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Das Competence Center Independent Living startete 2006 mit dem Ziel, alte Menschen durch Informationstechnik so zu unterstützen, dass sie lange und selbständig in den eigenen vier Wänden leben können. Die Bedarfsanalyse zeigte, dass die Zielgruppe vor allem einen einfachen Zugang zum breit gefächerten Angebot von haushaltsnahen Dienstleistungen braucht, dass dies aber auch für viel beschäftigte Junge gilt. Vor allem in urbanen Regionen nutzen die Menschen aller Altersklassen eine überraschend breite Vielfalt von persönlich erbrachten Dienstleistungen, von der Haushaltshilfe über den Fahrdienst und Pflegedienste bis zum Zahnarzt. Die grösste Barriere neben den Kosten dieser Services ist die Administration, für den Konsumenten wie für den Anbieter. Die Suche nach Dienstleistern und passenden Angeboten, die Terminvereinbarung, Erinnerung und Terminänderung, die Abrechnung und die Bewertung schrecken die Konsumenten ab und erzeugen hohen Administrationsaufwand auf beiden Seiten. Einen Teil dieser Koordinationsaufgaben tragen heute soziale Organisationen, Angehörige, das Entlassungsmanagement von Krankenhäusern, Quartiersmanager und zunehmend Selbsthilfeorganisationen (Nachbarschaftshilfe, Austauschforen usw.). Das CC Independent Living entwickelte den Dienstleistungsmarktplatz Amiona, der es den Konsumenten leicht macht, den individuellen Bedarf aus dem umfangreichen Angebot über eine mobile App oder den PC zu organisieren. 24/7, überall, individuell, wohl dokumentiert, kostengünstig. Amiona steht als Hosted Service zur Verfügung und ist an mehreren Orten im produktiven Einsatz. Der Bericht dokumentiert in einem Teil die vielen Entwicklungsschritte auf Basis von Piloteinsätzen der Software und geht in einem anderen Teil auf mögliche Entwicklungen in der Versorgung mit haushaltsnahen, persönlichen Dienstleistungen ein. Diese könnten künftig integraler Bestandteil digitaler Lebensassistenten werden, die den Menschen die Organisation des Alltags weitgehend abnehmen.
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Manuel Eisele, Philipp Osl, Hubert Österle, Mark Schleicher
Independent Living
Leben mit haushaltsnahen Dienstleistungen
Impressum
Texte: © Copyright by Manuel Eisele, Philipp Osl, Hubert Österle, Mark Schleicher Umschlag: © Copyright by Andreas Karré Verlag: Mark Schleicher
Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen Müller-Friedberg-Strasse 8 CH-9000 St. Gallen [email protected]
Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN 978-3-****-***-*
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
1 Independent Living 10
1.1 Die demographische Herausforderung 10
1.2 Ambient Assisted Living 11
1.3 Dienstleistungsassistent 11
2 Dienstleistungsmarktplatz Amiona und das digitale Dorf 13
2.1 Ein erster Versuch mit nativen Apps (Amiona V1) 14
2.1.1 Piloteinsätze und Lessons Learned 16
2.1.1.1 LebensQualität Weil der Stadt 16
2.2 Webanwendung und erste Schritte in Richtung Standardlösung (Amiona V2) 17
2.2.1 Piloteinsätze und Lessons Learned 19
2.2.1.1 LebensQualität Weil der Stadt 19
2.2.1.2 Haus Durachtal 20
2.2.1.3 AmbientConcierge (AmCo) 22
2.3 Ein Versuch zur Viralität (Amiona V3) 24
2.3.1 Piloteinsätze und Lessons Learned 24
2.3.1.1 Das digitale Dorf – Amiona St. Gallen 24
2.3.1.2 LebensQualität Weil der Stadt 32
