Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste - Eva Barlösius - E-Book

Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste E-Book

Eva Barlösius

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Beschreibung

Kioske, Bankautomaten, Versicherungen, Ökosysteme und sogar Denkmuster: Gegenwärtig wird alles Mögliche zur Infrastruktur erklärt. Dieses Buch fragt, welche gesellschaftliche Transformation sich darin äußert; denn das Regime der Infrastrukturen ist darauf ausgelegt, eine bestimmte sozial-räumliche Ordnung zu realisieren. Wenn Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste fungieren, dann eignen sie sich, so die These dieses Buches, zur Gesellschaftsdiagnose. Anhand von vier Fallstudien – der Verdörflichung von Infrastrukturen, der Temporalisierung von Entfernungen, dem Wandel der Staatsaufgaben und der Infrastrukturierung von Forschung – untersucht Eva Barlösius, was Infrastrukturen gesellschaftlich leisten. Und sie diskutiert, warum für die Wissensgesellschaft ein infrastrukturelles Regime notwendig ist, das sich von dem der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft unterscheidet.

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Eva Barlösius

Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste

Ein Beitrag zur Gesellschaftsdiagnose

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Kioske, Bankautomaten, Versicherungen, Ökosysteme und sogar Denkmuster: Gegenwärtig wird alles Mögliche zur Infrastruktur erklärt. Dieses Buch fragt, welche gesellschaftliche Transformation sich darin äußert; denn das Regime der Infrastrukturen ist darauf ausgelegt, eine bestimmte sozial-räumliche Ordnung zu realisieren. Wenn Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste fungieren, dann eignen sie sich, so die These dieses Buches, zur Gesellschaftsdiagnose. Anhand von vier Fallstudien – der Verdörflichung von Infrastrukturen, der Temporalisierung von Entfernungen, dem Wandel der Staatsaufgaben und der Infrastrukturierung von Forschung – untersucht Eva Barlösius, was Infrastrukturen gesellschaftlich leisten. Und sie diskutiert, warum für die Wissensgesellschaft ein infrastrukturelles Regime notwendig ist, das sich von dem der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft unterscheidet.

Vita

Eva Barlösius ist Professorin für Makrosoziologie und Sozialstukturanalyse an der Leibniz Universität Hannover.

Inhalt

1.Einleitung: Der gesellschaftsdiagnostische Gehalt von Infrastrukturen

2.Infrastrukturen: Wissenschaftlich betrachtet

2.1Zur Rekonstruktionsweise

2.2Infrastruktur als Technik

2.3Infrastruktur als Staatsaufgabe

2.4Infrastruktur als institutionelles Arrangement

2.5Infrastruktur als »boundary objects« und Netzwerk

3.Alles Infrastruktur? Zum gegenwärtigen Gebrauch des Begriffs

4.Eine soziologische Konzeption von Infrastruktur

4.1Vorarbeiten und Perspektivierung

4.2Infrastrukturelle Vorleistungen

4.3Infrastrukturelle Sozialität

4.4Infrastrukturelles Regelwerk

4.5Infrastrukturelle Verräumlichungen

4.6Infrastrukturelle Strukturierungsweise und infrastrukturelles Regime

5.Das infrastrukturelle Regime der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft

5.1Infrastrukturelle Vorleistungen: Ausrichtung auf Massen und Mengen

5.2Infrastrukturelle Sozialität: Einbindung des Einzelnen durch Teilhabe

5.3Infrastrukturelles Regelwerk: Politisch legitimiert, gesetzlich geregelt, professionell durchgesetzt

5.4Infrastrukturelle Verräumlichung: Territoriale Erschließung und flächendeckende Ausstattung

5.5Sozialräumliche Ordnung mittels staatlicher Infrastrukturen

6.Gegenwärtige Transformationen der infrastrukturellen Strukturierungsweisen

6.1Verdörflichung von Infrastrukturen: Dörflichkeit fördern

6.1.1Infrastrukturen: Verdörflicht und zugleich außerdörflich orientiert

6.1.2Infrastrukturen im Dorf: Vorwiegend außerdörflich ausgerichtet

6.1.3Infrastrukturen: Dörflichkeit fördern

6.1.4Verdörflichung als infrastrukturelle Strukturierungsweise

6.2Temporalisierung des Territoriums: Kategorien der Raumordnung und das ihnen inhärente Verständnis von Infrastrukturen

6.2.1Staatlich-administrative Kategorien der Raumordnung: Schweden, Frankreich und Deutschland

Schweden

Frankreich

Deutschland

6.2.2Relationale räumliche Kategorien und de-lokalisierte Infrastrukturen

6.2.3Erklärungen, Begründungen und Rechtfertigungen

6.3Vervielfältigung der Bewährungen: Politische Entscheidungen und staatliches Handeln vorbereitende Infrastrukturen

6.3.1Infrastrukturelle Vorleistungen: Staatsaufgaben hoheitlich beforschen

6.3.2Infrastrukturelle Sozialität: Aufbrechen des Iron Triangle

6.3.3Infrastrukturelles Regelwerk: Forschung ministeriell regeln

6.3.4Infrastrukturelle Verräumlichung: Nationalisierung, Europäisierung, Internationalisierung

6.3.5Vom sachgerechten Fachwissen zu wissenschaftlicher Expertise

6.4Infrastrukturierung der Forschung und infrastrukturierende Forschung

6.4.1Kein Randphänomen der Forschung

6.4.2Forschungsinfrastrukturen: Bisherige Eigenschaften

6.4.3Zwei Transformationsrichtungen: Forschungsnäher oder infrastrukturnäher?

6.4.3.1Wissenschaftliche Archive und Bibliotheken werden zu Informationsinfrastrukturen

6.4.3.2Forschungs- und Projektinterna werden zu wissenschaftlichen Infrastrukturen

6.4.4Infrastrukturierung von Forschungsdaten

6.4.4.1Infrastrukturelle Vorleistungen und/oder Forschungsleistungen

6.4.4.2Infrastrukturelle Sozialität und/oder soziale Formen der Forschung

6.4.4.3Infrastrukturelles Regelwerk und/oder soziale Reziprozitätsregeln

6.4.5Wandel der infrastrukturellen Strukturierungsweise

7.Pfade zum infrastrukturellen Regime der Wissensgesellschaft

7.1Versuch einer systematischen Zusammenfassung der Fallstudien

7.2Infrastrukturierungen für die Wissensgesellschaft: Eine erste Annäherung

7.3Ein neues infrastrukturelles Regime?

8.Konklusion: Soziale Ordnungsdienste für die Zukunft

Literatur

1.Einleitung: Der gesellschaftsdiagnostische Gehalt von Infrastrukturen

Um sogleich Missverständnissen vorzubeugen: Hier wird keine soziologische Gesellschaftsdiagnose präsentiert, mit der behauptet wird, dass wir in einer »Infrastrukturgesellschaft« leben. Es ist aber zu beobachten, dass gegenwärtig alles Mögliche zur Infrastruktur erklärt wird. So wurden in den vergangenen Jahren beinahe alle Versorgungseinrichtungen, einschließlich Medien und Kultur, Finanz- und Versicherungswesen, staatlicherseits als »kritische Infrastrukturen« eingestuft, und es wurde eine »nationale Strategie« zu deren Schutz verabschiedet (BMI 2009). In ländlichen Regionen zählen nunmehr neben klassischen Einrichtungen wie Dorfläden und Arztpraxen auch Gasthäuser, Bankautomaten und Kioske zur »daseinsvorsorgenden Infrastruktur« (Kersten et al. 2012a; 2012b). Selbst Denkstile und -muster tituliert man mittlerweile als »mentale Infrastrukturen«, um ihr Beharrungsvermögen zu akzentuieren (vgl. Welzer 2011). In der Philosophie hat sich der Terminus »Infrastructures of Responsibilty« eingebürgert, mit dem die moralischen Aufgaben von Institutionen bezeichnet werden (Williams 2006). Zu beobachten ist weiterhin, dass Forschungsmethoden, -daten, und -instrumente zunehmend nicht mehr als Teil der Forschung betrachtet, sondern den wissenschaftlichen Infrastrukturen zugerechnet werden (vgl. Barlösius 2016a). Offenbar wird der Bezeichnung als Infrastruktur derzeit besonders große Bestimmtheit und Aussagekraft zugetraut. Allerdings wird gegenwärtig, wie diese kleine Aufzählung illustriert, Infrastruktur als geradezu beliebig dehnbarer und auslegbarer Begriff verwendet. Diese Verwendungsweise unterscheidet sich grundlegend von seinem ursprünglichen Gebrauch, der einzig große technische Einrichtungen umfasste, wie Talsperren, Eisenbahnen oder Wasser- und Elektrizitätsleitungen (siehe Kapitel 2).

