Inferno - Mela Hartwig - E-Book

Inferno E-Book

Mela Hartwig

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Beschreibung

Wien 1938: Der Anschluss Österreichs steht kurz bevor. Es ist die Zeit der Pogrome, der Opportunisten, Denunzianten und überzeugten Nazis. In dieser Welt des Umbruchs muss sich die 18-jährige Ursula zurechtfinden und entscheiden, ob sie Teil des aufkommenden Schreckenssystems wird oder Widerstand leistet. Nirgends kann man mehr sicher sein, denn »in Zukunft werden alle Wände Ohren haben und hinter jeder Tür wird einer horchen«. Ursulas Bruder versucht die Familie für die Nationalsozialisten zu gewinnen, in ihrer Malerschule haben parteitreue Dozenten das Sagen. Nur ihr Freund scheint ein Hoffnungsschimmer in diesen Zeiten zu sein, in denen nicht nur Ursulas Leben durch all die Bedrohungen zu zerfallen droht. Die atemlose Prosa spiegelt Ursulas innere Zerrissenheit, Verzweiflung und existenziellen Ängste. Zwischen 1946 und 1948 verfasste Mela Hartwig in ihrem Londoner Exil den Roman "Inferno", der nun 70 Jahre später zum ersten Mal erscheint. Es ist bemerkenswert, wie scharfsinnig sich Hartwig unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit der NS-Zeit auseinandergesetzt hat.

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Seitenzahl: 284

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Mela Hartwig

Inferno

Roman

Mit einem Nachwort von Vojin Saša Vukadinović

Literaturverlag Droschl

Straßen

Ziellos schlenderte Ursula durch die Straßen. Ihr Ziel war die Straße selbst. Irgendeine. Sie hatte herausgefunden, daß jede ein Ausschnitt aus der Vielfalt des Lebens ist, das Fragment einer Wirklichkeit, die sich geheimnisvoll hinter undurchsichtigen Mauern vor unserer Neugierde verbirgt, unserer Phantasie jedoch keine Schranken setzt, wenn sie versucht, ein verhängtes Fenster, ein vorüberhuschendes Lächeln zu Vermutungen, Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten auszuspinnen, weil sie sich ihr niemals enthüllt und sie daher niemals widerlegt.

Von der Fassade der Häuser ließen sich Schicksale ablesen, die sich hinter den Mauern abspielten, wie man aus dem Ausdruck eines Gesichts auf die Stimmung schließen kann, die das Zusammenspiel seiner Züge bestimmt, und einem Mosaik vergleichbar setzten sich Häuser und Schicksale zur Straße zusammen, verwirrende Einzelheiten zu einer Idee der Gemeinschaft verflochten, die unaufhaltsame Bewegung der Zeit in die beruhigte Unbewegtheit von Mauern gebannt, der unendliche Raum zwischen Wänden eingefangen, wie ein wildes Tier, das man in einen Käfig sperrt, um es unschädlich zu machen.

Die Häuser in den stillen Seitenstraßen, schmucklose, zumeist dreistöckige Häuser, die bescheiden hinter winzige Vorgärten zurücktraten oder häufig, anspruchsloser noch, auf das bißchen graue Grün verzichteten und kahl den Gehsteig säumten, ließen erraten, daß hinter ihren bescheidenen Fassaden, farblos wie Federzeichnungen, ein Tag wie der andere eintönig verging, daß sie Menschen Obdach gewährten, die niemals mehr als ein Existenzminimum an Glück vom Leben verlangt und niemals mehr erhalten hatten, deren laue Herzen niemals von den Versuchungen heimgesucht wurden, mit denen Leidenschaft Herzen bedrängt, die niemals über Eitelkeiten straucheln, sich niemals in den Schlingen verstricken, die Ehrgeiz legt, die sich kaum je auch nur zu einem Wunsch versteigen, den eine magere Börse nicht erfüllen kann und die mit ihrem Los zufrieden sind, weil sie mit sich selbst zufrieden sind. An Blumentöpfen vorbei, die da und dort einen Fenstersims schmückten, an verblichenen Vorhängen aus billigem geblumtem oder gestreiftem Zeug vorbei, erlaubte zuweilen ein Fenster einem Blick, in eine der engen Stuben einzudringen, in der sich ängstlich behütete Möbel drängten, Lehnstühle und Sofa von Überzügen beschützt, erlaubte ihm über die Familienphotographien zu gleiten, die in gestanzten Rahmen steckten, die Silber vortäuschten, über Figuren aus Gips, aus billigem, farbig glasiertem Porzellan, zuweilen aus Bronze, in denen sich eine erschreckende Realität phantastisch mit Unnatur mischte, über einen Öldruck, der eine Wand schmückte, ein Hirschgeweih, über einen Vogelbauer, hinter dessen Stäben ein gelber Schimmer hin und her hüpfte, über eine Uhr, die zuweilen eine Glasglocke schützte und die der Spiegel, der ihren Hintergrund abgab, verdoppelte. Aber hinter diesem friedlichen Bild, das sich dem Blick des Vorübergehenden darbot, konnte Ursula erblicken, was Augen nicht sehen konnten, die bedrückende, die beklemmende Genügsamkeit, die sich in diesen Stuben eingenistet hatte und die, einem stehenden Wasser vergleichbar, das eine Brutstätte aller Keime ist, die Fäulnis nährt, eine Brutstätte jener furchtbaren, jener grauenhaften Zufriedenheit ist, die jede Energie, jedes Gefühl, jeden Wunsch, jeden Traum, aus denen Zukunft gesponnen wird, erstickt, die nur ein Heute ist, ein gespenstisches Heute, dem niemals ein Morgen folgt.