2.3.1.3 GeTVivid – Let’s Do Things Together 32
2.4 Usability und Funktionalität (Amiona V3.5) 34
2.4.1 Piloteinsätze und Lessons Learned 34
2.4.1.1 Das digitale Dorf – Amiona St. Gallen 34
2.4.1.2 Haus Durachtal 36
2.5 Funktionale Erweiterungen für spezielle Anwendungsbereiche (Amiona V3AGG) 37
2.5.1 Piloteinsätze und Lessons Learned 37
2.5.1.1 Lebendige Nachbarschaft Rungestrasse, Hamburg 37
2.5.1.2 LebensQualität Weil der Stadt 39
2.5.2 Integrierende Gate-Anwendung 41
2.6 Zusammenfassende Erkenntnisse aus den Pilotierungen 43
3 Lebensassistenz: Stand und Ausblick 47
3.1 Digitale Dienste in allen Lebensbereichen 47
3.1.1 Information und Kommunikation 48
3.1.2 Unterhaltung 49
3.1.3 Einkauf von Produkten und Dienstleistungen 50
3.1.4 Wohnung 51
3.1.5 Gesundheit 52
3.1.6 Mobilität 53
3.1.7 Beruf 53
3.1.8 Administration 54
3.1.9 Informationstechnik 55
3.1.10 Lebensassistent 56
3.2 Technische Vision 57
3.3 Lebensassistenz für Senioren 60
3.3.1 Information und Kommunikation 60
3.3.2 Unterhaltung 61
3.3.3 Einkauf von Produkten und Dienstleistungen 61
3.3.4 Wohnung 62
3.3.5 Gesundheit 62
3.3.6 Mobilität 62
3.3.7 Beruf 63
3.3.8 Administration 63
3.3.9 Informationstechnik 63
3.4 Wege zum digitalen Lebensassistenten 64
3.4.1 Einzelapplikation oder Integration in die Megaportale 64
3.4.2 Soziotechnische Lösung 65
3.4.3 Konsequenzen für den Konsumentenmarkt 66
3.5 Forschung und Entwicklung zum Independent Living 67
4 Anhang 69
4.1 Verwandte Forschungsinitiativen 69
4.2 Verwandte Lösungen 73
4.3 Publikationen CC IL 78
5 Abkürzungsverzeichnis 79
6 Literaturverzeichnis 79
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1.1: Übersicht von Dienstleistungen für einen elektronischen Dienstleistungsmarktplatz 13
Abbildung 2.1: Übersicht über die Komponenten der ersten Version des elektronischen Dienstleistungsmarktplatzes 15
Abbildung 2.2: Serviceaufträge in der IL Plattform bei SAP Business ByDesign 15
Abbildung 2.3: Amiona V2 – Ansicht des Dienstleistungskatalogs am PC (am Beispiel von LebensQualität Weil der Stadt) 18
Abbildung 2.4: Amiona V2 – Ansicht des Dienstleistungskatalogs am Smartphone (am Beispiel von LebensQualität Weil der Stadt) 19
Abbildung 2.5: Startseite für das Haus Durachtal auf Basis von Amiona V2 21
Abbildung 2.6: AmCo-Cockpit 23
Abbildung 2.7: Entwicklung der Nutzerzahlen im „digitalen Dorf“ St. Gallen 25
Abbildung 2.8: Transaktionszahlen je Woche im „digitalen Dorf“ St. Gallen 25
Abbildung 2.9: Unterschiedliche Suchresultate für Garagen 27
Abbildung 2.10: Startseite des Markplatzes für das digitale Dorf in St. Gallen 28
Abbildung 2.11: Amiona-Anfragebutton auf einer Dienstleister-Webseite 30
Abbildung 2.12: Ansicht von Amiona V3 für LebensQualität Weil der Stadt 32
Abbildung 2.13: Ansicht aus der HbbTV-Anwendung von GeTVivid 33
Abbildung 2.14: Startseite von Amiona St. Gallen 35
Abbildung 2.15: Von einem Anbieter angebotene kurzfristige Termine zur direkten Buchung inklusive eines Rabatts 36
Abbildung 2.16: Angepasstes Anfrageformular für den Fahrdienst im Haus Durachtal 37
Abbildung 2.17: Katalogeinträge mit farblich unterschiedenen Angeboten und Bedarfen 38
Abbildung 2.18: Formular (Ausschnitt) zur Erfassung eines Gesuchs 39
Abbildung 2.19: Exemplarischer Verfügbarkeitskalender aus der Instanz für «LebensQualität Weil der Stadt» 40
Abbildung 2.20: Angepasstes Anfrageformular mit Einbindung des persönlichen Kunden-Adressbuchs («Termine im Auftrag anderer») 40