Dass seit einigen Jahren so Vieles und Unterschiedliches zur Infrastruktur deklariert wird, begründet sich nicht aus einer sprunghaften Zunahme der Anzahl von Infrastrukturen. Auch dokumentiert sich darin nicht, dass Infrastrukturen jetzt mehr soziale Ordnungsdienste zu leisten haben in dem Sinn, dass ihnen die Durchsetzung umfangreicherer und umfassenderer sozial-räumlicher Ordnungen übertragen wurde – mit anderen Worten, dass immer mehr Lebensbereiche mittels Infrastrukturen sozial-räumlich geordnet werden. Vielmehr zeigt sich darin ein Wandel des infrastrukturellen Regimes sowie der Strukturierung der Gesellschaft mittels Infrastrukturen. Der Begriff Regime ist hier rein deskriptiv gemeint. Mit ihm soll verdeutlicht werden, dass Infrastrukturen sozial strukturiert sind, also Ergebnis sozialer Prozesse und Strukturen, und zugleich sozial strukturierend wirken, indem sie soziale Strukturierungen hervorbringen bzw. vorhandene soziale Strukturen festigen. Der Begriff des infrastrukturellen Regimes steht weiterhin dafür, dass den Infrastrukturen jeweils ein bestimmter Modus der gesellschaftlichen Strukturierung inhärent ist, beispielsweise mittels staatlich betriebener Infrastrukturen bestimmte Formen sozialer Integration und gesellschaftlicher Teilhabe zu realisieren. Wie dies geschieht, wird im Folgenden ausführlich erläutert, ebenso wird die verwendete Konzeption von Infrastrukturen umfangreich dargelegt. Mit der Formulierung der gesellschaftlichen Strukturierung durch Infrastrukturen soll ausgedrückt werden, dass diese auf eine bestimmte sozial-räumliche Ordnung ausgerichtet sind, etwa auf eine, die durch die Bodenausdehnung des Staates, sprich territorial, bestimmt ist. Insofern Infrastrukturen dazu eingesetzt werden, sozial-räumliche Ordnungen umzusetzen, sind sie als soziale Ordnungsdienste tätig. Auf welche sozial-räumliche Ordnung sie hinwirken, ergibt sich aus dem Regime der Infrastrukturen.

Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, zu zeigen, dass sich Analysen über den Wandel des infrastrukturellen Regimes zur soziologischen Gesellschaftsdiagnose eignen. Gewiss ist eine Gesellschaftsbeschreibung mittels Infrastrukturen weder allumfassend, noch berücksichtigt sie die gesamte gesellschaftliche Komplexität. Sie rekurriert auch nicht auf eine soziologische Großtheorie, von deren Syntheseleistung sie profitieren könnte. Trotzdem – das ist die Hauptaussage – lassen sich anhand von Infrastrukturen Eigenheiten der sozial-räumlichen Ordnung identifizieren wie auch Prozesse deren Transformation kenntlich machen.

Für den gesellschaftsdiagnostischen Gehalt von Infrastrukturen spricht insbesondere zweierlei: Erstens schaffen Infrastrukturen – mit Marx gesprochen – die Voraussetzungen für »alle allgemeinen Bedingungen der Produktion« (Marx 1974: 429) sowie für die als »gesellschaftlich gesetzten Bedürfnisse des Individuums« (ebd.: 432). Anders formuliert und auf weitere soziale Felder ausgeweitet, stellen Infrastrukturen Vorleistungen für die Leistungserstellung der sozialen Felder bereit, und sie fördern Prozesse sozialer Integration und Vergesellschaftung. Folglich wirken sie an Prozessen der funktionalen wie der sozial-strukturellen Differenzierung mit. Zweitens legen sie nicht nur die Bahnen für mögliche gesellschaftliche Entwicklungen in der Gegenwart, sondern ebenso für die Zukunft aus, weil sie »Vorgriffe auf die Zukunft« vornehmen (vgl. Laak 2008: 306). So ermöglichen und fördern sie bestimmte Prozesse der funktionalen und sozialstrukturellen Differenzierung, während sie andere bremsen oder gar verhindern. Auf diese Weise fungieren sie als Weichensteller für künftige gesellschaftliche Entwicklungen und basieren auf Annahmen darüber, was zukünftig erforderlich und möglich sein soll, wie auch darüber, was nicht passieren oder gestattet werden darf. Auf den Punkt gebracht: Infrastrukturen werden mit der pragmatischen Absicht eingerichtet, zukünftige gesellschaftliche Gestaltungschancen im Voraus auszulegen. Für eine Soziologie der Infrastrukturen folgt daraus, dass sie sich weniger darauf zu verlegen hat, eine substantielle Definition von Infrastrukturen zu erarbeiten, Merkmale von Infrastrukturen festzulegen und damit zu bestimmen, welche Einrichtungen infrastrukturellen Charakter haben und welche nicht. Stattdessen sollte sie sich daran orientieren, welche Einrichtungen und Arrangements gesellschaftlich als Infrastrukturen betrachtet und behandelt werden.

Wie ausgeführt, öffnen Infrastrukturen eine soziologische »Tür« (Simmel 1957) zu signifikanten gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen, und zwar zu solchen – so meine Annahme – mit gesellschaftsdiagnostischem Gehalt. Zweifellos gibt es weitere Türen, die ebenfalls den Blick auf zentrale soziale Phänomene gestatten. Aber diese Tür hat den Vorzug, dass sie weder im Vorhinein bestimmte soziale Strukturen und Prozesse mit einem Primat versieht, zum Beispiel die Ökonomie als Basis setzt oder Kultur als Deutungs- und Sinnvorrat mit einer »Vorrangbehauptung« (Luhmann) ausstattet, noch vor der Herausforderung steht, Wechselwirkungen, Verflechtungen oder Kopplungen theoretisch und empirisch herleiten zu müssen, da es zur Eigenheit von Infrastrukturen gehört, solche her- und sicherzustellen.

Infrastrukturen, legt man das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschende Begriffsverständnis zugrunde, existieren schon sehr lange. Man denke etwa an Aquädukte, befestigte Wege oder Boten zur Nachrichtenübermittlung. Ob sich aus diesen Bauwerken und Einrichtungen Aussagen über die sozial-räumliche Ordnung und über gesellschaftliche Transformationen herleiten lassen, ist ungewiss.

Diese Studie setzt zeitlich mit dem Aufkommen dreier Prozesse ein: Industrialisierung, Verstädterung und Nationalstaatenbildung. Sie wurden wesentlich mittels Infrastrukturen vorangetrieben, bewältigt und durch sie miteinander verknüpft. Die Botschaft, dass sich Infrastrukturen zur Gesellschaftsdiagnose eignen, mag auch für frühere Gesellschaftsepochen gelten, hier wird sie jedoch auf das Aufkommen der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft und den Übergang zur Wissensgesellschaft beschränkt, wobei die letzte Titulierung als Vorschlag und nicht als theoretisch-analytische oder empirisch fundierte Bezeichnung zu verstehen ist.

