Pierre Bourdieu - Eva Barlösius - E-Book

Pierre Bourdieu E-Book

Eva Barlösius

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Beschreibung

Pierre Bourdieu (1930 – 2002) ist ohne Zweifel einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Sein Buch »Die feinen Unterschiede« machte ihn weltweit bekannt. Heute wird sein Werk nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch in den Literatur-, Kultur- und Geschichtswissenschaften rezipiert. Allerdings hat Pierre Bourdieu »seine« Soziologie nicht kompakt und zusammenhängend dargelegt. Vor dem Hintergrund seiner Biografie werden in dieser Einführung Bourdieus Grundbegriffe wie »soziale Praxis«, »Habitus« und »Feld« systematisch vorgestellt. So wird Schritt für Schritt seine soziologische Theorie entfaltet. Eva Barlösius zeigt Bourdieu als einen Soziologen, der die Grenzen dieser Disziplin immer wieder überschritt und wie kaum ein anderer Theorie und Praxis miteinander verband – bis hin zu seinem Engagement als politischer Intellektueller.

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Eva Barlösius

Pierre Bourdieu

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2006 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln

Umschlagmotiv: © Pierre Bourdieu 1998 © ullstein – Tapp

ISBN der Printausgabe: 978-3-593-39532-6

E-Book ISBN: 978-3-593-41233-7

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|7|1 Grundidee

Seit einigen Jahren wird das Werk von Pierre Bourdieu immer stärker rezipiert, in der Lehre behandelt und in der Forschung darauf Bezug genommen – nicht nur in den Sozialwissenschaften, auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften, der Geschichts- und der Bildungswissenschaft, und nicht nur im »alten Europa«, sondern weltweit. Der Rang eines soziologischen Klassikers der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ihm gewiss. Anders jedoch als seine zeitgenössischen Mitstreiter um diesen Status – insbesondere Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann – hat Pierre Bourdieu »seine Soziologie« nicht kompakt und systematisch dargelegt.

Setzte Luhmann eine Kurzfassung der Grundlagen seiner Systemtheorie vor jede Analyse eines spezifischen Funktionssystems, so stieg Bourdieu in seine Untersuchungen zu einem sozialen Feld jeweils feldspezifisch – meist empirisch – ein. So beginnt Die Regeln der Kunst mit einem Prolog über Gustave Flaubert und einer historischen Rekonstruktion des literarischen Feldes, und die Studie Homo academicus eröffnet mit einer empirischen Darlegung des wissenschaftlichen Feldes. Entwickelte Jürgen Habermas seine »Theorie des kommunikativen Handelns«, indem er die soziologische Theoriegeschichte aus seiner Sicht rekonstruierte und sich auf diese Weise positionierte, hat Bourdieu lange gezögert, einen vergleichbaren Weg zu beschreiten. Und dann, als er sich schließlich gedrängt sah, seine Erkenntnis- und Denkweise einmal systematisch auszuformulieren, tat er dies nicht auf dem originären Feld der Soziologie, sondern wählte die |8|Philosophie als Bezugsrahmen. Die Rede ist von den Meditationen, die er Blaise Pascal – also einem Philosophen – widmete. Am ehesten hat sich Bourdieu in Gesprächen, von denen viele gedruckt erschienen sind, dazu verleiten lassen, seine Soziologie relational zu anderen Theorien und Paradigmen einzuordnen (z. B. Reflexive Anthropologie). Begeisterung hat er dabei nicht aufscheinen lassen, aber sich immerhin als Streiter für einen dritten Weg in der Theoriebildung – zwischen System- und Handlungstheorie – zu erkennen gegeben.

So wie er sich einer eindeutigen theoretischen Ortsbestimmung gerne entzogen hätte, so wollte er auch bei der Begriffsbildung keine definitorischen Festlegungen vornehmen oder gar ein Bauwerk von Begriffen errichten, sondern seine Begriffe als analytische Werkzeuge verstanden wissen (vgl. Colliot-Thélène et al. 2005: 8). Trotzdem ist Bourdieu insbesondere durch von ihm geprägte Begriffe berühmt geworden: Wer denkt bei Habitus, kulturelles und soziales Kapital nicht sogleich an ihn? Oft hat er unterstrichen, dass diese Begriffe nicht rein theoretischen Überlegungen, sondern dem Nachdenken über die Grundlagen der empirischen Studien entsprangen und sich vor allem in der Forschungspraxis bewähren sollten. Ob sie sich zu einem geschlossenen Theoriemodell zusammenfügen, war für Bourdieu nicht so ausschlaggebend. Im Gegenteil: Einer vollendeten Begriffslehre stand er kritisch gegenüber, da diese sich mehr an theoretischen denn an praktischen Anforderungen orientiere. Wie kein anderer Soziologe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat er seine theoretischen Fragen in die empirischen Untersuchungen eingebettet – ohne dabei der Empirie oder der Theorie einen Vorrang einzuräumen. Beide ordnete er dem »Verstehen« der sozialen Praxis unter. Diese und weitere Punkte – beispielsweise sein wissenschaftlicher Weg von der Philosophie über die Ethnologie zur Soziologie – sind dafür verantwortlich, dass sich das Bourdieusche Werk manchmal als sperrig erweist.