Abbildung 2.21: Screen-Design der Startseite für die integrierende Gate-Anwendung für die Pilotierung in Hamburg 42
Abbildung 2.22: Übersicht über die Pilotierungen 46
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1.1: Teilnehmende Organisationen im Independent Living Netzwerk St. Gallen 9
Tabelle 1.2: Projektförderungen im Rahmen des Competence Centers «Independent Living» 10
Tabelle 1.3: Mitarbeitende am CC IL 10
Tabelle 4.1: Forschungsinitiativen 70
Tabelle 4.2: AAL-Projekte und AAL-Testregionen 72
Tabelle 4.3: Independent Living und Smart Home von kommerziellen Anbietern 73
Tabelle 4.4: Verticals 74
Tabelle 4.5: Marktplätze für Freiwilligenarbeit, Nachbarschaftshilfe und informelle Anbieter 74
Tabelle 4.6: Marktplätze für professionelle und informelle Dienstleistungen 75
Tabelle 4.7: Apps in China: “Online-to-Offline-Services” 76
Tabelle 4.8: Angebote zur Online-Terminbuchung 77
Das Competence Center “Independent Living” war ein Forschungsbereich des Instituts für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen, finanziert aus Forschungsmitteln der Europäischen Union, der Schweiz, der Ernst Göhner Stiftung, der Gebert Rüf Stiftung sowie aus Mitteln des Instituts selbst (s. Tabelle 1.2). Die Forschung fand in einem Netzwerk von Organisationen rund um das Thema Lebensqualität für Senioren, dem Independent Living Netzwerk St. Gallen{1} (s. Tabelle 1.1){2}, statt. Das Competence Center startete 2006 und wurde zum Ende des Jahres 2016 abgeschlossen.
Folgende Organisationen wirkten im Rahmen des Independent Living Netzwerks mit:
Adhoco
Lekker Leven
Age Stiftung
Locate Solution GmbH
Atlas Stiftung
Lohmann & Birkner Mobile Services
AXA Winterthur
mia-TeleDialogServiceGesellschaft mbH
Bonacasa (Bracher & Partner)
Nestor
Credit Suisse
Phonak
Curena AG
pom+Consulting AG
Deutsches Rotes Kreuz, Kreisverband Bitburg-Prüm
Raiffeisen Schweiz
DE-WO Deine Wohnung
Robert Bosch Healthcare
DGS Deutsche Gesellschaft für Seniorenberatung
Rummelsberger Diakonie
Diakonie Neuendettelsau
Sanitas
DOGEWO Dortmunder Gesellschaft für Wohnen mbH
SAP
Dussmann AG & Co. KGaA
Schweizerische Post
Entwicklungszentrum Gut altwerden
Schweizerisches Rotes Kreuz
Evangelische Heimstiftung
Senevita
Evangelische Stiftung Alsterdorf
Seniorenverband Nordwestschweiz
FACO Immobilien
Siemens IT Solutions and Services AG
Finanz-Informatik
Swisscom
Georg Thieme Verlag KG
Terra Consulting Partners GmbH
Home Instead Schweiz AG
terzStiftung
Immologis
TICO
Implenia
Vincenz von Paul gGmbH
Intel GmbH
VOLKSWOHNUNG GmbH
Interboden / Institut für Lebenswelten
Wincasa
Itartis AG / Alterswelt Lebenswert
Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg
Kaba AG
World Demographic & Ageing Forum
Kunesto GmbH
Zydacron Austria GmbH
Tabelle1.1: Teilnehmende Organisationen im Independent Living Netzwerk St. Gallen
Die Arbeit im Competence Center „Independent Living“ war nur durch die Unterstützung von Fördergebern möglich:
Quelle
Projekt
Fördersumme / Beitrag in CHF
AAL Joint Programme Call 2
FamConnector: Activity Based Intergenerational Interactions
310'660
AAL Joint Programme Call 3
AmCo – Ambient Concierge
271'465
AAL Joint Programme Call 4
DOSSy - Digital Outdoor and Safety System
187'204
AAL Joint Programme Call 5
GeTVivid – Let’s Do Things Together
256'230
Ernst Göhner Stiftung
Independent Living, Das digitale Dorf
