Inga. Eine Auszeit in Mayo - Ingrid Frank - E-Book

Inga. Eine Auszeit in Mayo E-Book

Ingrid Frank

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Beschreibung

Eine Frau allein in Irland. Fünf Monate Auszeit in einem Cottage, direkt an der irischen Küste. Klingt fabelhaft - ist es das auch? Inga hat es erlebt, zusammen mit einer Katze, einem Hund, Hühnern und Enten. Davon erzählt sie, hautnah, intuitiv, intensiv. Tiere sprechen. Grenzen verwischen. Inga trifft auf skurrile Typen, großartige Naturgewalten, historische Rätsel und auf Männer - anwesende wie abwesende. Es geht um Wurzeln, Heimat, Sehnsucht. Und auch um Liebe.

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Seitenzahl: 293

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www.verlag-texthandwerk.de

Die Autorin

Ingrid Frank ist Jahrgang 1964, hat zwei Kinder und lebt in Hannover.

Sie hat katholische Theologie sowie Sozialarbeit (Dipl.) studiert, ist ausgebildet als systemische Familientherapeutin, Supervisorin und Traumapädagogin, arbeitet in einer Jugend- und Familienberatungsstelle.

Sie hat schon viel gesehen, war in der Jugendbildungsarbeit, der Gefängnisseelsorge und aufsuchenden Sozialarbeit für ausländische Gefangene tätig, hat in der Sozialpsychiatrie gearbeitet, ist eine Weile Taxi gefahren, bietet freiberuflich Schreibseminare an. Und liebt das Schreiben …

„ ... gerne mehr, davon träume ich!“

Ingrid Frank

Inga. Eine Auszeit in Mayo

© 2017 Frank, Ingrid

Umschlagfoto: Olivia Rosendorfer

Covergestaltung: Uschi Ronnenberg, ronnenberg-design.de

Lektorat: Maria Al-Mana, texthandwerkerin.de

www.verlag-texthandwerk.de

ISBN

Paperback

978-3-7439-6426-6

Hardcover

978-3-7439-6427-3

e-Book 978-3-7439-6428-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Hilde, mit Dank für all „die Wörter“.Für Reinhard, mit Liebe und Dank für das „Anfertigen von Bildnissen“.

Inga bin nicht ich. Und Inga gibt es nicht ohne mich.

Inga ist in Donmar cottage, Ballycastle (Mayo)/Irland entstanden, wo ich von Dezember 2016 bis Mai 2017 gelebt habe. Die Begegnungen dort und die Geschichten im Buch sind nicht identisch; vielmehr waren sie Vorlagen, die mich in der Phantasie literarisch beflügelt haben.

Meine Kinder, mein Partner, Freundinnen und Freunde haben mich dort besucht. Kollegen haben Arbeit übernommen, nette Menschen meine Wohnung zwischenzeitlich bewohnt. Dank an alle – besonders Jule, Hannes, Reinhard, Dina, Olga, Bärbel, Gerald, Ela, Jutta, Rike, Sabine und Hannah.

Neben Janet und Donal Hughes, die mir ihr Cottage zur Verfügung gestellt haben, danke ich allen Bekannten und Freunden in Irland für ihre Gastfreundschaft, ihr Interesse und ihre Freundschaft. Vor allem Breda und Peter, Gretta und Aideen.

Besonders froh bin ich, Maria Al-Mana als „Hebamme“ und Lektorin für dieses Buch gefunden zu haben.

Danke sehr für viel, viel Textarbeit!

Hannover im September 2017, Ingrid Frank

Inhalt

Hier? Dort? Wo?

Mit Flügeln an eine fremde Küste

Überraschungsbesuche

Eine Frau, ein Stein und ein Beobachtungsposten

Der Schwede

Per aspera ad astra

Mist

Der Muschelsucher und das Glück

Zuverlässig unzuverlässig

Das kalte Herz

Kartoffelbroccolimus

Home is another place

Vögel

Ich bin euch keine Rechenschaft schuldig!

Planlosigkeit und Wanderpläne

Verstecke und Wurzeln

Gelbblaues Intensiv und eine rote Tür

Dem Zeit-Riesen trotzen

Glücksmomente, oder: von Karl reden

Ingas Schatzkammer

Im Bunten schwächeln

Pferdestärken und Küchenwohligkeit

Juckhaut

Wie misst man Glück?

Abschied

Frei-Flug, oder: halbe Zeiten später

Hier? Dort? Wo?

Sie war sich nicht sicher, ob sie dortbleiben mochte, wo sie war. Wo Inga gearbeitet, gelebt und geliebt hatte, fühlte sie sich jetzt ausgehöhlt und müde. Das Leben war zur Routine geworden und schmeckte immer öfter fad. Das strengte sie an.

Die Sehnsucht saß ihr in den Eingeweiden, manchmal klopfte sie heftig. Im Kopf. Dieses Gefühl zog sie sanft, nicht selten beißend, oft nahezu schmerzhaft. Und war doch in seiner Ausrichtung völlig vage, diffus. Das zähe Nagen im Innern hörte nicht auf, im Gegenteil. Inga konnte es immer weniger ignorieren.

Da entschied sie sich, eine Auszeit zu nehmen und zog sich für fast ein halbes Jahr von allen und allem zurück.

Mit Flügeln an eine fremde Küste

War es ein Anfang, ein Ende, ein Übergang? Inga begann etwas, das im Unklaren lag.

„Wann fängt eine Aus-Zeit an?“, fragte sie sich.

Dann, wenn man sie plant? Wenn man weiß, man hat jetzt so und so lange Zeit – nur Zeit? Wenn man abreist, „leaving on a jetplan“? Wenn man ankommt: „here I am“? Wann kommt man an? Was bedeutet es, in einer Auszeit anzukommen?

