kinder- oder Hundegesichter.

Ein Mann stieg aus dem Auto vor ihr aus, marschierte zur Unfallstelle, diskutierte mit einem Beamten, gestikulierte wild, schimpfte, schüttelte den Kopf, lief zu seinem Auto zurück und rief den Wagen hinter ihm zu: »Das kann dauern. Halbe Stunde mindestens.«

Paulina stöhnte.

Einige Autofahrer drehten mit aggressiven, ruckartigen Lenkbewegungen um.

Paulina verharrte schockstarr, wo sie war. Erstens war Wenden hier verboten und sie hielt sich aus alter Gewohnheit an die Gesetze und zweitens würde das Zurückfahren genauso viel Zeit kosten.

Sie stellte das Radio an. »You raise me up to more than I can be!«

Schönes Lied, wo hatte sie es nur schon einmal gehört? Und wer hatte ihr nur gesagt, es bedeute etwas? Doch es störte jetzt ihre Gedanken. Sie drehte das Radio ab.

Also blieb ihr nichts übrig, als in dem stillen Auto sitzen zu bleiben, ihren Gedanken und Erinnerungen schutzlos ausgeliefert.

Die von ihr vermittelte Autorin Viola Teiss verhaftet wegen Mordes. Ausgerechnet Viola! Dieser winzig kleine Bauerntrampel aus dem Schwarzwald schrieb Geschichten über Morde, aber sie verübte doch keine! Das war unvorstellbar.

Wie hatte sie, Paulina Teuffel, 57 Jahre alt, frischgebackene Frührentnerin, nicht verheiratet, keine Kinder, keine Laster und keine Schulden, Sammlerin von historischen Teddybären und einst unbescholtene Bewohnerin einer ruhigen, gepflegten Vierzimmerwohnung im gehobenen Musikerviertel der Stadt Karlsruhe, überhaupt in eine solche Situation geraten können?

Oh, man musste nicht lange nachdenken, wer wirklich schuld war an ihrem Dilemma.

»Oma!«

»Paulina, das konnte ich auch nicht wissen. Es hieß bekanntlich nur, ich soll dir zur Seite stehen, denn es würde endlich in deinem Leben etwas Spannendes passieren. Und da ich immer für spannende Sachen zu haben war, habe ich gesagt, Boss, das mach ich.«

»Boss? Sprichst du etwa so von Gott?«

»Ich möchte da nicht ins Detail gehen, Paulina. Aber ich hatte bei dieser Viola von Anfang an kein gutes Gefühl. In diesen kleinen Menschen, die immer übersehen werden, steckt oft viel Frustration und deshalb viel Energie. Meine Eltern kannten eine ausgediente Zwergin vom Varieté, Mama hat ihr in den schlechten Zeiten manchmal einen Liter Sauermilch zugesteckt, die hat in der ganzen Nachbarschaft geklaut wie ein Rabe. Die kam ja auch beinahe unter jedem Türspalt durch.«

»Oma, deine Weisheiten hören sich immer wunderbar an, aber schau, was daraus geworden ist. Mord und Totschlag. Was hatte ich nur für ein ruhiges Leben, bevor du aufgetaucht bist!«

»Kind, wir wissen doch längst, dass Krimis deine heimliche Leidenschaft sind. Bewunderst, genau wie ich, die gute alte Miss Marple und ihren Scharfsinn. Ich hab’s aber schon hinter mir. Ich durfte sie spielen und habe mehr als hundert Mal den Mörder entlarvt, damals auf der Bühne. Jetzt bist du dran. Und das auch noch in Wirklichkeit. Wenn das mal nicht endlich eine Leidenschaft ist, die man ausleben kann!«

»Du und deine ewigen Leidenschaften. Das ewig kann man bei dir wörtlich nehmen.«

»Paulina, ohne mich würdest du nach wie vor mit deinen langweiligen Freundinnen ins Museum gehen und abends mit sittsam nebeneinandergestellten Beinen dem Leben anderer Leute im Fernsehen zugucken.«

Oma und ihre verdammte Lebenslust.

Und Paulina, an diesem 14. Juni festgenagelt in ihrem Auto auf dem Weg nach Baden-Baden, dachte zurück an den Tag am Karlsruher Hauptbahnhof vor einem halben Jahr, als alles begonnen hatte, ihr Leben einen Purzelbaum schlug und, anstatt sich wieder in Normalposition zu begeben, einfach auf dem Kopf stehen blieb …

Karlsruhe. Paulina.Ein halbes Jahr zuvor im Januar. Vormittags

Klick. Paulina Teuffel starrte aufmerksam und unbewegt wie ein Kaninchen in den umrandeten Kreis in der Fotokabine im Karlsruher Hauptbahnhof. Passte ihren Scheitel, wie vom Gerät befohlen, krampfhaft der gemalten Scheitellinie an und bemühte sich, ja nicht zu blinzeln. Blinzelte dann aber doch, weil sie sich eben zu sehr bemühte. Klick. Klick. Klick.

Der Automat verabschiedete Paulina und bat sie, draußen auf die Fotos zu warten. Paulina, ordentlich erzogen, gesetzestreu und gottesfürchtig, tat, wie man es ihr sagte, und verließ die Kabine.