30'000
Gebert Rüf Stiftung
Das Virale Digitale Dorf - Services für Bürgerinnen und Bürger
327'000
Mitglieder des Independent Living Netzwerks
Independent Living Netzwerk St. Gallen + Einzelprojekte
526'569
Summe
1'909'128
Tabelle1.2: Projektförderungen im Rahmen des Competence Centers «Independent Living»
Mitarbeitende des Competence Center „Independent Living“ waren:
Name
Von - bis
Dr. Alain Benz
03/2009 – 03/2013
Dr. Sebastian Bosse
04/2008 – 01/2009
Nina Kroll
04/2011 – 07/2011
Manuel Eisele
06/2013 – 12/2016
Omid Molavi
03/2012 – 09/2012
Prof. em. Dr. Dr. h.c. Hubert Österle
02/2006 – 12/2016
Dr. Philipp Osl
02/2006 – 08/2009 und 08/2010 – 12/2016
Dr. Ernst Sassen
12/2006 – 05/2010
Dr. Peter Schenkel
10/2010 – 03/2014
Mark Schleicher
01/2015 – 12/2016
Agata Sroka
09/2011 – 02/2013
Pascal Tuppi
03/2013 – 11/2014
Christine Wetli
12/2009 – 09/2010
Tabelle1.3: Mitarbeitende am CC IL
Das Ziel des Competence Centers “Independent Living” (CC IL) war es zu erforschen, wie ältere Menschen möglichst lange eine hohe Lebensqualität bewahren können. Diese sollten ihr gewohntes Leben in den eigenen vier Wänden solange wie möglich unabhängig und selbstbestimmt beibehalten.
Vier Aspekte prägen die Ausgangssituation der Forschung auf diesem Gebiet (Osl, 2010):
Der Rückgang an Geburten und das längere Leben bewirken, dass im Jahre 2030 52 Alte (über 65) auf 100 Personen im Erwerbsalter kommen, während es im Jahre 1991 noch 24 Personen waren. Das ist eine Herausforderung für die Pensionssysteme, aber auch für die personellen Ressourcen. “Die Bertelsmann Stiftung geht davon aus, dass bei Fortschreibung der bestehenden Strukturen der Altenhilfe sich die Zahl der stationären Pflegeplätze bis 2050 mehr als verdoppeln müsste ...” (Osl, 2010, S. 1).
Die neue Generation der alten Menschen hat andere Wertvorstellungen und ein anderes Konsumverhalten als frühere Generationen. Sie legen mehr Wert auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung (Gawande, 2014).
Die Informationstechnik kann die Lebensqualität bei gleichbleibenden finanziellen Restriktionen verbessern.
Die Versorgung der Alten mit Produkten und Dienstleistungen hat das Potential für einen rasch wachsenden Wirtschaftszweig mit Exportchancen in die ganze Welt.
Die EU, Deutschland, die Schweiz und viele andere Staaten haben mit Blick auf die Demographie im Zeitraum 2008 – 2013 EUR 317,5 Millionen in die Forschung und Entwicklung von IT-basierten Hilfen für Senioren im Rahmen des Ambient Assisted Living (AAL) Joint Programme investiert (EC, 2013, S. 27). Aufgrund des Erfolgs des ersten Förderprogramms wurde das Programm verlängert und 2014 in „Active and Assistive Living Programme“ umbenannt. Dieses ist mit EUR 700 Millionen finanziert, wovon mit EUR 350 Millionen die Hälfte aus öffentlichen Mitteln besteht und die übrige Finanzierung von den partizipierenden Unternehmen getragen wird; EUR 175 Millionen werden dabei von der EU im Rahmen des Förderprogramms „Horizon 2020“ und EUR 175 Millionen von den teilnehmenden Ländern getragen (AAL, 2016). Die Zahl der Senioren, insbesondere der Betreuungs- und Pflegebedürftigen, überfordert in der Zukunft die finanziellen und die personellen Ressourcen. Die am Programm beteiligten Staaten wollen den Aufwand der Altenbetreuung und -pflege begrenzen und gleichzeitig die Lebensqualität der Alten verbessern.