Inga hatte so getan, als wüsste sie das alles, als sie sich verabschiedet hatte.

Das Flugzeug brauchte gut zwei Stunden, um in Dublin zu landen. Zusammen mit Zug- und Busfahrt sowie der letzten, unwegsamen Strecke mit dem Leihauto bedeutete das, einen Tag zu reisen. Es war kein Fliegen, eher ein Anruckeln. In Etappen, an einem einzigen Tag.

Sie hatte einen Ort im County Mayo an der Nordwestküste Irlands gewählt. Ein Cottage, direkt am Meer.

Es war Winter. Sie würde dort wohnen können und dafür das „housekeeping“ übernehmen: Enten und Hühner versorgen, den Hund und die Katze füttern, das Haus in Schuss halten. Der Deal fühlte sich stimmig an.

Ankommen bedeutete, sich einzurichten: zum nächsten Supermarkt weit weg zu navigieren, Lebensmittelvorräte anzulegen, das in sich gekehrte Bad zum Fließen zu bringen, das Gehirn so zu trainieren, dass die Hand links die Schaltung sucht und der Kopf rechts in den Rückspiegel schaut, in die braunbeigeweite Umgebung einzutauchen, sich mit dem Geflügel, dem Hütehund, der Katze vertraut zu machen.

Die Ouvertüre an ihrem Küstenort wurde von einem Aufmarsch an Zweifeln begleitet. Während der Küstenwind die Wolkenbilder stetig veränderte und das Meer gegen die Felsen donnerte, hämmerte es wie synchronisiert Fragen in ihrem Kopf: Was soll das? Was will ich hier? Warum bin ich hier? Warum so lange weg?

Die Willkommensparade war lang: „Die Auszeit heißt Sie willkommen – treten Sie ein!“

„Salutieren und irgendwo abbiegen, das wäre eine Möglichkeit“, dachte sie. Nur: wohin abbiegen? „Soll ich nicht vielleicht sofort wieder zurückkehren?“

„Warum lässt du das Vertraute, Arbeit, Freunde, Alltag einfach los …?“ Diesen Refrain hörte sie immer wieder.

Sie entschloss sich, den Aufmarsch zu überfliegen. Sie wollte sich in den beißenden Wind hineinlegen, das Salz auf den Lippen spüren, in die Wellen schauen und fliegen. Über alle Zweifel hinweg fliegen. Dem Übergang trauen: Die Luft könnte tragen.

Ihre Ohren kamen zuerst an. Und verlangten Aufmerksamkeit: Sie hörte den Regen tropfen, plätschern, nieseln, klatschen.

Sie hörte den Wind, der das Haus umzingelte, viele Dinge klappern ließ. Die Katze, die hereingelassen werden wollte.

„Hallo du“, sie streichelte das schwarz-weiße Fell und verstand das vorsichtige Miauen als ein ihr freundlich entgegengebrachtes „Hallo!“

Sie hörte, wenn ab und zu ein Auto am Cottage vorbeifuhr. Manchmal war es ein Traktor, manchmal die Müllabfuhr.

Sie hörte die Enten schnattern.

Und hörte den Hund tappen. Der hieß James, bewachte die Enten und kam abends ins Haus; dann brummte die Heizung.

Die Klospülung lief ohne Unterbrechung. Der Klempner erklärte ihr, warum das so war. Sie verstand ihn nicht: nicht sein Englisch, nicht seinen Witz, nicht die Spülungstechnik.

Sie hörte die unterschiedlichen Handysignale piepen, das Feuer im Kamin knistern, das Nudelwasser kochen, das Besteck klappern. Die Alltagsgeräusche machten die Stille laut.

Sie hörte den deutschen Nachrichtensprecher, wie er von Aleppo berichtete und danach das Wetter ansagte. In Deutschland war kalter Winter.

Sie hörte Tracy Chapman singen und sang mit.

Und immer wieder hörte sie die bangen Stimmen in ihrem Inneren: „Wirst du das aushalten? Was machst du hier eigentlich?“ Und: „Dein Geld wird nicht reichen!“

Sie hörte, wie sie darauf wartete, jemanden zu hören, Worte zu hören.

Sie sah, wie die Ohren der Katze gespitzt waren, wie der Hund ihren Gedanken zuhörte, wenn sie ihn streichelte. Manchmal meinte sie, die Tiere sprechen zu hören.

Sie hörte ihr Herz schlagen.

Sie roch: Das Kaminzimmer roch nach Benzin und Holz, ihre Finger stanken bald schon nach Kaminanzünderbenzin. Die Küche sonderte noch muffige Gerüche ab, wie all die anderen, lange unbenutzten Räume. Bald schon würde sie Broccoli, Rosenkohl und Backkartoffeln riechen.

Die Hühner und Enten rochen nach Geflügelhof: Kalk und Wiese und Federn. Das Futter stank, stechend unnatürlich. Die Luft draußen war weich und feucht, kühl. Und roch nach Himmel und Gras.

Das Brot duftete nach Sirup und dunklem Getreide, ihr schwarzes Leihauto roch neu. Und in dem Pub, in den Jolie und Dave, die Nachbarn und Besitzer des Cottages, sie mitgenommen hatten, roch es nach malzigem Guinness und Melancholie.

Die kleinen Geschäfte im Ort rochen billigsüß oder muffigkühl und die Supermärkte steril. Das Meer schäumte salzige Gerüche aus. Der Insgesamtgeruch brauchte noch einen Namen.