|9|Nun entspricht es jedoch dem disziplinären Selbstverständnis der Soziologie, eine klare Verortung im Kanon der soziologischen Theorien vorzunehmen, Grundbegriffe eindeutig zu definieren, die wichtigsten Ergebnisse zusammenhängend vorzustellen etc. All dies strebt auf eine systematische Darstellung zu. Eine Einführung in die Soziologie von Pierre Bourdieu steht damit vor dem Dilemma, einerseits möglichst werkgetreu vorzugehen und die Absichten des Autors zu respektieren, andererseits seine Soziologie so darzustellen, dass sie – wie in der Soziologie üblich – theoretisch, empirisch und thematisch ein- und zugeordnet werden kann. Nur so kann sie zu einem festen Bestandteil soziologischen Denkens und Forschens und damit praktisch wirksam werden. Zudem stimmt diese Vorgehensweise damit überein, wie Soziologie gelehrt wird. Damit geht aber unvermeidlich einher, die theoretischen Konzepte und Begriffe aus ihrer empirischen Verwendung herauszulösen und so zumindest tendenziell ein in sich geschlossenes Theoriegebäude zu konstruieren.

Auch diese Einführung hat sich vermutlich stärker der soziologischen Konstruktionsarbeit verschrieben, als es Bourdieu recht gewesen wäre. Im Vergleich zu vielen anderen Einführungen hält sie sich allerdings eher zurück. So wird weitgehend auf eine Einordnung seines Werks in das soziologische Theorieensemble oder die Klassiker der Soziologie verzichtet. Eine solche Zuordnung besäße zwar fachsoziologische Bedeutsamkeit, bliebe letztlich aber nicht mehr als ein Vorschlag, der zudem mehr von einem Bedürfnis nach prinzipieller Systematisierung denn von einem Bemühen, die Soziologie Bourdieus zu verstehen, angetrieben wäre.

Auf eine systematische Darlegung der zentralen Begriffe und Konzepte von Bourdieu – zumeist unabhängig von den konkreten Studien – soll dagegen hier nicht verzichtet werden, auch wenn dies im Widerspruch zu seinen Vorstellungen steht. Für eine solche Darstellungsweise |10|spricht, dass Bourdieus thematische Schwerpunkte bislang oft nur entlang fachlicher Fragen studiert werden. So konzentriert sich beispielsweise die Bildungswissenschaft auf die Schrift Illusion der Chancengleichheit (IdCh), die Ethnologie auf das Buch Entwurf einer Theorie der Praxis (TdP), die Ungleichheitssoziologie bezieht sich dagegen hauptsächlich auf Die feinen Unterschiede (FU), und die Kultur- und Literaturwissenschaften setzen sich überwiegend mit Bourdieus Studien zum literarischen Feld und seinem Buch Die Regeln der Kunst (RdK) auseinander.

Nimmt man beispielsweise das Konzept des Habitus, so ist festzustellen, dass mittlerweile ungleichheitssoziologische, historische und kulturwissenschaftliche Varianten entstanden sind. Dies ist nicht problematisch, sofern die verschiedenen Rezeptionsweisen den fachinternen Diskurs befruchten. Allerdings bedingt dieser Gebrauch, dass die in diesen Begriffen enthaltene grundsätzlichere und umfassendere Erklärungskraft – und damit die sozialtheoretischen Ansprüche von Bourdieu – nur unzureichend erkannt und gewürdigt werden. Aus diesem Grund werden seine theoretischen Grundideen im Folgenden »in Reinform« – wenn so etwas überhaupt denkbar ist – vorgestellt. Dazu ist es notwendig, sie aus dem jeweiligen empirischen Kontext herauszulösen, um ihre verallgemeinerungsfähige Erklärungskraft hervorheben zu können. Entsprechend gliedert sich die Einführung im Wesentlichen entlang von Bourdieus wichtigsten Konzepten. So werden die soziale Praxis, der Habitus, das soziale Feld und der soziale Raum jeweils in einem Kapitel behandelt (Kapitel 3 bis 6). Daran schließt ein Kapitel über Repräsentationen und Benennungsmacht an, in welchem Bourdieus wissenssoziologische Annahmen und seine Forderungen nach einer »Soziologie der Soziologie« dargelegt werden (Kapitel 7).