Ohne Wasser-, Gas- und Stromversorgung, Eisenbahn und Kanalbauten, Telegraphie und Post, die enorme Vorleistungen für die industrielle Produktion bereitstellten und gleichermaßen dazu beitrugen, das gewaltige Städtewachstum zu verkraften, hätten weder die Industrialisierung noch die Verstädterung so stattfinden können. Genauso wäre ohne den Anschluss der Wohngebiete an die Wasser-, Gas- und Stromversorgung, den Ausbau und Aufbau von Bildungseinrichtungen und der Gesundheitsversorgung – wesentlichen Grundpfeilern des vorsorgenden Wohlfahrtsstaates – die soziale Integration und Vergesellschaftung der Industriearbeiterschaft wohl kaum gelungen. In ähnlicher Weise hätten die sich etablierenden Nationalstaaten ohne Infrastrukturen weder das ganze Territorium materiell markieren noch den Anspruch und die Durchsetzung von staatlicher Herrschaft praktisch und symbolisch machtvoll realisieren können (s. Laak 1999). Das politische Telos der Einheitlichkeit bzw. Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse mittels infrastruktureller Ausstattung diente wesentlich dazu, die ländlich-bäuerliche Bevölkerung an den Staat zu binden und so den nationalen Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Insgesamt zeigte der damalige infrastrukturelle Auf- und Ausbau für alle sichtbar und tief in ihre Lebensumstände eingreifend die Transformation von der feudalen Agrar- zur wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft (Barlösius 2016a; Barlösius et al. 2011).

Ob auch in der Zukunft Infrastrukturen zum Zweck der soziologischen Gesellschaftsdiagnose herangezogen werden können, wird sich erweisen. Da Infrastrukturen der Zukunft vorgreifen, werden sie so lange zur Gesellschaftsdiagnose taugen, wie sie Vorleistungen für soziale Felder erbringen und prägend an Prozessen der sozialen Integration und Vergesellschaftung mitwirken. Wenn sich der Übergang von der feudalen Agrar- zur wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft anhand von Infrastrukturen nachzeichnen lässt (z. B. Ingold 2011; 2012; 2014; Laak 2001; Wenzlhuemer 2012), dann sollte es in ähnlicher Weise möglich sein, die Transformation von der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft zu rekonstruieren. Es wird in diesem Buch nicht möglich sein, diese große Transformation umfassend mittels des Wandels des infrastrukturellen Regimes zu analysieren. Dazu wären umfangreichere empirische Studien vonnöten. Hier soll nur beleuchtet werden, welche soziologische Tür Infrastrukturen öffnen, und anhand von vier Fallstudien demonstriert werden, was unter dem Wandel des infrastrukturellen Regimes und der Art der Strukturierung der Gesellschaft mittels Infrastrukturen zu verstehen ist.

Wenn gegenwärtig mit Bezug auf Infrastrukturen auf gesellschaftliche Veränderungen aufmerksam gemacht wird, dann im Allgemeinen mit Referenz auf die wohlfahrtsstaatliche Industriegesellschaft und die für diese Gesellschaft typische infrastrukturelle Strukturierung. Dementsprechend werden die Vorleistungen dieser Infrastrukturierung der Gesellschaft und das Ausmaß und die Art und Weise, wie durch diese Prozesse die soziale Integration gefördert wurde, als Richtmaß für die Bewertung der gegenwärtigen Veränderungen herangezogen. Damit geht einher, dass die Gewährleistungs- sowie die Durchführungsverantwortung für Infrastrukturen weitgehend beim Staat gesehen werden, weil genau dies charakteristisch für dieses infrastrukturelle Regime war. Im Wesentlichen werden zwei Ursachen für die gegenwärtigen Veränderungen der Infrastrukturen identifiziert und deren Folgen nahezu durchgängig negativ beurteilt: die Durchsetzung des Neoliberalismus und der demografische Wandel.

Nach Colin Crouch beispielsweise repräsentiert die Privatisierung von Infrastrukturen eine zentrale Facette der Durchsetzung des Neoliberalismus.1 Die »Betriebe des öffentlichen Dienstes« erbringen ihm zufolge solche Dienstleistungen, die »die grundlegenden Lebenschancen betreffen bzw. eher kollektiv als individuell konsumiert werden« (Crouch 2011: 43). Durch die Privatisierung von Infrastrukturen wird die staatliche Versorgung mit kostenlosen oder subventionierten Gütern und Dienstleistungen aufgehoben. Sie werden der kapitalistischen Marktlogik unterworfen, wodurch eine ausreichende Versorgung mit diesen grundlegenden Gütern nicht mehr für alle sozialen Gruppen gesichert ist. Vieles spricht für die Richtigkeit dieser Analyse. Aber sie beschränkt sich auf die ökonomische Verfasstheit von Infrastrukturen, womit übersehen wird, dass die staatliche Sicherung der Infrastrukturen mit der Durchsetzung einer bestimmten, einer staatlich intendierten sozial-räumlichen Ordnung einherging – konkret mit jener der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft. Ob diese Art der staatlichen Strukturierung der sozial-räumlichen Ordnung mittels Infrastrukturen auch geeignet ist, die grundlegenden Lebenschancen aller in der Wissensgesellschaft zu gewährleisten, sollte nicht einfach vorausgesetzt werden. Vielmehr ist zu fragen, welche Art der Infrastrukturierung sich in der Wissensgesellschaft herausbildet (ausführlicher in Kapitel 5 und 7).

Jens Kersten, Claudia Neu und Berthold Vogel (2012b) sehen dagegen in dem Bevölkerungsrückgang die Hauptursache dafür, dass infrastrukturelle Einrichtungen zurück- und abgebaut werden. Zur Kennzeichnung dieses Prozesses haben sie den zuspitzenden Begriff der »demographischen De-Infrastrukturalisierung« kreiert (ebd.). De-Infrastrukturalisierung hat zur Folge, dass ein »zentraler Legitimationsbaustein des demokratischen Wohlfahrtsstaats« (ebd.: 47) wegfällt und damit eine wichtige Grundlage der Demokratie gefährdet wird. Entsprechend haben sie ihr Buch betitelt mit Demographie und Demokratie (ebd.). Auch an diese Analyse ist die Frage zu richten, ob darin nicht von einer bestimmten Realisierung von Infrastrukturen ausgegangen wird, nämlich jener, die typisch für die wohlfahrtsstaatliche Industriegesellschaft war. Entsprechend der industriellen Produktion war das infrastrukturelle Regime auf Massen- und Mengenbewältigung und gemäß des Wohlfahrtsstaates auf eine möglichst vollständige soziale Integration ausgerichtet. Genau diese Ausrichtung ist der wesentliche Grund dafür, dass die vorhandenen Infrastrukturen so verletzlich auf Veränderungen der Anzahl der Nutzerinnen und Nutzer und des Nutzungsumfangs reagieren (siehe Kapitel 5 und Abschnitt 6.1).

Was ist mit der Formulierung gemeint, dass Infrastrukturen gesellschaftsdiagnostischen Gehalt besitzen? Dabei orientiere ich mich an den üblichen Charakterisierungen soziologischer Gesellschaftsdiagnosen. Es handelt sich um soziologische Kennzeichnungen, die darauf zielen, »die Zeichen der Zeit zu deuten« (vgl. Jäger/Meyer 2003: 11). Ihre Diagnosefähigkeit bemisst sich daran, eine bestimmte gesellschaftliche Gegenwart zu »enträtseln«, plausible und empirisch brauchbare Prognosen über die gesellschaftliche Zukunft anzubieten. Im Allgemeinen liefern sie eine zeitlich beschränkte Sicht auf die Gesellschaft und können deshalb nicht für sich beanspruchen, Erklärungen oder Deutungen zu enthalten, mit denen verschiedenste Perioden der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beobachtet werden können. Für solche Gesellschaftsdiagnosen ist weiterhin typisch, dass sie sich üblicherweise damit bescheiden, einige wenige, besonders markante Strukturen und Prozesse zu kennzeichnen. Dies trifft auch für den hier unterbreiteten Vorschlag einer Gesellschaftsdiagnose mittels Infrastrukturen zu. Dementsprechend wird im Folgenden keine soziologische Theorie der Infrastrukturen entwickelt, sondern mit einer empirisch gewonnenen heuristischen Konzeption gearbeitet.