Und Inga erblickt die neue Umgebung: Außerhalb des Fensters sieht sie Grün. Viel Grün. Ein gewölbter Bergrücken liegt gegenüber dem Haus, je nach Licht geht ein grünbraunes oder rötliches Schimmern von ihm aus. Außer dem Grünrötlichen ist Himmel zu sehen. Viel Himmel. Mit Wolken in unterschiedlichen Farben, Formen, Größen; Himmel in Blau, in Grau, in Blaugrau, in Grauweiß, Himmel mit Sonne, Himmel mit Mond, Regenhimmel, Nieselhimmel, schwarzer Himmel. Jeden Tag sehr viele Himmelsbilder.

Wenn sie die neue Umgebung beobachtet, sieht sie Enten, die im Gras herumlaufen. 14 Tiere, davon ein braunes und ein buntes. Die bunte Ente ist ein Erpel, einen weißen gibt es auch. Sie gruppieren sich immer wieder neu. Eine Ente ist anders, die läuft immer ihren eigenen Weg. Die Hühner picken Körner und Gras und staksen auf der Wiese herum. Zwischendurch jagt der Hund einem abgekauten Tennisball hinterher. Manchmal kommt die Katze ans Fenster und miaut, so als wisse sie, dass sie dann hereingelassen werden könnte.

Menschenmüde war Inga in einer menschenleeren Gegend angekommen. Vorher hatte sie sich lange angestrengt, alles richtig zu machen und gerecht zu sein. Es recht machen zu wollen ermüdet, kostet Kraft.

Sie trug eine Jacke, die war grün, wie das Land. Sie fühlte sich beschützt und geborgen darin.

Sie wollte Wörter finden für das, was ist, was war und für das, was sie wollte.

„Was war gut? Was war schlecht?“ Solche Fragen verloren an Bedeutung. Ihr Herz schlug. Sie war aufgeregt. Was würde diese Zeit wohl bringen?

Sie setzte sich rechts auf den Fahrersitz in das schwarze Auto und fuhr langsam auf der linken Straßenseite ins nächste Dorf. Dort gab es ein Café. Der Inhaber kochte ihr einen Tee. Der war stark und dunkel. Sie trank ihn mit viel Milch und braunem Zucker. Seine Frau hielt Selbstgebackenes bereit. Das Lokal war mit buntem Tand geschmückt. Über dem Sofa in der Ecke hing ein Schild: „make your smile change the world, not the world change your life.“

Inga lächelte unwillkürlich. Sie war froh, jetzt da, jetzt angekommen zu sein. „Wer ist gut? Wer schlecht?“

Ihr Herz schlug.

Sie fuhr zurück in ihr Cottage und dachte: „Es gilt, jetzt bodenständig zu sein, zu wissen, was zu tun ist und in welcher Reihenfolge: Briketts kaufen und Küchenmesser, den Klempner anrufen, die Internetverbindung sicherstellen, Telefonnummern notieren.“

Sie wollte „jetzt“ sein, „hier“ sein, nicht weiter, woanders, tiefer oder höher, sondern verankert da, wo sie gerade stand, am besten bodenständig. Irgendwie. Bodenständige konnten Dinge einschätzen, waren mit praktischer Vernunft begabt, zuverlässig, oft fleißig.

Inga seufzte. Sie hatte Schränke aufgefüllt, den Rückspiegel des Autos eingestellt, Schimmel entfernt und Feuer angemacht.

Sie packte an. Das beruhigte. Sie sagte sich, dass sie es schaffen würde, Fuß zu fassen.

„Will ich schaffen oder will ich hören?“ Sie dachte laut. Bildete sie sich das ein oder war es so? Die Katze erwiderte ihre Gedanken,

„wie ist denn Hören? Das Gras kann man nicht wachsen hören, oder doch? Gedanken kann man nicht hören und Gefühle auch nicht. Oder doch? Verletzungen kann man nicht hören und Traurigkeit auch nicht. Oder doch?“

Eigentlich war es egal, ob die Katze sie verstand oder nicht, Inga sprach weiter: „Ich lese Nachrichten, Gemailtes, Gesmstes, höre Menschen. Will ich sie hören? Welche will ich hören? Wieviel kann ich hören? In mir höre ich Neugier – und Abwehr, Unmut dem Tratsch und Getöse gegenüber und doch Lust, Mitwisserin zu sein, Versteherin, Hörerin. Wird man vom Nichthinhören blind?“

„Im schlechtesten Fall bekommt man blinde Flecken.“

Jetzt war es ganz deutlich zu vernehmen, die Katze sprach mit ihr,

„zum Beispiel, wenn man in die Brandung schaut, wie die Wellen wieder und wieder gegen die Felsen schlagen: weiße Gischt, so stark, dass sie erschlagen könnte. Wie blinde Flecken.“ Inga war es recht. Sie streichelte das Tier. Verwandelte die Stille ihr Hören?

Wie sie die Stille aushalte und mit der Zeit zurechtkomme, hatte ihre Freundin Natascha gefragt. Inga überlegte: „Gab es Stille?“ Die Geräusche waren laut: Der Kühlschrank brummte, die Enten schnatterten, der Regen plätscherte, das Meer klang täglich anders, der Wind pfiff mal mehr, mal weniger.

„Die Zeit ist anders als die Enten, mit denen ich zurechtkommen muss“, schrieb sie Natascha und es war ihr gleich, ob die das verstand.

„‘Ich ergebe mich‘, hätte ich schreiben sollen, statt ‚ich komme zurecht‘“, sagte sie – zur Katze gewandt. Die gähnte und antwortete: „Die Dinge kommen auf uns zu, sie lassen sich hören. Die Zeit ist ein Riese, eine unregelmäßige Linie.“

„Ja.“

Inga freute sich. Sie begann, sich mit der Katze anzufreunden.

Überraschungsbesuche

Inga wohnte in der Searoad, Ballycastle. Das ist im Gegensatz zu Gallows Hill, dem Galgenhügel am anderen Ende des Dorfes, die vornehmere Straße in diesem Ort, der nur wenige Straßen hat.