Im Inneren des Automaten erönte ein Gebläse wie das einer Boeing. Zumindest vermutete Paulina, dass es sich wie bei einer Boeing anhörte, denn sie war noch nie geflogen. Fliegen bedeutete, sich einem fremden Mann anzuvertrauen, und das hatte sie das letzte Mal vor etwa dreißig Jahren getan, als sie geheiratet hatte. Und schon damals war es ein kapitaler Fehler gewesen.

Paulina war keine Frau, die Fehler zweimal machte. Sie war gründlich und überlegt, hatte ganz gerne die Dinge unter Kontrolle. Auch die Dinge, die ihr jetzt noch zustoßen könnten – auf dem Weg in ein hoffentlich friedliches Alter und eine sichere Rentenzeit – hatte sie minutiös vorausberechnet. Versicherungen waren abgeschlossen. Kontrolltermine beim Arzt vereinbart. Ein ausreichend großes Sparbuch für Reparaturen und Autokauf existierte. Ein langfristiger Mietvertrag gewährte Sicherheit. Ein kleiner, überschaubarer Freundinnenkreis von gewissem Niveau schenkte Geborgenheit.

Nein, nein, die Zeit, die vor ihr lag, barg keine Überraschungen, und das war gut so.

Woher hätte Paulina auch wissen sollen, dass die Karten des Schicksals von einer gut gelaunten, aber etwas chaotischen Kartengeberin namens Schicksal gerade eben ganz neu gemischt wurden? Und dass gerade jetzt im nicht allzu fernen Baden-Baden jemand eifrig und triumphierend ein paar Worte schrieb und damit kerzengerade den Weg zur Unterzeichnung seines Todesurteils beschritt? Und dass eine weitere Person zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass sie morden würde, aber auf jeden Fall danach damit rechnete, ungeschoren davonzukommen?

Und dass sie, Paulina Teuffel, von ebenjener Madame Schicksal genau dort hingeschickt wurde, wo sich Mörder und Opfer begegnen sollten …

Am Karlsruher Hauptbahnhof herrschte das übliche lebhafte Treiben. Eilige Menschen strömten von den Bahnsteigen in die Halle und von dort auf den Vorplatz mit Blick auf das schöne, klassische Ensemble von Stadtgarten und Zoo. Wieder andere, Grüppchen, Paare, auch einzelne Reisende, hasteten vom Hintereingang zu ihrem Zug nach Mannheim, in die nahe Pfalz oder nach Südbaden. Gerade noch geschafft! Kinder heulten, weil sie von erwachsenen Händen grob hinterhergezerrt wurden, die Räder von Koffern knirschten auf dem Boden, Rudel von jungen Mädchen mit Primark-Einkaufstüten kehrten zurück in die Provinz. Keiner von ihnen beachtete die Frau mittleren Alters, die geduldig vor dem Fotoautomaten wartete.

Die Bilder kamen schließlich sich ringelnd und unangenehm nach Chemie riechend aus der Luke unten an dem Automaten. Paulina nahm sie vorsichtig heraus, blies sie trocken und betrachtete sich selbst leidenschaftslos: Dunkelbraunes dichtes Haar, kurz geschnitten, da es sich sonst immer unbotmäßig locken wollte. Blaue Augen mit grauen Wimpern. Zarte Stupsnase. Gerade, kleine Zähne und ein voller Mund. Leicht gebräunte, aber noch fast faltenlose Haut. Nicht hässlich. Seriös. Altersgemäß. Eine sympathische, unauffällige Frührentnerin.

»Was meinst du zu meinem Bild, Oma? Sehe ich nicht ordentlich aus?«

Paulina hatte ihre Großmutter nicht gekannt. Sie war vor mehr als fünfzig Jahren im Urlaub gestorben. In der Sommerfrische, wie das damals hieß.

Obwohl es ihr nicht ausdrücklich gesagt wurde, hatte Paulina immer angenommen, das Unglück sei in Bayern oder an einem Ort wie dem Wörthersee passiert. Jedenfalls irgendwo da, wo nette reife Damen der besseren Gesellschaft zu Beginn des organisierten Tourismus in den 50er Jahren gerne hinfuhren.

Paulina besaß nur ein einziges Bild, ein Schwarzweiß-Foto, von ihrer Großmutter väterlicherseits, und beim Betrachten hatte sie empfunden, dass sie ihr ein bisschen ähnlich sah. Die Gestalt auf dem Bild hatte ebenfalls feine Züge und braune Locken sowie lebhafte Augen und die gleiche Stupsnase wie Paulina, auch wenn die von Oma noch einen Hauch stupsiger aussah, was vielleicht an den Sommersprossen lag, die sie zahlreich zierten.

Mama hatte immer durchklingen lassen, ihre Schwiegermutter sei an ihrem Tod selbst schuld gewesen, und zwar mit den kryptischen Worten: »Nun ja, eine ältere Frau tut solche Dinge eben nicht. Gut, dass dein Vater nach deinem Opa kommt, der ein braver Mann war und keine solchen verrückten Ideen hatte.«

»Was für solche Dinge?«

Sanftes, aber bestimmtes Kopfschütteln. Genaueres hatte man dem Kind nicht sagen wollen, um es nicht zu verstören.