Die »Haltbarkeitsdauer« solcher Diagnosen kann »durchaus begrenzt sein« (Schimank/Volkmann 2000: 10). Dies gilt gewiss auch für den hier vorliegenden Vorschlag, Infrastrukturen zur soziologischen Analyse zu nutzen. Neuere historische Studien über Infrastrukturen haben gezeigt, dass sich diese sehr gut dazu eignen, den Übergang von der agrarischen Feudalgesellschaft zur wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft nachzuvollziehen (z. B. Ingold 2011; 2014; Laak 2011; 2014). Hier soll nun demonstriert werden, dass dies auch für den Übergang zur Wissensgesellschaft zutrifft. Im Vergleich zu anderen Gesellschaftsdiagnosen kann von einer längeren Haltbarkeitsdauer als allgemein üblich ausgegangen werden, da Infrastrukturen als Zugang zu gesellschaftlichen Transformationen genutzt werden sollen und nicht nur dazu, ein bestimmtes Zeitalter zu charakterisieren. Die Haltbarkeitsdauer wird folglich davon abhängen, ob und inwieweit Infrastrukturen an gesellschaftlichen Wandlungsprozesse beteiligt sind und diese sogar vorantreiben. Um den ersten Satz dieser Einleitung nochmals aufzunehmen: Mit dem gesellschaftsdiagnostischen Gehalt ist nicht gemeint, dass wir gegenwärtig oder zukünftig in einer Infrastrukturgesellschaft leben, sondern dass gesellschaftliche Epochenumbrüche wie die von der agrarischen Feudal- zur industriellen Wohlfahrtsgesellschaft und von dieser zur Wissensgesellschaft mittels Infrastrukturen charakterisiert werden können.

2.Infrastrukturen: Wissenschaftlich betrachtet

2.1Zur Rekonstruktionsweise

Den wissenschaftlichen Usancen folgend, sollte an dieser Stelle der Stand der bisherigen Forschung dargestellt und darauf aufbauend bzw. kritisierend die eigene Forschungsperspektive entfaltet werden. Auf diese Weise wird im Allgemeinen wissenschaftliche Anschlusskommunikation gesichert, indem das eigene Vorhaben im Kontext der vorhandenen Forschung verankert wird. Dabei ist es üblich, das Fachwissen disziplinär, oftmals chronologisch oder einer anderen gängigen Systematik gemäß vorzustellen. Um die hiesige Forschungsperspektive zu kennzeichnen, habe ich eine andere Rekonstruktionsweise des Forschungsstands gewählt. Soweit möglich und sinnvoll, wird die Verflechtung von Wissen über Infrastrukturen mit den gesellschaftlichen Prozessen, die den Aufbau bzw. Abbau von Infrastrukturen veranlassen, sowie mit den Akteuren und Institutionen der praktischen Realisierung von Infrastrukturen rekonstruiert. Die Einschränkung ergibt sich daraus, dass eine solche komplexe Verflechtung von Wissen und Praxis nur exemplarisch illustriert werden kann.

Es geht also nicht darum, aus den verschiedenen Wissensbeständen über Infrastrukturen jeweils herauszuarbeiten, wie Infrastrukturen definiert und welche Einrichtungen und Gebilde zu den Infrastrukturen gezählt werden. Vielmehr gilt es zu verdeutlichen, unter welchen Gesichtspunkten Infrastrukturen vorwiegend wissenschaftlich betrachtet werden. Diese Gesichtspunkte geben Auskunft darüber, welche infrastrukturellen Leistungen erwartet und welche positiven wie negativen Wirkungen von Infrastrukturen für zentral gehalten werden. Die Rekonstruktionsweise erfolgt weitgehend chronologisch. Darüber kann erschlossen werden, welches Wissen, welche Akteure und Institutionen und welche gesellschaftlichen Prozesse besonders wirkungsmächtig waren und in welchem Verhältnis diese zu gesellschaftlichen Transformationen standen. Der gesellschaftsdiagnostische Gehalt von Infrastrukturen zeigt sich auf diese Weise am besten. Warum ich mich für eine solche Rekonstruktionsweise entschieden habe, soll am Beispiel der Talsperren im Bergischen Land skizzenhaft verdeutlicht werden.

Die Talsperren im Bergischen Land wurden Ende des 19. Jahrhunderts ursprünglich gebaut, um die rasant wachsende Kohle- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet zuverlässig mit Energie zu versorgen (Wiethege 1982; Bettzieche o. J.). Einige der Talsperren wurden durch die Schwerindustrie selbst in Auftrag gegeben – folglich handelte es sich um privatwirtschaftliche Unternehmungen. Die technisch imposanten Talsperren waren Produkte ingenieurwissenschaftlichen Wissens: Es waren Ingenieure, die nach technischen Gesichtspunkten die Talsperren konzipierten, die sie auf die Erfordernisse der Industrie ausrichteten und festlegten, welche Leistungen sie erbringen sollen. Dass Talsperren auch zum Hochwasserschutz tiefer gelegener Ortschaften und Städte genutzt werden könnten, war eine mögliche Wirkung, die zunächst gar nicht als infrastrukturelle Leistung im Vordergrund stand. Erst als diese zusätzliche Leistung breit anerkannt war, gelang es, den Talsperren eine Funktion zuzuordnen, die als Allgemeininteresse qualifiziert und als staatliche Aufgabe gewürdigt werden konnte. Daraufhin erfolgte oftmals die Kommunalisierung der Talsperren: Sie wurden Teil der staatlich zu gewährleistenden Infrastruktur. Auch hierfür lieferten wiederum Ingenieure das nötige Fachwissen, die in eigens zu diesem Zweck gegründeten staatlichen Behörden beschäftigt waren. Vermutlich gab es weitere Zwischenschritte der Hinzunahme zusätzlicher Leistungen und der erweiterten infrastrukturellen Betrachtung dieser technischen Bauten,2 aber für eine skizzenhafte Vorstellung reichen diese wenigen Hinweise, um zu verdeutlichen, dass die Talsperren als technische Infrastrukturen auf der Basis ingenieurwissenschaftlichen Wissens geschaffen wurden. Schauen wir uns für die nächsten größeren Schritte an, durch welches Wissen, von welchen Experten und Institutionen sie bestimmt und sie legitimiert wurden.

Nur wenige Jahrzehnte nach Errichtung der Talsperren wurden diese touristisch genutzt und zu touristischen Infrastrukturen weiterentwickelt: Campingplätze entstanden, Ausflugslokale öffneten, Ausflugsschiffe kreisten. Ohne die Veränderungen der Arbeitszeiten und die Erhöhung des Freizeitanteils und das gestiegene Bedürfnis nach Kurzurlauben wären die Talsperren überhaupt nicht als mögliche touristische Einrichtungen in Betracht gekommen. Nunmehr interessierten sich auch Tourismusexperten für Talsperren, brachten ihre Kenntnisse in Anschlag und verschafften ihrer Betrachtungsweise dieser Infrastruktur wachsende Beachtung, zumal sich das auch ökonomisch auszahlte. Einige Jahrzehnte später wurde eine weitere Betrachtungsweise von Infrastrukturen gesellschaftlich immer einflussreicher: Sie wurden zunehmend unter den Aspekten des Natur- und Umweltschutzes begutachtet. Unter diesem Blickwinkel wurde abermals neues Wissen wichtig und erhielten neue Experten und Institutionen Mitspracherecht: Natur- und Umweltfachleute und -ämter. Talsperren wurden seitdem zusätzlich als Orte des Naturschutzes und der ökologischen Vielfalt betrachtet. Eine letzte Betrachtungsweise soll erwähnt werden: Talsperren als technische und architektonische Denkmale. Abermals traten neue Experten auf, und selbstverständlich argumentierten sie mit ihrem speziellen Fachwissen, wie mit dieser Infrastruktur zukünftig umzugehen sei.3

Diese schlaglichtartige Darstellung, die einzig zur Illustration dient, verdeutlicht, warum es wichtig ist, das jeweils genutzte Wissen, die Akteure und Institutionen sowie die gesellschaftlichen Entwicklungen, auf die die Infrastrukturen reagieren bzw. die durch sie herbeigeführt werden sollen, miteinander in Beziehung zu setzen. Dies wird – wie bereits angekündigt – im Folgenden nur für einige besonders markante Fälle gelingen. Der wichtigste Grund für diese Einschränkung ist, dass in der vorhandenen Forschungsliteratur ein solcher Zusammenhang äußerst selten so umfassend untersucht wird. Im sechsten Kapitel, in dem vier Fallstudien über gegenwärtige infrastrukturelle Wandlungsprozesse präsentiert werden, wird dieser Anspruch umfassender eingelöst.