Auf dem Galgenhügel, da, wo etwa drei oder fünf Häuser weit voneinander entfernt an einem unbefestigten Weg stehen, sei einmal ein Lehrer gehenkt worden, hatte man ihr berichtet.

Zum Dorfboulevard „Searoad“ gelangt man, wenn man den Dorfkern passiert: eine Durchgangsstraße, die von einem kleinen Lebensmittelladen, einer winzigen Poststation, der riesigen Kirche, zwei heruntergekommenen Pubs und einigen müden Häusern markiert wird. Genaugenommen ist die Searoad ein asphaltiertes Sträßchen, das direkt zum Atlantik führt, zu einem Stück Küste, an dem neben Steinen, Tang und Algen auch genug feiner Sand liegt, um dort weich zu spazieren und – wenn es die Temperaturen erlauben – auch zu baden.

Ab „strand“ wird die Straße noch enger und windet sich entlang der Küste, durch moorige Schaf- und Kuhweiden, am Fuß des Downpatrick Head, einem Felsgiganten im Wasser, weiter zum nächsten Küstenort. Immer wieder stehen einzelne Cottages entlang des Weges. Einige verfallen, einige werden zum Verkauf angeboten, manche sind bewirtschaftet oder von zugezogenen Sonderlingen, meist Künstlern, bewohnt. Menschen, die die wechselhafte Küste, deren Licht und das weite Grün zu schätzen wissen, ja: lieben.

Ein Japaner habe sein besonders lichtes Cottage so hergerichtet, dass die Sonne von der Frontseite hindurch scheinen könne und man vom Weg aus durch die großen Fenster das Meer sähe, hatten Dave und Jolie erzählt. Und dass das erste Haus nach „strand“ von einem Schweden bewohnt werde, von Ole. Früher sei er sehr gastfreundlich und offen gewesen, habe andere oft eingeladen, gut gekocht habe er auch. In den letzten Jahren sähe man ihn aber nur noch selten.

Donmar Cottage, Ingas vorübergehendes Zuhause, besteht aus zwei Häusern, die nebeneinanderstehen und die Reihe der Häuser bis zum Strand fast abschließen. Nur ein Milchwirtschaftsbetrieb und ein etwas pompöseres Haus, das offensichtlich nur selten bewohnt wird, stehen dahinter.

In der Searoad befinden sich außer diesen Cottages noch einige massivere Häuser mit gediegenen Holztüren, größeren Auffahrten, Zäunen oder Natursteinmauern – alle einige Meter von der Straße zurückversetzt. Möglicherweise sind es diese Häuser, die die Searoad zum „besseren Viertel“ machen.

Inga verspürte nie besonderes Interesse für diese Häuser und ihre Bewohner, die so beliebig Altbekanntes ausstrahlten.

Die Searoad ist zwar asphaltiert, dennoch bleibt sie ein schmales Sträßchen, gesäumt von windschiefen Ginsterbüschen, Dornengestrüpp, Gras und Straßengräben, die das Ausweichen bei Gegenverkehr, besonders im Dunkeln, schwierig machen, da Straßenlaternen fehlen.

Vieles war so, wie es immer schon war. Die Bewohner kannten sich untereinander ebenso gut, wie sie ihre Straße kannten. Sie fuhren umsichtig und wussten aus dem Stegreif Haltebuchten zu erfinden. Inga mochte das freundschaftliche Winken, den Gruß, das Lächeln im Vorüberfahren.

Mittags, wenn das Postauto seine Runde fuhr, sah sie den ein oder anderen Jogger die Straße zum Meer entlanglaufen. Oder vereinzelt Leute aus dem Ort mit ihren Hunden bis zum Strand spazieren, wo die Tiere dann mit Wonne losrannten, um Höhlen zu buddeln, Stöcke zu finden und dabei vor Vergnügen zu bellen.

Einen Hundebesitzer mochte sie wegen seines freundlich-verlegenen Lachens und seiner ebenso freundlichen Hündin. Inga war ihm auch im Ort einmal begegnet – ein schüchternes Lächeln, um dieses Gefühl zu signalisieren. Denn was gäbe es auch schon zu sagen in dieser fremden Vertrautheit, die durchaus verstörende Züge hatte?

Inga stellte, wie immer, nachdem sie die Tiere versorgt, ihr Bett gelüftet, und ihren Morgenkaffee beendet hatte, die Radio-Nachrichten ein, während sie den Computer hochfuhr, ein paar Dinge von hier nach dort räumte, um dann die nächsten zwei Stunden an ihrem Schreibplatz am Fenster zu verbringen.

Da klingelte es an der Tür. Mittwochvormittag. Wer konnte das sein?

„Hallöchen, junge Frau“, der Tonfall kam ihr bekannt vor, sie hatte den Mann schon einmal beim Einkaufen getroffen, er sprach deutsch mit schweizerischem Akzent. Kuno also, der zusammen mit Gabi etwas abseits des Dorfes wohnte. Sein Unternehmen mit Verbindungen nach Irland hatte es ihm möglich gemacht, sich hier anzusiedeln.

„Junge Frau ist zwar etwas übertrieben, aber anyway:

guten Morgen, Kuno!“

„Störe ich?“

„Wie man’s ...“, er ließ sie nicht ausreden, trat wie selbstverständlich in den Flur, „schön hast du‘ s hier. Ziemlich viel Platz für dich allein. Machst du mir einen Kaffee?“

Inga setzte Wasser auf, Kuno redete weiter, „die hätten die Wände hier besser isolieren sollen, alles keine Qualität, na ja. Und die sanitären Anlagen? Funktioniert auch eher recht als schlecht, hab ich recht? Ha! Ganz schön viel Platz für dich alleine“, er musterte sie von oben bis unten. Ein Blick, der Inga veranlasste, sich selbst zu begutachten: Jeans und Pullover, Strickstrümpfe, die Haare mit einer Spange hochgesteckt. Manchmal mochte sie sich so.