Die Häuser der Vorstadtstraßen, verwahrloste Zinskasernen, deren Fassaden Risse und Sprünge bedeckten, die Narben und Wunden der Not, deren Mauerwerk vergrindet war, wie Aussätzige es sind, deren klaffend geöffnete Tore den üblen Atem ausstießen, zu dem sich die Ausdünstung zusammengepferchter Menschen, Speisengerüche aus unzähligen Küchen, der ungesunde Dunst, der aus den Betten Kranker aufsteigt, und der ekelhafte Geruch, den Fusel verbreitet, mischt, die keine Heimstätten sind, sondern nur Obdach, Asyle, in denen das Elend haust, Hunger und Haß, und wie zum Sprung geduckt eine stumpfe, dumpfe Verzweiflung, diese unseligen Häuser starrten Ursula aus winzigen, trüben Fensterscheiben, die der Ruß naher Fabrikschlote verkleisterte, anklagend an. Kein Vorhang verwehrte es dem Blick, zwischen den zum Trocknen ausgehängten Wäschestücken in diese kahlen Kammern einzudringen und die nackten Wände zu betrachten, Gerümpel und Lumpen, und Gesichter, die sich wie Gesichte in der beängstigenden Enge dieser Stuben drängten, vergrämte Gesichter, in die Entbehrungen verfrühte Furchen und Runzeln eingegraben hatten, harte Gesichter, entschlossen zu einer Tat, die noch nicht reif war, verbitterte Gesichter und hoffnungslose und stumpfe, die kein Wunsch beseelte, kein Ehrgeiz, die nur wußten, daß es für sie kein Heute gibt, nur ein Morgen, an das sie noch nicht oder nicht mehr glaubten, hohlwangig alle und in der Vielfalt, in der sie unmenschlich-menschliches Elend widerspiegelten, ein Spuk, von dem sich der Blick nicht loszureißen vermochte, bis er den hungrigen Augen eines Kindes begegnete und sich beschämt senkte. Aber hinter diesen Holzschnitten der Not sah Ursula, was Augen nicht sehen konnten, sah den Tag, an dem diese Zinskasernen sich auftun werden, um die Heerscharen der Entrechteten auszuspeien, wie die Gräber sich auftun werden, um ihre Toten auszuspeien am Tag des Gerichts, den Tag, an dem Herzen aufflammen werden, wie Fackeln, und ausgemergelte Hände sich zur Faust ballen werden und Füße marschieren werden, marschieren, in das Morgen hinein.

Gußeiserne Gitter, deren Stäbe sich auf Betonsockel stützen, der in regelmäßigen Abständen Betonpfeiler aussendet, an den sich die beiden Stäbe, zwischen die er sich schiebt, anklammern, säumen die Villenstraßen. Aber es sind nicht jene Gitter, die einschließen, es sind Gitter, die ausschließen, die Barrikaden, hinter denen sich der Reichtum verschanzt und die sorgfältig verschnittenen lebenden Hecken hinter ihnen verwebten ihre Blätter zu einem dichten grünen Vorhang, der auch noch den Blicken der Vorübergehenden jeden Zutritt verwehrt. Nur da und dort gelingt es zuweilen einem unbefugten Blick, Gezweig und Laubwerk zu durchdringen und den Schimmer leuchtender Blumenbeete zu erspähen, eine Terrasse mit Korbsesseln und Liegestühlen besetzt, die freundlich zu Rast und Müßiggang einladen, einen Balkon, über dessen Einfassung die grüne Fülle wuchernder Blattpflanzen sich ergießt, ein Stück Mauer, das sich hinter einem Geflecht aus Schlingpflanzen versteckt. Aber was der Sommer verbirgt, enthüllt der Winter, der von Bäumen und Gesträuch die Blätter streift, enthüllt Fassaden, geschwätzige Fassaden, die jedes Geheimnis der Besitzer preisgeben, wenn der Beschauer es nur versteht, die Schriftzeichen aus Quadern und Säulen zu entziffern, die nicht nur den Geschmack des Eigentümers verraten und die Höhe seines Bankkontos, sondern auch noch und beredter als Worte ausplaudern, was sie verbergen sollten, das, was sich hinter ihnen, was sich in den verwöhnten Räumen abspielt, in die der Blick, von bekiesten Wegen in gebührender Distanz gehalten und von schweren Vorhängen behindert, nicht einzudringen vermag: und Ursula sah, was sie nicht sehen konnte, die Vitrinen, in denen sich die Kostbarkeiten vergangener Jahrhunderte einträchtig zusammenfanden, die Schalen, in denen sich das Licht staute und aus denen es gebändigt als gleichmäßig verteilte, gedämpfte Helle hervorsickerte und nur funkelnd und vielfarbig aufsprühte, wenn es sich in dem kostbaren Stein eines Schmuckstückes verfing, den Cézanne oder vielleicht war es ein Seurat, ein Corinth, ein Kokoschka, ein Sisley, dem der Architekt eine ganze Wand eingeräumt hatte, die Bücherregale, die fast bis zur Decke hinauf die Wände der Bibliothek verkleideten, sie hörte, was sie nicht hören konnte, die Schritte, die erlesene Teppiche dämpften, das leise Klirren von Porzellan, Glas und Kristall, das Bankette begleitet, das Knistern seidener Kleider, Musik und das unbekümmerte Lachen, in das sich auch nicht die leiseste Ahnung von dem Elend mischt, dem es seine Unbeschwertheit verdankt. Und Ursula erriet, daß sich mit Geld alles erkaufen läßt, alles, ohne Ausnahme, nicht nur Hände, die sich emsig rühren und regen, Ohren, die ehrfürchtig einer Stimme lauschen, in deren Klang sich der Klang klingender Münzen mischt, Augen, die von dem Glanz, den Gold ausstrahlt, geblendet, für Makel und Fehler erblinden und nur noch Vorzüge sehen, denen sie Bewunderung zollen dürfen, Rücken, die sich demütig krümmen, Zungen, die schmeicheln, und Lippen, die dienstfertig lächeln, auch noch willige Gehirne, die für den, der sie bezahlt, denken, auch noch schmählich willfährige Herzen, die dem, der sie bezahlt, Träume und Leidenschaften liefern. Aber Ursula erriet auch noch, was die Fassaden verschwiegen, erriet, daß für Reichtum ein Pönale zu entrichten ist, denn wir bekommen nichts geschenkt, daß teurer als mit Geld bezahlt werden muß, was Geld erkauft, die Befriedigung jeder Laune mit Langeweile, bis die Laune schal wird, die Erfüllung jedes Wunsches mit Überdruß, der den Wunsch zuletzt schon im Keim erstickt, bis die Phantasie, der nichts zu wünschen übrigbleibt, zu träumen verlernt und verkümmert. Aber furchtbarer noch, fühlte Ursula, war der Preis, der für Freundschaft, für Liebe bezahlt werden mußte, wenn nichts, nichts, nichts dem Käufer verrät, ob ein zärtlicher Blick ihm oder seiner Brieftasche gilt, wenn jedes Wort, jedes Lächeln, jedes Gefühl, das ihm beschert wird, sich in seinen Händen in gelieferte Ware verwandelt und unüberbrückbar ein Abgrund aus Mißtrauen ihn von jedem trennt, der ihm teuer ist.