Die Einführung beginnt mit einer Skizze des wissenschaftlichen Werdegangs Bourdieus (Kapitel 2). Wenn man sich diesen vor Augen führt, wird klar, dass die gebräuchliche |11|disziplinäre Eingruppierung in die Soziologie große Zeitabschnitte seines Schaffens und weite Teile seines intellektuellen Engagements außer Acht lässt. Sie hat zur Folge, dass viele Facetten seiner Arbeiten übersehen werden. So hat er in seinen Forschungsfragen, Konzepten und methodischen Überlegungen stets auch ethnologische Aspekte und philosophische Theorien reflektiert. Mit der biographischen Perspektive ist ein weiterer Aspekt berührt. Gesellschaftsbeobachtung allein genügte Bourdieu nicht, weshalb er sich nie nur auf die Rolle eines distanzierten Wissenschaftlers beschränkt hat. Er verstand sich als Intellektueller, der für diejenigen, deren Stimme nicht oder zu wenig gehört wird, spricht. Sein gesellschaftspolitisches Engagement wird vielfach als befremdender »Nebenjob« dargestellt oder gar despektierlich als leidenschaftlicher Abweg vom eigentlichen Geschäft der Soziologie kritisiert. Für Bourdieu gehörte die Pflicht zur Stellungnahme unabdingbar zu seinem intellektuellen Selbstverständnis. Würde dieser Teil seines Engagements nicht gewürdigt, entstünde ein unvollständiges Bild – vieles, ja Wesentliches würde fehlen. Deshalb beschäftigt sich ein spezielles Kapitel mit Bourdieus Auffassung von akademischer Distanziertheit und politischem Engagement (Kapitel 8). Die Einführung endet mit einer kurzen Rezeptionsgeschichte des Bourdieuschen Werks in Deutschland und einer kritischen Reflexion seines Habituskonzepts (Kapitel 9).

Die Buchkapitel bauen aufeinander auf, weshalb Lesern, die mit Bourdieus Soziologie noch gar nicht vertraut sind, empfohlen wird, sie in der vorgegebenen Reihenfolge zu lesen. Jedes Kapitel kann aber auch für sich gelesen werden, da sie sich jeweils mit einem Konzept oder einem bestimmten Aspekt befassen und in sich schlüssig dargestellt sind. Falls man bei der Lektüre auf einen Begriff stößt, der in einem vorangegangenen Kapitel erklärt wurde, hilft ein Blick ins Glossar (Kapitel 10). Dort finden sich kurze Definitionen der wichtigsten Begriffe von Bourdieu.

|12|2 Der Weg zur Soziologie

Philosophische Herkunft

»Als ich studierte, befand sich das Prestige der Soziologie auf der untersten Stufe der Hierarchie, und, wenn man die Philosophie fragt, befindet sie sich dort heute noch« – so Pierre Bourdieu in einem 1979 geführten Interview (Jurt 2004: 11). Trotzdem hat sich Bourdieu der Soziologie zugewandt, obwohl ihn sein anfänglicher Bildungsweg direkt zur Philosophie führte – der »Königsdisziplin« in Frankreich. Für einen ehemaligen Schüler des berühmten Lycée Louis-le-Grand in Paris und Studenten der Eliteschule École Normale Superièure stand fest, dass nur ein Fach studierenswert ist: Philosophie. Sie verkörperte in Frankreich – nicht erst in den 1950er Jahren, als Bourdieu zu studieren begann – den Pantheon der Intellektualität und garantierte, bald selbst die prestigeträchtige Bezeichnung »Philosoph« tragen zu dürfen. Jean Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Jacques Derrida, Michel Foucault und viele andere Denkerinnen und Denker, die den Ruhm und den Glanz der französischen Intellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg repräsentierten, hatten diese ganz auf die philosophische Sicht der Welt konzentrierte intellektuelle Laufbahn erfolgreich beschritten.

Es war zu erwarten, dass Bourdieu denselben Weg gehen würde. Diese Erwartungen hat er indes nicht erfüllt. Stattdessen wechselte er zur »Soziologie«, einer »Pariadisziplin«, wie er selbst das von ihm gewählte Fach klassifizierte und so drastisch wie anschaulich den damaligen Platz der Soziologie in Frankreich im Feld der Wissenschaften beschrieb: außerhalb der anerkannten Disziplinen |13|und ohne Ansehen. Die Soziologie rangierte in Frankreich so weit unten, weil sie als »plebejische und platt materialistische Wissenschaft der gewöhnlichsten Dinge wahrgenommen« wurde – so Bourdieu (SSv: 25).1 Einerseits beschäftigte sie sich, aus der Perspektive der Philosophie betrachtet, mit inferioren Sujets – Arbeit, Armut und Alltag –, und andererseits galt ihr Interesse der »breiten Masse der Bevölkerung«, insbesondere den sozial Benachteiligten. Beides war nicht sonderlich prestigeträchtig, im Gegenteil, und die Verachtung für die Forschungsobjekte und -subjekte färbte auf die Disziplin ab.

