Indien – Geheimnis und Mysterium - Swarupananda - E-Book

Indien – Geheimnis und Mysterium E-Book

Swarupananda

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Beschreibung

Mit Brillanz und Begabung erzählt der Autor in bildhafter Art traumhaft anmutende Erlebnisse im fernen Indien. Er reiste auf Einladung als ein alltäglicher Schiffstourist nach Asien, lernte dort die Praktiken der uralten Hindu-Tradition und Rishis kennen, erhielt die Einweihung in den berühmten Orden des Shankaracharya und kehrte als Yogi in seine europäische Geburtsheimat zurück. Zwischen den Zeilen liegt etwas Unaussprechliches und Undefinierbares, das in den prosaisch hingeschriebenen Zeilen aufleuchtet wie ein Fanal mit der Botschaft, dass wir irdischen Figuren mehr im Innersten bergen, als wir im Äußeren darstellen, und dass kaum eine Verwirklichung von noch so gigantischen Ausmaßen unmöglich scheint. Dem Verfasser begegneten Wesen, die jene Dinge vollbrachten, welche wir einfachen Sterblichen als übernatürlich bezeichnen. Doch wis-senschaftlich begründet sind es nur verfeinerte Naturgesetze. Bei diesen „Atomforschern des Geistes“ ist oft die Grenze zwischen Gott und Mensch verwischt gleich der Linie zwischen Wille und Schicksal. Wir geraten beim Lesen in Verwunderung und Erstaunen, weil Wahrheiten offenbart werden, die entweder ketzerisch anmuten oder genial.

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Swarupananda

Indien

Geheimnis und Mysterium

Ein westlicher Yogi erzählt seine seltsamen,

rätselhaften Erlebnisse unter braunhäutigen

Yogis, Sadhus, Sannyasins, Zauberern,

Mystikern und Heiligen an den Ufern des

Gangesstromes und in den Himalaya-Gebirgen.

HEINRICH SCHWAB VERLAG

ARGENBÜHL-EGLOFSTAL

ISBN 978-3-7964-0524-2

1. Auflage: 1958

2. überarbeitete Auflage: 1995

© Copyright by Verlag DLZ-Service

Druckerei und Verlag: DLZ-Service, Anton-Graff-Strasse 34,

CH-8400 Winterthur, Schweiz

3. überarbeitete Auflage: 2010

© 2010 by Heinrich Schwab Verlag

Eglofstal 42, D-88260 Argenbühl

www.heinrichschwabverlag.de

Einbandgestaltung: Georg Weber

E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Abdruck und Benutzung in Idee, Wort oder Bild, auch auszugsweise, in Presse, Film, Rundfunk oder Fernsehen nur mit Verlagserlaubnis gestattet.

Dieses Buch

sei gewidmet allen großen Seelen,

allen selbstlosen Herzen

und Heroen des Geistes,

die das Dasein überwunden haben!

Jenen, die wissen: Nichts ist unmöglich!

Der Mensch ist göttliche Essenz!

du selber bist das unsterbliche Sein!

Alles ist aus «der EINEN Quelle» gekommen und wird wieder in «das EINE ohne ein Zweites» zurückkehren!

OM

AUM

AMEN

Odem – Atem – Atom

O Kind der Unsterblichkeit!

O Nektars Sohn, Ambrosias Tochter!

O mein geistiger Liebling!

Warum fürchtest du dich?

Siehe: ICH BIN immer an deiner Seite!

ICH BIN bei dir, mit dir und in dir!

Immer fühle meine schützende Nähe!

Tag und Nacht wohne ICH in deinem Herzen!

ICH LEBE, um dir ewig zu dienen!

Sei voll Hoffnung, sei kühn und fröhlich!

Meditiere, verwirkliche und erkenne:

du warst von Anfang an frei und voll Glück!

ICH BIN das Heil, die Heilung

und die Heiligung!

O Pilger dieser seltsamen Erde:

Erwache aus deinem Schlaf des Unwissens,

und tauche unter im Ozean der Verzückung!

Dann wirst du im Paradies der Glückseligkeit landen

und niemals mehr hungern, dürsten und frieren oder

einsam und verlassen sein!

Swarup-Ananda

Die Sonne sinkt

Nicht lange noch dürstest du,

verbranntes Herz!

Verheißung ist in der Luft.

Aus unbekannten Mündern bläst es dich an.

– Die große Kühle kommt. –

Deine Sonne stand heiß über dir im Mittag.

Seid mir gegrüßt, dass Ihr naht,

Ihr plötzlichen Winde,

Ihr kühlen Geister des Nachmittags!

Die Luft weht fremd und rein.

Schielt nicht mit schiefem Verführerblick

die Nacht dich an?

Bleibe stark, o tapferes Herz!

Frage nicht: Warum? –

Friedrich Nietzsche

Der See der Träume

Das Mondlicht flutet voll und weich

durch dunkle Wolkensäume.

Es liegt im fernen Mondenreich

ein See – der See der Träume.

Und alle Tränen, welche je

um Menschenleid vergossen,

sind leuchtend still in jenen See:

Den Traumes-See geflossen.

Emil von Schönaich-Carolath

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort zur Neu-Auflage

Vorgeschichte

Irrsinn

Beginn

La bella Napoli!

Leben an Bord

Port Said

Suez-Kanal

Das Rote Meer

Aden

Karatschi

Bombay

Delhi

Auf dem Wege nach Hardwar

Rishikesh

Ananda-Kutir

Der Mahatma aus dem Kailash

Die Mönche mit der Apfelsinenrobe

Heiligabend

Geduld

Die Speisung der Fünfhundert

Wilde Tiere im Dschungel

Der Brief nach Malaysia

Die heiligen Affen

Das Museum

Der Mauna-Swami

Der Astrologen-Swami

Kühles Mussoori

Das Lepra-Dorf

Die Zweifel des Suchers

Begräbnis in den Gangesfluten

Narendranagar

Der Schüler des Luftessers

Der weißbärtige Swami

Das Fest der beleuchteten Boote

Vasishta Guha

Bishu

Das Visum

Der nörgelnde Theosoph

Ram Thirtas

Das Kastensystem des Manu

Diebe

Arya Samaj

Das Bild im Durga-Tempel

Seine Exzellenz, der Chilene

Der Wunderknabe

Die vier Lebensstadien

Der lachende Narr

Der Wunschbaum

Vergiss, wenn du kannst

Die tanzende Nonne

Guru und Chela

Der gelbe Bikkhu

Hare Bol!

Die Stimme

Paramahamsa Sivananda

Sprich süß und weich!

Der Höhlen-Sadhu

Die schmale Straße

Die Wohnung der Seligkeit

Ananta

Vigyan Press

Vishnudeva

Shiva-Ratri

Die Nacht der Gebete

Kaivalya Mukta

Der Messias

Der Orden des Sri Sankara

Schlangenbeschwörer

Satya Deva

Jeder ist ein Glied in der Kette

Der schwarzbärtige Magier

Ein enttäuschter Yogajünger

Was ist Wahrheit

Frühling in Nordindien

Sankirtan unter freiem Himmel

Prophezeiung

Duldsamkeit

Die heiligen Mütter Indiens

Reisefieber

Ashram-Allerlei

Konferenz der Sadhus

Der wiedergeborene Kashi

Kumbha Mela

Der Bettler mit den zwei Gesichtern

Der Aurobindo-Zweig

Unerträgliche Hitze

Ein brauner Käfer

Der weiße Einsiedler

Maya, der mystische Schleier Gottes

Nächte am Rande der Himalayas

Besuch aus dem Jenseits

Einladung nach Gujarat

Der aussätzige Sadhu

Streik der Fährleute

Asien hat viel Zeit

Spuk

Kultur, Hygiene und Aberglaube

Der ebenholzfarbige Engel

Govinda

Zwei Pilger

Sterne drängen auf Veränderung

Für und Wider

Malaria

Menschen sind immer gleich

Hari Om

Ekadasi

Die Moskito-Töter

Das göttliche Spiel

Gurucharandas

Der Millionär-Professor

Das Zeltfest von Rajpur

Abbruch und Aufbruch

Die Hölle von Patankoth

Hindu-Kinder

Jammu

Murkha

Der Tempel des Shankara

Die schwimmenden Gärten des Jellum

Ausflug im Taxi

Spitzel und Spione

Khir Bhavani

Das Wunder von Ammarnath

Die Eisgrotte

Der Rückweg

Farewell

Gesellschaftliche Pflichten

Die Erklärung des Unerklärbaren

Die Erklärung des Unerklärbaren – Advaita Nirwana

Offenbarung

Das Lied vom Glück

Worte ewiger Weisheit

Pfad und Ziel

Glossar

Vorwort

Dieses Buch befasst sich mit dem Sinn des Daseins. Durch Anregung und liebenswürdige Unterstützung des Verlages und Schweizer Freunde kann es nach langer Pause wieder gedruckt und veröffentlicht werden. Es schildert nach Tagebuch-Notizen aus den Jahren 1955 und 1956 Ereignisse und Erfahrungen in Indien, dem früheren Bharata, hauptsächlich am Gangesfluss in Nordindien und in Kaschmir, der Perle in den Himalaya-Gebirgen, dem Thron der Götter.

Wenn diese Berichte dem nüchternen, sachlichen Verstand märchenhaft oder teilweise unglaublich erscheinen, so liegt es daran, dass der menschliche Intellekt begrenzt ist und stofflich-materiellen Bedingungen unterliegt, während GEIST über oder jenseits der Vernunft beheimatet ist.

Dem GEIST ist jedoch nichts unmöglich. ER ist keinen irdischen Gesetzen untertan oder verpflichtet, und ER kann auch nicht erklärt oder begriffen werden durch Theorien, Hypothesen, Experimente, fromme oder philosophische Bücher, kluge Worte oder Predigten und Studium theologischer Wissenschaften.

Nur wer im Überbewussten untertaucht, in der Entrückung oder Verzückung, im Transzendenten, wer verschmilzt oder EINS wird mit dem Urgrund der Schöpfung, vermag die letzte, tiefste und höchste Wahrheit zu erfassen. Aus diesem Grund gibt es so viele Meinungen, Behauptungen und Dissonanzen, geboren aus Unwissenheit, die sich gegenseitig bekämpfen, oft bis zur Intoleranz oder zum Fanatismus, obwohl sie alle dasselbe wollen, suchen und erforschen, nur auf verschiedenen Pfaden oder durch verschiedene Mittel. Doch Unwissenheit, so sagen die Wissenden, sei die größte Sünde und der unverzeihlichste Frevel.