Aber mehr als Ausschnitte aus dem Leben, weit mehr als das, waren für Ursula die breiten Geschäftsstraßen, die der Gürtel, den Stadtbahn und verstaubte Anlagen um die inneren Bezirke ziehen, aussendet, die strahlenförmig dem Zentrum der Stadt zustreben und unter uralten Bäumen in den sanften Bogen der geräumigen Allee einmünden, die sich ringartig um das Stadtinnere schlingt. Diese Straßen, die schimmernde Schaufenster säumten und abends die erleuchteten Fensterreihen der Kaffeehäuser und Restaurants, in die hinein sich die Portale der Theater öffneten und die Vestibüle der Kinos, und durch die sich unversiegbar der Strom der Fahrzeuge ergoß und ein Strom eiliger Schritte, waren, wie Ursula es nannte, Spiegelungen des Lebens und ein Gleichnis seiner verwirrenden Vielfalt und Fülle.

Sie konnten, wie Ursula meinte, mit einem Film verglichen werden, der sich mit atemraubender Geschwindigkeit vor den Augen des Beschauers abrollt, nur hin und wieder von einer Aufnahme unter der Zeitlupe gehemmt, wenn ein Schutzmann an einer Straßenkreuzung den Verkehr aufhält, von einer Großaufnahme, wenn der Scheinwerfer eines Autos unversehens aus den dichten Dunkelheiten eines Abends ein Gesicht hervorreißt und es einen Augenblick lang in seinem Lichtkegel festhält, denn wie in einem Film gleiten die Bilder der Straße fast traumhaft, fast schattenhaft an uns vorbei, und was die Wirklichkeit, die sich auf der Leinwand abrollt, und die Wirklichkeit, die sich auf der Straße abspielt, in eine Scheinwelt ummünzt, hat hier wie dort seine Ursache darin, daß die Wiedergabe es an Vollständigkeit mangeln läßt: denn wie es den Film, der auf zwei Dimensionen beschränkt ist und die dritte durch Perspektive ersetzt, Tiefe vortäuscht, wo keine ist, an Raum fehlt, der unsichtbar Bewegungen und Konturen umspielt und ihnen Plastik verleiht, aber sich nicht photographieren läßt, so fehlt es dem Straßenbild an einer Dimension, die man die vierte nennen könnte, an zeitlicher Tiefe. Denn was in so bewegten und beständig wechselnden Bildern an dem Beschauer vorbeigleitet, sind unzählige vereinzelte Augenblicke, die sich unabsehbar aneinanderreihen, aber niemals zur Zeitfolge ineinanderfließen, niemals auch nur zu einer Stunde verschmelzen, denn keinen umspielt das Gestern, kaum das Heute und auch nicht der leiseste Hauch eines Morgen, die allein dem Augenblick zeitliche Tiefe und Perspektive verleihen. Doch was ihnen an Tiefe fehlt, wird ihnen an Weite geschenkt, und kein Bild kann umfassen, was in einem einzigen Moment Raum findet, den unzählige Menschen zugleich erleben, in dem sich unzählige Dinge zugleich ereignen, der in unendlichen Spiegelungen die Vielfalt und Fülle des Lebens einfängt, der alle seine Facetten spielen läßt und magisch aufleuchtet, ehe er schon erlischt.

Genau besehen jedoch war es ein Vergleich, der hinkte, sah Ursula ein: denn was dem Bild, das die Straße dem Beschauer bietet, einen so eigenartigen, einen so bestrickenden Zauber verleiht, ist eben das, was es vom Film unterscheidet, der das Nacheinander der Ereignisse festhält, ihren logischen Ablauf, der keineswegs die Fülle spiegelt, sondern sparsam sichtet und wählt und die Einzelheiten zu jenem lückenlosen Stoff verarbeitet, aus dem man Reportagen und Geschichten zurechtschneidert, während die Straße das Nebeneinander der Geschehnisse enthüllt, ihre Gleichzeitigkeit, während sie Zufall und Willkür walten läßt und die Ereignisse in ihrer Vielfalt vor uns hinschüttet, während sie Einzelheiten aneinanderreiht, die nichts gemeinsam haben als den Augenblick, in den sie gebannt sind, denen es an jedem Zusammenhang fehlt und die es dem Zuschauer erlauben, seine Phantasie spielen zu lassen und in die losen Maschen des schütteren Gespinstes, zu dem sie sich verweben, seine Träume und Stimmungen hineinzuknüpfen.