Das Wasser kochte. Brodelnde Geräusche. Inga bot ihm keinen Espresso an – sie überbrühte Pulverkaffee, blieb neben dem Wasserkocher stehen.

„Gutes Neues Jahr nachträglich!“ Er sprach laut, stand auf und drückte sie ganz unvermittelt an sich. „Gutes Neues Jahr“ murmelte sie, entzog sich seinen Armen und fixierte die Markenuhr an seinem Handgelenk.

„Ich musste mal raus, meine drei Frauen können manchmal ganz schön nerven!“ Er meinte seine zwei Schäferhündinnen und Gabi, seine Frau.

„Und dann dachtest du, du kommst mich besuchen?“

Kuno überhörte den Unterton in ihrer Stimme,

„gute Idee, nicht wahr? Es wird doch Zeit, dass wir uns mal näher kennenlernen!“

Inga schwieg. Draußen schnatterten die Enten.

Kuno schlürfte seinen Kaffee, „hast du auch Kekse, am besten mit Schokolade? Wir Schweizer mögen das ...“ Wortlos reichte sie ihm die Packung, die auf der Anrichte gelegen hatte.

„Wir kennen uns doch gar nicht“, wandte sie ein.

„Wir sind hier in so einem kleinen Land quasi Landsleute, deutsch oder schweizerisch, das ist doch dasselbe hier. Außerdem weißt du ja, ich steh auf deutsche Schäferhunde ... Und du warst mir gleich sympathisch. Nur ein bisschen einsam siehst du aus. Könntest mal etwas Spaß vertragen. Noch nicht so viel Iren kennengelernt, was? Na ja, so attraktiv sind die Bauern hier ja auch nicht. Ha!“ Er machte einen Versuch, ihr auf die Schulter zu klopfen. Sie trat zur Seite.

„Bist doch wohl nicht schüchtern! So siehst du nicht aus. Einsam schon, aber nicht schüchtern. Meine Frau wüsste jetzt gern, wo ich bin. Die passt gut auf mich auf.“

Er grinste, „aber manchmal geht sie mir auch auf die Nerven. Haste Glück, dass dir hier keiner auf die Nerven geht. Ha! Aber Enten misten kann einem doch auf die Nerven gehen, odrrrr? Ich bin froh, dass ich gar nichts mehr tun muss. Nur ins Grüne gucken und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen und meine drei Frauen um mich rum, das ist ein Leben! Dieses Jahr hatten wir über Weihnachten jede Menge Schweizer Gebäck da: Basler Brunsli, Springerle, Mailänderli, Chräbeli ... das ganze Zeug, da wird einem richtig heimelig. Nur auf meine Figur muss ich dann aufpassen. Hab mich doch gut gehalten, oder? Du scheinst hier eher irisch einzukaufen?“ Er schaut sich um, „na ja, manches schmeckt ja auch.“ Sein Redefluss hatte gerade erst begonnen.

Inga setzte an zu sagen, dass sie mit ihrer Arbeit nun fortfahren wolle, er Gabi grüßen solle und sie sich ja mal zu dritt verabreden könnten; aber ihre Anstrengung, diese Worte hervorzubringen kam gegen seinen gewaltigen Redestrom nicht an, „asketisch lebst du hier. Ha, das kann ja nicht gesund sein!“ Wieder ein Versuch, sie zu berühren, dem sie sich nur haarscharf entziehen konnte, „früher war ich oft in Thailand auf Dienstreise. Schöne Frauen, mandeläugige Nixen, eine schöner als die andere, süß wie meine Weihnachtsplätzchen, das waren noch Zeiten. Hier sind sie ja eher spröde, die Menschen. Sogar die Frauen. Ha. Freunde habe ich ja überall in der Welt.“ Er malte sein Bild weiter, ungeachtet irgendeiner Reaktion. Inga fühlte leichte Übelkeit aufsteigen, sie würde gerne rauchen, ihm den Rauch ins Gesicht blasen, ihm den Kaffee über die Finger mit dem Siegelring gießen, ihm die Packung Kekse in den Rachen stoßen.

Was musste sie tun, um Kuno wieder loszuwerden? In Brasilien sei er auch schon gewesen, Karneval in Rio, „Riesending, du solltest dir auch mal was Vergnügliches gönnen, oder. Da tanzen die barbusigen Brasileiras auf den Tischen, dass das Holz nur so knackt. Na ja, das ist bei der Qualität dort ja auch nicht schwer. Ha! Und Süßigkeiten gibt es dort …“ Er leckte sich die Lippen.

Inga war nun endgültig übel. In Sao Paulo gäbe es eine Bar, da könnten die Iren sich mit ihrer Musik eine Scheibe von abschneiden, obwohl die ja auch nicht schlecht sei. Es sei Gabis Idee gewesen, nach Irland auszureisen. Er habe früher öfter hier zu tun gehabt, lange Geschichte, Gabi wäre oft mitgekommen, hätte die Küste sofort geliebt und ihn dann davon überzeugt, gemeinsam hierher zu ziehen, „sie mag die Ruhe und die Landschaft. Ich ja im Prinzip auch. Erst einmal habe ich das Haus richtig renoviert, die machen ja hier nur halbe Sachen, alles Stückwerk. Ha! Na ja, und die drei Frauen halten mich ja wie gesagt auch auf Trab …“

Der weiße Post-Kombi hielt passgenau vor dem Küchenfenster. Wenn Paddy, der Postbote, ausstieg, tauchte immer zuerst sein kerzengrade gezogener Scheitel auf.