Daher existieren unzählige Konfessionen, Gruppen, Vereine, Dogmen und Rituale oder Sekten, die sich religiös oder Religion nennen. Die Upanishaden, Veden, die Rishis oder Mahatmas des Altertums, die Erleuchteten und Weisen, die Mystiker, gottgleichen Wesen oder Inkarnationen verkünden aber mit natürlicher, unwiderlegbarer Autorität nur immer das EINE:

Der Mensch ist in seiner Essenz weder Körper noch Sinne oder Verstand, sondern KOSMISCHE, UNIVERSELLE, UNGEBORENE UND UNSTERBLICHE WESENHEIT!

Deshalb ist er nach seiner essentiellen Substanz GEISTIGES LICHT, alldurchdringend, allumfassend, grenzenlos, ein einziges SEIN, vollkommene Harmonie, niemals getrennt von Ursprung oder Quelle, vom Meer der riesigen Einheit. Vielheit bedeutet Täuschung und Trennung von Glück, Wonne, Freiheit und Seligkeit. Einheit aber ist Rückkehr in die wahre Heimat, erfüllt und durchwoben von einer alles besiegenden und unüberwindlichen Liebe, die jede Vorstellung von irdisch-menschlicher Liebe übersteigt.

Diese Ahnung von Wahrheit und Unsterblichkeit wohnt in jedem lebendigen Wesen, verschleiert und verborgen im Schrein oder Tabernakel des Herzens. Und solange diese phantastische Erkenntnis nicht in einem Menschen erwacht, hat er das Ziel seiner Bestimmung nicht erreicht. Er muss wieder und wieder geboren werden, bis er endlich weiß: ICH BIN TEIL und EINS mit dem All.

So lautet auch die Botschaft an der Pforte des Tempels zu Delphi im antiken Griechenland in klarer Einfachheit:

O, Mensch, erkenne dich selbst!

Der Inhalt des vorliegenden Buches erzählt in jenem Sinn weiter nichts als diese ewige, unvergängliche, faszinierende Weisheit. Und wenn die Sätze, Kapitel und Erlebnisse des Autors ein wenig davon vermitteln, so ist sein mühevolles Tun reichlich belohnt, zum Wohl und Segen des Lesers, wenn er sich verzaubern, verwandeln und in seiner Seele berühren, aufwecken oder auch nachdenklich machen lässt.

Swarupananda

Vorgeschichte

Da war ein kleiner Knabe, der immer so große Sehnsucht nach dem vollkommenen Glück ohne Ende hatte. Aber von Jahr zu Jahr musste er erleben, dass dieses irdische Dasein von kurzer Freude zu langem Kummer, von strahlender Heiterkeit zu düsterer Enttäuschung wechselte.

Und er fragte sich oft: Warum ist das so? Aber es kam keine Antwort, weder von den Menschen seiner Umgebung noch aus dem schweigenden Himmel.

Dies war der Grund, weshalb er auf die Suche ging nach der Glückseligkeit. Lange Zeit tappte er im Dunkeln. Viele Monde und Jahreszeiten vergingen, bis er ein Licht sah, das ihm weiterhalf. Diesem Lichtschimmer folgte er. Was er fand, als dieses Licht heller und heller, größer und größer wurde, schildert der Knabe, der nun ein Erwachsener ist, in diesem Buch.

Aus einem Knaben wurde ein Jüngling. Aus einem Jüngling ward ein reifer Mann. Dieser Mann schrieb aus eigener Erfahrung diese Zeilen nieder, die er zusammenfasste und «Indien – Geheimnis und Mysterium» nannte.

Der Autor dieses Buches trägt jetzt einen befremdenden Namen, den er in Indien erwarb: Swami Svarupananda.

Ein weißhäutiger Staatsbürger verwandelte sich in einen Yogi. Längst bevor er diese Reise nach dem fernen Asien antrat, oblag er aus privatem Interesse oder innerer Leidenschaft nach Erkenntnis dem Studium des Yoga-Vedanta, bis er selber einen Ruf erhielt und nach Indien wallfahrte. An Ort und Stelle hat er die geheimnisvollen Yogis, Sadhus, Swamis, Sannyasins und Rishis kennengelernt, von denen er hier berichtet.

Dort am Fuße der Himalayas empfing er die Einweihung in den weltberühmten Orden des Sri Shankaracharya, nach uralten Riten und Zeremonien, die teils geheim, teils öffentlich sind. Er legte seine Zivilkleider ab, ließ sich das Haupt kahl rasieren und durchquerte Indien im ockerfarbigen Swamigewand als einfacher, besitzloser, wandernder Mann der Entsagung.

Er lebte und schlief in Tempeln und Ashrams, den traditionellen Schulen der vedischen Weisheit, wurde in Bürgerhäuser reicher und armer Hindus eingeladen, erstieg die Eis-Himalayas und opferte Blumen vor dem Shiva-Lingam, des Zerstörers geistigen Unwissens, in der Grotte von Amarnath.

Was er auf den Seiten dieses Buches berichtet, ist ein Schicksal, wie es bunter und seltsamer nicht sein kann. Seine Erzählungen beweisen, dass unser heutiges Dasein genau so romantisch und fremdartig ist wie in früheren Jahrhunderten, als Marco Polo oder Christoph Kolumbus lebten. Er lässt in seinen farbigen Schilderungen die Wunder der Seele erstrahlen, die Geheimnisse des Karma und die Mühsal der irdischen Pilgerfahrt.

«Nichts ist unmöglich!» könnte das Motto lauten. Behütet von Eltern, Freundschaften und Heimat, so wachsen wir auf. Aber plötzlich, ohne Grund, greift eine Faust aus den Wolken nach uns, die gleichförmig dahinplätschernden Tage zu beenden. Ein Mensch wie du, der einen Beruf erlernt hat und im Getriebe der Großstadt hastet, strebt und zermahlen wird, wirft nach raschem Entschluss alles hin – seine Karriere, seine Zukunft, seine Bindungen an Umwelt, Verwandtschaft, Mitmenschen und Sicherheit des behaglichen Heimes –, um ins Ungewisse zu pilgern: In die weite, unbekannte Ferne des fremden, unbegreiflichen Asien. Er verzichtet auf alles, woran die meisten Menschen gebunden sind. Er wählt die Entsagung, um in Himalaya-Höhlen zu meditieren, die Freundschaft der mysteriösen Yogis zu suchen, indische Geheimlehren zu prüfen, mit gelehrten Pandits anregende Unterhaltung über Veden und Upanishaden zu führen, Wallfahrtsorte mit Hunderttausenden von Pilgern und Heiligen zu besuchen, auf Sannyasin-Versammlungen Vorträge zu halten, indische Gebete und Gesänge zu rezitieren und in einsamer Hütte am heiligen Gangesstrom monatelang zu nächtigen, in dichter Gesellschaft mit Ameisen, Skorpionen und Kobras.

Er beginnt, Mauna zu üben, Städte und Menschen zu meiden und in tiefster Verborgenheit im Tempel der Mutter Durga viele Stunden lang leise oder in Gedanken die rätselhaften Mantras zu flüstern, um göttliche Visionen zu sehen oder himmlische Stimmen zu hören, bis er zuletzt in jenen Zustand der Verzückung gerät, den die Hindus ehrfürchtig als Samadhi bezeichnen.

Nun ist dieser Yogi selber ein Sannyasin, bestaunt in Indien als «Der deutsche Yogi». Schweren Herzens kehrt er nach Europa zurück, obwohl er eingeladen wird, für immer in Asien zu bleiben.

Seine Idee ist, Yoga-Vedanta zu verkünden als die «Wissenschaft vom Menschen». Er will Sucher lehren, ihr eigenes Seelenatom freizulegen und die «Atomkraft im Menschen» zu finden, die wir «Seele» nennen. Wenn seine Mission beendet ist, wird er geräuschlos und spurlos die «weiße Zivilisation» wieder verlassen, um unterzutauchen in der Abgeschiedenheit und sich dort in einsamer Kontemplation dem Gespräch mit Gott – dem Absoluten Sein – zu widmen, um für die Ewigkeit mit IHM vereint zu sein.

Dies – sagen die Eingeweihten Asiens und Indiens – ist der einzige Zweck der menschlichen Bemühungen auf Erden: Gott zu finden und mit dem EINEN zu verschmelzen. OM TAT SAT! Alles Leben ist göttlich!

Alle Menschen und Seelen sind dazu bestimmt, glücklich zu werden. Alle Wesen sind zur Freiheit geboren. Ob als Sadhu oder Haushälter im Wirrwarr der Weltstädte, ob an Beruf gebunden oder frei von alltäglichen Pflichten: Alle Wesen sollten und müssen nach dem Ziel der Befreiung aus den Fesseln des eigenen Ichs streben. Der Tod ist kein Tod, sondern Verwandlung von einem Dasein in ein anderes Dasein. Es gibt kein Ende, sondern nur einen ewigen Anfang.

Unser heutiges, zivilisiertes Leben ist eine Farce, eine Karikatur von dem, was wir sein könnten. Erwache! Erkenne! O Sohn und Tochter der Unsterblichkeit!

Kehre zurück ins Paradies, aus dem du durch eigene Schuld gefallen bist! Du selber bist kosmische Intelligenz, Motor und Kraft zugleich!

Dein Reich ist die Hoffnung. Dein Weg ist die Liebe. Dein Ziel ist das Licht. Dein Sehnen ist Wahrheit. Dein Erlöstsein ist Vollendung.

Wisse um deine Göttlichkeit und schüttle die Knechtschaft der niederziehenden Gedanken ab. Wie du denkst, so bist du. Dein Denken bestimmt Glück und Unglück, Himmel und Hölle. Dies hat der Sannyasin in harter Selbstzucht gelernt, und die folgenden Zeilen bringen die Geschehnisse seiner Fahrt zum Heil jener, die dasselbe wünschen: Glück und Freiheit.

Irrsinn

Ein Natur- und Wanderapostel wurde einst in eine Irrenanstalt gesperrt, um seinen Geisteszustand zu untersuchen. Als man ihn wieder freiließ, erwarteten ihn an der Ausgangspforte einige Zeitungsleute, die davon erfahren hatten. Einer von den Journalisten fragte den Naturapostel: Was denken Sie von der Welt im Allgemeinen und von den Menschen im Besonderen?

