Kira - Ingrid Frank - E-Book

Kira E-Book

Ingrid Frank

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Beschreibung

Kira ist die Frau, die immer unterwegs ist: sehnsüchtig, verletzt, einsam, stark-schwach, liebend, voller Angst, krank - wie die Violetta Valéry aus der Oper La Traviata eine "vom Weg Abgekommene". Lakonisch, behutsam und doch in ihrer Beharrlichkeit sehr intensiv, begegnet die Ich-Erzählerin dieser Frau ständig wieder. Es entsteht mehr. Gleichzeitig wird 'Die Traviata' zu einem eigenwilligen Leitmotiv des Geschehens. Das Buch hat die Form einer Geschichtencollage und entwickelt einen inneren Sog, dem man sich beim Lesen kaum entziehen kann. Und natürlich muss man die Traviata ganz und gar nicht kennen, um das alles verstehen zu können.

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Seitenzahl: 143

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Ingrid Frank

Kira

www.verlag-texthandwerk.de

Die Autorin

Ingrid Frank hat 2017 mit „Inga. Eine Auszeit in Mayo“ schon einen Roman veröffentlicht, der Leser*innen dazu einlädt, ganz hautnah die ungewöhnliche Geschichte einer Frau zu erleben, die sich weit ab von allem, was „man so tut“ auf die Suche macht … auf die Suche nach Heimat, Wurzeln und Liebe. Wie auch in „Kira“ mit einer ganz eigenen Sprache, einer unverwechselbaren Stimme.

Die Autorin ist Jahrgang 1964, hat Theologie und Sozialpädagogik studiert, mehrere Zusatzqualifikationen erworben und in unterschiedlichen Berufsfeldern gearbeitet.

Derzeit lebt sie in Hannover und arbeitet in einer Jugend- und Familienberatungsstelle.

„Meine Lust zu schreiben mit der Lust an einer Veröffentlichung zu verknüpfen, ist ein Wagnis, das mich reizt. Ich wünsche mir Leser*innen, die Kira mögen.“

Ingrid Frank

KIRA

© 2019 Ingrid Frank

Covergestaltung: Uschi Ronnenberg,

ronnenberg-design.de

Lektorat: Maria Al-Mana, texthandwerkerin.de

www.verlag-texthandwerk.de

ISBN

978-3-7482-6756-0 (Paperback)

978-3-7482-6757-7 (Hardcover)

978-3-7482-6758-4 (e-Book)

Druck und Herstellung: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für meinen Sohn Hannes, ohne den ich nie auf die Idee gekommen wäre, mir die Traviatainszenierungi anzuschauen, mit der ich Kira so viel nähergekommen bin.

Inhalt

Vorwort

Prolog

Die Traviata

„Was gibt’s?“

„Ihr Freunde auf, schlürfet in vollen Zügen“

„Sagt an, wo bleibt Ihr so lange?“

„Von der Freude Blumenkränzen“

„O Torheit, o Torheit!“

„Fern von ihr, ach, kenn ich keine Freuden“

„Wenn einst die Zeit den flücht‘gen Traum…“

„It`s always difficult in between those things“

„Mir zu folgen, gab ich ihm ein Zeichen“

„‘s ist seltsam!“

„Ach, sie kennen nicht dies Leben“

„O lass uns fliehen“

Zwei im Zug

„Every Body Electric“

Spiel dein Leben

„Fräulein Valéry“

„Wenn einst die Zeit den flücht`gen Traum“

„Gott schenkte eine Tochter mir“

„Hat dein heimatliches Land“

„Sagt Eurer Tochter“

„Oh lasst uns fliehen“

Drei Jahre später

„Was sie besaß, sie gab es hin“

Pachamama

„So hold, so reizend und engelsmild“

Anmerkungen/Quellen

Vorwort

Gespräche der Ich-Erzählerin mit der ihr unbekannten Kira an unterschiedlichen Orten bilden die Rahmenhandlung dieser Geschichtencollage. Die Geschichte setzt sich in den Begegnungen der beiden Frauen aus Erzähltem zusammen.

Das, was entsteht, ist mehr.