Der erste Ansatz des Competence Center IL verfolgte wie viele AAL-Projekte das Ziel, mit intelligenten Geräten im Haushalt die Sicherheit der Senioren zu erhöhen und die Unterstützungsleistungen durch Betreuer zu reduzieren. Automatische Pill Dispenser sollten für eine regelmässige und korrekte Medikation sorgen, Bewegungssensoren für die Früherkennung von Sturzgefahren und das Erkennen von ungewöhnlich langen Ruhezeiten, Notrufuhren für die Alarmierung von Angehörigen und Temperatursensoren für das Abschalten von vergessenen Herdplatten. Türsensoren sollten beim Verlassen der Wohnung elektrische Geräte aus- und die Einbruchsicherung einschalten, elektrische Türschlösser den Rettungskräften im Alarmfall über einen Code die Tür öffnen. Von Robotern erwartete man eine Unterstützung in der Pflege. Sprachkommunikation sollte die Bedienung von Haushaltsgeräten und -diensten vereinfachen und Videophonie mit Freunden die Vereinsamung vermeiden.
Aus den vielen Forschungs- und Entwicklungsprojekten zu intelligenten Geräten spezifisch für Senioren haben es bis heute wenige Ideen aus Musterwohnungen hinaus in den Alltagsbetrieb geschafft. In den privaten Haushalten sind vor allem Notrufsysteme (Armbänder, Uhren, Anhänger) und in Krankenhäusern vereinzelt Fussmatten zur Überwachung von Demenzpatienten im Einsatz. Einige Pflegeheime verwenden in der Therapie den Roboter Paro, der eine Sattelrobbe darstellt und auf Streicheln mit Bewegungen und tierähnlichen Tönen reagiert. Ein wichtiger Grund für den mangelnden Erfolg ist der bis heute zu hohe Aufwand zur Einrichtung und zur Benutzung der Geräte. Darüber hinaus fürchten die Senioren die Stigmatisierung durch Seniorenprodukte. Sie kaufen eher ein Motorrad als eine Notrufuhr.
Das Competence Center IL hat nach einer intensiven Erfassung der Bedürfnisse von Senioren, Angehörigen, Betreuungs- und Pflegekräften (Osl, 2010) auf den Einsatz von "Senioren"-geräten verzichtet. Die Bedürfnisanalyse hat ergeben, dass Alte viel eher Unterstützung in der Organisation ihres Alltags benötigen. Das sind vor allem haushaltsnahe, persönlich erbrachte Dienstleistungen wie z.B. Gartenarbeiten, Reparaturen in der Wohnung, Fahrdienste, Lieferdienste, Verwaltung der finanziellen Angelegenheiten (von Rente und Zuschüssen bis zur Zahlung von Rechnungen), Friseur und Physiotherapie. Weitere wichtige Bedürfnisse sind die Pflege von Kontakten zu Freunden und Familie, der Wunsch nach Unterhaltung aufgrund mehr verfügbarer Zeit sowie die Versorgung mit Informationen zum politischen und gesellschaftlichen Geschehen. So kann auch die Gefahr von Vereinsamung im Alter reduziert werden.
Das Competence Center IL prüfte im Jahre 2010 und auch später wiederholt die verfügbaren Dienstleistungsplattformen und kam zur Erkenntnis, dass diese Plattformen die Bedürfnisse von Senioren und anderen Konsumentengruppen nicht erfüllen. Es konnten zwar Plattformen identifiziert werden, die einzelne der benötigten Funktionen abdecken (bspw. Verzeichnisdienste für das Finden von Anbietern, aber ohne Auflistung der angebotenen Dienstleistungen, oder Terminkoordinationstools für spezielle Szenarien wie Gruppentermine, aber keine Unterstützung bei mangelnder Digitalisierung auf Anbieterseite), eine integrierte und damit für Konsumenten leicht nutzbare Lösung konnte aber nicht gefunden werden. Die Verfügbarkeit von entsprechenden Terminkoordinationslösungen hat sich dabei als besonders problematisch herausgestellt.