Auch wenn sich Bourdieu in den 1960er Jahren immer mehr von der Philosophie als Disziplin ab- und der Soziologie zuwandte, so blieb er doch dem philosophischen Denken zeitlebens eng verbunden. Es stand am Anfang seines intellektuellen Werdegangs und hat seinen Blick auf die soziale Welt geschärft. Deutlich zeigt sich die enge Verbundenheit darin, dass Bourdieu vielen ursprünglich philosophischen Begriffen eine soziologische Bedeutung gab: doxa, hexis, modus operandi, opus operatum oder hysteresis. Auf diese Weise vermochte er die beiden Denkweisen aneinander heranzuführen. Ausdrücklich hat er dies in einem seiner letzten Bücher getan: den Méditations Pascaliennes (MP). Schon im Titel bekundet er, wie stark er sich dem philosophischen Denken verpflichtet fühlt. Auf den ersten Seiten charakterisiert er die Absicht, die er mit diesem Buch verband:

»Obschon ich eher dazu neige, die Dinge im praktischen Zustand zu belassen [rein theoretische Ausführungen unterlasse, E.B.], mußte ich mich davon überzeugen, daß der Versuch Zeit und Mühe lohnte, die Prinzipien des modus operandi (d.h. die Erkenntnis- und Denkweise, E.B.) meiner Arbeiten einmal auszuformulieren, und auch die Vorstellung vom ›Menschen‹, die in meine wissenschaftlichen Entscheidungen unweigerlich einging, offen zu legen.« (MP: 16f.)

|14|Streng genommen enthalten diese Absichten ein philosophisches Programm, das zwei der wichtigsten philosophischen Grundfragen umfasst: Was sind die Bedingungen für Erkenntnis? Was macht den Menschen zum Menschen? Selbstredend beantwortet Bourdieu beide Fragen nicht wie in der Philosophie üblich, jedenfalls nicht in der im Wesentlichen von Jean Paul Sartre geprägten Denktradition des Existentialismus, die zu Beginn seines intellektuellen Werdegangs diese Disziplin beherrschte.

In dieser Einführung in das Werk von Bourdieu soll seine philosophische Herkunft nicht zu einem eigenen Thema ausgeweitet werden. Aber es soll gleich zu Beginn festgehalten werden, dass es verkürzend wäre, sein Werk nur im Kanon soziologischer Klassiker präsentieren zu wollen: zwischen Karl Marx und Max Weber, in Einklang mit Maurice Halbwachs und Norbert Elias und in Abgrenzung zu Talcott Parsons, Niklas Luhmann oder James Coleman. Eine solche einordnende Positionierung ist zwar wohl etabliert, dient aber mehr dazu, eine kontinuierliche Geschichte der Soziologie zu schreiben, denn die Arbeiten eines einzelnen Soziologen angemessen zu würdigen. Ohne Kenntnis der Gründe, warum Bourdieu von der Philosophie als Disziplin abrückte, wird man seine Soziologie nur unzureichend verstehen. 

Übertritt zur Soziologie

Insbesondere in zwei Publikationen hat Bourdieu dargelegt, warum er zur Soziologie wechselte: in der kurz nach seinem Tod zunächst auf Deutsch erschienenen Schrift Soziologischer Selbstversuch (SSv) und in den schon erwähnten Méditations Pascaliennes (MP). Während er in der ersten Schrift seinen Weg von der Philosophie zur Soziologie als biographischen Bruch schilderte, hat er im zweiten Werk seinen intellektuellen Bruch mit dem scholastischen, dem rein auf theoretisch geschaffene Gedankengebäude beschränkten Denken wissenschaftstheoretisch begründet. Diesen Typus des Philosophierens hat er besonders kritisiert. Aus dem ersten Werk lässt sich |15|sein Weg zur Soziologie mit einer Zwischenstation bei der Ethnologie nachzeichnen, und aus dem zweiten kann herausgelesen werden, weshalb es ihm wichtig war, sich von der etablierten Philosophie zu distanzieren. Beginnen wir mit Bourdieus Distanzierung von der damals – in den 1950er und 1960er Jahren – in Frankreich vorherrschenden philosophischen Denkweise und vor allem von der »hochmütigen Haltung« der Philosophen gegenüber dem gewöhnlichen Leben, der praktischen Welt und den nicht in dieser Denkweise geschulten Menschen.

2.1 Kritik der philosophischen Praxisferne und der symbolischen Macht

Praktische Welt

An der Philosophie, so wie er sie in der Nachkriegszeit in Frankreich persönlich kennen gelernt hat, tadelte Bourdieu die Ignoranz gegenüber dem, »was sich in der praktischen Welt zuträgt« (MP: 24). Selbstverständlich zielte Bourdieus Kritik nicht auf alle Philosophen oder gar die Philosophie insgesamt. Hauptsächlich hatte er den französischen Existentialismus im Blick. Mit der praktischen Welt meinte er nicht nur das alltägliche Leben; den Begriff verstand er grundsätzlicher. Darunter fasste er neben der gewohnheitsmäßigen Seite des Lebens auch – und in Bezug auf seine Kritik der Philosophie insbesondere – den Zusammenhang zwischen den praktischen Bedingungen und einer bestimmten Sicht der Welt. Zwar legen die praktischen – sprich die sozialen – Bedingungen nicht die Wahrnehmungs- und die Denkweise fest, aber sie begünstigen eine bestimmte Sichtweise der Welt. Dass die damals herrschende philosophische Denkweise die praktische Welt weitgehend ignorierte, ergab sich für Bourdieu im Wesentlichen aus ihrer herausgehobenen Position im intellektuellen Feld: als »Königsdisziplin«.