Mama ihrerseits entstammte einer sehr vornehmen badischen Familie, die seit Jahrhunderten in Karlsruhe ansässig war. Ihre Vorfahren hatten samt und sonders am Hof des Großherzogs als Berater und Finanzleute gedient und stets in ihrem Dunstkreis gewohnt und gelebt. Von Kanzlisten im Hofzahlamt hatten sie es zu Kanzlisten im Hofrechnungsamt gebracht und die Laufbahn des letzten monarchistischen Ackermanns hatte in der Position des Hofkammerrates gegipfelt.

»Wir, die Ackermanns, sind empfangen worden.«

Noch bis in ihre späten Jahre hatte Paulinas Mutter Aurelia den 22. November als Trauertag begangen, denn an diesem Tag im Jahr 1918 hatte Großherzog Friedrich II. abgedankt und Baden war bedauerlicherweise Republik geworden.

Aurelias Vater, Paulinas Großvater, war Bankbeamter in einer feinen Privatbank gewesen. Ein etwas abgelegenerer Teil der Familie hatte sogar ein »von« vor dem Ackermann und wohnte bei Baden-Baden.

»In Baden-Baden«, so Mutter zu Tochter, »endet ein feines Leben auf kultivierte Weise! Merk dir das.«

Sie wusste damals nicht, wie recht ihre Mutter behalten sollte.

Mama achtete jedenfalls auf Sitte, Anstand und Frömmigkeit, hielt die alten Werte hoch und beabsichtigte, diese an ihre Tochter weiterzugeben. Glücklicherweise war das aufnahmebereite Mädchen leicht zu lenken und so wurde ihre Paulina anstatt einer Revoluzzerin in den Jahren nach 1968 eine kleine Dame mit einer ausgeprägten Liebe zu Puppenhäusern im herrschaftlichen Stil und fraulichen Handarbeiten.

Unbewusst hatte Paulina angenommen, dass ihre Großmutter väterlicherseits Marianne ebenso gewesen sei. Und es gab auch keinen Anlass, etwas anderes zu vermuten, denn Papa stammte schließlich aus einem bürgerlichen, wenn auch deutlich kleinbürgerlicheren Beamtenhaushalt in Mannheim, der irgendwann nach Karlsruhe verlegt worden war. Und so gewann Paulina ein schönes, biedermeierlich angehauchtes Bild von ihrer nie gesehenen Ahnin Marianne.

Eines Tages, sie war schon lange erwachsen, hatte sie erfahren, ihre Oma, die Mama vom Papa, also die sogenannte Mannheim-Oma, sei auf dem Weg nach Paris in einem Flugzeug gestorben, deshalb müsse man auch kein Grab pflegen. Über dem Meer sei dann auch ihre Asche verstreut. Genaueres erfuhr Paulina auch jetzt nicht, denn über die verblichene Oma wurde nicht viel gesprochen. Auch die Frage, wie alt sie wohl gewesen war, als sie verunglückte, wurde ebenfalls nur ausweichend beantwortet. Mama hatte nur immer vielsagend zum Himmel und dann mit schmerzlichem Gesichtsausdruck zu Papa hinübergeblickt. Und der hatte ebenfalls zum Himmel geblickt. Berechtigterweise, wie sich herausstellte. Auf jeden Fall sei der zurückgebliebene Opa Rudi sehr unglücklich gewesen und auch bald verstorben.

Dieses ganze Getue gehörte zu den Rätseln der Mannheim-Oma, zumal nun auch kein Mannheim-Opa mehr existierte, um gutes oder schlechtes Zeugnis von der Gattin abzulegen. Die ganze etwas nebulöse Sache beflügelte die – allerdings nicht sehr stark ausgeprägte – Phantasie von Paulina, doch da keine neuen Informationen folgten und sie sich nicht an die Oma erinnern konnte, versiegte bald das Interesse an der Vorfahrin wieder.

Als Paulina zwanzig war, starb ihr Vater, der im Schulamt gearbeitet hatte, überraschenderweise an einem Herzinfarkt. Paulina tröstete ihre Mutter, heiratete dann mit Mitte zwanzig, wurde aufgrund eines peinlichen Vorkommnisses in Rekordzeit geschieden und machte anschließend den Fehler ihres Lebens. Sie zog nämlich anstatt mit einer unternehmungslustigen Freundin, einem neuen Mann oder einfach nur sich selbst mit ihrer Mama zusammen.

Die beiden Damen suchten sich eine gepflegte Vierzimmerwohnung in dem nach dem Krieg wieder neu erstandenen schönen Karlsruher Stadtteil rund um den Brahmsplatz, wo Springbrunnen und Statuen auf Grünflächen von der vergangenen Größe einer Residenzstadt kündeten. Einem kleinen Hang zur Bequemlichkeit nachgebend, führte Paulina dort mit der im Grunde reizenden Mutti ein überaus unaufgeregtes und harmonisches Dasein, das von Beschaulichkeit und etwas altmodischen, aber gut gemeinten Regeln geprägt war.