Ach, antwortete er fröhlich: Meiner Ansicht nach würden in der gesamten Welt, auf unserem vielgepriesenen Globus, zwei bis drei Häuser genügen, um die wenigen Normalen darin unterzubringen, die es auf unserer schönen Erde gibt!

Nun, es scheint übertrieben von dem braven Mann, solch kühne Behauptung zu wagen. Wer aber das Leben und die Menschen mit den Augen eines geschulten Psychologen aufmerksam studiert, wird seltsame Dinge feststellen.

Er entdeckt, dass jedermann in einer für sich hermetisch abgeschlossenen Gedankenwelt existiert. Jeder Mensch besitzt einen kleinen oder großen «Spleen», ein Hobby, ein Steckenpferd, eine fixe Idee. Diese Konzentration auf einen Punkt wirkt sich so aus, als lebe der Betreffende in einer Burg mit herabgelassenen Fallgittern. Von der fixen Idee bis zum Wahnsinn ist oft weniger als ein Schritt. Vielleicht sind alle Menschen ein kleines bisschen verrückt, ohne es zu wissen. Und doch würde jeder beleidigt sein, wenn wir es ihm offen, wahrheitsgemäß und taktlos ins Gesicht schmettern würden. Daher gebietet die Höflichkeit zu schweigen oder den Spleen der Allgemeinheit als normal zu betrachten.

Der eine Mensch strebt nach Ruhm, der zweite nach Gold und Reichtum, Aktien und Zinsen, der dritte nach Frauen und Wollust, der vierte nach Rekorden und sportlicher Hochleistung, der fünfte nach Briefmarken, der sechste nach Politik oder Wirtschaft, der siebente nach Abenteuern, der achte nach Morphium oder Kokain, der neunte nach Bier, Schnaps und Wein. Irgendwo haben die Menschen einen winzigen «Tick». Zum Glück ahnen sie nichts davon. Dieses Nichtwissen bewahrt sie vor der Nervenheilanstalt.

Auf den Philosophen Sokrates im antiken Griechenland oder Hellas lief ein Mann mit einer Hacke zu, mit der er einen anderen Mann verfolgte, der die Straße herunter an Sokrates vorbeieilte.

Halte ihn! Halte ihn! Um der Barmherzigkeit der Götter! Halte ihn auf! rief der Verfolger Sokrates zu. Aber Sokrates kümmerte sich weder um den Rufer noch um den Ausreißer. Er ging unerschütterlich weiter, ohne von dem Geschrei Notiz zu nehmen.

Mensch! schrie der Mann mit der Hacke: Warum hieltest du den Fliehenden nicht fest? Er ist ein Totschläger!

Was verstehst du unter einem Totschläger? fragte Sokrates nachlässig.

Stell dich doch nicht so dumm! Ein Totschläger ist jemand, der tötet!

Ein Metzger also?

Alter Idiot. Ein Mensch, der einen anderen Menschen tötet!

Ach so, ein Soldat.

Naiver Narr! Ein Mensch, der einen zweiten Menschen in Friedenszeiten umbringt!

Ich begreife, ein Scharfrichter!

Kamel! Ein Mensch, der einen zweiten Menschen in dessen eigenem Haus abmurkst!

Richtig! Ein Medizinmann, Heilkundiger, Pillendreher!

Der Mann mit der Hacke wendete sich ab, denn er glaubte, einen hoffnungslosen Irren vor sich zu haben. Aber es war nur der Weise Sokrates.

Nach diesem kurzen Epilog über Irrsinn, Verrücktheit, Spleen oder Wahnsinn wird es nicht schwer fallen, die öffentliche Meinung zu erkennen über jemanden, der alles verlässt, um ein Yogi im fernen Asien zu werden.

Das Leben ist ein seltsames Abenteuer. Jahrtausende verfließen im ewigen Strom der Zeiten und Epochen. Immer drehen sich die Menschen im Kreis. Sie werden geboren und sterben. Krieg wechselt ab mit Frieden. Gesundheit wechselt ab mit Krankheit. Hausse und Baisse reichen sich die Hände. Wir lachen und weinen. Wir sind fröhlich und traurig. Aber wir lernen nichts hinzu. Immer wieder begehen wir die gleichen Fehler, die gleichen Irrtümer.

Das Rad des Schicksals bewegt sich unaufhörlich weiter. Der Kreis ist rund. Hass und Liebe sind die Pole des Daseins. Hunger oder Durst treiben die Herzen zur Tat. Streit, Misstrauen oder Sympathie und Versöhnung plätschern dahin im Bach des ewigen Einerlei.

Manchmal sind wir zufrieden, und manchmal hadern wir mit dem Schicksal. Wir suchen die Geselligkeit und den Trubel. Dann wieder suchen wir die Einsamkeit, das süße Alleinsein. Oft sind wir geschäftig. Wir eilen und hetzen und jagen umher. Wofür? Um uns am Abend müde hinzulegen. Die Nacht kennt keine Raserei. Haben wir keine Zeit? O, wir haben viel Zeit. Viel zu viel für unnütze Dinge.

Wir sagen von unserem Nachbarn: Ein nutzloser Mensch. Und der Nachbar sagt abfällig über uns: Welch ein sinnloses Dasein führt dieser Mann! – Unser Maßstab gilt nicht in fremden Zonen. Was wir glauben, ist dort Unsinn. Was die Leute dort glauben, ist bei uns Frevel.

Wir müssen lernen, duldsam zu sein. Toleranz ist das höchste Zeichen von Charakterstärke und innerer Reife. Blaue Augen schauen anders in die Welt hinaus als schwarze Augen. Heiße, südliche Länder haben einen anderen Lebensrhythmus als die kühlen Zonen des Nordens.

Lächelnde Verzeihung verwandelt erstarrte Fronten in liebevolle Nachsicht.

Einem Sterbenden auf dem Totenbett ist es gleichgültig, was die Schwarzen zur Rassenfrage meinen. Im Tod gibt es weder Rassen noch Unterschiede der Sprache, weder Reichtum noch Armut an Gold und Devisen. Im Jenseits ist es unwichtig, welcher Nation du angehört hast.

Wir sollten zwischen Wert und Unwert unterscheiden. Wichtig und unwichtig sind relative Begriffe des Allzuirdischen. Sokrates und der Totschläger waren Menschen des Altertums. Aber sie leben noch heute. Nichts hat sich geändert, außer den Nuancen der Form, den Varianten des Ausdrucks.

Wir sollten öfter des Nachts hinauf in den Sternenhimmel schauen. Dann werden wir die Kleinheit der Erde vergessen und lernen, kosmisch zu denken. Über allem aber thront die Liebe! Erhaben und edel, majestätisch und voll süßen Zaubers!

Beginn

Montagabend. Der Fernschnellzug braust in Richtung Süden: Über Köln, Basel, Bellinzona, Milano nach Genua.

Im Abteil sitzen zwei Herren, einer alt, der andere jung. Der Einundsechzigjährige ist zuckerkrank und leidet an Kreislaufstörung. Er fährt zu den heißen, italienischen Kurquellen Nähe Padua, um Heilung zu suchen. Der andere ist ein junger Student der Architektur, der nach Rio de Janeiro reist. In seiner Tasche hat er ein kostbares Stipendium, das ihm ein einjähriges Studium in Südamerika gestattet.

Die Atmosphäre wird langsam international. Weit hinter uns liegt die Heimat. Drei Fahrgäste haben sich also im Abteil versammelt: Der Erste wünscht Gesundheit, der Zweite Wissen in Lateinamerika, der Dritte forscht nach Weisheit und Erkenntnis. Jeder Mensch lässt sich so auf einen kurzen Nenner bringen.

Nachmittags fünf Uhr in der Hafenstadt Genua. Ein Gepäckträger führt mich zum «Ufficio Espresso Bagaglia». Der Maestro radebrecht einige Brocken Deutsch. Er ruft einen Hoteldiener, und im Handumdrehen lande ich in einem Hotel besseren Mittelstandes am Bahnhof. Sofort lege ich mich zu Bett, da das Fahren im D-Zug ermüdet hat. Die Heizung im Abteil hatte nicht funktioniert. Einmal war es kalt, ein andermal überheizt.

Bis sechs Uhr morgens schlafe ich wundervoll, nehme ein erfrischendes Bad und ein wohlschmeckendes Frühstück. Im strömenden Regen rollt das Taxi mit mir und zwei Koffern zum Schiffshafen «Stazione Marittima». Dann folgen zwei Stunden lang die üblichen Pass- und Zollkontrollen. Das Gepäck wird kaum geprüft. Sämtliche Grenzübertritte waren leicht und angenehm, als wir im Zug die schweizerische und italienische Grenze durchfuhren. Die Zöllner entpuppten sich als höfliche und freundliche Kavaliere. Überhaupt ging die Reise bisher über Erwarten gut vonstatten. Eine unsichtbare Hand geleitet mich sicher von Ort zu Ort.

Nach eineinhalbjähriger Korrespondenz bin ich nach Indien eingeladen. Der Meister Sri Swami Sivananda hat meine Wege geebnet. Sein letzter Brief lautet:

Gesegnetes, Unsterbliches Selbst!

Grüße und Ehrerbietung! Om Namo Narayanaya!

Ihr Brief vom 12. des Monats bringt mir die glückliche Botschaft von Ihrem Erfolg, ein Visum zum Besuch Indiens zu erhalten. Herzlichen Glückwunsch! Wenn nötig, kann nach Ihrem Eintreffen eine Aufenthaltsverlängerung in Neu-Delhi durch unsere Regierung erlangt werden. Ich bin überzeugt: Sie werden diesen Platz mit dem Heiligen Gangesfluss bewundern. Ich werde besonderes Interesse an Ihrem geistigen Fortschritt nehmen und Ihnen die Ideen des Yoga-Vedanta vermitteln. Sie werden unschätzbaren Gewinn haben. Sie werden sich wie zu Hause fühlen. Sie sind reif zur Entsagung. Ich freue mich, dass Sie alle Vorbereitungen getroffen haben, die Weltlichkeit zu verlassen.