„Hi Paddy“, Inga winkte ihm zu, „how are you? Oh, two more letters for me. You make me happy for today, Paddy.” Der Postbote errötete, als er ihr die Briefe überreichte, „if you want … I want to inform you: the irish dancing class starts next tuesday“, er war schon wieder auf dem Weg zu seinem Auto, um in der Zeit zu bleiben, aber auch, weil es ihm Schutz vor dem kläffenden James bot, „Yes I know. Probably I’ll come.“ Inga lachte, „you want a cup of tea, Paddy? “

„No time, but thanks a lot!“

Kuno verabschiedete sich hastig. Seine drei Frauen würden gewiss schon warten.

Inga kraulte die Katze; seit sie sie einmal abends am Strand aus den Augen verloren und dann wiedergefunden hatte, achtete sie mehr auf das Tier. Fast waren sie Freundinnen geworden. Die Katze schmiegte sich an sie, „was beschäftigt dich?“, hörte Inga in ihrem Schnurren.

„Diese Schweizer, da oben auf dem Berg …“, setzte sie an, der Katze zu erklären, „jetzt kommt Kuno und bringt mich beinah zum Kotzen; gestern Abend stand schon seine Frau vor meiner Tür, diese graue Maus, Gabi. Was wollen die nur von mir?“

Inga ging in die Küche, um sich endlich selbst eine Tasse Pulverkaffee aufzubrühen, verrührte die Instantkörner mit Milch, genoss das Geräusch, wenn die Mischung mit dem heißen Wasser übergossen wurde und ging, die Tasse mit der hellbraunen Brühe vor sich hertragend, wieder zu ihrem Schreibtischstuhl, wobei die Katze sie aufmerksam beobachtete:

„Es ist ungewöhnlich, wie du hier lebst. Allein, so lange Zeit in dieser Einsamkeit. Das macht sie neugierig. Außerdem sprichst du ihre Sprache. Jedenfalls eine ähnliche Sprache. Das verbindet“, kam es schnurrend aus der Ecke.

„Ich weiß. Mich verbindet aber nichts mit denen. Dieser Kuno hat mich angeekelt. Und Gabi ...??“ Inga ließ deren Besuch Revue passieren: Kunos Frau hatte eine hellblaue Vliesmütze auf, eine Taschenlampe und Schokolade dabeigehabt. Sie stand gegen halb acht abends vor der Tür, reichte Inga die Tafel Schokolade: „Hier, für dich. Nougatgeschmack. Darf ich reinkommen?“

Inga hatte noch die Brille auf, die sie nur zum Lesen trug, die dicke Jacke und Wollsocken an, „na ja, wenn dich mein Outfit und der Geruch nach Kaminanzünderbenzin nicht abschrecken, komm rein.“ Sie führte Gabi in das Kaminzimmer; der kaputte Sessel, die Decke voller Hundehaare und der Geruch nach Staub und Asche drängten sich angesichts des Besuchs in den Vordergrund.

„Ich mache das nie.“ Gabi sah zu, wie Inga die Torfbriketts zum Brennen brachte, schaute in die Flammen, „das macht Kuno bei uns, und ich glaube, wir haben auch einen besseren Kamin“, Gabi lächelte verlegen, ihre Augen nahmen den Raum ins Visier.

„Pass auf, der Sessel ist nicht wirklich stabil. Some tea? Oder lieber ein Guinness?“

„Du hast Guinness zu Hause?!“

Inga holte zwei der schwarzen Büchsen aus dem Kühlschrank, stellte Gläser auf den Tisch. Ihr fiel das bunte Kinder-Senfglas-Motiv darauf zum ersten Mal auf. Was sollte sie mit der ordentlichen Gabi, deren Cottageeinrichtung sicher farblich und stilistisch fein komponiert war, hier anfangen?

„Es wirkt irgendwie interessant, wie du hier lebst“, sagte die Katze später. Was hätte für Gabi interessant sein können?

„Inga, hast du eigentlich einen Mann? Ich meine, es geht mich ja nichts an …“,

„ich hatte mal einen …, und auch jetzt lebe ich nicht ohne, wenn du das meinst. Warum?“

Gabi seufzte, „ich würde auch gerne mal so eine Zeit allein haben“, ihr rollte eine Träne über die Wange und hinterließ eine helle Spur im perfekten Make-up-Beige.

„Es ist hier eher einsam …“ Warum sollte Inga ihr erzählen, dass sie Freundschaft mit einer Katze geschlossen hatte, die spärliche Dusche mittlerweile ebenso genoss wie ihre Post, jeden Morgen den Tag mit einem englischen Gedicht begann, dass sie Geräusche und Bilder sammelte, Wörter aufschrieb und alles in allem dieses Dasein gerade sehr genoss?

„Ich habe mich verliebt!“, ganz unvermittelt sagte Gabi das, setzte sich dabei sehr aufrecht hin, um dann entschlossen fortzufahren, „und Kuno darf das aber auf keinen Fall erfahren! Ich hab gedacht, hier wird alles besser. Es war es nicht mehr auszuhalten die letzten paar Jahre zu Hause, in dem Nest bei Basel. Das Geld hatten wir ja ... und ich war schon als Jugendliche ein Irlandfan – das müsstest du doch verstehen, oder? Jedenfalls habe ich dann vorgeschlagen, hierher zu ziehen … Er hat sich sehr in den Hauskauf und die Umbaumaßnahmen reingesteigert.“

Ohne eine Reaktion abzuwarten, fuhr sie fort: „Die Ruhe hier ist keine Ruhe. Er kann sich nichts mehr beweisen. Nur mir. Und ich genüge ihm wohl nicht. Ich tue, was ich kann ... aber er macht mich wahnsinnig.“ Sie weinte.