2.2Infrastruktur als Technik

Infrastruktur ist ein später Begriff. Erstmals wurde der neulateinische Neologismus – darüber informiert Dirk van Laak – am 13. August 1875 in Frankreich zur Bezeichnung des Unterbaus für Eisenbahnschienen verwendet (Laak 1999). Es handelte sich somit ursprünglich um einen ausschließlich technischen Fachbegriff, der eng mit der breiten Palette unterschiedlicher ingenieurwissenschaftlicher Fachgebiete assoziiert war. Sie umfasste den Bau von Gaswerken und -leitungen, die Konstruktion von Eisenbahnen und Schienennetzen, schloss Kanalsysteme und Brücken und noch viele weitere technische Bereiche ein. Dieses rein technische Verständnis begann sich seit den 1950er Jahren immer mehr zu verlieren. Da hier die verschiedenen ingenieurwissenschaftlichen Bereiche nicht allumfänglich dargestellt werden können und sie sich hinsichtlich ihrer Betrachtungsweise von Infrastrukturen, wie sie jeweils geplant, eingerichtet und auf Dauer gestellt wurden, nicht grundsätzlich unterscheiden, soll das technische Verständnis exemplarisch anhand von Wasserinfrastrukturen rekonstruiert werden. Zu diesem Zweck wird auf die sehr aufschlussreichen Studien von Alice Ingold über »Gouverner les eaux en France au XIXe siècle« zurückgegriffen (Ingold 2011; 2012; 2014).

In ihren Untersuchungen hat Ingold gezeigt, wie im nachrevolutionären Frankreich – zu Beginn der Industrialisierung und der Zeit des verstärkten Wachstums der Städte – die Rechte der Wassernutzung, die Zu- und Ableitung von Wasser und der Kanalbau neu ausgestaltet wurden. Besonders interessiert Ingold die Transformation vom Feudal- zum National- und Verwaltungsstaat, welche Eingriffs- und Vorrechte sich der neue Staat sicherte und welche ökonomischen Interessen dabei privilegiert wurden (Ingold 2014: 30). Mit der Französischen Revolution fielen die alten feudalen Privilegien für die Nutzung von solchen Einrichtungen weg, die dem späteren Begriffsverständnis gemäß den Infrastrukturen zugerechnet wurden. Es dauerte einige Jahrzehnte, bis neue staatliche Regelungen an ihre Stelle traten. Statt auf Vorrechte beriefen sich die neuen Regelungen auf Fachwissen über Wasserläufe. Auf Fachwissen referierende Rechtfertigungen zur Begründung der Infrastrukturen anzuführen, entsprach dem Interesse des jungen Nationalstaates, seinen Regelungsanspruch möglichst umfassend und allgemeingültig zu verankern. Vor allem kamen die neuen Regelungen den Interessen jener Akteure entgegen, die durch die Französische Revolution zu Macht und Stärke gelangt waren, wie den Eignern landwirtschaftlicher Betriebe und den Betreibern von Fabriken und Bergwerken (vgl. ebd.).

Entscheidend für die rechtliche Neuordnung war, fließende Gewässer zu res communis zu erklären und damit in die Kategorie der Gemeingüter aufzunehmen. Für die Durchsetzung der Neuordnung der Wasserinfrastrukturen war entscheidend, dass damit eine neue Profession beauftragt wurde: »Ingénieurs des Ponts et Chaussées« (Brücken- und Straßenbauingenieure). Sie waren in neu geschaffenen staatlichen Behörden – wie den »service hydraulique« in jedem Departement – beschäftigt und folglich staatlich autorisiert, ihre Betrachtungsweise der Wasserinfrastrukturen praktisch umzusetzen. Zu diesem Zweck waren sie, wie die Ingenieure anderer Infrastrukturen, mit weitreichenden Aufsichtsrechten ausgestattet und bevollmächtigt, die Infrastrukturen so weiterzuentwickeln, wie es ihrer Expertise und den staatlichen Interessen entsprach. Diese Professionsgruppe nenne ich Infrastrukteure.4 Zur professionellen Erfüllung ihrer Aufgaben bezogen sich die Infrastrukteure des Wassers auf ihr Fachwissen über die Entstehung des Flusswassers, über die Regeneration von Wasser und auf die von ihnen erhobenen Messwerte über die Fließgewässer. Mit diesem Wissen begründeten sie ihre Entscheidungen darüber, wie viel Wasser wo entnommen werden darf, um den natürlichen Wasserkreislauf nicht zu gefährden, und wo und wie Infrastrukturen zu bauen sind. In der Folge wurden Wasserinfrastrukturen als rein technische Einrichtungen betrachtet, für deren Errichtung und Praxis allein ingenieurwissenschaftliches Wissen vonnöten ist und Geltung beanspruchen kann.

Was hier knapp für Wasserinfrastrukturen vorgestellt wurde, ließe sich ähnlich für vergleichbare Infrastrukturen demonstrieren, zum Beispiel Verkehrs- und Energieinfrastrukturen. Stets bildete sich eine Expertengruppe von Infrastrukteuren heraus, die sich auf ihr wissenschaftlich fundiertes Wissen beriefen und denen alsbald alleinige Fachkompetenz für die Schaffung und den Betrieb solcher Einrichtungen zuerkannt wurde. Charakteristisch für ein rein technisches Verständnis von Infrastrukturen ist, dass die Einrichtungen einzig aus den materiellen Realisierungen zu bestehen scheinen, weshalb der Fokus auf der Herstellung und dem Erhalt der Bauten liegt. Die Leistungen der Infrastrukturen werden demgemäß als technische Ermöglichungen begriffen, und davon werden der gesellschaftliche Nutzen und Gebrauch hergeleitet.

Gewiss repräsentieren die technischen Kapazitäten der Infrastrukturen »Sternstunden der Menschheit« – eine Auszeichnung, die Stefan Zweig der ersten erfolgreichen Verlegung eines Telegraphiekabels auf dem Boden des Atlantiks verliehen hat. Aber schon Zweig hat als eigentliche Leistung dieser Infrastruktur für die Menschheit herausgestellt, dass durch die Telegraphen »das bisher isolierte menschliche Erleben gleichzeitig gemacht« und ein »großartiger Zusammenhang und ein gemeinsames Bewußtsein der ganzen Menschheit geschaffen« wurde. Seit dem Augenblick dieses telegraphischen Wunders »hat die Erde gleichsam einen einzigen Herzschlag« (Zweig 1927). Das Wunder dieser Infrastruktur besteht darin, die Voraussetzungen für neue soziale Interaktionen und Beziehungen geschaffen zu haben. Folglich ist zu fragen, ob sich das, was Infrastrukturen gesellschaftlich leisten, tatsächlich aus der Technik, sprich den spezifischen materiellen Leistungen herleiten lässt. Wie wir an den Beispielen der Talsperren und der Neuordnung der Wasserinfrastrukturen in Frankreich gesehen haben, sind die Aspekte, welches Wissen für die Gestaltung von Infrastrukturen Geltung erlangt, welche Akteure und Institutionen mit Gestaltungsmacht ausgestattet werden, auf welche sozialen Verhältnisse die Infrastrukturen treffen und wie sie auf diese einwirken, mindestens ebenso stark daran beteiligt, was Infrastrukturen gesellschaftlich leisten, sprich ermöglichen.