Bei Ihrer Ankunft in Bombay werden Sie am Hafen erwartet. Man wird alles Notwendige für Ihre Bequemlichkeit veranlassen. Ein Gefährt (Tonga) wird am Bahnhof in Rishikesh sein, um Sie zu bewillkommnen. Das Volk Indiens wird Sie lieben und Ihnen helfen. Möge Gott Sie segnen in Ihrem achtenswerten Entschluss. Ich wünsche Ihnen herzlichst Erfolg. Ihre Reise nach Indien wird viel dazu beitragen, um Ihrem Volk Gutes zu erweisen. Ich werde Sie führen. Mit Empfehlung, Liebe und OM.

Ihr eigenes Selbst!

Sivananda

Am dreißigsten November um vierzehn Uhr lichtet die «Asia» der italienischen Schifffahrtsgesellschaft «Lloyd Triestino» bei nebligem Wetter ihre Anker. Vom sonnigen Süden ist nichts zu spüren, da wir Herbst haben und die schönen Tage vorüber sind.

Ein indischer Textilingenieur, den ich beim Besteigen des Dampfers sehe, hat bereits Bekanntschaft mit mir geschlossen. Er ist seit zweieinhalb Jahren von Indien abwesend. Er freut sich auf die Heimat und auf seine junge Frau. Sie ist erst neunzehn Jahre alt. Vor kurzem erlitt sie eine Herzattacke. Der Ingenieur ist besorgt um sie. Er lädt mich ein, vor meiner Wegfahrt von Bombay einen Tag seine Familie zu beehren. Er ist ein liebenswürdiger, gesprächiger und von Herzen humoristischer Charakter. Sein Gesicht ist gebräunt.

Meine Kabine Nr. 138 beherbergt noch einen interessanten Gentleman aus Dänemark. Er spricht fließend Deutsch, zählt etwa fünfundfünfzig Jahre und ist von Beruf Kunstmaler. Er segelt nach Delhi und Südindien, Sri Lanka und Hongkong, um neue Eindrücke zu sammeln und Asienbilder zu malen.

An der Mittagstafel im Essraum – wir haben die Tischnummer 26 – finden wir neue Bekannte, zwei Kaufleute aus Karatschi, Pakistan, und zwei Hindus aus Kalkutta. Es sind alles junge Leute in den zwanziger Jahren, mit dunkler Hautfarbe und englischsprechend. Leider ist unsere deutsche Sprache keine Weltsprache, wie ich zu meinem Bedauern merke. Ohne Englisch ist ein Weltreisender ziemlich hilflos. Die Inder haben eine eigenartige Aussprache des britischen Idioms, an die man sich zuerst gewöhnen muss. Was unverstanden bleibt, überbrückt die Gestik oder ein Mischmasch von international gebräuchlichen Ausdrücken.

Man erzählt von Beruf, Familie, Heimat und Zukunftsplänen. Erstaunt erkenne ich, dass die menschlichen Probleme und Sorgen überall die gleichen sind. Ich fühle mich unter den fremdrassigen Leuten wie daheim. Herz und Sympathie sind Trumpf. Verstand kommt in zweiter Linie. Gefühl und Wohlwollen werden immer verstanden, während Klugheit und Scharfsinn ohne beseelte Liebe kühle Abwehr hervorrufen.

O Ihr Söhne und Töchter des Ewigen! Die Welt ist schön, und alle Menschen sind Brüder und Schwestern! Erwachet aus Eurer Angst, aus Eurem Hass, aus Eurer Gier und seid Ebenbilder der Harmonie und des Friedens! Dann wird euer Leben voller Dank und Freude sein!

Die Menschen auf dem weißen Luxusdampfer, der das Wasser des Mittelmeeres durchschneidet, lächeln voll Erwartung. Sie haben ihre Vergangenheit hinter sich gelassen.

La bella Napoli!

In der Nacht landet die «Asia», mit ihrer aus vieler Herren Länder bunt zusammengewürfelten Gesellschaft, in Neapel. Ich erinnere mich an jenen berühmten Ausspruch: «Neapel sehen und dann sterben!» Nun bin ich gespannt, ob es wahr ist, dass man getrost sterben kann, wenn man nur ein einziges Mal «La bella Napoli» gesehen hat. Denn, so heißt es: Mit Neapel habe man alle Schönheit dieser Erde erblickt und umarmt.

Am Abend ist es mir etwas seltsam zumute, als ich in der Kabine schlafen will. Doch in Gedanken wiederhole ich lautlos: Seekrank werden ist Einbildung! Du musst das Schlenkern und Schaukeln des Dampfers schön finden, süß und einschläfernd. So etwa, wie das Schaukeln einer Wiege, die Mutter Maria in Bewegung setzt für dich, ihr Kind. – Tatsächlich: Eine halbe Stunde darauf empfinde ich das wiegende Gleiten des Schiffsrumpfes auf den Wellen des Meeres wohltuend wie das einlullende Spiel der göttlichen Mutter mit ihrem menschlichen Kind.

Am Morgen nach dem Frühstück steigen wir, Weiße und Farbige, zum Oberdeck hinauf, um den Rundblick über Neapel zu genießen. Fast alle Passagiere sind an der Reeling versammelt. Sie erfreuen sich an der neapolitanischen Küstenlandschaft. Die Sonne blinzelt schwach hinter Nebelfetzen hervor.

Nach dem Mittagessen verabreden sich sieben Hindus mit mir zu einer Taxifahrt nach Alt-Pompeji, sechs Meilen vom Stadtkern entfernt. Die antiken Ruinen der Jupiter-, Apollo- und Dianatempel wecken im Beschauer ein Gefühl der Verlorenheit, ein leichtes Frösteln über das vergängliche Leben, das tausend Jahre hinwegstreicht wie ein Nichts: Der Mensch – ein Blatt im Wind. In wiederum zweitausend Jahren werden vielleicht unsere Leichen, wenn sie einbalsamiert sind, als antik bewundert oder mit einem Gruseln des Abscheus betrachtet. Skelette alter Pompejaner, ehemals reicher Leute, liegen in Glaskästen, greifbar nah, als wären sie erst vor kurzem verstorben. Ihre Knochengerüste sind schaurig anzusehen. Wir werden dasselbe Los haben. Alles wiederholt sich.

Ein junger Hindu aus Kalkutta übergibt sich auf der Rückfahrt im Taxi. Der Inhalt seines Magens ergießt sich über die übrigen Insassen. Armer Boy! Er hat nur die Hälfte Genuss an den Altertümern vergangener Zeiten.

Als ich in die Kabine zurückkehre, um meinen beschmutzten Anzug zu wechseln, erwarten mich bereits zwei neue Kabinen-Mitbewohner: zwei jüngere römisch-katholische Priester, die aus Frankreich kommen, in Montreal-Kanada beheimatet sind und zur Missionsarbeit nach Asien reisen.

Fromme Weltreisende! Beim Lesen im geschützten Decksalon, während ich in ein philosophisches Buch vertieft bin, machen mehrere Franziskanermönche die Runde, um für arme Waisen zu sammeln. Für meine geringe Geldspende erhalte ich einige bunte Bildchen der «Heiligen Maria, Mutter Gottes». Eine schöne Gabe der Nächstenliebe aus der Hand frommer Seelen. Überall, wohin wir schauen und gehen, wohnt eine verborgene Frömmigkeit, unsichtbar dem spöttischen Auge des modernen Atheisten.

Die beiden Moslems aus Karatschi erheben sich bereits um fünf Uhr jeden Morgen, um zu ihrem Erlöser Allah zu beten. Dann lesen sie im Koran, der Bibel der Mohammedaner. – Gott ist groß! Und seine Anhänger sind unter allen Völkern anzutreffen. Auch ich bin ein unscheinbarer Verehrer der kosmischen Realität, die sich hinter tausend Schleiern einer magischen Illusion verbirgt.

Neapel, romantische Südspitze im blauen Mittelmeer, von Touristen überschwemmt, von Einheimischen als Basis ihrer Existenz benutzt, um Fremde erfolgreich zu rupfen! Italiener sind ein leichtfertiges, gutmütiges und liebenswertes Völkchen. Wenn irgendwo, möchte ich meine Zelte hier aufschlagen, sofern das Dasein mir seine lächelnden, heiteren Seiten zu offenbaren hätte. Doch da ich das unsichtbare, nicht ergründete Antlitz der Ewigkeit suche, versteckt hinter der täuschenden Larve gleißender Maya-Illusion, verlasse ich die Reize der Appenninen-Halbinsel, um das Herz der inneren Schönheit zu entdecken, gleich dem indischen Königssohn Siddharta Gautama Buddha, der mit neunundzwanzig Jahren Heim und Familie verließ, um das Nirwana zu finden: «Ein Jahr, bevor ich dreißig wurde, bin ich fortgepilgert, um mich zu suchen!»

Wer vermag dies Geheimnis zu begreifen? Der Heilige Augustinus sagte auch: «Herr, ich wanderte in der weiten Welt umher, bis ich merkte, dass du in mir selber warst!»

Jetzt bin ich siebenundvierzig Jahre alt. Der Höhepunkt von Jugend und Mannesalter ist überschritten. Im fernen Indien suche ich den Zweck meines Lebens, so wie der verlorene Sohn seinen Vater bittet: Hier bin ich! Nimm mich wieder auf!

Eine Wanderung im irdischen Raum, dem Raumlosen entgegen! Die Welt der Versuchung lockt mit hunderttausend Masken und Millionen Händen: Eine gefährliche Hydra der glitzernden Täuschung. Wehe, wer ihr verfällt! Noch immer gilt der Spruch: Vae victis! Wehe dem Besiegten! Die Seichten und Oberflächlichen sind dir böse, wenn du ihr verderbliches Spiel von Alkoholrausch und Sexuallust nicht mehr mitmachst. Treibst du aber mit ihnen im Strudel, so musst du allein die Verantwortung tragen. Im Katzenjammer nach dem Genuss wendet sich dein Kumpan und Mitzecher achselzuckend von dir ab. Gleichgültig und verächtlich überlässt man dich deinem Schicksal. Niemand kann dir helfen. Niemand wird dir helfen. Diese Erfahrung ist bitter. Sieh und prüfe! Jeder ist sein eigener Lehrmeister, sein eigener Erlöser.

Der Rausch ist herrlich. Die Folgen sind unschön. Genieße, mein Freund und meine schöne Freundin, wenn du willst, bis zum Überdruss! Aber gräme dich später nicht in der Verzweiflung!