Paulinas Mutter ließ sich etwas Zeit damit, ihrem Mann dorthin zu folgen, wo sie ihn ohnehin täglich besuchte, nämlich auf den Friedhof, doch irgendwann verschied sie dann doch auf eine sanfte, appetitliche und stille Weise.

Paulina blieb alleine in der Wohnung zurück, fühlte sich darin ein wenig einsam und versuchte sich deshalb manchmal mit ihrer Mama zu unterhalten, wenn sie an deren Grab auf einer der Ruhebänke saß, die Gießkanne in der Hand. Doch irgendwie waren die Gespräche mit der verstorbenen Mama so fade, wie es die mit der lebendigen gewesen waren, oder noch einen Hauch fader, was natürlich auch an Paulina liegen konnte, die ihrer Mutter so sehr ähnelte, dass viele sie für Schwestern mit großem Altersunterschied gehalten hatten. Und es schien auch, als sei zwischen Mama und ihr alles Wesentliche gesagt.

Trotzdem fühlte Paulina einen gewissen Gesprächsbedarf. Alleinlebende Frauen ab einem gewissen Alter neigten in dieser Situation deshalb dazu, sich mit ihrer Katze, ihrem Hund oder notfalls eben sich selbst zu unterhalten. Paulina schätzte jedoch ein, wenn auch noch so imaginäres, Gegenüber, und irgendwann hatte sie deshalb begonnen, sich anstatt mit Mama gelegentlich mit ihrer unbekannten Oma auszutauschen. Da es weder jemals eine reale noch eine spirituelle Bekanntschaft zwischen den beiden Frauen gegeben hatte, antwortete Oma natürlich nie, was den Vorteil hatte, dass man alles in sie hineinprojizieren konnte, was man brauchte. Dies wäre bei Mama mit ihren klaren Regeln und Moralvorstellungen nicht möglich gewesen. Paulina wusste bei jedem Sachverhalt, was Mama dazu gesagt hätte: »Paulina, das gehört sich nicht!« – »Paulina, so verhält sich keine echte Dame!« – »Paulina, diese sogenannte Freundin passt nicht zu dir. Sie hat nicht unser Niveau!« – »Paulina, lebe sauber. Dann hast du inneren Frieden!« – »Paulina, trage bitte keine engen Jeans. Du bist doch kein junges Mädchen mehr.« – »Paulina, in der alten Wohnung wäre dieser Mann nur durch die Hintertreppe eingelassen worden. Überlege dir also nochmal gut, ob du ihn zum Tee bitten willst!« – »Paulina, dieser Film hat keinen künstlerischen Wert. Du kannst lachen? Nun, schön, aber seit wann geht man zum Lachen aus dem Haus? Such dir lieber ein schönes gutes Stück im Theater aus oder lies ein wertvolles Buch. Wann war meine gute Tochter übrigens das letzte Mal in der Kirche …?«

Da die nie gesehene Oma stumm blieb, erteilte sich Paulina die passenden Antworten stets in perfekter Harmonie mit sich selbst: »Soll ich diesen hellblauen Kaschmirpulli kaufen, Omama?«

Das zweite »-ma« stand übrigens für Mannheim! Oma Mannheim.

»Aber ja doch, Kind. Er kleidet dich sehr gut!«

Paulina meinte immer eine liebevolle Zustimmung in dem gemütlichen altmodischen Tonfall und Wortschatz der damaligen Zeit von ihrer Großmutter zu bekommen. Immerhin war die gute Dame im gemütlichen Jahr 1900 geboren und hatte gewiss stets in behaglichen und bürgerlichen Verhältnissen gelebt.

Diese einseitigen Zwiegespräche hatten Paulina durch mehrere Jahre begleitet und taten ihr so gut wie anderen Frauen Meditation oder Yoga.

Paulina betrachtete jetzt gerade ihr Hochglanzfoto mit Genugtuung.

»Und? Ich sehe doch ganz ordentlich aus, oder, Omama? Seriös.« Und wie immer antwortete sich Paulina selbst: »Oh ja, durchaus.«

Ob es eine Laune der Natur war oder eine Einbildung oder übersinnlich, auf jeden Fall antwortete diesmal jemand aus dem Off direkt in Paulinas aufnahmebereite Seele hinein.

»Darf ich offen sprechen? Mädchen, du siehst sterbenslangweilig aus.«

»Was??«

»Wie eine Nonne auf Heimaturlaub.«

»Wie bitte?«

»Ja. Da kann man doch mehr draus machen! Du hast doch auch was von meinen Genen abgekriegt, und ich war immer ein Hingucker!«

»Ich will gar nicht mehr daraus machen. Wer sind Sie überhaupt?«

»Du redest doch immer mit mir, und ich dachte, jetzt, wo ich ein bisschen Zeit habe, antworte ich dir mal.«

»Oma?«

»Yep!«

»Wie bitte?«

»Ja, Schätzchen, die Zeit bleibt nicht stehen. Und ich informiere mich. Kann mit den Jungen mithalten.«

»Wo bist du?«

»In deiner Erinnerung. In deinem Herzen. In deinem Gemüt. In deinem Blut. Überall, wo du mich brauchst. Frag nicht viel, freu dich, dass ich mal vorbeischaue. Aber ich glaube, das war auch dringend nötig. Du bist mir vielleicht ein trübes Pflänzchen.«