2.3Infrastruktur als Staatsaufgabe

In seinen umfangreichen Arbeiten über Infrastrukturen macht Dirk van Laak immer wieder darauf aufmerksam, dass sich »eine Geschichte des Staatsverständnisses aus der Warte der jeweiligen Infrastrukturaufgaben und -ausgaben schreiben« ließe (Laak 2001: 391). In den Infrastrukturen materialisiert sich das Staatsverständnis, das darüber rekonstruiert werden kann, welche Infrastrukturen als Staatsaufgabe begriffen werden und wie staatlich garantiert wird, dass die infrastrukturellen Leistungen bereitstehen. Bei der staatlichen Gewährleistungsverantwortung legt der Staat fest, wie die Leistungen zu erfüllen sind. Das Betreiben der Infrastrukturen kann durch andere Träger erfolgen, häufig durch private Unternehmen oder Vereine. Zeichnet der Staat dagegen auch für das Betreiben verantwortlich, hat er selbst die infrastrukturellen Leistungen bereitzustellen, wozu er zumeist öffentliche Trägerorganisationen oder öffentliche Unternehmen nutzt (z. B. Hermes 2005).

Das Ziel der staatlichen Garantie infrastruktureller Leistungen ist eine »vollständige Integration« (Laak 1999: 285). Vollständig ist sie, sofern sie eine »Integration von Raum, Zeit und Gesellschaft« (ebd.: 290) umfasst und damit das gesamte staatliche Territorium – sowohl die Gegenwart wie auch die Zukunft, aber auch alle sozialen Klassen – umschließt. In einer solchen allumfänglichen Integration sieht van Laak »das geheime Telos der Infrastrukturentwicklung« (ebd.: 292). Daraus leitet sich umgekehrt her, dass Privatisierung, Rückbau und Abbau von Infrastrukturen und alle anderen Formen der staatlichen Entledigung von Infrastrukturaufgaben als Gefahr oder gar als Vorstufe von Prozessen sozialer Desintegration, als Ursache neuer sozialer Probleme oder gar einer »neuen sozialen Frage« dargestellt werden (Kersten et al. 2012b).

Diese Betrachtungsweise, die die Staatlichkeit von Infrastrukturen direkt mit Prozessen der Integration und Desintegration verschränkt, findet sich ganz ähnlich in anderen wissenschaftlichen Analysen, aber auch in politischen Erklärungen und gesetzlichen Regelungen zu Infrastrukturen. Das wissenschaftliche Wissen über diese Seite der Infrastrukturen stammt vorwiegend aus der Politikwissenschaft, der Rechtswissenschaft und aus der Wohlfahrtsstaatsforschung, teilweise aus der Ungleichheitssoziologie. Die zentralen Akteure, zu deren Profession es gehört, dieser Betrachtungsweise von Infrastrukturen Geltung zu verschaffen, sind in der Sozialpolitik und solchen kommunalen Einrichtungen und staatlichen Behörden tätig, zu deren Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich es gehört, für eine ausreichende infrastrukturelle Ausstattung zu sorgen. Ihre Fachexpertise speist sich aus ihren berufspraktischen Erfahrungen sowie aus den gerade aufgezählten Wissensbereichen. Charakteristisch für die sozialpolitische und rechtliche Fachexpertise ist es, Infrastrukturen als Garanten der sozialen Integration und damit als Gewähr für eine politisch stabile, vor sozialen Unruhen geschützte Staatlichkeit darzustellen.

Historisch ist diese Betrachtungsweise eng mit dem Auf- und Ausbau des Wohlfahrtsstaates verknüpft. In diesem Zusammenhang wurden zusätzliche Einrichtungen geschaffen, wie das Gesundheitswesen, die Armenversorgung und die Alterssicherung. Hinzu kam, dass schon vorhandene Infrastrukturen wie Verkehrssysteme, Versorgungseinrichtungen mit Gas, Wasser und Elektrizität, Telegraphie und Telefonie nunmehr nicht nur als infrastrukturelle Vorleistungen für die Wirtschaft, sondern auch als Leistungen für das individuelle Dasein, sprich als Einrichtungen der Daseinsvorsorge betrachtet wurden. Marx hat dies als »Überwälzen« von Bedingungen der Produktion »auf die Schultern des Staats« kritisiert. Eine solche Überwälzung findet ihm zufolge dort statt, wo der Staat »noch eine superiöse Stellung einnimmt« (Marx 1974: 430). Legitimiert wird die Verschiebung von der Produktion zu Lasten des Staates damit, dass es sich um gemeinschaftliche Bedürfnisse handele.5 Auf diese Weise entledigt sich nach Marx das Kapital davon, für die Bedingungen der Produktion zu sorgen, und schiebt sie »als Lebensbedürfnisse dem ganzen Land« (ebd.), sprich dem Staat, zu.

Die Ausdehnung des Infrastrukturverständnisses auf Einrichtungen des Wohlfahrtsstaates und die weitgehende Gleichsetzung von Infrastruktur und Daseinsvorsorge begann – legt man die Schriften von Ernst Forsthoff zugrunde – in den 1930er Jahren. Praktisch wirksam wurde sie vor allem in den 1950er Jahren; ihre Hochzeit ist eng mit dem sogenannten Golden Age des Wohlfahrtsstaats verbunden (Harchaoui et al. 2004: 304). Besonders einflussreich, wenngleich zu großen Teilen politisch fragwürdig, hat Forsthoff in seinen Schriften die Betrachtungsweise von Infrastrukturen als Einrichtungen der Daseinsvorsorge entwickelt.6 Er betrachtete Infrastrukturen im Hinblick auf die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten des Einzelnen und deshalb als Sicherungen der individuellen Daseinsvorsorge (Forsthoff 1959: 19). Entsprechend sprach er weniger von Infrastrukturen als von Institutionen der Daseinsvorsorge.

Während Infrastrukturen, wie wir schon gesehen haben, Ermöglichungsstrukturen im weitesten Sinn bereitstellen, fokussiert das Konzept der Daseinsvorsorge den Einzelnen und dessen gesellschaftliche Teilhabe. Daraus ergibt sich der wesentliche Unterschied, dass Infrastrukturen etwas ermöglichen sollen und den Referenzrahmen dafür die gesamte Gesellschaft, wenigstens einzelne soziale Felder, darstellt. Dagegen setzt das Konzept der Daseinsvorsorge am Einzelnen, am Individuum an, das mittels staatlich vorgehaltener Einrichtungen der Daseinsvorsorge vergesellschaftet werden soll. Die Art der Vergesellschaftung des Einzelnen wird folglich durch die Einrichtungen der Daseinsvorsorge bestimmt. Wir werden später sehen, dass damit die Privilegierung einer bestimmten Ausprägung von Sozialität, nämlich einer staatlich hergestellten und garantierten, vorgegeben ist. Der Begriff der Infrastruktur ist dagegen nicht unmittelbar auf Staatlichkeit bezogen, weshalb diese Einrichtungen auf verschiedensten Ausformungen von Sozialität basieren und diese auch fördern können.