Ob sie mehr als andere dazu neigte, Träumen nachzuhängen, wußte Ursula nicht, denn was wissen wir einer vom andern, aber sie wußte, daß nur die Straße, dieser Karneval des täglichen Lebens, dessen Wirklichkeit so traumhaft verkürzt, so von allen zeitlichen Zusammenhängen losgelöst ist, daß wir ihn nur traumhaft oder gar nicht erleben können, sie so tief in Träume hineinlockte, in denen sie sich so willig verlor. Denn was sonst als Träume, fragte sie sich, hat das Leben für eine junge Person, die 18 ist, eben ihr Abitur abgelegt hat und Malerin werden will, Malerin werden muß, weil alles, was sie bewegt, sich für sie in Erschautes verwandelt, sich zu Farben entzündet, sich zur Gestalt verdichtet, und die nur noch zögert, weil zuweilen grausame Zweifel sie quälen, ob ihre Hand, wenn sie nur erst ernsthaft nach dem Pinsel griff, festhalten konnte, was ihr Herz so inbrünstig, aber vielleicht zu flüchtig, wie sie manchmal fürchtete, erschaute.

Nicht jedem beschert die Straße, was sie Ursula beschert, denn für den, der ihr nicht rückhaltlos seine Aufmerksamkeit schenkt, der sie in Gedanken versunken durcheilt oder in ein Gespräch vertieft oder dessen Augen mit Gleichgültigkeit geschlagen sind, enthüllt sie ihre Geheimnisse nicht, und nur für den, der empfänglichen Herzens ist, der bereit ist, sich von ihr beschenken zu lassen, der sich nicht scheut, Traum und Wirklichkeit ineinander zu mischen, entfaltet sie gauklerisch alle ihre Künste, nur dem, dessen Augen wundersüchtig Unsichtbares erspähen, erschließt sie sich wie ein gigantisches Bilderbuch.

Ursula hatte Augen, die sehen konnten, was nicht jeder sieht, für die sich die Farben und Züge, Schatten und Licht, Bewegung und Bewegtheit und auch noch Gesprächsfetzen, die ihre Ohren erlauschten, und Gefühle, die sie zu erraten glaubte, wie auf einer Palette zusammenmischten, ehe das Bild, verwandelt und gesteigert auf eine imaginäre Leinwand projiziert als tiefere, bedeutsamere und gültigere Wirklichkeit erstand.

Allen Wandlungen, die die Straße aus Tages- und Jahreszeiten schöpft, folgten ihre Augen bis in jene Tiefen, wo sie zur Vision umgemünzt in ihrem lautersten Widerschein erstrahlten, der nüchternen Geschäftigkeit, die sie am frühen Morgen entfaltet, wenn sich Kaskaden eilig dahinhastender Menschen, fahl und gespenstisch verfärbt im Frühlicht, in die Büros und Geschäfte hinein ergießen, die sie erst abends wieder welk und verbraucht ausspeien, dem fiebernden Glanz, mit dem sie sich abends schmückt, wenn die Schaufenster erlöschen und die Bogenlampen aufflammen, die festliche Beleuchtung der Vergnügungsstätten sich entzündet und an allen Ecken und Enden die Lichtreklame farbig auflodert und ihren Schimmer in verzückt aufleuchtende Gesichter hineinergießt. Aus den grauen Novembernebeln, hinter denen sich eine Straße versteckte, lösten sich für sie unheimlich und geheimnisvoll verengte Ausschnitte bildhaft los, Gebäude wie Phantome, eine wesenlose Wirklichkeit, die Pinsel und Blick narrte und sich nicht einfangen ließ; und die sommerlich verödete Straße flimmerte ihr vor den Augen als Quader in Weißglut und zu Stein erstarrter Glanz.

Auch in allen ihren Einzelheiten verwandelte sich die Straße für Ursula in verzückt Erschautes. Die Auslagen. Zauberten Stilleben erlesener Früchte vor sie hin, die aus Kisten und Körben aufschwebten, schwellender und süßer wurden, von ihrem Blick berührt sich unversehens in schillernder Schüssel sammelten, hinter der sich Sonnenfäden mit verstaubten Attrappen zu einem Hintergrund aus Brokat verwebten; gaukelten Blumenstücke vor sie hin, die wucherten und wuchsen und zum Garten wurden, zur südlichen Landschaft, und schon rauschte in ihren Ohren das Meer. Auch noch das Geräusch eines Motors verdichtete sich für sie zum Bild, schon war es ein Motor, der eine Maschine trieb, schon blickte sie in die Werkstatt hinein, in die Fabrik, in der die Räder kreisten, die an ihr vorbei rollten, und sah schwielige Hände, die zugriffen, wo es not tat, nackte Arme, deren Muskeln wie Knoten hervortraten, schweißbedeckte Gesichter und das furchtbare laufende Band, dieser Treibriemen, der Finger in wirbelnde Bewegung setzt zu dem einen entnervenden, bis zum Überdruß, bis zur Erschöpfung, bis zur Verzweiflung, bis zum Stumpfsinn wiederholten Handgriff.