Italia! Napoli! Capri! Sicilia! Roma! Das ewige Rom! Stolzes Milano! Ihr schönen Städte und Landstriche! Ein herrliches Land, ein heißes, aber verführerisches Land! Die Menschen dort sind anmutig, heißblütig. Sie locken mit lächelndem Mund und wundervoller, vokalreicher Stimme: Signor! Signorina! – Sie haben einen graziösen Gang und wohlgebaute Körper. Und das Seltsame dabei ist: Hinter der leichten Fassade verbirgt sich Ehrfurcht vor dem göttlichen Geheimnis. Priester und herrliche Kirchen, dicht neben verbotenen Straßen und Lokalen der ausgefallenen Lüste, Lachen und Weinen im selben Atemzug. Du kannst als Fremdling in Italien alles haben, jede Heiligkeit und jede Frivolität, Gebet und Laster, Seele und Leib, Chianti und Limonade.

Blitzartig schlägt die Laune eines Italieners von Fröhlichkeit zu Anklage, zu Hass und Eifersucht, zu Zorn und Gewalttätigkeit um. Und dann wieder kann er süße Hingabe sein, mit einem Lächeln, so weich wie das Lächeln der Madonna auf den berühmten Gemälden alter Meister. Es sind große Kinder, Bambinis, Produkte der südlichheißen Sonne. Man vermag ihnen nicht böse zu sein. Man muss ihnen vergeben.

Karma! Das ist Schicksal, aus Ursache und Wirkung entstanden. Die Weisheit Indiens sagt: Du allein bist Keim und Frucht zugleich. Das Gesetz der Kausalität wird über Geburt und Tod hinaus von Dasein zu Dasein wirken. Es ist wie eine Linie: Von Punkt zu Punkt gezogen, von Endlichkeit zu Unendlichkeit reichend. Karma ist nützlich, um die Seele zu läutern. Diese Seele kann sich so lange nicht in Gott auflösen, bis das letzte Stückchen Gier zerschmilzt im Ofen der Leidenschaft. Denn Leidenschaft schafft sich ja selber das Leiden. Aber einmal wirst du im Ozean der Freiheit untertauchen, im Mysterium des kosmischen Seins. Dann winkt dir die Erlösung im beschützenden Mantel selbstloser Liebe.

Adieu, Neapel! Wirf deine Sorgen ab auf den Rücken deines starken Glaubens unter der Maske des Vergnügens! Nenne deinen Glauben wie du willst: Christus oder Maria! Ich segle in Länder des Orients, wo man andere Namen verwendet: Allah, Brahma, Jehovah, Herr Zebaoth, Allseele, Allmacht, Vorsehung, Universale Dynamik, Atomkraft jenseits des Stoffes, absolute Intelligenz oder das Namen- und Formlose! Es ist immer dasselbe höhere Sein.

OM TAT SAT! Alles ist göttlich! ER ist immer da. Denn ER wohnt in uns. ER ist dein eigener Schatten. ER ist du in dem Augenblick, da du in IHM spurlos untertauchst. Pflege die Eigenschaften der Tugend, dann wirst du dich dem Glück nähern.

Charmante Damen auf Stöckelschuhen winken zum Abschied den Gästen unseres Dampfers zu. Taschentücher flattern in der Brise. Wir entfernen uns. Die Erlebnisse werden zu Erinnerung, und irgendwann wird auch die Erinnerung vergessen sein wie der Rauch einer Zigarette, der für einige Minuten betäubte.

Leben an Bord

Heute lerne ich an Bord vier deutsche Damen und einen Landsmann kennen. Ich habe nicht geahnt, dass auch aus der Heimat Personen auf unserem Dampfer sind. Der Grund ist: Alle Leute sprechen Englisch. Wie soll man Landsleute erkennen? Wir unterhalten uns nett und unverbindlich. Der Herr stammt aus Stuttgart. Er reist als Vertreter. Die Damen kommen aus Wien, Frankfurt am Main, Heidelberg und Berlin. Zwei wollen zu ihren Ehemännern nach Indien, die dort eine Position haben. Zwei reisen zum Vergnügen. Am nächsten Tag meldet sich noch ein Deutscher. Er sieht aus wie ein Professor oder Gymnasialdirektor, aber er ist Abgeordneter des Bundestages. Seine Miene ist abweisend und streng. Er scheint ein ernster Philosoph zu sein, vielleicht Anhänger des Pessimismus.

Mein indischer Bekannter aus Bombay hat seinen Platz an der Mittagstafel gewechselt. Er hat mich schnöde verlassen und speist jetzt in Gesellschaft zweier bildhübscher junger Damen. Tagsüber schwirrt er unermüdlich auf Deck um sie herum. Seine neunzehnjährige Frau, die kürzlich eine Herzattacke erlitt, bereitet ihm sicher keine Kopfschmerzen mehr. Also gibt es auch in Indien jene männlichen Scharmeure, die man Don Juan oder Casanova nennt. – Warum auch nicht? Niemand hindert ihn daran.

Am Abend nach dem Lunch wird im großen Bar-Room auf der Parketttanzfläche ein Pferderennen mit Holzfiguren veranstaltet. Beim zweiten Lauf setze ich auf Drängen eines Hindu-Kaufmanns, der sich als Heilkräuter-Exporteur zwei Monate in sämtlichen Ländern Europas aufhielt, auf den Sieger Nummer Zwei des ersten Durchgangs. Gewinn und Verlust dieses Miniatur-Rennens sind mir gleichgültig. Ich möchte nur dem neuen Bekannten eine Gefälligkeit erweisen oder zumindest nicht Nein sagen. Entgegen meiner Erwartung gewinne ich bei einem Einsatz von 1 sh 6 p eine Quote von acht Schilling. Auch Erwachsene müssen genau wie Jugendliche eine Beschäftigung haben, sonst verfallen sie auf dumme Geschichten.

Vor dem Rennen studiert der Exporteur, ein zweiunddreißigjähriger Mann aus Kalkutta, die Linien meiner Hand. Handlesekunst ist eine große Wissenschaft in Indien. Was er erzählt, stimmt auffallend. Innerlich jedoch interessieren mich weder Pferderennen noch Handlesekunst. So entferne ich mich bei passender Gelegenheit leise und geräuschlos aus dem Trubel des Gelächters. Die vielen Gespräche und Vergnügen fressen unbarmherzig die wundervolle Einsamkeit auf. Ab und zu muss man sich von nichtssagender Konversation zurückziehen, sonst leidet das Gleichgewicht. Die leergelaufene Batterie des Gemütes muss wieder aufgeladen werden. Wer sich fortwährend verausgabt, wird hohl.

Pünktlich sechs Uhr morgens halten die Priester und Mönche eine katholische Messe an Bord ab. Obwohl ich dieser Konfession nicht angehöre, bewundere ich die Konsequenz dieser Menschen, die immer in ihrem Brevier lesen, viel allein auf Deck promenieren und ganz in ihrem Ideal aufgehen. Ein Novize aus Turin spricht mich an der Reeling an. Er redet nur gebrochen Englisch und mag achtzehn Jahre alt sein. Ein sympathischer Jüngling, einfach und schlicht.

Seit ich die Reise nach Übersee antrat, bin ich gelöst und frei. Ich fühle Schutz und geistige Führung der «Weisen aus dem Morgendlande».

Sind die Geschichten der rätselhaften Yogis und Wundermänner nur eine Sage? Oder können sie mehr als gewöhnliche Sterbliche? Ist Sivananda nur ein bedeutender Mensch, oder ist er ein spiritueller Heros, ein Prophet, ein Seher, ein Rishi der Jetztzeit? Manche behaupten, er wäre die dritte Inkarnation Lord Shivas. Nun, bald werde ich persönlich feststellen können, was an den Erzählungen von Asienfahrern, Forschern und weltbekannten Schriftstellern wahr ist und was übertrieben.

Wer immer dieser Hindu-Guru (Lehrer der Weisheit) auch sein mag, ich habe ihn als Berater und Führer in den Dingen der Seele erwählt. Ich werde seinen Anweisungen folgen, soweit sie mit meinem innersten Wesen übereinstimmen. Nach seinen Büchern zu urteilen, von denen ich einige gelesen habe, hat er viel zu bieten.

Jeder Handwerker braucht einen Meister, um zu lernen. Jeder Student benötigt einen Professor an der Universität. So muss auch jeder Schüler auf dem gefahrvollen, dornigen Pfad der Gottsuche einen Meister zu Rate ziehen, um nicht in die Irre zu laufen oder abzustürzen. Wie leicht kann der Fuß des Anwärters ausgleiten! Dies weiß nur zu gut, wer den Pfad der Erfahrung zuvor schon beschritt.

Beim Frühstück wird mir ein junger Student der Jurisprudenz vorgestellt. Er ist dreiundzwanzig Jahre alt, fährt in seine Heimat Malaysia zurück und kommt jetzt aus Frankreich, wo er einige Semester an der Sorbonne studiert hat. Oft, wenn ich ihn beobachte, scheint er melancholisch. Dann wieder lacht er schelmisch wie ein Knabe. Wenn ich in seine schönen malayischen Mandelaugen sehe, ist mir, als ob ich in den ruhigen Spiegel eines tiefen Teiches schaue. Aber ich erkenne auch, dass er nicht glücklich ist. Augen reflektieren die Seele. Zurückgeworfene Bilder aus unergründlichen Fernen leuchten darin auf.

Auch sanfte Hindufrauen sind an Bord. In ihren seidenen Saris, die in allen Regenbogenfarben schillern, bewegen sie sich weich wie Katzen.

Mir ist, als sei ich manchmal wie berauscht von göttlichen Augen. Mond und Sterne sind die Augen jener Natur, die sich als Prinzip des absoluten Geistes verkörpert.

Wir haben die Insel Kreta passiert und treffen morgen nachmittag in Port Said ein. Der Vormittag vergeht mit Bordspielen: Ping-Pong und Deckgolf.

Die Hindus sind sympathische Burschen. Der Rechtsstudent aus Malaysia hat mir heute im Lesesaal seine Privatgeheimnisse anvertraut. In Kürze will er heiraten, und zwar ein Mädchen aus Mailand. Er hegt viel Hoffnung in Bezug auf Liebe. Ich wünsche ihm von Herzen, dass er nicht enttäuscht wird. Vielleicht wäre es klüger für ihn, ein Mädchen seiner Heimat zu küren. Die Psyche europäischer und asiatischer Frauen ist sehr verschieden.

Die Sonne scheint heute frühlingsmäßig warm. Wir fahren vom nasskalten Winter Europas dem heißen Klima im Suezkanal entgegen.