|16|Die philosophische Gleichgültigkeit gegenüber dem realen Leben und die selbstgefällige Haltung vieler philosophischer Intellektueller gegenüber der gewöhnlichen Welt hingen für Bourdieu unmittelbar zusammen. Die Abkehr von den »wichtigen Fragen des täglichen Lebens« hat es der Philosophie erleichtert – so Bourdieu –, Sujets zu entwerfen, die als entlassen von allen Zwängen der praktischen Welt gedacht werden: die Sphäre der reinen Erkenntnis, die der Ethik und die der Ästhetik. Damit privilegieren sie eine ganz auf den Geist verengte Vorstellung von Erkenntnis, eine, die nur dem reinen Denken Erkenntnisvermögen zubilligt und auf einem »scholastischen Vernunftbegriff« fußt. Unter Letzterem versteht Bourdieu einen gedanklich konstruierten Vernunftbegriff, der vollkommen von den Bedingungen des praktischen Lebens absieht. Daraus erklärt sich die von Bourdieu kritisierte Praxisferne der Philosophie. Ebenfalls erschließt sich daraus, weshalb sich die Philosophie vornehmlich mit Erkenntnisproblemen befasst, die sich innerhalb der von ihr theoretisch konstruierten Welt stellen, die aber keine praktische Relevanz besitzen.

Ignorant wird die scholastische Sichtweise dann, wenn sie die Differenz zwischen der gewöhnlichen und der theoretisch erzeugten Welt verdrängt und die praktische Welt mit Begriffen, Kategorien und Klassifikationen deutet, die für das theoretische Gedankengebäude geschaffen wurden (MP: 65). Ignorant ist dies, weil die praktische Welt einer eigenen »Logik« – der »Logik der Praxis« – folgt. Indem die Philosophie auf einem allumfassenden Deutungsanspruch besteht, erhebt sie sich über sämtliche anderen Verstehens- und Erklärungsweisen. Genau darin sieht Bourdieu »den Imperialismus der Philosophie« (SSv: 82).

Die Ignoranz gegenüber der »Logik der Praxis« wird zu einer Quelle symbolischer Macht (vgl. Abschnitt 5.4), wenn die Philosophie aufgrund ihrer beherrschenden Position im intellektuellen Feld ihren übergroßen Deutungsanspruch |17|in der gewöhnlichen Welt durchsetzen kann. Erfolgreich ist sie dabei, sofern die von ihr geschaffenen Begriffe und Kategorien auch außerhalb der Philosophie als Erkenntnismittel Geltung erlangen, ohne dass die darin enthaltenen scholastischen Annahmen als solche erkannt und kritisiert werden – mit anderen Worten: wenn die philosophischen Begriffe und Kategorien ihren begrenzten Gültigkeitsbereich überschreiten, in die Sprache des praktischen Lebens eindringen und dort zur Verständigung genutzt werden. Ist dies der Fall, wird die Eigenart der alltäglichen Welt verkannt: Das Leben der »breiten Masse der Bevölkerung« und ihre Erfahrungen und Nöte werden mit Begriffen und Kategorien beschrieben, die von gänzlich anderen Voraussetzungen ausgehen, etwa der Möglichkeit, sich aus allen praktischen Zwängen befreien zu können.

Ein Beispiel für die Überdehnung des philosophischen Deutungsanspruchs – das Bourdieu besonders im Blick hatte – war die Existenzphilosophie von Jean Paul Sartre. In Sätzen wie »Der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, er existiert nur in dem Maße, in welchem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen« (Sartre 1975: 22) zeigt sich exemplarisch die Ausblendung der existentiellen Bedingungen des Lebens. Und dies, obwohl just Sartre dafür stritt, dass der »erste Schritt des Existentialismus jeden Menschen in Besitz dessen, was er ist, zu bringen« hat (ebd.: 12). Genau solche Lehrsätze hielt Bourdieu nicht nur für praxisfern, sondern vor allem auch für symbolisch machtvoll, weil sie mit der Geste, das »praktische Leben« zu betreffen, präsentiert werden. Symbolische Macht übt die Philosophie vor allem aus, indem sie die Begriffe und Kategorien prägt und mit Autorität in den Alltagsdiskurs einspeist, so dass man sich ihrer zu bedienen hat, um sich Gehör und Anerkennung zu verschaffen. Damit greift sie in die alltäglichen Wahrnehmungs- und Denkmuster ein, richtet sie aus und |18|sickert so in die Vorstellungen und Bilder ein, die sich die Menschen von der sozialen Welt und deren Zustandekommen machen. 