Wie aus weiter Ferne kehrten ihre Blicke aus diesen Bildern in die Wirklichkeit zurück und schienen nichts zu sehen, bis aus der Fülle der Gesichte ein Gesicht auftauchte, auf dem ihre Augen haften blieben, weil irgend etwas darin ihre Neugierde erregte oder ihr Mitleid oder ihren Beifall und sie es festhalten wollte in dem imaginären Skizzenbuch ihrer Eindrücke. Aber ein Gesicht ergibt sich nicht einem einzigen Blick, mußte Ursula einsehen, auch wenn sie es noch so aufmerksam, noch so prüfend betrachtete. Sie mußte erst einmal versuchen, seine Züge zu entziffern, und schon entzündete sich ihre Phantasie und sie begann dem Schicksal nachzusinnen, das sich hinter ihnen verbergen mochte, sich den flüchtigen Augenblick, den ihre Augen erhaschten, zu den Jahren auszuspinnen, die es modelliert hatten.

Aber wie konnte sie Schicksale erraten, wenn sie nur aus ihrem eigenen Herzen Vermutungen schöpfte, fragte sie sich, wenn sie nicht in die vorüberhuschende Gestalt hineinschlüpfte und wenigstens einen Augenblick lang das unbekannte und erborgte Schicksal erlebte, wenn sie sich nicht aus dem Betrachter in den verwandelte, den sie betrachtete, und schon stand sie frierend an der Straßenecke und hielt mit steifen Fingern Streichhölzer feil, graue Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, mit zitternden Händen zählte sie ihre Barschaft, die spärliche Einnahme endloser Stunden, und blickte mit müden, stumpfen Augen in die trostlosen Jahre hinein, die hinter ihr lagen, fragte sich, wie sie ein solches Leben hatte ertragen können, aber sie wurde der Antwort enthoben, denn schon bog sie, in den Arm ihres Geliebten geschmiegt, in jene stille, dunkle Seitenstraße ein und lauschte besinnungslos den zärtlichen Worten, die er in ihr Haar hineinflüsterte, eilte neben ihrer Mutter, denn die Aufführung hatte bereits begonnen, die Stufen empor, die ins Vestibül der Oper führten, malte sich aus, weshalb sie sich verspätet hatten, streckte eine verkrüppelte Hand nach einem Almosen aus, stieg dicht verschleiert in ein Auto und fuhr einem Abenteuer entgegen, das sie in Gedanken bis zur Neige erlebte, sah, wie die Drehtür eines Restaurants um Eintretende kreiste, und schon war sie es, die eintrat, sich niederließ, die Speisekarte studierte und bestellte, was gut und teuer war. Aber der Wein, den sie trank, stieg ihr nicht zu Kopf und die Speisen sättigten sie nicht, ganz im Gegenteil, nach jedem Gang verspürte sie nur noch quälender ihren Hunger, bis das Tischlein-deck-dich, das sie sich vorgegaukelt hatte, in nichts zerging und sie ernüchtert fühlte, daß ihr Magen knurrte.

Aber die Straße verlockte sie nicht nur dazu, sich von Schritt zu Schritt tiefer in Träume zu verstricken, sie nötigte sie förmlich dazu. Denn diese Menschen, die aus Jahren, von denen wir nichts wissen und die für uns zu einem Nichts zusammenschrumpfen, hervortreten, nur einen einzigen Augenblick lang für uns sichtbar werden, während sie an uns vorbeigleiten und, schon unseren Blicken entrückt, in Schicksale hineinschreiten, die wir nicht kennen, waren, schien ihr, Schemen, denen nur, was sie in sie hineinträumte, Leben verlieh; denn diese Gesichter, die unzählig wie in unendlichen Spiegelungen gespenstisch aus einem unbekannten Gestern auftauchen, an uns vorbeihuschen und, schon unseren Blicken entrückt, in ein unbekanntes Morgen hineintauchen, waren, schien ihr, Masken, denen nur ihre Phantasie Leben einhauchen konnte und die sich, nüchtern betrachtet, zur Fratze verzerrten, zu der furchtbaren Fratze maßloser und schamloser Gleichgültigkeit.

Diese Gleichgültigkeit war es, die Ursula mehr als alles andere fürchtete, der sie in Träumereien hinein zu entrinnen versuchte, die sie nicht wahrhaben wollte, weil sie ihr alles Unheil zuschrieb, das Menschen je erlitten hatten und noch erleiden sollten und weil jedes fremde Gesicht, das sie durchtränkte, noch fremder erschien, weil jede Straße, die sie erfüllte, zum Alpdruck wurde, zur Vision der Fremde, in der sie verloren dahintrieb, zum Symbol der Einsamkeit, die ihren magischen Kreis um jeden zieht, ihn unerbittlich in sein eigenes Schicksal bannt und ihn unüberbrückbar von jedem andern trennt, auch noch wenn Herz an Herz schlägt.

Nur als Ganzes gesehen, wollte es ihr scheinen, erlaubte es die Straße, nüchternen Blickes betrachtet zu werden, denn zur Einheit verschmolzen wurden die willkürlich hingestreuten Einzelheiten ohne jedes Zutun zum monumentalen Traumbild, zu dessen Bewegtheit jeder einzelne schattenhaft seine winzige Gebärde beisteuerte, während die vielfältigen Geräusche der Räder, Schritte und Stimmen, Hupensignale und Hufschlag, das Klingelzeichen der Autobusse, das Knattern und Surren von Motoren und dann und wann wie Fanfarenruf der Aufschrei einer Sirene zu einer betäubenden Symphonie des täglichen Lebens aufrauschen.