Ausgangspunkt für Forsthoffs Verständnis von Daseinsvorsorge war, dass in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft die Versorgung der Menschen mit Gütern und Leistungen im Unterschied zur bürgerlichen Verkehrsgesellschaft nicht mehr ohne Weiteres gesichert ist. Während in der bürgerlichen Gesellschaft die Appropriation privatwirtschaftlich und privatrechtlich möglich war, muss in der modernen Gesellschaft »die Appropriation zur Angelegenheit der Verwaltung« (Meinel 2011: 155) werden. Die »Appropriationsbedürftigkeit« (Forsthoff 1959: 26) der Menschen ist der Grund dafür, dass der Staat zum Garanten der Appropriation wird. Er hat die Verantwortung für die Daseinsvorsorge zu übernehmen, zu der alle Veranstaltungen zählen, »welche zur Befriedigung des Appropriationsbedürfnisses getroffen werden« (ebd.) und die zur gesellschaftlichen Teilhabe erforderlich sind. Gesellschaftliche Teilhabe, hergestellt durch die Einrichtungen der Daseinsvorsorge, repräsentiert nach Forsthoff den zentralen Mechanismus, über den in der arbeitsteiligen Gesellschaft soziale Integration zu erfolgen hat. Entsprechend stellt die staatlich garantierte Daseinsvorsorge die einzige Gewähr für soziale Integration und damit für gesellschaftliche Stabilität dar. Wie ausgeführt, ordnet Forsthoff Infrastrukturen der Daseinsvorsorge zu, weshalb es nach seiner Auffassung unabdingbar ist, dass sie staatlich garantiert und durch die staatliche Verwaltung bereitgestellt werden. Die berühmte Schrift, in der er dies ausführlich dargelegt hat, heißt deshalb: »Rechtsfragen der leistenden Verwaltung« (Forsthoff 1959).7

Die hier anhand von Forsthoff vorgestellte Argumentationsfigur findet sich prinzipiell ähnlich in vielen neueren Studien zum Rückbau oder zur Privatisierung von Infrastrukturen. So wird beispielsweise von Jens Kersten, Claudia Neu und Berthold Vogel prognostiziert, dass – verursacht durch Prozesse der »De-Infrastrukturalisierung« (Kersten et al. 2012b) – Staaten »nicht mehr in der Lage [sein werden; E.B.], die soziale, wirtschaftliche und infrastrukturelle Teilhabe der Bevölkerung normativ zu steuern« (ebd.: 49). Gelingt dies nicht mehr, dann mangelt es an einer ausreichenden sozialen Integration, und das zentrale Legitimationsversprechen des demokratischen Wohlfahrtsstaates wird nicht eingelöst. Aus diesem Grund »[muss] der demokratische Wohlfahrtstaat […] die Teilhabe […] an der infrastrukturellen Daseinsvorsorge […] gewährleisten« (ebd.: 51). In der von ihnen verwendeten Bezeichnung »infrastrukturelle Daseinsvorsorge« sind Infrastruktur und Daseinsvorsorge zusammengeführt. Das Argument der staatlichen Notwendigkeit, Infrastrukturen zu garantieren, wird hier vom Begriff der Daseinsvorsorge hergeleitet. Aus der Verknüpfung von Infrastruktur mit staatlicher Daseinsvorsorge ergibt sich eine geradezu zirkuläre Begründung für die Staatlichkeit von Infrastrukturen.

Bei dieser Betrachtungsweise von Infrastruktur als Staatsaufgabe ist jedoch zu fragen, ob gesellschaftliche Teilhabe in arbeitsteiligen, modernen Gesellschaften tatsächlich vorwiegend oder gar einzig über Infrastrukturen bzw. Daseinsvorsorge hergestellt werden kann. Weiterhin drängt sich die Frage auf, ob soziale Integration so prinzipiell und umfassend auf Teilhabe aufsetzt oder ob nicht vielmehr Teilhabe für eine bestimmte Art der Realisierung sozialer Gerechtigkeit steht. Und schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Infrastrukturen auch jenseits von Staatlichkeit geschaffen und betrieben werden und auf anderen Formen denn auf staatlich vermittelter Sozialität basieren.

2.4Infrastruktur als institutionelles Arrangement

Unter dieser Überschrift soll herausgestellt werden, durch welches institutionelle Arrangement Infrastrukturen zustande kommen und welches sie praktizieren. Den Begriff institutionelles Arrangement habe ich den Arbeiten von Elinor Ostrom, Larry Schroeder und Susan Wynne (1993) über Infrastrukturen entnommen, auf die ich mich im Weiteren beziehen werde. Vermeintlich scheint diese Betrachtungsweise einen Unteraspekt der vorangegangenen – Infrastruktur als Staatsaufgabe – zu repräsentieren. Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass die institutionellen Arrangements von Infrastrukturen hauptsächlich dadurch in den Blick gerieten, dass die Leistungsfähigkeit, die Effizienz, die Nutzerorientierung sowie der finanzielle Aufwand für staatlich garantierte und bereitgestellte Infrastrukturen nach privatwirtschaftlichen Maßstäben bewertet wurden. Die Betrachtungsweise von Infrastrukturen als infrastrukturelles Arrangement referiert vorwiegend auf wirtschaftswissenschaftliches Fachwissen und mündet in der Regel in negative Urteile: Staatliche Infrastrukturen werden als wenig leistungsfähig, nicht effizient, zu teuer und zudem zu wenig an den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer orientiert bewertet. Deregulierung und Privatisierung lauten deshalb im Allgemeinen die Verbesserungsvorschläge, die sich auf dieses Fachwissen berufen. Charakteristisch für diese Sicht ist, staatlich-reglementierte privatwirtschaftlich-marktorientierten Infrastrukturen gegenüberzustellen und auf diese Unterscheidung zurückzuführen, was sie leisten, wie effizient sie sind und ob sie sich am Bedarf der Nutzerinnen und Nutzer orientieren.

Im Zuge der praktischen Umsetzung neoliberaler Konzepte wurde diese Betrachtungsweise zur Rechtfertigung der weltweiten Diffusion marktorientierter Infrastrukturreformen herangezogen (Henisz et al. 2005). Die Praxis der Privatisierung und Deregulierung staatlicher Infrastrukturen hat jedoch gezeigt, dass das sicher geglaubte Wissen darüber, dass privatwirtschaftlich-marktorientierte Infrastrukturen kostengünstiger, mit geringerem Aufwand die gleiche Leistung erbringen und besser die Ansprüche der Nutzerinnen und Nutzer bedienen würden, oftmals trügerisch war. Dieser Befund soll hier nicht weiter verfolgt werden, weil man von Ostroms Studien lernen kann, dass die Gegenüberstellung staatlich-reglementierter und privatwirtschaftlich-marktorientierter Infrastrukturen viel zu schlicht ist. Dabei wird übersehen, dass Infrastrukturen auf ganz anderen sozialen und ökonomischen Formen basieren können, beispielsweise gemeinschaftlich oder genossenschaftlich betrieben werden. Vor allem aber scheint weniger die Eigentumsform als vielmehr das institutionelle Arrangement der Infrastrukturen für die Leistungsfähigkeit und die Vermeidung von missbräuchlichem Gebrauch, z. B. Trittbrettfahren, Korruption, Spekulationen, entscheidend zu sein.