Ein Maschinen-Ingenieur aus Bombay erzählt mir, dass neben seinem elterlichen Haus ein Tempel des Ramakrishna stehe. In seiner Kindheit sei er jeden Abend mit Vater und Mutter dort zur Andacht gewesen.

Während ich im stillen Schreibsalon Tagebuch führe, tanzen die Passagiere nebenan im Lounge-Room zur Hotkapelle Foxtrott, Tango und Wiener Walzer. Die deutschen Ladies fordern mich auf, einige Runden mit ihnen zu schwenken, obwohl ich dem Gehopse keinen Geschmack mehr abgewinnen kann. Daran merke ich, dass ich alt werde. Oder war ich schon immer alt, innerlich, geistig, seelisch?

Vivekananda, der Hauptschüler Ramakrishnas, prägte die beiden Worte: Nichtbindung und Nichtberührung! Ich bin mit den Füßen beim Tanz, aber in Gedanken bei der Philosophie Asiens. Dieser Rummel hier langweilt mich, und ich möchte viel lieber oben auf Deck dem Gesang der Wogen lauschen oder die schwarze Nachtluft des Mittelmeeres einatmen.

Trotz allem: Ich schaue gern zu, wenn Jugend tanzt, lacht, singt und sich vergnügt. Man darf kein Verächter der Anmut und Schönheit sein. Freude trübt das Kristall des Schicksals nicht. Wichtig ist, Abstand zu bewahren mit den Sinnen. Ein geistreiches französisches Sprichwort sagt: Liebe vom Kopf bis zum Nabel ist göttlich. Was darunter zielt, ist des Teufels.

Kein römisch-katholischer Priester oder Mönch ist in der Nähe des Tanzsaales zu erblicken. Der Talar ihrer Orden schützt vor oberflächlichem Getriebe. Auch ich werde eine Robe tragen, die orangefarbene der Swamis: Es ist das Symbol des Feuers. Darin wird die Weltlichkeit verbrannt. Es wird keine finstere, dumpfe Kasteiung sein, sondern selbstverständlicher Verzicht auf Überflüssiges.

Seit früher Jugend liebe ich die Orangenfarbe der Apfelsine. Mein Zimmer als Oberschüler war im gleichen Farbton tapeziert. Unbewusst bevorzugte mein Charakter jene Nuance, in deren Farbklang mein Wesen schwingt. Die Zukunft birgt Hell und Dunkel. Aber für Menschen, die das rasende Rad der Karma-Turbine nicht mehr drehen, ist das Schicksal ausgelöscht aus den Blättern des Kommenden. Weder bedrückt sie länger graues Leid, noch kann überschäumendes Gelächter ihren Gleichmut erschüttern. Weder Sorge noch Leid spült an ihre Füße heran, sie leben im Licht des Erkennens.

Satchidananda: Sein – Wissen – Wonne.

Port Said

Wir laufen Port Said an. Obwohl der Himmel noch bewölkt ist, bricht die Sonne zeitweilig durch. Es ist eine andere Sonne als in Deutschland. Sie ist heller, durchdringender und voll intensiver Ultraviolett-Strahlung.

Beim Anlaufen des Hafens – es ist ägyptischer Boden – schwimmen Händler mit vollbeladenen Booten an die schmucke, weißgestrichene «Asia» heran. Vom Oberdeck der ersten Klasse beobachten wir die Einfahrt. Dann drückt der Zollbeamte oder ein uniformierter Mann der Hafenpolizei einen Stempel in unseren Pass, und wir dürfen zu kurzem Besuch für wenige Stunden an Land. Die Fremden sind gern gesehene Gäste, weil sie durch Einkäufe Devisen ins Land bringen.

Zum Trip in die Stadt habe ich mich wieder den lustig-harmlosen Indern angeschlossen. Sie können sich mit den Eingeborenen besser verständigen und kennen auch die arabische Mentalität. Kaum haben wir die Hauptstraße betreten, da überfallen uns die Verkäufer. Sie preisen billige Uhren und auch Schmuck an. Lederwaren – Schuhe, Koffer und Taschen – sind preiswert. Wir befreien uns von den Zudringlichen und chartern zwei Fiaker für je vier Fahrgäste zur Stadtrundfahrt. Der Preis wird langatmig ausgefeilscht: Pro Person ein Schilling, das ist eine halbe Mark. Wir besichtigen eine mohammedanische Moschee, nachdem der Wächter durch lautes Klopfen an die Tür herbeigerufen wurde. Es gibt keine Schwierigkeit, da unter uns die beiden Bürger aus Karatschi weilen, die dem Islam angehören. Für ein Bakschisch ist der Wächter gern bereit, uns die Halle des siebenten Himmels zu öffnen.

Die Moschee ist ein imposantes Gebäude, neu errichtet. Wir ziehen am Portal unsere Schuhe aus, lassen sie vor der Pforte, sichtbar für alle Straßenpassanten, liegen und betreten in Strümpfen den geräumigen Innenbau. Wundervolle rote Teppiche in riesigen Dimensionen bedecken den Fußboden. Einem Liebhaber echter Perserteppiche würde das Herz hüpfen. Sonst ist die Halle leer. Ich knie hin, und die beiden Muslims, ein Ingenieur und ein Bankfachmann, zeigen uns, wie sie sich vor Allah verneigen.

Allah il Allah! Und Mohammed ist sein Prophet!

Nach der eindrucksvollen Andacht besteigen wir wieder unser Fiakergefährt. Unterwegs begrüßt uns ein achtjähriger Hindu-Knabe, dessen Vater einen gepflegten Bazar mit Souvenirs, Antiquitäten und Sari-Stoffen besitzt. Der Knabe ist geschäftstüchtig. Er führt uns zu seinen Eltern. An jedem Dampfer erwartet er die Reisenden und lotst sie zu Einkäufen in den Laden. Damit nicht genug. Auch im Ladengeschäft selber bietet er wie ein Erwachsener die Waren an. Zuletzt haben die Hindus eine Menge Geld ausgegeben.

In der beginnenden Dämmerung spazieren wir zum Dampfer zurück. Die vielen Bazar-Eigentümer wittern ihre Chance. Ein Imbiss mundet uns vortrefflich. Sogar der Preis für die Speisen und Getränke wird ausgehandelt. Das ist der Orient. Die arabischen Rassen fühlen sich nur wohl, wenn sie feilschen und gestikulieren können. Wenn sie ihren Käufer übervorteilt haben, reiben sie sich schmunzelnd die Hände.

Ein barfüßiger Bursche mit langem, schmutzigem Kaftan, der wie ein weiter Rock oder ein Nachthemd vom Hals bis zu den Knöcheln reicht, drängt sich mit seinem Holzkasten – dem Schuhputzbehälter – an uns heran.

Diese Kinder und Jugendlichen Arabiens haben herrliche Augen, klar und tief wie das Wasser des Nils. Es ist eine gesunde, urwüchsige Rasse, verbunden mit Erde und Himmel. Sie sind wie Katzen, geschmeidig und robust zugleich.

Der junge Bursche will durchaus meine Schuhe putzen, die weit sauberer sind als seine schlammüberzogenen Füße. Ich gebe ihm ein Geldgeschenk, ohne seine Dienste zu beanspruchen. – Salam! sagt er und macht eine tiefe Verbeugung.

In einem Lederwarengeschäft gibt es hübsche Taschen aus Wild- und Krokodilleder mit eingeprägten Bildern von Kamelkarawanen. Wieder setzt dieses lange, ermüdende Feilschen ein mit Händeringen, Augenverdrehen und beleidigten Mienen oder lachenden Gesichtern, je nachdem der Handel gedeiht.

Eine Koffertasche aus beigefarbigem Wildleder für drei englische Pfund angeboten, wird schließlich für ein Pfund und sechs Schilling erstanden. Eine andere Tasche, die mir gefällt, soll fünf Pfund kosten. Ich biete zwei Pfund, weil ich sehe, wie es die Inder machen. Abwehrende Worte und gespreizte Finger, die gekränkt in der Luft umherwirbeln. Die Tasche wird wieder ins Regal gestellt. Nach dreimaligem Verlassen des Bazars und viermaliger Rückkehr einigen wir uns auf zweiundeinhalb Pfund. Das sind dreißig Mark.

Der Inhaber, klein, dick, mit grauem Schläfenhaar, lässt sich nach jedem abgeschlossenen Kauf vom Kunden auf beide Wangen küssen. Vorher dürfen die Käufer nicht fort. Sein bildhübscher Sohn, achtzehn Jahre alt, mit gekräuseltem, hartem und kurzgeschnittenem Schopf, zeigt mir voll Stolz seine Kräfte. Er versucht, die Hand eines Hindu beim Abschiedsgruß zwischen seinen sehnigen Fingern zu zerquetschen. Die Inder haben gewohnheitsmäßig einen weichen Händedruck. Der Bursche weiß das. So gelingt es ihm, dem Hindu einen Schrei des Schmerzes zu entlocken. Er triumphiert. Nachher will er dasselbe Manöver bei mir probieren, aber da hat er Pech, denn ich habe viel trainiert, um meine Hände und Arme kräftig zu erhalten.

Ich bin stärker als du! brüstet er sich. Lächelnd erwidere ich noch stärker den Druck seiner braunen Finger. Stöhnend bricht er in die Knie: Dear little boy! I am stronger! I could be your father! (Lieber kleiner Junge! Ich bin stärker! Ich könnte dein Vater sein!)

Aus fünf Meter Entfernung winken wir uns beim Abschied auf offener Straße zum letzten Mal freundschaftlich zu: Salam! Salam! So jedenfalls verstehe ich seinen bewundernden Gruß. Auch dieser Bursche hat sein Hobby: Er protzt mit seiner Stärke.

Port Said, so sagt man mir, ist einer der gefährlichsten Hafenplätze des Nahen Ostens. Taschendiebe sind dort frech und kühn. Sie befestigen unter ihren Fingernägeln schmale, rasierklingenscharfe Stahlblättchen und schneiden blitzschnell im Gedränge Rock- oder Brusttasche auf, ohne dass der Bestohlene den Verlust seiner Börse merkt. Ein Ausländer sollte niemals allein in einem Shop einkaufen. Er könnte spurlos verschwinden und mit durchschnittener Kehle irgendwo verenden. Aber am Tage zeigt Port Said ein freundliches, modernes Gesicht mit Häusern stattlich wie Hotelpaläste. Auch Holzbaracken, sauber und auf Pfählen dicht am Meer erbaut für Flüchtlinge aus Israel erwecken einen anheimelnden Eindruck. – Ich werde den Hafen von Port Said und die Ägypter in angenehmer Erinnerung behalten.