Theorie der Praxis

Zwei Dinge kritisiert Bourdieu somit vornehmlich an der Philosophie: ihre Praxisferne und ihre ungebremste Ausübung symbolischer Macht. Der Praxisferne begegnet er mit einer »Theorie der Praxis«, die unter anderem auch die Gewohnheit – den Habitus – als Erkenntnisweise begreift. Dabei stützt er sich hauptsächlich auf Blaise Pascal und Wilhelm Gottfried Leibniz. So zitiert er von Pascal, dass wir »ebensosehr automatisch handelnder Körper wie Geist« sind, die Gewohnheit zu den stärksten Überzeugsmitteln gehört und sie den »Leib in eine Richtung« lenkt und er den »Geist mit sich fort(zieht), ohne dass dieser darüber nachdenkt« (MP: 21). Von Leibniz zitiert er immer wieder den Gedanken, dass »bei drei Vierteln unserer Handlungen wir reine Empiriker« sind und »lediglich der Praxis folgen, ohne eine Theorie zu besitzen« (vgl. RA: 165). Für die soziale Welt ist typisch, dass in ihr in der Mehrzahl der Fälle empirisch gehandelt wird, das heißt den praktischen Gegebenheiten entsprechend, ohne zuvor über deren Zustandekommen zu reflektieren.

Genau auf solche und ähnliche Verhaltens- und Handlungsweisen, zu denen gewohnheitsmäßiges Reagieren, Wahrnehmung ohne bewusste Vergegenwärtigung, Handeln ohne Reflektion gehören, konzentriert Bourdieu seine »Theorie der Praxis«. Auch wenn in diesen Fällen »die Handelnden nie ganz genau wissen …, was sie tun«, weil sie eine »Art ungeschriebener Partitur« spielen, meint doch jeder Einzelne, dass er »seine Melodie improvisiere« (SF: 86; RA: 25). Mithilfe einer »Theorie der Praxis« soll es möglich werden, die Partitur niederzuschreiben und die sich darin ausdrückende kompositorische Absicht – die »Logik der Praxis« – an die Oberfläche zu holen. Eine Soziologie, die sich dies zur Aufgabe macht, versteht Bourdieu als Sozialpraxeologie. Um die |19|Praxis in ihrer eigenen Logik zu erfassen, ist es erforderlich, die übliche soziologische Vorgehensweise umzudrehen: Statt mit einem fertigen, theoretisch hergeleiteten Begriffsapparat die Praxis empirisch zu betrachten, sind aus der Beobachtung der Praxis angemessene Begriffe zu entwickeln und daraus eine »Theorie der Praxis« zu entwerfen. Letztlich haben sich alle theoretischen Überlegungen vor der sozialen Praxis zu bewähren. Eine »Theorie der Praxis« besteht deshalb aus einem »Wahrnehmungs- und Aktionsprogramm«, das Anleitungen für die Beobachtung der sozialen Praxis liefert. Keineswegs darf es in »professorale«, theoretisch entworfene Definitionen abgleiten, die – am Schreibtisch entwickelt – der sozialen Praxis übergestülpt werden (RA: 125). Es entbehrt nicht der Ironie, dass in den letzten Jahren in Frankreich einige Glossars zu Bourdieus Begriffen erschienen sind (siehe z. B. Champagne/Christin 2004).

Der Nutzen der Soziologie

Um der Ausübung symbolischer Macht – vor allem mittels der Sprache als Herrschaftsinstrument – entgegenzuwirken, hat die Soziologie die Aufgabe, eine Darstellung der sozialen Welt zu liefern, welche die Wahrnehmungen und Kenntnisse der Menschen respektiert und ihnen nicht eine Repräsentation der sozialen Welt entgegenhält, die sie als »Enteignung« ihrer sozialen Erfahrungen erleben. Im Gegenteil, die Soziologie soll den Individuen eine Sprache anbieten, die es ihnen ermöglicht, mit den gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten, die ihr Leben beherrschen, zu brechen und die sie dabei unterstützt, ihre soziale Situation zu artikulieren und öffentlich zu machen. Die Soziologie hat somit die Aufgabe, »bei der Explizitwerdung zu assistieren, Ausdruckshilfen zu geben« (IuM: 16f.). Demgemäss ist die Soziologie für ihn »keine Stunde der Mühe wert …, sollte sie ein Wissen von Experten für Experten sein« (SF: 7). Mit dieser Forderung stellt sich Bourdieu in die Tradition der französischen Intellektuellen und bleibt damit seinem Bildungsweg treu, denn es sind hauptsächlich die französischen Philosophen, die sich immer wieder gesellschaftlich und politisch zu Wort melden.

|20|2.2 Die Hinwendung zur Soziologie

Obwohl es Bourdieu, wie er immer wieder bekundete, widerstrebte, seinen Lebensweg zu schildern, hat er es schließlich doch getan. Eine Autobiographie lehnte er ab, weil ein solches Unterfangen die »biographische Illusion« erzeugt, dass die Lebensbahn einer »kohärenten Linie« folgt und alle Schritte und Wendungen in einem sinnvollen Zusammenhang stehen. Dies mehrt den Eindruck, als hätte das Individuum den Verlauf seines Lebens weitgehend in eigener Hand und damit die Chance, seinen Lebensentwurf zu verwirklichen. Gegen diese »biographische Illusion«, welche die tatsächlichen Bedingungen außer Acht lässt, hat Bourdieu sein gesamtes soziologisches Werk gesetzt, auch seinen autobiographisch angelegten Soziologischen Selbstversuch (SSv). In dieser Schrift hat er versucht, seinen intellektuellen Werdegang mit soziologischem Blick zu betrachten und zu verstehen. Dabei war es ihm wichtig, seinen Übertritt zur Soziologie nicht als Resultat einer rein intellektuellen Auseinandersetzung darzustellen, sondern hervorzuheben, dass es Bedingungen wie Zufälle waren, die seine Konversion zu dieser wenig angesehenen Disziplin begünstigten.