Das institutionelle Arrangement ist der Unterscheidung in staatlich oder privat vorgelagert. Beide Eigentumsformen lassen sehr unterschiedliche Ausgestaltungen der institutionellen Verfasstheit von Infrastrukturen zu. Ostrom hat dies für sechs Varianten institutioneller Arrangements analysiert, die nichtstaatliche wie staatliche, nichtzentralistische wie zentralistische Gestaltungen umfassen. Für kleinteilige Infrastrukturen, zum Beispiel dörfliche Bewässerungssysteme, kommt sie zum Ergebnis, dass von den Nutzerinnen und Nutzern selbst organisierte Anlagen bezüglich der Leistungsfähigkeit und der Kosten am besten abschneiden. Für andere infrastrukturelle Zwecke und Reichweiten können andere institutionelle Arrangements günstiger sein. Zur Analyse der institutionellen Arrangements gehört es, zu untersuchen, wer in die Errichtung und den Betrieb von Infrastrukturen involviert ist, welchen Einsatz und welche Ressourcen diese Personen einbringen und wie sie miteinander verbunden sind. Ebenfalls ist es wichtig zu betrachten, welches Wissen den beteiligten Personen zur Verfügung steht, welche Handlungen ihnen möglich sind, speziell ob sie Belohnungen und Strafen durchsetzen können (Ostrom et al. 1993: 19). Abstrakter formuliert: Die institutionellen Arrangements der Infrastrukturen bestehen aus der Organisationstruktur sowie der geltenden und durchsetzbaren Regelstruktur (rule structure).8

Die Betrachtungsweise von Infrastruktur als institutionelles Arrangement verdeutlicht, dass der Fokus darauf, ob es sich bei den Infrastrukturen um private oder staatliche Einrichtungen handelt, einerseits die empirische Gestaltungsvielfalt unterschätzt. Andererseits greift sie zu kurz, um zu verstehen, warum manche Infrastrukturen besonders leistungsfähig sind, während andere scheitern. Insbesondere für die Frage, ob sie soziale Teilhabe garantieren und zur sozialen Integration beitragen – genereller gesagt, wie sie auf soziale Beziehungen und Verhältnisse wirken –, ist es unverzichtbar, sich mit der infrastrukturellen Sozialität zu befassen. Mit diesem Begriff bezeichne ich die soziale Gestaltung der Infrastrukturen (siehe Kapitel 4).

2.5Infrastruktur als »boundary objects« und Netzwerk

Das institutionelle Arrangement der Infrastrukturen nach Ostrom umfasst die Organisationsstrukturen und Regelwerke, die erforderlich sind, um Infrastrukturen zu etablieren und zu betreiben. Die infrastrukturellen Leistungen werden dagegen als technische Verrichtungen oder materielle Produkte aufgefasst – also nicht hinsichtlich ihrer sozialen Wirkungen analysiert. Vor allem angeregt durch relationale und konstruktivistische Theorien, sind in den letzten Jahren zunehmend die sozialstrukturierenden Wirkungen von Infrastrukturen in den Blick geraten. Insbesondere empirische Studien zum Aufbau neuer Infrastrukturen, zum Scheitern von Infrastrukturen und zu gesellschaftlichen Konflikten und sozialen Auseinandersetzungen über Infrastrukturen haben offenbart, dass die Strukturierung sozialer Beziehungen und Verhältnisse zu den zentralen Leistungen und damit zu den Charakteristika von Infrastrukturen gehört (Bowker et al. 2010; Edwards/Bowker et al. 2007; Edwards et al. 2011; Jackson et al. 2007). Anhand solcher Beispiele konnte gezeigt werden, dass durch die Einrichtung oder Schließung von Infrastrukturen bisherige Machtverhältnisse verändert werden und sich in der Folge dieser Prozesse Gewinner und Verlierer herausbilden. Zu den Verlierern der Entwicklung der Infrastrukturen zu gehören kann bedeuten, von unentbehrlichen Ressourcen ausgeschlossen und in eine schlechtere sozialstrukturelle Position gebracht zu werden (vgl. Barlösius 2016a).

Die Strukturierungswirkung verdeutlicht sich auch darin, dass durch neue Infrastrukturen etablierte Regeln, Routinen und Praktiken außer Kraft gesetzt werden und neue Vorgaben und Vorschriften an ihre Stelle treten. Die soziale Strukturierungswirkung von Infrastrukturen wurde insbesondere von den Social Science Studies betont und zu einer eigenen Betrachtungsweise von Infrastrukturen ausgearbeitet. Ein wesentlicher Anstoß für diese Betrachtungsweise resultierte aus Forschungen über wissenschaftliche Infrastrukturen. Viele der Forschungen wurden von der National Science Foundation initiiert, die auf der Suche nach Fachexpertise darüber war, wie ein erfolgreicher Aufbau neuer Forschungsinfrastrukturen gelingen kann (Johnston 2010: 123; Bowker et al. 2010; Edwards/Bowker et al. 2007; Edwards et al. 2011). So besteht, wie zuvor gescheiterte Aufbaubemühungen dokumentieren, eine große Herausforderung bei Forschungsinfrastrukturen darin, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das, was nunmehr zur Forschungsinfrastruktur erklärt und allen zugänglich gemacht werden soll, als ihre wissenschaftliche Eigenleistung begreifen, über die sie selbst verfügen wollen (Barlösius et al. 2018). Für die Herausbildung dieser Betrachtungsweise von Infrastrukturen ist maßgeblich, dass wissenschaftliche Infrastrukturen zunehmend zu grundlegenden gesellschaftlichen Infrastrukturen werden, weil sie Wissen vorhalten, das von vielen sozialen Feldern nachgefragt wird. Genau in dieser Nachfrage scheint ein zentrales Charakteristikum der Wissensgesellschaft auf. Und dies erklärt wiederum, weshalb hier die Fachexpertise aus der Wissenschaftsforschung besonders gefragt ist.

Zu den einflussreichsten Studien über Infrastrukturen aus dem Umkreis der Wissenschaftsforschung gehören jene von Susan Leigh Star (Star 1999; 2010; Star/Ruhleder 1996). Das von ihr entwickelte Begriffsverständnis hat die Betrachtungsweise von Infrastrukturen als »boundary objects« besonders geprägt. Infrastrukturen sind nach Star »boundary objects«, weil sie ein bestimmtes Arrangement vorgeben, das es verschiedenen Gruppen ermöglicht, sich ohne ausdrückliche Abstimmung und Zuordnung miteinander auszutauschen (Star 2010). Arrangement ist hier nicht, wie bei Ostrom, als Voraussetzung für die Infrastruktur gemeint, sondern als infrastrukturelle Leistung. Flapsig gesagt: nicht als Input, sondern als Output.

Der Kern der »boundary objects« besteht darin, dass sie zwischen sozialen Welten vermitteln, die ansonsten nicht miteinander verbunden wären. Die »boundary objects« besitzen die Eigenschaft eines gemeinsamen Guts und verhelfen dazu, dass Gruppen ohne ausdrücklichen Konsens zusammenarbeiten können, indem sie diese nutzen, um miteinander in Kontakt zu treten. Auf diese Weise tragen die Infrastrukturen dazu bei, Kohärenz zwischen sich kreuzenden Gruppen herzustellen und aufrechtzuerhalten (Bowker/Star 2000, S. 297). Dies gelingt, weil Infrastrukturen in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Bedeutungen haben, aber aufgrund ihrer Struktur trotzdem allgemein verständlich sind und deshalb als Mittel der Übersetzung fungieren können (ebd.). Zudem stehen Infrastrukturen immer zur Verfügung, sind also stets »ready-to-hand« (Star 1999: 380). Sie kennzeichnet weiterhin, dass sie zeitgleich von vielen Personen innerhalb einer oder mehrerer Einrichtungen genutzt werden können (Bowker/Star 2000, S. 313). Häufig werden sie an bereits bestehende Strukturen, soziale Arrangements oder Technologien angelagert. So werden beispielsweise Datennetze zumeist entlang von Schienennetzen errichtet. Hinzu kommt, dass die Existenz von Infrastrukturen so stark verinnerlicht ist, dass sie als garantiert und selbstverständlich gelten, weshalb viele von ihnen erst Sichtbarkeit erlangen, wenn sie in Frage gestellt werden oder abhandengekommen sind. Oftmals sind sie mit konventionellen Praktiken verwoben, so dass sie Gewohnheiten und Standards mitformen (Star/Ruhleder 1996; Star 2010).

Dieses Begriffsverständnis enthält sich gänzlich einer technischen oder funktionalen Fundierung von Infrastrukturen. Damit hebt es sich von den meisten sozialwissenschaftlichen Beschäftigungen mit Infrastrukturen deutlich ab, die in der Regel die sozialen Qualitäten von Infrastrukturen bloß als Additiv zu den technischen und funktionalen Eigenschaften betrachten.9