Obwohl es zahlreiche Versuche gegeben hat und gibt, einzelne Anwendungsfälle wie die Buchung eines Tisches in einem Restaurant oder die Vereinbarung von Friseurterminen zu digitalisieren (Stichwort „Verticals“), fehlt es nach wie vor an einem umfassenden Ansatz, welcher dem eigentlichen Problem gerecht wird: der bislang mangelnden Vereinfachung durch elektronisch unterstützte Abläufe. Erfolgreiche, vertikal ausgerichtete Lösungen konnten sich in diesem Punkt teilweise abheben, da sie dem Benutzer durch die Spezialisierung und strikte Optimierung auf einzelne Anwendungsfälle einen Mehrwert gebracht haben. Durch die anbieterseitige Einschränkung auf ein bestimmtes Buchungssystem und die Notwendigkeit zur vollumfänglichen Pflege aller Dienstleistungen, Konditionen, Mitarbeiter und Termine innerhalb des jeweiligen Systems ist die Akzeptanz aber in vielen Bereichen stark eingeschränkt.
Ein weiteres Problem, das auch im Rahmen der Entwicklung des Dienstleistungsmarktplatzes adressiert wurde, ist der notwendige Funktionsumfang von Koordinationslösungen. Auf der einen Seite muss die Nutzung des elektronischen Dienstes auf Konsumentenseite einen Vorteil bringen. Das kann bspw. durch die schnellere Abwicklung der Terminvereinbarung oder durch die Erreichbarkeit ausserhalb von Öffnungszeiten passieren, allerdings dürfen die erreichten Vorteile nicht wieder durch erhöhte Komplexität relativiert werden. Auf der anderen Seite müssen auch Anbieter durch Flexibilität überzeugt werden, bspw. indem auch ein Papierkalender weiter genutzt werden kann. Um beiden Seiten gerecht werden zu können, sind neue Ansätze mit Kompromissen gefragt: Automatisierung alleine genügt nicht. Diese neuen Ansätze sind in den bestehenden Angeboten nicht enthalten.
Aus diesem Grund entwickelte das Competence Center IL einen einfachen Dienstleistungsassistenten, der den Senioren die Suche nach Dienstleistern, das Buchen von Services, die Terminvereinbarung und die Dokumentation der Leistungen abnehmen sollte. Senioren haben grundsätzlich Zugang zu praktisch allen benötigten Dienstleistungen (s. Abbildung 1.1), doch sind diese vielfach schwer aufzufinden und erfordern einen Administrationsaufwand, der vor allem ältere Menschen abschreckt. Ein elektronischer Dienstleistungsassistent kann einem persönlichen Betreuer sehr viel Arbeit abnehmen, wenn er einfach bedienbar ist und von allen Seiten akzeptiert wird.
Es entstand die Dienstleistungsplattform Amiona. Kapitel 2 berichtet, wie sich aus einer ersten am Schreibtisch entworfenen Plattform aufgrund der konkreten Einsatzerfahrungen in mehreren Iterationen eine heute in mehreren Pilotinstallationen laufende Dienstleistungsplattform entwickelt hat.
Abbildung1.1: Übersicht von Dienstleistungen für einen elektronischen Dienstleistungsmarktplatz
Nachdem das Competence Center Independent Living entschieden hatte, nicht auf "Senioren"-geräte zu setzen, sondern sich stattdessen darauf zu konzentrieren, ältere Menschen bei der Organisation ihres Alltags zu unterstützen, fiel in der zweiten Hälfte des Jahres 2010 die Entscheidung, einen Prototyp für einen elektronischen Dienstleistungsmarktplatz zu entwickeln. Ziel war es, für die älteren Menschen den Zugang zu den zahlreichen bereits bestehenden Dienstleistungen zu verbessern und deren Nutzung durch eine digital unterstützte Terminkoordination und Dokumentation zu erleichtern.