Inga überlegte, ob sie irgendwo Papiertaschentücher hatte. Sie mochte nicht aufstehen. Sie goss Bier nach,

„cheers!“

„Also, in Wahrheit ist es die Hölle mit ihm. Meine Güte, was erzähle ich da?“ Gabi hielt erschrocken inne.

Inga prostete ihr ein zweites Mal zu,

„du hast dich verliebt und jetzt musst du das irgendwem erzählen, weil du sonst nicht weißt, wohin mit dir? Das ist in der Regel so bei Verliebtheit. Bei mir jedenfalls.“

Gabi nickte: „Ein sehr einfühlsamer Mann. Wir hatten gleich einen Draht zueinander. Da lag was in der Luft ...“

Der Korken war geöffnet und nun sprudelte es aus Gabi nur so heraus: „Wegen der Grundstückssteuer waren wir in Dublin. Auf der Behörde. Kuno ist anschließend im Hotel geblieben. Wahrscheinlich an der Bar. Es war erst kurz vor fünf. Ich wollte ein bisschen in der Stadt bummeln, vielleicht etwas einkaufen, Menschen sehen. Ich bin entgegen meiner Gewohnheit ganz alleine losgezogen. Erst in ein Café, super Cappuccino und Gebäck, wie es das hier auf dem Land nicht gibt. Dann ein bisschen im Botanischen Garten flanieren. Ich hatte die Zeit vergessen, Kuno würde vielleicht mit mir essen wollen. Vielleicht auch nicht. Je nachdem, wen er an der Hotelbar mit seinen Geschichten beeindrucken könnte. Deshalb habe ich ein Taxi gerufen. Brian, so hieß der Fahrer, der so charmant gelächelt hat. Er hat meine Stimmung sofort erkannt, wie ich aus dem Park kam, diese Sehnsucht, die die Blumen und die Anlagen und der Himmel in mir hervorgerufen haben!“

Sie habe ein bisschen geweint, als er sie gefragt hatte, ob sie traurig sei. Das passiere ihr normalerweise nicht. Er habe ihr Komplimente gemacht und sich um sie bemüht. „Er ist einen Umweg gefahren“, Gabi lachte, „einen ziemlich großen Umweg. Na ja, wir haben uns lang unterhalten, Brian und ich, und zum Schluss hat er mir einen Kuss gegeben. Das ist doch kitschig oder? Ich kann ihn einfach nicht vergessen … Er smst mir … Wenn Kuno das erfährt!“

„Auf Brian“, Inga schaute Gabi an, hob ihr Glas „und jetzt?“

„Ich würd ihn so gerne wiedersehen. Er stammt eigentlich aus Cavan, das ist gar nicht soo weit weg von hier. Da ist er manchmal. Den Job hat er halt in Dublin. Seine Frau hat ihn wohl verlassen, ich weiß nicht genau.“

„Klingt so, als trefft ihr euch bald in Cavan.“

„Meinst du?“

„Wie gesagt, du klingst so.“

„Oh mein Gott. Du redest doch darüber mit niemanden?“

„Vielleicht mit der Katze, oder mit James, dem Hund ... Sonst ist hier keiner, Gabi.“

„Mein Gott, wie hältst du das nur aus?“

„Du hältst Kuno aus …“

Gabi weinte nun hemmungslos. „Wenn ich die Hunde nicht hätte …“, sie wischte sich über das mittlerweile arg verschmierte Gesicht, eine Haarsträhne klebte ihr an der Backe.

„Brian hat eine sehr angenehme Stimme und wenn er lächelt ... Er hatte Musik angestellt im Auto: Amy Mc Donald, die hat mir aus dem Herzen gesungen. Was mach ich jetzt nur?“

„Kuno weiß das bislang nicht?“

„Kuno?“

„Ja Kuno, ich meine ...“

„Kuno sagt mir jeden Tag, dass ich launisch bin und wohl in den Wechseljahren. Dann lacht er ziemlich bescheuert. Das ist schwer auszuhalten. Na ja und manches andere auch nicht, du weißt schon …“

Inga wusste nichts mehr zu erwidern. Sie wollte nicht mehr wissen. Gabi und Brian, was ging sie das an? „Besuch ihn. Erzähl Kuno irgendwas. Arzt, Dorfkoller, selbst Auto fahren wollen … keine Ahnung. Der Brian tut dir vielleicht gut. Also … Es wird dich nicht von der Kunofrage und dem, wie ihr hier lebt, entbinden …“

Gabi zitterte.

„Wie kommst du nach Hause? Soll ich dich fahren?“

„Laufen ist weit …“

„Du bist gelaufen?“

Gabi nickte. Inga griff zum Autoschlüssel, seufzte. „Komm!“

James guckte dem Auto hinterher, die Katze strich ums Haus.

Inga hatte Gabi einfach an der Einfahrt zum Cottage der beiden Schweizer abgesetzt, nicht gesagt, dass sie gern wiederkommen könne, hatte dünn gelächelt, war viel zu schnell gefahren, die Musik auf volle Lautstärke gedreht.

James hatte gebellt, als sie die Auffahrt hochgeprescht kam, die Katze war ihr um die Beine gestrichen. „Morgen! Morgen erzähl ich euch alles. Okay?“

Jetzt streichelte Inga das glänzende Fell der Katze, ging bald darauf ins Bett, rollte all die verwirrenden Gedanken und Gefühle in sich ein, schlief tief und traumlos.

Zwei Tage später klingelte Ingas Telefon. Warum habe ich Gabi nur meine Nummer gegeben, dachte sie, als sie registrierte, dass dieses Klingeln nur von Gabi sein konnte.