Erstes Buch

Die Mappe mit den Zeichnungen und Aquarellen unterm Arm stürmte Ursula selig erregt ins Zimmer, wo ihre Eltern und ihr Bruder schon um den Mittagstisch saßen, und teilte ihnen mit Worten, die sich nur so überstürzten, mit, daß die Blätter, die sie vorgelegt hatte, unerwartet freundlichen Beifall gefunden hatten, daß sie den erstrebten Freiplatz zweifellos erhalten würde und daß sie also endlich, endlich zeichnen lernen durfte. Während sie noch sprach, sprang ihr Bruder auf, stieß heftig seinen Stuhl zurück und brüllte sie an: »Lebst du denn auf dem Mond?«

Verwundert starrte sie ihn an. Er war zwei Jahre älter als sie und Student der Rechte. »Bist du verrückt?« fragte sie verletzt.

Seine Augen verengten sich zu tückischen Schlitzen. »Ich hoffe, du zwingst mich nicht dazu, daß ich mich meiner eigenen Schwester schämen muß«, stieß er heiser hervor.

Da erst gewahrte Ursula, daß er ein dunkles Hemd trug, das sich wie eine Uniform ausnahm und von dem sich kreisrund ein Abzeichen abhob. Auch sein Gesicht hatte sich, fiel ihr plötzlich auf, furchtbar verändert, seit sie es zum letzten Mal, Gott weiß wann, aufmerksam betrachtet hatte. Seine Züge waren hart und kantig und in seinen Augen flackerte unheimlich ein fanatischer Glanz. Hilfesuchend glitt ihr Blick ab und heftete sich auf ihren Vater, auf ihre Mutter. Beide saßen reglos und wie versteint und starrten verstört auf ihre Teller nieder.

Der Blick ihres Bruders folgte dem ihren und blieb auf dem Vater haften. »Du schweigst?« fragte der Sohn den Vater barsch. Der duckte sich tiefer über seinen Teller und murmelte müde: »Dein Bruder hat ganz recht.«

Ursula stellte die Mappe ab, streifte den Mantel ab, sank wie betäubt auf ihren Stuhl und begann zu essen. Sie erinnerte sich jetzt daran, bemerkt zu haben, daß in der Stadt eine ungemein festliche, ja geradezu trunkene Stimmung herrschte, der sie keine Beachtung geschenkt hatte, weil sie die ungewöhnlich erregte Bewegtheit des Straßenbildes und die Fahnen, die grell von allen Häusern flatterten, nur als Widerschein ihrer eigenen festlichen Stimmung erlebt hatte. Jetzt erst fiel ihr ein, daß die Stadt an eben diesem Tage den Einzug des Mannes feierte, an dessen Worten sich Abertausende so willig berauschten und von dem sie daher erwarteten, daß er Wunder tun konnte.

Aus diesen Gedanken, mit denen sie das bedrückende Schweigen, das den Rest der Mahlzeit begleitete, ausgefüllt hatte, wurde sie jäh herausgerissen, als sich eine Hand schwer auf ihre Schulter legte. Erschreckt fuhr sie auf, und als sie ihr Gesicht emporwandte, hing über ihr wie ein Alpdruck das verzerrte Gesicht ihres Bruders, der sich über sie beugte. Sekundenlang hielten seine brennenden Augen die ihren gebannt, dann wurde sein Blick unstet, trübte sich, seine Hand begann zu zittern, er ließ sie los, richtete sich auf, gewann seine Haltung zurück, während er sich von ihr entfernte, und sagte: »Lange kann ich nicht mehr zusehen, Ursula. Besinne dich endlich, was du mir, was du dir selbst schuldig bist.« Er legte ein kreisrundes Abzeichen vor sie auf den Tisch und verließ grußlos das Zimmer.

Das Schweigen, das dem Knall der zufallenden Tür folgte, war unheimlicher noch als vorher. Ursula starrte bestürzt erst das Abzeichen, dann ihre Eltern an und bemerkte, daß auch ihr Vater das Abzeichen trug. Ihre Mutter erhob sich lautlos, nahm eine Schüssel vom Tisch, schlich auf den Zehenspitzen zur Tür, öffnete sie, blickte hinaus, schloß sie wieder, kehrte an den Tisch zurück, stellte die Schüssel ab, setzte sich wieder und sagte gepreßt: »Er ist fort.«

»Täusche dich nur nicht«, entgegnete der Vater bitter. »In Zukunft werden alle Wände Ohren haben und hinter jeder Tür wird einer horchen. Dein Sohn aber hat es nicht nötig, hinter Türen zu horchen. Er tritt unhörbar ins Zimmer, wenn du ihn am wenigsten erwartest. Er sitzt mit dir am Tisch. Er liest in deinem Gesicht. Du bist ihm auf Gnade und Ungnade ausgeliefert.«

Die Mutter schlug die Hände vors Gesicht und begann leise zu weinen. Der Vater erhob sich mühsam und sagte: »Ich gehe ins Amt.« An der Tür blieb er noch einmal stehen, wandte sich um und sagte zu Ursula: »Du wirst gut daran tun, das Ding da schleunigst anzustecken. Denk dir dabei, was du willst, aber halt deinen Mund. Gesinnung können wir uns jetzt nicht mehr leisten.« Dann schloß sich die Tür hinter ihm.

»Mutter«, begann Ursula, aber die Angeredete blickte sie entsetzt an, warf einen scheuen Blick auf die Tür und flüsterte: »Du sollst deinen Mund halten, hast du nicht gehört?« Dann begann sie klappernd Teller und Schüsseln aufeinanderzustellen und trug sie in die Küche. Auch Ursula erhob sich, nahm das Abzeichen, Mappe und Mantel, und zog sich in ihr Zimmer zurück.