»Ich bin ganz zufrieden mit meinem Leben, danke!«

»Ach ja? Also, mit dem Leben, das du führst, wär ich jedenfalls nicht zufrieden gewesen. Und deshalb hab ich ja auch was geändert. Nun lass mal sehen. Also, ja, du siehst ganz nett aus, aber du solltest dich ein wenig schminken. Hast du keinen Lippenstift zu Hause?«

»Ich habe selbstverständlich einen Lippenstift, aber ich benutze ihn höchst selten. Anmalen ist etwas für die Jugend. Mama hat immer gesagt, etwas Rouge auf die Wangen reicht, wenn man blass ist. Es wirkt vornehm. Und die Augenbrauen kann man auch dezent nachziehen. Alles andere gehört sich nicht für eine Frau in meinem Alter und sieht einfach billig aus. Das überlässt man lieber gewissen Damen.«

»Hihihi. Was denn für gewissen Damen?«

»Damen, die keine sind.«

»Dann war ich keine Dame. Ich habe mich immer geschminkt! Und erst recht, als ich so alt war wie du. Da verkauft man über die Dekoration. Aber ich hatte natürlich auch einen jüngeren Mann.«

»Ich denke, Opa war viel älter als du.«

»Wer spricht denn von Opa!«

»Wie bitte?«

»Das erzähl ich dir später. Jedenfalls siehst du zu farblos aus. So wird keiner auf dich aufmerksam.«

»Ich möchte gar nicht, dass jemand auf mich aufmerksam wird. Ich halte nichts davon, die Falten zu übertünchen. Man sollte zu seinen gelebten Jahren stehen.«

»Unsinn! Man muss dir nicht unbedingt jedes gelebte Jahr ansehen. Das ist Gerede von evangelischen Pfarrerinnen und Frauen, die immer schon hässlich waren.«

»Oma! Bitte! Das schreiben im Übrigen auch die modernen Frauenzeitschriften, falls es dich beruhigt. Ich gehe nämlich sehr wohl mit der Zeit. Aber ich bin eben nicht mehr jung.«

»Wer hat dir denn das weisgemacht! Als ich so alt war wie du, da hab ich erst richtig losgelegt. Allerdings war dann auch bald Schluss! Gott sei Dank hab ich mir vorher noch ein paar fast abgestorbene Träume erfüllt.«

»Die Frauenzeitschriften …«

»Deine Frauenzeitschriften sitzen aber nicht samstagabends alleine vor der Glotze auf dem Sofa herum, und die Redakteurinnen, die schreiben, du sollst dich zu deinen Falten bekennen, brezeln sich bestimmt auf, wenn sie ausgehen.«

»Woher kennst du denn diese Worte, diese Ausdrücke? Du bist immerhin schon 1957 gestorben.«

»Hm, wie soll ich sagen, ohne Firmengeheimnisse auszuplaudern. Wir haben hier viel Kontakt mit jungen Leuten. Vor allem mit Motorradfahrern.«

»Und die reden mit alten Leuten wie dir!«

»Das Alter spielt hier keine Rolle mehr. Wir sind alle gleich. Aber 1957 war finito. Stimmt. Mensch, war das schade. Da war Karlsruhe grade wieder ein bisschen aufgebaut. Vorbildlich übrigens. Was haben wir geackert und aufgeräumt. Das waren weiß der Boss steinige Jahre. Es gab sogar einen Schuttexpress vom Schlossplatz zum Rheinhafen. Aber wir haben das gut hingekriegt. Und das Leben war wieder schön nach diesen Scheißjahren.«

»Ich verstehe!«

»Also, wenn du da unten einen grauen Strich unter deine Augen setzen würdest, sind sie – puff – größer! Und das wirkt jugendlich. Warum willst du denn unbedingt jetzt schon aussehen wie eine Feldmaus!«

»Ich arbeite bei der Evangelischen Kirchenverwaltung. Zumindest bis vor ein paar Tagen.«

»Na und? Und wenn du im Vatikan arbeiten würdest. Wenn du jünger daherkommst und besser aussiehst, hast du es leichter im Beruf und in der Liebe! Basta. Wenn alle Frauen so aussehen würden, wie sie geschaffen wurden, wäre die Menschheit ausgestorben!«

»Die Liebe? Die interessiert mich nicht besonders. Nur Agape!«

»A… was? Kenne ich nicht.«

»Nicht? Ich dachte, da oben … oder ist es da unten … also, ich dachte, man kennt den Begriff.«

»Nein. Nie gehört. Aber ich hatte natürlich auch nur Hauptschule. Wie ich 14 war, und ich war eine gute Schülerin, fing der Erste Weltkrieg an, verstehst du. Ein Blödsinn. Schade um all die jungen Männer. Da war nix mehr mit Schule. Dabei hätt ich gern mehr gelernt. Agape?«

»Das ist die christliche Liebe, Oma!«

»Aha. Naja. Also, ich war eine Frühentwicklerin und sehr für die Liebe zu haben, aber weniger für die christliche, wenn du verstehst.«