Ethnologische Feldforschung

Als wegweisend hat er immer wieder seine Erlebnisse in Algerien genannt. Dort absolvierte er Mitte der 1950er Jahre, obwohl Gegner des Algerienkrieges, seinen Militärdienst. Geplant hatte er, in seiner Freizeit eine Dissertation bei Georges Canguilhelm – einem Leibniz-Spezialisten – über »Die Zeitstrukturen des Gefühlslebens« zu verfassen. Bei ihm hatte Bourdieu bereits seine Diplomarbeit geschrieben. Diese Absicht gab er jedoch nach und nach auf. Stattdessen begann er in den letzten Monaten des Militärdienstes, sich mit der algerischen Gesellschaft zu beschäftigen, um ein kleines Buch über die Grausamkeit des Krieges zu verfassen. Am Anfang war er noch überzeugt, dass »dieser Ausflug in die Ethnologie und Soziologie nur |21|vorläufig sei« und er »zur Philosophie zurückkehren würde« (SSv: 48). Tatsächlich wurde aus dem kurzen Abstecher in die Ethnologie ein ausgiebiges Verweilen. Und der Soziologie widmete er sich bis zu seinem Tod. Nach dem Ende des Militärdienstes blieb er in Algerien, vertiefte die Feldforschungen in der Kabylei – einem kleinen Gebirgszug im Nordosten Algeriens, der traditionell von Berbern bewohnt wird – und widmete sich ganz dem Studium des Lebens der dortigen Bauern. Mit diesem Schritt befand er sich auf dem Weg, Ethnologe zu werden.

Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss

Die Ethnologie wurde in Frankreich in den 1950er und 1960er Jahren von Claude Lévi-Strauss dominiert. Ihm war es gelungen, dem Fach im Kanon der Wissenschaften mehr Ansehen zu verschaffen. Es war daher nahe liegend, dass sich Bourdieu für seine Studien über die kabylischen Bauern zuallererst und überwiegend mit den Schriften von Claude Lévi-Strauss, speziell mit dessen Meisterwerk Traurige Tropen (1978), auseinander setzte. Mit Blick auf dieses Werk hat er später immer wieder erläutert, welche wissenschaftliche Absicht er mit seinen Arbeiten über die kabylischen Bauern verband: »die Traurigen Tropen seitenverkehrt zu schreiben« (SSv: 71). Mit dem Bild der Verkehrung der Seiten wollte Bourdieu anschaulich ausdrücken, dass der Wissenschaftler einen anderen Standpunkt gegenüber seinem Forschungsgegenstand einnehmen sollte als jenen, den Lévi-Strauss beanspruchte. In Traurige Tropen hatte Lévi-Strauss dargelegt, warum er es für notwendig hielt, in die Ferne zu reisen und fremde Gesellschaften zu studieren. Nur wenn der Ethnologe einen Standpunkt einnähme, »der erhaben und entfernt genug ist« von den Menschen, könne er »von den besonderen Zufällen einer Gesellschaft oder Kultur« abstrahieren und so jene »kulturellen Typen« erkennen, »die in jeder Gesellschaft in ähnlicher Form immer wiederkehren« (Lévi-Strauss 1978: 48, 18). Ausschließlich ein distanzierter Blick aus der Beobachterperspektive gestatte |22|es, »ein theoretisches Modell der menschlichen Gesellschaft aufzustellen« (ebd.: 387), und dies sei die Voraussetzung dafür, die Gesellschaft, »der wir angehören«, zu verändern (ebd.: 388).