Die Ereignisse, die den Hintergrund zu den eben geschilderten Unstimmigkeiten abgaben und die oft genug zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn geführt hatten, waren Ursula nicht unbekannt. Doch erst seit einigen Monaten, nach abgelegtem Abitur, der Schule entronnen und ganz erfüllt von der Ungeduld, ihr persönliches Leben zu beginnen und nach Pinsel und Palette zu greifen, ganz erfüllt von den Bildern, die sich in ihrem Herzen aufgestaut hatten, hatte sie nicht bemerkt, wie das ferne Grauen immer drohender anschwoll, wie es sich in trüben Wellen unabwendbar immer näher heranwälzte. Ihr nach innen gerichteter Blick hatte bisher immer nur traumhafte Spiegelungen der Wirklichkeit erschaut, immer nur vereinzelte, aus allen Zusammenhängen losgelöste Abschnitte, die sie sich zu einer inneren Wirklichkeit zusammengesponnen hatte, aus der sie jede Vorstellung, die ihre Traumwelt verletzte, unerbittlich verbannt hatte, ein Dornröschen, das hinter einer selbstgepflanzten Rosenhecke ihren Märchenschlaf hält. Die halb beschwörende, halb drohende Stimme ihres Bruders im Ohr, war ihr zumute wie einer Schlafwandlerin, die angerufen wird und aus schwindelnden Höhen abstürzt.

Sie ließ das eben Erlebte noch einmal an sich vorbeiziehen und das Bild, auf dem ihre blicklosen Augen dabei haften blieben, von dem sie sich nicht loszureißen vermochten, war das Gesicht ihres Vaters, das sich mit einem so erschütternd hilflosen Ausdruck, in dem sich alle Gefühle mischten, die eine Niederlage begleiten, über den Teller duckte. Es war, erst als Vision erschaut erkannte sie es, ein jäh gealtertes, verfallenes Gesicht, aber eines, das noch nicht zu heucheln gelernt hatte, eines, das sie dabei ertappt hatte, wie es sich Zug um Zug verwandelte, in dem vorerst noch mißglückten Versuch, jenen andern zu gleichen, die schon zur Fratze oder auch nur zur Maske ekstatischer Zustimmung erstarrt waren. Beredter als Worte verriet dieses Gesicht, daß ihr Vater den Staatsstreich, der die Macht in die Hände einer fanatisierten Minderheit gespielt hatte, gelinde gesagt, nicht billigte und sich der vollendeten Tatsache, vor die er ihn gestellt hatte, wenn auch vielleicht nur zögernd, wenn auch anscheinend nur widerwillig, dennoch unterwarf.

Durfte sie ihn bemitleiden oder mußte sie ihn verachten, fragte sie sich. Mußte er für das, woran er, zu Recht oder zu Unrecht, glaubte, einstehen, seine Stellung als Verwaltungsbeamter aufgeben, den vermutlich hoffnungslosen Versuch machen, der Gewalt in den Arm zu fallen, mußte er, mit einem Wort, zum Märtyrer werden oder durfte er, etwa aus Rücksicht auf seine Familie oder weil er jeden Widerstand als aussichtslos erkannt hatte, klein beigeben? Die Antwort, die sie schließlich fand, erlaubte es ihr, Mitleid mit ihm zu haben, denn sie begriff, daß er keine Wahl hatte, weil das, woran er glaubte, das Gestern war, und für ein Gestern kann keiner zum Märtyrer werden.

Da verstand sie auch plötzlich, warum ihr Herz, wenn sie den Auseinandersetzungen zwischen Vater und Bruder, den bedächtigen Argumenten des einen, den hitzigen des andern, gelauscht hatte, weder für diesen noch für jenen je Partei ergriffen hatte. Es hatte sich dabei niemals um die unversöhnlichen Gegensätze gehandelt, um die es in Wahrheit ging, sondern immer nur um die unvermeidliche Auseinandersetzung zwischen den Generationen, zwischen einem Gestern, dem sie entwachsen, und einem Morgen, das ein Alpdruck war. Nur zwischen diesem Morgen, an das ihr Bruder glaubte, und dem Morgen, das sie nur eben ahnte und zuweilen in fiebernden Visionen erschaute, konnte es, aber mußte es auch, zu einer entscheidenden Auseinandersetzung kommen.

Sie griff nach dem Abzeichen, entschlossen, es in die Hände zurückzulegen, die es ihr aufgedrängt hatten, da stand auch schon ihr Bruder, wie aus dem Boden gewachsen, im Rahmen der Tür, die er lautlos geöffnet hatte. Sekundenlang blieb sein Blick auf dem Abzeichen haften, das sie allem Anschein nach eben hatte anlegen wollen, dann glitten seine Augen, in die ein lauernder Ausdruck trat, zu ihrem Gesicht empor, während er sie fragte, ob er damit rechnen dürfe, daß sie ihn um 6 Uhr abends zum Ausgehen bereit erwarten wolle, um ihn zu der Versammlung zu begleiten, die er das historische Ereignis der Einzugs-Ansprache nannte, und der er selbstverständlich beizuwohnen beabsichtigte. Seine Frage war unmißverständlich ein Befehl, der Ursulas Widerstände aufs Äußerste anfachte. Sie schwieg, weil sie zu ihrem Glück nach einem Wort suchte, das ihn tiefer verletzen sollte als ein bloßes NEIN und wollte ihm eben das Abzeichen vor die Füße schleudern: da sprang etwas auf sie zu, sprang ihr an die Kehle, würgte sie. Nicht ihr Bruder. Der rührte sich nicht. Nur in seinen Augen loderte unversöhnlicher Haß auf, in den sich, grauenhafter noch, eine lüsterne Grausamkeit mischte, die seinen Mund zu einem entsetzlichen Lächeln geilen Spottes verzerrte. Was sie an der Kehle gepackt hielt, waren nicht Hände, begriff sie, sondern Angst, eine wilde, mystische Angst, die aus Urtiefen aufzusteigen schien und ihr fast die Besinnung raubte. Mechanisch befestigten ihre bebenden Hände das Abzeichen an ihrem Kleid, als wäre es ein Schild, den sie emporhoben, um einen tödlichen Stoß abzuwehren, und während ihre Hände noch daran nestelten, formte der Atem, mit dem sie NEIN hatte sagen wollen, ohne ihren Willen und gegen ihren Willen das Wort »Gewiß«. Da jedoch im Gesicht ihres Bruders zu lesen war, daß dieses Wort ihm nicht genügte, ihm ganz und gar nicht genügte, daß er mehr forderte und entschlossen war, mehr zu erhalten, fügte sie, plötzlich bereit, auch noch ein Übriges zu tun, mit einem rätselhaften Lächeln hinzu: »Das versteht sich doch von selbst.« Dann erst zog er sich, von ihren Worten einigermaßen befriedigt und von ihrem Lächeln ein wenig aus der Fassung gebracht, zurück.