»Durchaus. Ich sehe ja, was in der Welt passiert. Bist du sicher, dass du meine Oma bist?«

»Da bin ich ziemlich sicher. Außer, sie haben deinen Papa vertauscht. 1925. Mein zweiter Bub nach dem Alfred. Ich war ja ganz furchtbar brav mit einem badischen Beamten verheiratet, und das war dein Opa Rudolf. Unter uns gesagt … normalerweise hätte ich den Rudi ja nicht genommen. Bisschen langweilige Tasse. Ich war nämlich mehr fürs Künstlerische. Lag mir im Blut. Hab schon als Backfisch ewig auf den billigen Plätzen im Theater gesessen und mir gewünscht, ich stünde auf der Bühne, verstehst du? Aber der Rudi war Standesbeamter. Damals galt das was und beim Hitler, dem Mistkerl, waren manche froh, sie kannten so einen. Stichwort Ahnennachweis. So ein Quatsch. Vorfahren!«

»Ich möchte eigentlich nichts davon hören, Oma! Über diese Zeit sprechen wir nicht so gerne.«

»Warum nicht? Naja, viel verdient hat der Opa nicht, aber es war ein sicheres Gehalt und später kam natürlich die Pension.«

»Ja wir sind eine vornehme Familie. Von beiden Seiten. Darauf war ich immer stolz.«

»Sei lieber stolz auf dich selbst als auf einen Haufen toter Leute. Und meine Seite war nicht so furchtbar vornehm. Mein Papa fiel aus der Art. Ist sesshaft geworden und hat einen kleinen Laden, einen sogenannten Schifferladen, in Mannheim-Neckarstadt betrieben. Mamas Leute haben ja noch Lose auf dem Jahrmarkt verkauft, aber sie hat ihm dann geholfen, den Laden zu führen, und das hat sie gut gemacht. Haben dir deine Eltern das nie erzählt?«

»Um Himmels willen, nein. Ich will das gar nicht wissen. Lassen wir die Vergangenheit bitte ruhen.«

»Auf einmal. Du hängst doch immer noch an den Hinterlassenschaften von deiner Mama. Ach so. Meine Vergangenheit ist wohl nicht so gut wie die von den Ackermanns, die dem Großherzog den Arsch geküsst haben, oder wie? Kann es sein, dass du dir vom Leben ein hübsches Foto aus passenden Erinnerungen machst, das rahmst du, hängst es an die Wand und staubst es gelegentlich ab?«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Wie du willst. Nur so viel: Deinen Opa habe ich jedenfalls am Bahnhof in Heidelberg kennengelernt. Wir hatten beide einen Zug verpasst. Und dann hat er mich auf eine Brause eingeladen. Ich war ein hübsches Ding und so kam eins zum anderen und bald war dein Onkel Alfred unterwegs.«

»Das scheint mir etwas locker für die damalige Zeit.«

»Kind, das waren die Zwanziger. Sogar die sogenannten Goldenen Zwanziger in Berlin drüben. Bei uns war’s mehr Katzengold. Aber ein bisschen was ist auch in die badische Provinz geschwappt. Andere Musik, moderne Literatur und ganz verrückte Bilder von Leuten, die die Augen auf der Stirn hatten. Neue Ideen am Theater. Kintopp konnte sich jeder mal leisten. Locker? Ich war jung, und ich hatte Feuer im Popo.«

»Und Opa?«

»Leider nicht. Leider nicht. Der war ein Langweiler, der um Punkt sechs Uhr essen wollte und mehr unterm Bett nach Staub gesucht hat als im Bett nach seiner Frau. Wollte einfach nicht sehen, dass ich keine Lust mehr auf braves Hausfrauchen hatte. Je älter ich wurde, je weniger. Ich hab ihn dann verlassen.«

»Einfach so? Man hat doch Pflichten!«

»Immer nur tun, was angeblich Pflicht ist, fügt den Menschen mehr Schaden zu als ein bisschen gesunder Egoismus, Kind. Naja, ich treff dich jedenfalls jetzt hier an, und ich denke, die Paulina macht bestimmt die Fotos für ihren Schatz! Du siehst nämlich noch ziemlich proper aus. Kommst wirklich auf mich. Und auf die Ghardinis natürlich.«

»Auf wen? Also, ich mache diese Fotos für den Oberrheinischen Museumspass. Da kann man für eine Jahresgebühr in Baden, Elsass und der Schweiz umsonst in Museen gehen. Damit kann man sein Alter bereichern. Das wäre auch etwas für dich gewesen. Wenn es das damals schon gegeben hätte.«

»Museum? Nein, danke. Paulina, du liebst es scheinbar, Leuten zu sagen, was sie deiner Meinung nach tun sollten. Eigentlich hättest du ja auch Lehrerin werden sollen – so hat es dein Vater zumindest bei deiner Geburt gesagt. Immerhin, denk ich damals noch, sie wollen sie was Ordentliches lernen lassen. Dann kann sie ihren eigenen Weg gehen und muss nicht gleich irgendeinen Langweiler heiraten, nur um versorgt zu sein.«