Abends im Lounge-Room an Bord: Ein ägyptischer Zauberkünstler führt seine verblüffenden Kunststücke vor. Eine Stunde später werden wir aus dem Hafen gelotst. Port Said spiegelt sich lichterglänzend im Wasser.

Suez-Kanal

In der Nacht werden wir den Suezkanal durchschleusen. Bald sollen wir Aden anlaufen. Der Zauber des Nahen Ostens hat begonnen. Der Orient empfängt uns mit seiner sphinxhaften Anmut, seinem fremdartigen und märchengleichen Geheimnis. Ich denke an Harun-al-Raschid. Oder an Aladin mit der Wunderlampe. Ich liebe diese Mischung von Romantik und Realistik, von Traum und Wachen, Phantasie und Rastlosigkeit.

Die Nacht hat tausend Augen. Vom Spazieren in Port Said bin ich müde. Vor dem Schlafen nehme ich ein Brausebad. Zwischen zwei Kabinen liegt jeweils ein Baderaum. Die ganze Nacht fährt unsere «Asia» im Konvoi, einer Kette von Passagier- und Frachtschiffen, in angemessenem Abstand durch die berühmt-berüchtigte Wasserstraße, die das Mittelmeer mit dem Roten Meer verbindet.

Als ich am Morgen erwache, schimmert durch das runde Bullauge der Kabine ein nahes Ufer mit Sandstreifen, Sandhügeln und verkrüppelten einzelnen Kiefern. An Deck kein Mensch. Alles schläft noch. Erst später kriechen die Passagiere vom unteren Deck nach oben an die frische Luft. Das Wasser ist weder mittelmeerblau noch rotmeerrot. Es ist grün. Ich ziehe aus meiner Tasche alte Butterbrote. Damit will ich ein gutes Werk tun und die über unserem Dampfer kreisenden Möwen füttern. Aber sie wollen die Brote gar nicht haben. Wahrscheinlich lieben sie als verwöhnte Feinschmecker nur Fisch- und Fleischkost.

Inmitten des 190 Meilen langen Kanals legten die Erbauer einen künstlichen See an. Im «Baedeker-Reiseführer» ist dafür der Name «Bittersee» eingezeichnet. Wahrscheinlich soll der See ein gegenseitiges Ausweichen der von beiden Enden kommenden Schiffe ermöglichen.

Bordspiele der Passagiere, die etwas gegen Langeweile und Verdauungsstörung tun wollen, bis gegen Mittag: Schuffle-Board und Tischtennis. Ein junger Hindu, von dem ich bisher vermutet habe, er sei neu zugestiegen, entpuppt sich als weitgereister Globetrotter. Er hat schöne Augen, eine dunkelbraune Gesichtsfarbe und spricht ein primitives Englisch. Er ist von Beruf Steuermann und kommt von Genua. Da er erkrankte, will er wieder heim – auf Urlaub. «Zuhause» – das heißt bei ihm «Bengalen». Seine Arme sind mit den Anfangsbuchstaben seines Namens tätowiert. Er erklärt mir, wie die neuen Passagiere von Suez auf unser Schiff übersteigen: Ein kleines Dampfboot gleitet auf uns zu, legt längsseits fest, und die Gäste erklimmen die herunterhängende Seiltreppe.

Wir stoppen nicht in Suez.

Nachmittags habe ich ein interessantes Gespräch mit einem Botschaftsmitglied der pakistanischen Diplomatie in Rio. Er glaubt weder an Weltanschauungen noch an sonstige Ideen, sondern allein an «Menschlichkeit». Das ist sein Steckenpferd: Humanität. Verbesserung des Lebensstandards der bettelarmen asiatischen Massen sei das Wichtigste. Ob Demokratie oder Diktatur sei nebensächlich. Wesentlich allein sind Freiheit, Existenzminimum und gerechtere Güterverteilung. Aber das sei nicht mit Idealismus und verschwommenen Doktrinen zu bewerkstelligen. «Gib und nimm! Leben und leben lassen!»

Ich finde: Alle Menschen haben irgendwie recht. Jeder auf seine Weise. Und bis zu einer gewissen Grenze. Alle wollen angeblich das Beste für die Welt: Amerikaner, Russen und Asiaten. Ihr Ziel ist dasselbe: Glück und Wohlstand. Und doch werden sie niemals einig über den Weg. Sie sagen Hüh und Hott. Sie zerren dahin und dorthin. Am Ende bleibt alles beim Alten.

Der Jüngling Gosh, sechzehn Jahre alt, wird allgemein Baby genannt. Er ist ein lebhafter, gutmütiger, kluger Hindu-Bursche. Er spricht Französisch, Englisch und Hindi. Abends bei Mondschein hört er gern indische Liebesgesänge und deutsche Volkslieder. Umringt von einer Schar Zuhörer, wechseln wir uns nachts von zwölf bis zwei Uhr gegenseitig im Vortrag von Heimatmelodien ab.

Noch kein einziges Foto habe ich geknipst. Ich will mich nicht im Vielzuvielen verzetteln. Indien ist mein Ziel, und so möchte ich indische Fotos haben.

Für den Abend ist eine Kino-Vorführung angekündigt. Ein Kulturfilm über Ägypten wird gezeigt und anschließend «Mogambo» mit Ava Gardner und Clark Gable. Der Titel «Mogambo» gefällt mir. Er klingt nach Afrika und echter Natur. Aber was die amerikanischen Regisseure und Stars daraus machen, ist übler Kitsch mit Alkohol und Eifersucht.

Unser weißes Luxusboot stampft den Kanal entlang. Seit der Film «Mogambo» die Gemüter empfänglicher Seelen aufrührte, spinnen sich im Verborgenen Liebestragödien an mit Eifersucht, Leidenschaft und heimlich-öffentlichem Klatsch. Wo Menschen wohnen, ist es immer das Gleiche: Leid und Lust. Sich diesem Kreislauf zu entziehen ist nicht so einfach.

Während die Liebenden, Entzweiten und Sichsuchenden herumirren, habe ich noch eine Diskussion mit dem dänischen Kunstmaler und dem kanadischen Missionar in unserer Kabine. Es ist schwierig, so finde ich, das «Absolute» jemandem nahezubringen, der ein vorgefasstes Dogma vertritt. Doch zuletzt einigen sich alle Drei, dass jeder auf seine Art in den Himmel gelangt. Happy End!

Bald werden wir Aden erreichen, und dann öffnet sich das Tor zum Indischen Ozean. Männlein und Weiblein schwimmen im kleinen Bassin. Kinder kreischen. Es ist eine Freude zu leben, zumal dann, wenn man nichts wünscht. Mögen die Verliebten glücklich sein! Mögen die Entzweiten sich wieder finden! Mögen die Liebesuchenden den Partner oder die Geliebte entdecken, die ihnen für Stunden oder Tage das Paradies vermitteln! Manche sind vollendet glücklich allein, aber die meisten brauchen ein Objekt, ein zweites Wesen, um sich in der Umarmung zu vollenden und zu berauschen.

Sei, wie du bist! Und sei es ganz! Halbheiten sind ein Greuel! O, dass Ihr heiß oder kalt wäret, nicht jedoch lau und mittelmäßig, Ihr Menschen der Sinne und des Leibes! Der Kunstmaler sagt abgeklärt und weise zu mir: Wer viele Bücher liest und viel ins Kino rennt, beweist damit, dass er selber nichts erlebt. Wer das Erlebnis bevorzugt, liest nicht mehr allzuviel und lässt sich auch nicht aus zweiter Hand Schwarzweiß-Schatten vorgaukeln.

Das Rote Meer

Wir fahren und gleiten und stampfen. Wasser ringsum. Die Kontinente sind nur Inseln im Wassermeer. Das «Rote Meer» ist nicht rot, sondern tagsüber dunkelblau und nachts schwarz. Die Sonne versinkt rasch am Horizont. Die Nacht naht fast übergangslos, so als plumpse die Sonne in den Ozean.

Das kleine Schwimmbassin wird wieder gefüllt. Einige Gäste produzieren ihre Tauchkünste. Auch die Kleinsten werden dem kühlen Nass mit Rettungsringen anvertraut, unter dem Schutz der Nurse, der Kindergärtnerin.

Vorsicht vor dieser Sonne! Sie scheint nicht heißer als bei uns im Hochsommer. Nein, aber ihr Licht ist heller, fast von blendendgreller Durchsichtigkeit. Die Priester setzen jetzt weiße Leinenmützen auf, und auch ich hole meine Jockey-Strohbedeckung aus dem Koffer. Vor Jahren habe ich diese praktische Mütze in Tegernsee gekauft.

Stundenlang könnte ich in die See starren. Die Wellen rauschen, und ich lasse mich von dem eintönigen Murmeln besänftigen. Der Bug durchschneidet mit achtzehn Knoten Geschwindigkeit das Wasser, teilt das schwarzblaue Meer in zwei Hälften, lässt schäumendweiße Gischtwogen zu beiden Seiten aus dem Meer aufsteigen, die am Heck in einer grünweißen Kielrinne hinter uns zurückbleiben.

Decktennis. Kurze, freundliche Gespräche. Man redet einige Worte, schwatzt da ein bisschen, sagt dort verbindlich-unverbindlich lächelnd: Excuse me, Sir! Oder: Auf später! und ist wieder allein oder in neuer Gesellschaft. Niemand ist gebunden, außer er wünscht die Bindung. Man promeniert, verweilt ein wenig, tut dies und jenes oder auch nichts. Breakfast, Lunch, Dinner, Film, Tanzfest. Leider tanzt man im geschlossenen Raum. Zu heiß. Ich wünsche frische, kühle Luft.

Wirklich ungestört ist man eigentlich nur im Lese- und Schreibsalon. Dort wagt niemand eine Unterhaltung anzuknüpfen. Spät in der Nacht schreibe ich, wenn die Passagiere in ihren Kabinen zum Schlummern verschwinden.

Ab jetzt geraten wir in die heiße Zone. Die Luft kühlt nachts kaum noch ab. Während in Europa König Winter regiert, erleben wir die sommerliche Glut des Fernen Ostens. Die Erde hat sich verändert.