Erst als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, fühlte sie, daß ihr die Knie fast versagten, und sie ließ sich erschöpft auf einen Stuhl sinken. Daß sich ihr Bruder nicht damit begnügt hatte, ein kahles Wort der Zustimmung zu hören, daß er vielleicht sogar halb und halb erraten hatte, daß sich ihr aus Angst ein Nein auf der Zunge in ein Ja verwandelt hatte und daß sie seinen Argwohn mit Worten, die eine bedingungslose Zustimmung vortäuschten, hatte beschwichtigen müssen, hatte ihr die Augen geöffnet, hatte sie darüber belehrt, daß offener Widerstand nicht nur aussichtslos war, sondern auch zur Katastrophe führen mußte. Daß ihr Bruder vielleicht nicht davor zurückscheuen würde, sie zu denunzieren, wollte sie nicht wahrhaben, aber daß ihm kein Mittel zu schlecht sein würde, wenn es sich nur dazu eignete, ihren Widerstand zu brechen, daß er es sich zur Aufgabe machen würde, sie ununterbrochen unter dem Druck der eben erlebten Angst zu halten, ohne ihr auch nur je die kleinste Atempause zu gönnen, um sie mürbe zu machen, daran konnte sie nicht länger zweifeln. Sie hatte also keine Wahl, sie mußte heucheln.

Es graute ihr vor der Erkenntnis, daß es für sie kein Zurück gab, es graute ihr davor, sich immer tiefer in das Ja verstricken zu müssen, hinter das sie sich in ihrer Angst verschanzt hatte, denn schon der Anschein, mit dem Brandmal der Zustimmung gezeichnet zu sein, schien ihr ein Makel. Auch fürchtete sie, daß sogar vergebliche Zustimmung für den, der sie heuchelt, zur Gefahr werden konnte, daß sie sich wie eine ätzende Flüssigkeit nach und nach in die rebellische Überzeugung, die sie schützen sollte, hineinfressen und sich in jenen Tiefen des Bewußtseins einnisten konnte, wo Willkür und Chaos ihren Sitz in uns haben und der Eindruck nicht mehr von uns zum Erlebnis geformt wird, sondern uns formt. Aber darauf mußte sie es, entschied sie, ankommen lassen, denn ihre Widerstände waren nicht einfach der Ausdruck einer Gesinnung, sie waren der Widerschein ihrer inneren Welt, untrennbar verbunden mit dem, was sie ihr künstlerisches Gewissen nannte. Wenn sie Malerin werden wollte, und sie fühlte, daß nichts anderes für sie zählte, durfte sie nicht offen Widerstand leisten, durfte sie es nicht auf eine Kraftprobe zwischen sich und ihrem Bruder ankommen lassen, mußte sie sich mit Heuchelei wie mit einem luftleeren Raum umgeben, wie sehr es ihr auch davor graute, und was immer sie damit heraufbeschwören mochte.

Um Punkt 6 Uhr, als sie eben ihren Hut vor dem Spiegel aufsetzte, öffnete sich die Tür und ihr Bruder trat ein. Diesmal hatte er angeklopft, wenn er sich auch auf diese Andeutung der Höflichkeit beschränkt und ihre Aufforderung einzutreten nicht abgewartet hatte. Er musterte sie kritisch und es entging ihm nicht, daß sie ihren besten Mantel angelegt und sich, obwohl sie, wie er wußte, sonst nur wenig Wert auf ihr Äußeres legte, äußerst sorgfältig zurechtgemacht hatte. Diese Konzession, die sie ihm damit machte und die darauf berechnet war, seinen Argwohn einzuschläfern, verfehlte nicht ihre Wirkung und spiegelte sich als ein beifälliges Lächeln in seinem Gesicht.

Während sie zusammen die Treppen hinunterstiegen, murmelte er zu ihrer Verwunderung nur ein paar ganz belanglose Worte, statt, wie sie erwartet hatte, von dem bevorstehenden Ereignis zu sprechen und neuerlich ihre Gefühle zu sondieren. Erst als sie auf die Straße hinaustraten, verstand sie, daß die Wirkung dieser belanglosen Worte genau berechnet war. Der Anblick, der sich ihr bot, sollte sie unvorbereitet treffen, damit ihr Mienenspiel, hatte sie etwas zu verbergen, sie verraten sollte. Seine Augen waren, sie ertappte ihn dabei, als sie ihm den Kopf zuwendete, lauernd auf ihr Gesicht gerichtet.