»Wie bitte?«

»Aber deine Eltern haben dann wohl doch nicht allzu viel davon gehalten, ein Mädchen an die Universität zu schicken. Richtig. Deine Mama kam ja aus feinem Haus. Hatten Kontakt zum Hof. Die Söhne sollten Jura studieren oder sonst was Graues werden, und die Mädchen kamen da in dem Bildungsplan nicht vor.«

»Immerhin habe ich Abitur, Oma!«

»Na dolle. Und was hast du draus gemacht?«

»Einiges. Ich war erst auf der Stadtverwaltung, im Grundbuchamt und dann bekam ich diese gute Stelle bei der evangelischen Kirche. Ich hatte zweieinhalb Planstellen unter mir.«

»Hihihi. Jetzt hätt ich fast was Falsches gesagt. Nein, das meine ich nicht. Hast du irgendwas Großes gemacht, mit deinem Abitur? Da stand dir doch die Welt offen. Wann bist du nochmal geboren? Richtig: 1957. Na also, da ging doch schon was. Ausland. Universität …«

»Ich persönlich wollte erst einmal eine sichere Basis schaffen. Und außerdem bilde ich mich ja jetzt fort und besuche deshalb die Museen unserer Region.«

»Von meiner Warte aus ist das Quatsch. Warum willst du deine schönen Jahre vertun und tote Sachen hinter Glas anschauen, und wenn du ihnen zu nahe rückst, piepst eine Alarmanlage? Das kannst du noch machen, wenn du achtzig bist. Gib dich lieber mit den Lebenden ab, raus aus der Monotonie, hab Spaß und sei froh, dass du noch da bist. Glaube mir, das ist schon was wert!«

»Ich freue mich an Kultur, an der schönen Natur, an einer guten Tasse Tee …«

»Gähn. Ich höre direkt deine Mutter sprechen. Wie öde. Als ich so alt war wie du, war bei mir urplötzlich Schluss, obwohl ich gerade erst neu angefangen hatte. Ewig schade. Das mit dem ›ewig‹ kannst du übrigens wörtlich nehmen.«

»Ich mag es nun mal, wenn man mir ordentlich beschriftete Dinge zeigt und erklärt. Und ein Museum, da weiß man genau, woran man ist: Öffnungszeiten. Eintrittspreise. Führungen. Thema der Ausstellung …«

»Oh je! Und warum machst du nichts … wie sagt man … mal spontan? Ich war immer so. Wann immer es ging. Als ich jung war, ging das nicht sehr oft: Rucksack, ein paar Sachen packen und ab. Ich habe immer die Freiheit geliebt. Kein Wunder. In mir steckte das unruhige Blut von Schaustellern und Fahrenden. Wie ich jung war, war ich bei den Wandervögeln …«

»Ich verreise nicht mit einem Rucksack!«

»Warum nicht? Reisen mit Rucksack macht deutlich mehr Spaß als mit einem Koffer in der Hand. Du hast die Hände frei.«

»Und wozu bitte?«

»Zum Steinestreicheln. Zum fremde Türen Öffnen und neugierig Hineinsehen. Zum Händeschütteln. Zum einen Felsen Hochklettern oder durch einen Bach Schwimmen. Einfach frei.«

»Ich verstehe das nicht, Oma.«

»Ja, das glaube ich. So bin ich dann also damals mit Ricki auch nach Paris geflogen. Die Irmhild aus der Klauprechtstraße hatte eigentlich die Reise gewonnen, aber sie hatte keine Traute. Badische Hausfrau, ein Enkel unterwegs. Da kann man doch nicht fort! Unentbehrlich. Und sie hatte auch Angst. Nie geflogen. Ich auch nicht, aber ich war neugierig, wie es sich anfühlt. Also bin ich in die Luft gegangen. Wollte das Moulin Rouge sehen. Und hab prompt Pech gehabt.«

»Wer ist Ricki? Wer war Ricki?«

»Mein Freund. Ricki Lauth.«

»Was? Und Opa? Auf Wiedersehen, Oma.«

»Oh nein, nein, nein. So schnell wirst du mich nicht los! Wenn ich gewusst hätte, was die aus dir für eine fadengerade graue Maus gemacht haben, wäre ich dir schon vorher erschienen. Naja, du warst ja gerade erst geboren, als ich gehen musste. Paar Jährchen hätte ich ganz gerne noch gehabt. Aber Pläne taugen nichts. Wie sagt Brecht …?«

»Ich mag Brecht nicht. Er ist Kommunist.«

»Aber ein wunderbarer Theaterautor. Mach einen Plan, sei ein großes Licht, mach noch nen Plan, gehen tun sie beide nicht. Alles kann sich schnell ändern, Enkeltochter.«

»In meinem Leben ändert sich nichts mehr. Und ich will auch nicht, dass sich etwas ändert.«

»Warten wir es mal ab!«

»Warum erscheinst du überhaupt jetzt? Auf einmal?«

»Ja, das ist eine komische Sache. Sie sagen, es wird was passieren.«

»Was soll denn passieren und wer sagt das? Wer sind ›sie‹?«

»Ich weiß nicht, ob ich es dir sagen darf.«

»Dann nicht.«

»Sie meinen, du wirst in einen Mordfall verwickelt.«

»Ich? Haha, das ist unmöglich. Ich lebe ordentlich und solide. Ich werde nicht in einen Mordfall verwickelt, denn ich kenne keine Menschen, die solche Untaten begehen oder Opfer solcher Taten werden. Ich wüsste auch nicht, warum.«