Zum Zeitpunkt dieser Entscheidung war die Suche nach Dienstleistern im Internet bereits einfach, da Nutzer Suchmaschinen sowie Telefon- und Branchenverzeichnisse verwenden konnten, wie beispielsweise yellowpages.com oder in der Schweiz local.ch. Jedoch offerierten diese Verzeichnisse dem Nutzer keinerlei Unterstützung bei der tatsächlichen Benutzung einer bestimmten Dienstleistung. Hierzu war das Telefon weiterhin notwendig, da die Verzeichnisse damals keine Funktionen zur direkten Verbindung mit den Dienstleistern boten. Ein derartiger Medienbruch ist umständlich, besonders da es bei den meisten Geschäften nicht möglich ist, jemanden ausserhalb der Öffnungszeiten zu erreichen. Selbst wenn die Verzeichnisse manchmal eine E-Mail-Adresse des Anbieters bereitstellen, kann die Angabe der gewünschten Dienstleistung mangels Information über das Angebot, des Termins oder von speziellen Wünschen und Anforderungen sehr aufwendig sein (insbesondere auf mobilen Geräten). Ausserdem müssen die Angaben bei jedem neuen Termin wieder vollständig und von vorne in Textform eingegeben werden.
Während Terminanfrage-Möglichkeiten bei branchenübergreifenden, horizontalen Suchmaschinen und Onlineverzeichnissen fehlten, zeichnete sich bereits die Entstehung von vertikalen Direktbuchungsplattformen ab, welche einen praktischen Zugang zu bestimmten Dienstleistungssektoren bieten. Prominente heute verfügbare Beispiele hierfür sind u.a. Treatwell.ch oder Quap.ch für Coiffeure und Beautysalons oder Eat.ch und Foodarena.ch für Essenslieferungen. Schwachpunkt dieser vertikalen Portale aus Kundensicht ist jedoch, dass keines die ganze Bandbreite des täglichen Lebens abdeckt. Der Buchungsprozess über diese Plattformen ist sehr bequem, da sie für einzelne Anwendungsfälle optimiert sind und ein Nutzer die verfügbaren Termine direkt sehen und auswählen kann, der Konsument muss aber aufgrund der Beschränkung auf einzelne Dienstleistungssektoren für die von ihm benötigten unterschiedlichen Services jeweils verschiedene Plattformen verwenden, diese also als Apps installieren und ihre Logik verstehen. Zusätzlich können kleinere Geschäfte dort unter Umständen gar nicht gefunden werden, da die direkte Buchung gewisse Mindestvoraussetzungen an die Digitalisierung des Anbieters stellt, wie die Nutzung eines elektronischen Kalenders.
Was also aus Sicht des Nutzers fehlte, war eine Kombination der beiden oben beschriebenen Lösungen: eine digitale Plattform mit einer einfach zu nutzenden, rund um die Uhr verfügbaren Terminvereinbarung und eine einzige Anlaufstelle für alle im Alltag benötigten Dienstleistungen.
In einem iterativen Entwicklungs- und Evaluationsprozess, der in den folgenden Abschnitten beschrieben wird, entstand eine konfigurierbare Standardlösung für lokale oder regionale Dienstleistungsmarktplätze, die an unterschiedlichen Standorten und in verschiedenen Anwendungsbereichen pilotiert wurde.
Als Name für diese Softwarelösung wählten wir „Amiona“ – ein Kunstwort, welches sich aus „ami“ (französisch für „Freund“) und „ona“ (in Anlehnung an „one“ bzw. „una“, englisch/italienisch für „eins“) zusammensetzt. Damit sollte die dem Dienstleistungsmarktplatz zugrundeliegende Idee zum Ausdruck gebracht werden, „einen Freund“ zu schaffen, der in allen Lebenssituationen helfen kann – konkret: eine Stelle, ein digitaler Marktplatz, wo für alle Bedarfe einer spezifischen Lebenssituation die passgenaue Unterstützung in Form einer Dienstleistung gefunden werden kann – sei es der Friseurdienst, der nach Hause kommt, die ambulante Pflege, der Gärtner oder die wöchentliche Skat-Spielerunde.
Im Herbst 2010 startete die Implementierung eines ersten Prototyps, der im März 2011 im Rahmen des 5. Independent Living Netzwerk-Workshops erstmals vorgestellt wurde. Bis Herbst 2012 entwickelten wir die Lösung iterativ weiter, so dass sie in ersten Pilotierungen