Abends von zehn bis elf Uhr an der Reeling: Der junge Steuermann aus Bengalen, mit tätowierten Oberarmen, lehrt zwei Hindus und mich die Anfangsgründe der Navigation und Nautik sowie Signalblinken. Es ist interessant und sieht hübsch aus, in diesen Bordnächten zu beobachten, wie die sich begegnenden Dampfer Lichtzeichen austauschen: Eine Unterhaltung ohne Lärm, aber verständlich für den Experten.

Nun sitze ich allein in einem Sessel. Ich höre das Ping-Ponggeräusch der Zelluloidbälle. Fernes Lachen, leichtes Stampfen unseres Schiffes, wie das Schnauben und Zittern eines edlen, galoppierenden Araberhengstes. Die geöffneten Bullaugen lassen die schmalen Gardinen im Winde wehen. Aber die Brise ist nur matt. Keine Erfrischung dringt herein. Um mich abzukühlen, werde ich noch einmal zum Hinterdeck wandeln, langsam und gemächlich, werde den seitlich zum Wasser hinausragenden Erker aufsuchen, wo eine säuselnde Luftbrise Gesicht und Hände sanft umschmeichelt. Dann werde ich in die Koje gehen.

Zwei Inder entpuppen sich als Hatha-Yogis. Früh um sechs Uhr zeigen sie Asanas: Nauli oder knochenbrechende Verrenkungen, die uns Europäern hoffnungslos unausführbar dünken. Ich kenne sämtliche Positionen dieser indischen Heilgymnastik aus Abbildungen. Nun sehe ich die Übungen in Natur. Die Hindus sind schlank und gelenkig. Ihnen zuzuschauen bereitet Spaß. Ich bewundere ihre gekreuzten Beine, ihr Auf-dem-Kopf-Balancieren. Es gibt vierundachtzig solcher ausgeklügelter und ausgefeilter Übungen. Man muss jahrelang trainieren, um ein Meister darin zu werden. Die Hatha-Yogis behaupten, dass viele Krankheiten dadurch geheilt und auch überbewusste, transzendentale Bewusstseinszustände erworben werden können. Sie halten sich abwechselnd das linke oder rechte Nasenloch zu und atmen tief. Das nennen sie Pranayama: Atemtechnik.

Durch den Atem regulieren sie das Leben und den Kreislauf des Blutes. Sie können bestimmte Körperpartien mit Energie füllen, ganz nach ihrem Wunsch und Willen. Sie leben vegetarisch. Fleischkost erzeugt tierische Impulse, sagen sie. Ich ahne, dass es schwierig sein wird, all diese Übungen zu erlernen. Long is the way to Tipperary! singen die Briten. Ja, ich weiß: Vor den Preis haben die Götter den Fleiß gesetzt. Ist aber Körpergelenkigkeit das wahre Ziel? Ich bezweifle es. Der Geist beherrscht den Körper. Geist ist das Primäre, der Körper das Sekundäre.

Immer noch das Rote Meer. Nun ist es nicht mehr weit bis Aden. Ein heißer Tag. Ein sehr heißer Tag, obwohl die Sonne nicht scheint. Aber die Luft drückt auf den Kopf. Es ist, als umhauche uns eine dumpfe Schwüle wie in einem Treibhaus. Die Passagiere retten sich in das kleine Bassin oder in die klimagekühlten Räume unter Deck.

Unser Baby, Gosh, hat Bordwettspiele arrangiert mit Meisterschaft und Siegergewinnen. Ich habe bereits mein Game (Spiel) gegen Dr. Verrie verloren. Der 22jährige Steuermann mit seinen glänzenden Rehaugen ist unermüdlich im Bewegungssport. Fortwährend müssen diese jungen Leute etwas tun. Sie können nicht still sitzen. Ist das ein Vorzug oder ein Mangel? Ich für meinen Teil liebe es, dazusitzen und zuzusehen, oder einsam zu sein. Verzauberte und verzaubernde Solitude! Einsam und voll inneren Glücks. Die Geselligkeit vieler Menschen stört. Zusammensein wirkt anstrengend, strapaziös. Im Gespräch mit sich selber oder richtiger – im Nichtgespräch – schöpft man neue Kräfte. Im seichten Alltagsgeschwätz wird man leer wie ein Strohhalm.

Der Steuermann sagt entschuldigend: Wenn ich ruhig dasitze, schlafe ich ein! Ich muss immer Beschäftigung haben! Gosh, der Sechzehnjährige mit Flaum unter der Nase, verkündet gelassen ein großes Wort: «Alle Menschen sind Sünder, aber Gott vergibt ihnen!» Betroffen schaue ich ihn an. Woher weiß er das?

Der Speisesaal ist der kühlste Raum des Schiffes. Dadurch wird die Mühe des Essens erleichtert. Heute haben einige Neulinge Yoga-Übungen versucht. Sie zeigen jetzt dafür am Tisch besonderen Appetit.

Die Hindu-Jugend ist äußerst romantisch veranlagt. Für Gesänge ist sie leidenschaftlich eingenommen. In jeder Nacht werden die Stühle zwischen Schwimmbassin und Deckbar zusammengerückt. Dann beginnt das für westliche Ohren einschläfernd monotone Singen, das einem Näseln gleicht. Beifall nach jedem Lied. Jauchzen und Gelächter. Rhythmisches Händeklatschen als Begleitung des Sängers und verzückte Augen.

Der Steuermann aus Bengalen lehrt mich Bridge. Doch ich glaube, er ist unzufrieden mit mir, seinem älteren Schüler. Kartenspiele entlocken mir nur ein Gähnen. Er zeigt mir seine Kabine. Da er aus einfachen Verhältnissen stammt und keine Schulbildung genossen hat, findet er keinen Kontakt mit seinen Landsleuten, die alle studiert haben. Er ist ein Jüngling des Volkes, an der Schwelle zum Mannesalter. Kein Falsch ist aufzuspüren in seinem Wesen. Wenn er heimkommt nach Bengalen, werden ihn seine Eltern mit einem längst für ihn bestimmten Mädchen verheiraten.

Die Deutschen an Bord geben sich weniger ungezwungen. Sie kleiden sich übertrieben elegant. Sie zeigen mehr, als zu distanziertem Benehmen nötig ist. Sie posieren, außer dem Bundestagsabgeordneten, der unauffällig seinen Sonderinteressen huldigt: Kartenstudium und Landschaftsbetrachtung. Wozu wollen Damen Eindruck schinden? Es ist doch zwecklos. Es genügt, einfach da zu sein. Ein wenig lächeln. Ein wenig zuhören. Alles ist so bequem und mühelos, jedes Zuviel ist lächerlich und vergeudet nur Kraft.

Nein, auch die Nächte sind nicht mehr erfrischend. Weißer, kalter Schnee des Nordens klingt hier im kochenden Süden wie eine Legende. Starker Wind umwirbelt unser Schiff. Die Haare fliegen im Brausen der Lüfte. Wellen und Wogen tönen und tosen. Die See ist schwarz wie Tinte. Hoch türmen sich die Wasserberge, doch unser Schiff bewegt sich sicher, ruhig und gleichmäßig dahin...

Durch die Bullaugen des Lesesaales dringt blendende Sonnenstrahlung. Die Gäste erheben sich spät aus den Federn. Nach dem Lunch ist das Deck wie ausgestorben, als habe man alle Lebewesen in die Schlafkabinen gefegt. Ein faules, nutzloses Dasein. Wir sind Drohnen und fühlen uns unentbehrlich. Ich denke an die Worte Gautama Buddhas und muss lächeln: «Welchem Zweck, ihr Leute, dient euer Gespräch, euer Tun?»

Die Priester und Mönche erscheinen jetzt wie auf Kommando in Weiß. Die sonnenabwehrende Farbe herrscht vor. Die Stewards in weißer Livree mit kleidsamer schwarzer Schärpe.

Die Hälfte der Seereise liegt hinter uns. Die Neugier der Gäste über Woher und Wohin hat sich beruhigt. Jeder weiß jetzt vom Nächsten, was er wissen wollte. Wir sind eine große Familie. Man behauptet, die heutige Jugend sei verdorben. Ich glaube das nicht. Man sagt, die Welt sei hoffnungslos schlecht. Hier an Bord wird das Urteil verändert. Die Menschen haben Moral, Ethik, Takt und Güte. Vielleicht ist die Hitze schuld, die alle Aufregung als unnütze Belastung wegschmilzt.

Mögen die Menschen schwatzen, es ist nutzlos etwas verändern zu wollen in dieser Hitze. Morgen ist wieder ein Tag. Man sollte allen Ärger auf morgen verschieben. Das ist ein grandioses Rezept für alle Probleme, die unser Hirn nicht zu entziffern vermag.

Addios! Adieu! Farewell! Lebewohl, Ärger! Lache und singe! Trauere und schweige! Denn beides, Lachen und Trauern, sind die Vorder- und die Rückseite der gleichen Münze, mit der wir zahlen und bezahlt werden.

Die Luft wird milder. Nicht viel. Doch es genügt, um wieder aufzuatmen. Es ist herrlich zu leben. Im Schwimmbassin tummeln sich jeweils zwei oder drei Passagiere. Mehr fasst das Liliputviereck kaum, wenn sich die Schwimmer nicht behindern wollen.

Zur linken Seite taucht Land auf. Der junge Bengale sagt mir, dies sei die Küste von Jemen. Öltanker auf entgegengesetzter Route dampfen majestätisch an uns vorbei. Auf der Landkarte sehe ich, dass wir die Seestraße «Bab el Mandeb» durchschiffen. Unser Schiff dreht um fünfzehn Uhr nach links ein. Zwischen den Küstenstreifen taucht Aden auf. Trockene Berge, trockene Erde starren uns an. Keine Bäume, keine grünen Pflanzen, keine sanften gras- oder fruchtbewachsenen Hügel und Felder, nur ringsum verbrannte, tote Erde. Aber aus der heißen, trockenen Trostlosigkeit erheben sich moderne Bauten in Weiß und Gelb. Man merkt, dass dieser Hafen vom Fremdenverkehr lebt.

Der Lotse klettert an Bord. Die Flagge wird eingeholt. Das Hafenbecken ist seicht und der große Ozeandampfer kann nicht bis zum Pier einfahren. Kleine Fährboote verkehren zwischen der Stadt und schwimmenden Hotels. Aden ist ein britischer Freihafen. Wir setzen über und steigen an Land.

Aden