Diesem Standpunkt in mehrfacher Hinsicht entgegensetzt führte Bourdieu seine ethnologischen Untersuchungen in der Kabylei durch und ging damit auf Distanz zur Ethnologie von Lévi-Strauss. Die erste Verkehrung der Seiten ergab sich daraus, dass er das Verhältnis von eigener und fremder Gesellschaft anders erlebte als Lévi-Strauss auf seinen Reisen nach Südamerika und Asien. Die bäuerliche Gesellschaft der Kabylei war Bourdieu nicht so fremd wie erwartet, im Gegenteil erwies sie sich als vertraut, denn sie erinnerte ihn an die ländliche Gegend, wo er aufgewachsen war. Sein Vater stammte aus dem bäuerlichen Milieu, arbeitete als Briefträger in dem abgelegenen Dorf Béarn, das Bourdieu bereits in der Schulzeit verlassen hatte, um in der nächstgelegenen Kleinstadt Pau das Internat zu besuchen. Von dort aus war er nach Paris in die Vorbereitungsklasse des berühmten Lycée-le-Grand und anschließend auf die Elitehochschule École Normal Superièure gegangen. Den weiten Weg von einer kleinen und abgeschiedenen Ortschaft ins intellektuelle Zentrum Frankreichs hat er nicht nur als geographische Entfernung, sondern vor allem als Distanzierung von der eigenen kulturellen und sozialen Herkunft erfahren: Dies war seine Reise in die Fremde. In der Kabylei dagegen entdeckte er viele Ähnlichkeiten mit seiner ursprünglichen Heimat. Für die Bauern der Kabylei war er zwar ein Fremder, aber sie waren ihm nicht fremd. Während Lévi-Strauss auf seinen Forschungsreisen den Fremden in der Ferne nahe kommen wollte, schrieb Bourdieu sein Buch über die Entwurzelung der kabylischen Bauern (DE) aus einer ihm fern gewordenen Nähe und näherte sich auf diese Weise wieder seiner Herkunft. Dies erklärt, weshalb Bourdieu im Nachhinein immer wieder hervorhob, wie bedeutsam seine |23|Erlebnisse in Algerien für seinen Übergang von der Philosophie zur Ethnologie und später zur Soziologie waren und welche einschneidende biographische Bedeutung sie für ihn hatten: Algerien hat »es mir ermöglicht, mich selbst zu akzeptieren« (Schultheis/Frisinghelli 2003: 48). Es half ihm, sich mit dem Gefühl der Fremdheit in den Pariser Intellektuellenzirkeln abzufinden.

Die zweite Verkehrung der Seiten betraf den Standpunkt des Wissenschaftlers gegenüber der von ihm beobachteten Gesellschaft. Einen erhabenen und entfernten Standpunkt, so wie Lévi-Strauss ihn für notwendig hielt, lehnte Bourdieu nicht nur wegen des darin enthaltenen Anspruch auf Überlegenheit ab. Er hielt ihn vor allem für ungeeignet, um zu verstehen, wie der soziale Raum erzeugt wird, in dem sich die Gesellschaft bewegt. Von oben, aus der Adlerperspektive betrachtet, scheint es, dass die sozialen Strukturen die Menschen – ihr Handeln, ihre Wahrnehmungen und ihr Denken – vollkommen im Griff haben. Tatsächlich entsteht der soziale Raum dadurch, dass die Menschen sich gegenseitig Positionen zuweisen und auf diese Weise ein räumliches Gebilde erschaffen. Durch solche Zuweisungsprozesse werden einige in bevorzugte und herrschende und andere in benachteiligte und beherrschte Positionen gebracht. Die Positionen markieren die Standpunkte, von denen aus die Menschen ihre Position im sozialen Raum und die soziale Welt insgesamt wahrnehmen und von denen aus sich ihr Handeln bestimmt. Um dies nachvollziehen zu können, ist es notwendig, die soziale Welt von den Standpunkten der Menschen aus zu sehen und zu verstehen. Dazu ist es unumgänglich, den erhobenen Standpunkt des wissenschaftlichen Beobachters aufzugeben und insbesondere auf das daran gekoppelte Vorrecht auf den »einzig richtigen« Blick auf die Gesellschaft zu verzichten. Die Aufgabe des Wissenschaftlers besteht deshalb darin, die »Pluralität der Perspektiven« im sozialen Raum zu Wort kommen zu lassen. Von |24|dieser Absicht besonders getragen ist Bourdieus Studie Das Elend der Welt (EdW).

An die zweite schließt sich die dritte Verkehrung unmittelbar an. Der Blickrichtung von oben auf die Gesellschaft wohnt inne, ein kognitiv ausgedachtes Modell der Gesellschaft auf die soziale Wirklichkeit zu projizieren. So kritisiert er an Lévi-Strauss, dass die von ihm aufgestellten sozialen Regeln nach der Vorstellung einer kognitiv geordneten Welt entworfen sind. Ihre Regelhaftigkeit bemisst sich somit an den Maßstäben des wissenschaftlichen Beobachters, aber nicht daran, ob die Menschen diese überhaupt als Vorschriften und Normen wahrnehmen und anwenden. Die soziale Praxis lässt sich auf diese Weise nicht erfassen. Erst »wenn man hinter den Regeln die Strategien entdeckt«, welche die Akteure mit ihrem Handeln verbinden, gelingt es, »das praktische Verhältnis zur Welt« – die »Logik der Praxis« – sichtbar zu machen. Dies bedeutet, die »leibhaftigen Akteure«, die den Strukturalisten wie Lévi-Strauss »aus dem ethnologischen Blick gefallen waren«, ins Zentrum zu rücken und nicht die Strukturen. Mit dem Fehlen der »leibhaftigen Akteure begründet Bourdieu seinen Übertritt von der Ethnologie à la Lévi-Strauss zur Soziologie. Diesen wollte er als »klaren Bruch mit dem strukturalistischen Paradigma« verstanden wissen.

Für Bourdieu ist dieser Übergang von der strukturalistischen Ethnologie zur Soziologie ein »Übergang von der Regel zur Strategie