„Brian schreibt mir weiter. Ich muss jetzt gut aufpassen, wo ich mein Handy hinlege“, begann sie unvermittelt, sobald sie merkte, dass Inga angenommen hatte.

„Gabi, ich bin dabei, die Enten zu füttern, ich …“,

„Inga, hast du das wirklich so gemeint, ich meine: Soll ich ihn treffen? Ich könnte Sligo vorschlagen. Dann, wenn Brian in Cavan ist. Kuno würde denken, ich gehe dort shoppen – es gibt dort ein paar bessere Geschäfte, du weißt schon … und für Brian wäre es auch nicht so weit … Es gibt da ein hübsches Viertel, das sie klein Venedig nennen, ein paar nette Restaurants … Inga, soll ich das tun?“

„Gabi – ich kenne weder dich wirklich noch Brian und überhaupt, steht es mir nicht zu, dir zu sagen, ob du einer Verliebtheit nachgehen sollst oder nicht. Leb es aus oder lass es … Ich muss jetzt wirklich die Tiere füttern …“

„Ich dachte ja nur. Es war gut, dir alles anzuvertrauen

… Brian hat mir Fotos von sich geschickt. Ich leite sie dir mal weiter, dann hast du einen Eindruck … Und: Entschuldige die Störung!“

Inga zog sich die schwarzen Gummistiefel, die Regenjacke, ihre Arbeitshandschuhe an, „genauso sieht eine Beziehungs- und Lebensberaterin aus“, belehrte sie die Katze und stolzierte mit den übergroßen Stiefeln, an denen der getrocknete Schlamm klebte, auf und ab, „meine Damen und Herren, haben Sie Lebens- oder Liebesprobleme, kommen Sie zu mir!“

James wedelte mit dem Schwanz. „James, ich glaube nicht, dass du zu meinem Klientel gehörst. Dann schon eher die Enten da draußen, die zu zwölft um zwei Erpel rumschnattern. Oder noch dümmer, diese ganzen Hühner: Ein heiser schreiender Gockel, der die herumstolzierenden Damen verrückt macht. Vielleicht sollten die sich mal zu Brian ins Taxi setzen …“ James wedelte weiter mit dem Schwanz. „Komm James, die Damen brauchen ihre layerpellets. Klingt wie Hormontabletten. Vielleicht für straffere Haut oder glänzendere Federn …“

Inga wuppte die Schubkarre und schob sie durch den Garten.

„Brian, Brian …“ Was mag das für ein Typ sein, der dieser sauermilchkäseblassen Schweizerin Extrafahrten durch Dublin offerierte?

Ihr Handy blinkte, als sie mit Füttern und Misten fertig war.

Sie wusch sich die Hände absichtlich lange, betrachtete die rote, aufgesprungene Haut, cremte sie mit Bedacht ein, bevor sie die Nachricht abrief.

„So sieht er aus“: drei Fotos von einem Mann mittleren Alters, grau bereits, Dreitagebart. Ein Profilbild, Inga zoomte es heran, dunkle Augen offenbar, ein Bild in einer Küstenlandschaft, eines vor einem Taxi. Brian, der Taxifahrer mit Jeans und aufgeknöpftem Hemd, mal mit, mal ohne Wetterjacke. Ein bisschen verwegen sah er aus, keinesfalls geschmacklos. „Warum um Gottes Willen schaue ich mir diesen Brian so genau an?“ Sie wusste, dass die Katze auf dem Boden saß und ihr zuhörte.

„Ein bisschen bist du eben auch neugierig. So viele interessante Männer gibt es hier nicht.“

„Was weißt denn du von Männern?“

Die Katze schnurrte.

„Was weiß denn ich von Männern“, murmelte Inga vor sich hin und überlegte, ob sie sich Nudeln oder Kartoffeln kochen sollte – zu dem restlichen Gemüse vom Vortag. Da klingelte das Handy wieder. Reflexartig ging sie dran,

„und?“

„Gabi, wir sind doch keine Schulmädchen. Er sieht nett aus, aber es kommt ja wohl nicht darauf an …“

„Findest du? Ja, das ist er auch. Mehr als nett. Also, du meinst wirklich, dass ich ihn treffen sollte? Ehrlich gesagt, habe ich ihm geschrieben, dass ich ab und zu in Sligo einkaufen gehe ... vielleicht kommt er ja auf die Idee …“

„Hm, ... ich will gerade kochen.“

„Jetzt, ist das nicht ein bisschen spät, um zu essen? Das ist ungesund! Also, wenn er auf die Idee kommt, dass wir uns da treffen, dann schlage ich diese italienische Trattoria an der Ecke vor der Brücke über den Garavogue vor. Romantisch ist es da. Kuno erzähle ich, dass ich ein Kleid habe ändern lassen und warten musste, eine Kleinigkeit essen war inzwischen, oder so ähnlich … aber wird für ihn Sligo überhaupt infrage kommen? Und Kuno ...“

„Gabi, probier es aus. Ich möchte jetzt kochen und essen. Leb doch einfach, tu, was dir gut tut …“

Gabi erzählte unbeirrt weiter: Dass Brian ihr im Taxi erzählt habe, dass er früher einmal Künstler werden wollte, er modelliere Plastiken. Davon könne er aber nicht leben. Seit neun Jahren fahre er mittlerweile Taxi in Dublin, immer sechs Wochen, dann sei er zwei Wochen in Cavan in seiner Werkstatt. In Dublin arbeite er tags und nachts, er habe nur ein kleines Zimmer dort.

„Brian könnte mich auch interessieren“, vertraute Inga später der Katze an, „der Typ artist and taxidriver kommt hier im Geflügelhof eher nicht vorbeigefahren“, sie stellte die Musik ein. Sang mit. Die Katze sprang von Stuhl zu Stuhl.