»Es gibt die seltsamsten Gründe! Und sie sagen, wir sollen auf Menschen mit Masken achten.«

»Masken? Nicht in meinen Kreisen. Da geschieht nichts.«

»Vielleicht ändern sich ja deine Kreise! Vielleicht kehrst du zu den Wurzeln der Ghardinis zurück. Oh, nicht dass die immer grandios waren. Die Männer waren Weiberhelden, die Frauen allzu lebenslustig und konnten nicht mit dem Geld umgehen. Naja, mehr weiß ich über unser Projekt auch nicht. Sie sagen einem nicht immer alles. Warten wir es gemeinsam ab.«

Paulina schüttelte sich, als hätte sie Wasser in den Ohren. Ihr Leben war gerade dabei, von Ordnung ins totale Chaos überzugehen.

Und dann nahm die Welt um Paulina herum wieder die übliche Karlsruher Gestalt an, und Oma mitsamt ihren Worten verschwand dahin, wo sie hergekommen war. In den Himmel oder die Hölle oder in die Welt der Erinnerungen, wer weiß das schon – jedenfalls ins Totenreich, denn tot war sie nun mal, die Marianne Bucherer, die von allen Anne genannt wurde und aus Mannheim-Neckarstadt stammte.

Mausetot seit 1957!

Mein Gott, dachte Paulina. Was ist denn das für eine fürchterliche Person? Mit dieser Oma kann man sich offenbar richtig streiten, aber seit wann streitet man sich mit lieben, alten, toten Omas? Bisher hat sie mir doch auch immer recht gegeben! Gut, sie hat mir natürlich auch nicht geantwortet, aber ich dachte halt, sie ist wie Mama.

Mit Paulinas wohlerzogener Mutter hatte es nämlich niemals Streit gegeben. Bei Konflikten hatte ihre Mama stets die Hände gefaltet und den sorgfältig ondulierten Kopf geschüttelt, geseufzt, in die Familienbibel geschaut und einen Blick auf die Fotos mit würdevollen badischen Vorfahren mit steifen Krägen geblickt, die auf dem Kaminsims Wache hielten.

Oma hatte ganz sicher unrecht. In Paulina gab es keine Morde.

Paulina seufzte, betrachtete ihr Automatenfoto und versuchte sich wieder auf ihren ruhigen Ruhestand zu freuen. Mit ihren Freundinnen und Mamas geliebten Teddybären.

Doch es wollte ihr nicht mehr so recht gelingen.

Baden-Baden. Villa Freylingsdorff.13. Juni. Vormittags

Peter Freylingsdorff, Mitte fünfzig, aber jünger aussehend, wollte am Abend seinen Hochzeitstag feiern – und natürlich auch den seiner lieben Frau Dorit, und das alles in voller Harmonie mit sich selbst.

Der erfolgreiche Unternehmer, Sohn eines kleinen, von den Genossenschaften stets übervorteilten Winzers im Baden-Badener Rebland, war ein gutgelaunter Machtmensch, ein großzügiger Macher und ein Gewinner. Vierschrötig. Viril. Ein Vollblut. Und trotz gelegentlicher Ausbrüche allseits beliebt. Einer, von dem man sagt, man könne ihm nicht böse sein. Und wenn er sich in der Runde seiner Familie umsah, so konnte er nur sagen, dass ihm auch dieses gelungene Patchwork-Projekt ganz prima geraten war.

Seine Tochter aus der früheren Verbindung mit dieser verrückten halben Armenierin – mein Gott, war das eine Granate gewesen! Wohlwollend ruhte sein Auge auf Antonia – war zum Beispiel schlicht und einfach eine Schönheit. Und Schönheit war wichtig bei Frauen. Da konnten die Feministinnen lamentieren, wie sie wollten. Eine schöne Frau bekam nun mal Dinge, die anderen verwehrt blieben. So wie die kesse kleine Studentin Monika die Einliegerwohnung. Wenn die nicht aussähe wie ein Bikini-Model, hätte er sie bestimmt nicht genommen, denn die Freylingsdorffs hatten es nicht nötig zu vermieten. Andererseits war es nicht schlecht, wenn das Haus bewohnt war, sollte die ganze Familie in den Ferien sein. Hier im besten Wohnviertel von Baden-Baden unterhalb des Merkur weckten großzügige Villen voller Elektronik, Kunst, Schmuck und Teppichen Begehrlichkeiten.

Im Herbst strichen angeblich gelegentlich dunkle Schatten über die meist menschenleere Straße. Gut, er hatte natürlich keine Angst, aber seine Damen fürchteten sich manchmal, wenn es draußen so still war und vom Merkurwald her nur die Käuzchen schrien.

Aber Antonia! Die junge Liz Taylor war seine Antonia. Angeblich hatte schon L’Oréal bei ihr angeklopft. Wimpern bis zum Haaransatz. Und die freche kleine Krabbe hatte doch tatsächlich eine Überraschung im Rucksack gehabt.