Ich habe mitten im Schreibprozess die Verdi-Oper La Traviata in der Inszenierung von Benedikt von Peter gesehen und Nicole Chevalier in der Rolle der Violetta Valéry erlebt. Und habe mir diese Inszenierung drei Mal angeschaut.

Die sich nach Liebe sehnende, zweifelnde Violetta, deren geliebter Alfredo letztendlich zu spät kommt, um mit ihr glücklich werden zu können, ist mit meiner Kira immer mehr verschmolzen – auch, wenn Kira bereits vor der Traviata existiert hat. So wie diese Violetta singt und ihre Seele auf der Bühne zeigt, sehe ich Kira: sehnsüchtig, verletzt, einsam, stark-schwach, liebend, voll Angst, krank – eben ‚La Traviata‘, die vom Weg Abgekommene.

Die meisten Überschriften der Kapitel, in denen Kira aus ihrem Leben erzählt, sind Arientitel“. Sie machen vielleicht neugierig auf die Oper.

Leserinnen und Leser von Kiras Geschichte aber müssen weder Opernfans sein, noch die Traviata kennen, um dieses Buch zu verstehen.

Prolog

Ich betrachtete den ledernen Einband auf meinem Schreibtisch.

Sollte ich mir seinen Inhalt ansehen?

Ich nahm den Stapel Papier nebst Hülle in die Hand und schlug den edlen Umschlag auf. ‚Kira‘, stand auf der ersten Seite.

Ich hatte meine Manuskripte geordnet, manche waren mit schwarzer Tinte geschrieben, andere getippt. So lagen sie nun schon seit einiger Zeit da auf dem Regal, neben meinen Lieblingsbüchern, Muscheln vom Atlantik, einer abgebrochenen Tonfigur und einem schwarz-weißen Foto aus meiner Kindheit.

„Fertig. Und jetzt?“

Ich blätterte.

„Fast vollendet. Am Anfang hatte ich nur Fragen im Gepäck. Am Ende eine neue Welt.“

Noch gehörte Kira mir. Ich legte den Umschlag wieder auf meinen Tisch.

Es war an der Zeit, sie herzugeben.

Die Traviata

Sie stand in diesem übergroßen schwarzen Mantel auf dem Vorplatz der Oper und rauchte. Ihre an diesem Tag leuchtend rot gefärbten Haare hoben sich von der Menge ab. Die rechteckige Tasche, ein Ungetüm, hing an einem langen Lederriemen an ihr herunter und zog sie in die Tiefe.

Offensichtlich hatte sie sich, genau wie ich, die Vorstellung allein angeschaut. Ich mochte es nicht, von irgendeiner Art Begleitung gestört zu werden, mochte niemanden, der mich womöglich vom Sehen, Hören, Fühlen abhalten konnte.

„Guten Abend“, ich stellte mich neben sie und zog ebenfalls eine Zigarettenpackung aus meiner Tasche, „ich hab mein Feuerzeug vergessen …“

Sie nickte und reichte mir ihres hin. Ich sah, dass sie geweint hatte.

„Die Traviata?“ fragte ich vorsichtig, Sie nickte wieder. „Die Ouvertüre … da ist schon alles drin.“

„Ja, das verstehe ich. Ich sehe das Stück jetzt schon zum dritten Mal.“ Es bedurfte keiner Worte, das weiter zu erläutern – ich tat es trotzdem, „Ja alles. Sehnen, Lieben, Enttäuschen, Sterben … Addio del Passato – Un Di, Felice, Eterea …“

Ein paar Besucher hatten die Vorstellung vorzeitig verlassen. Die, die bis zum Schluss geblieben waren, tobten, weinten, applaudierten exzessiv. Die Intensität der Musik hatte sie erfasst. Die Inszenierung hatte Ballkleider, Anzüge, Krawatten, Schuhe, Körper durchdrungen, sich in die Poren der Haut bis tief in die Seelen gegraben. Die Frau neben mir zeigte ein Beben der Haut, der Nasenflügel, der Stimme, mit dem sie mir zu sagen schien, dass offensichtlich eine ganz besondere Form der Berührung stattgefunden hatte.

„Kira“, stellte sie sich vor.

Ich lächelte, „ich schreibe, manchmal journalistisch, manchmal literarisch, kleine Essays, Porträts.“ Ich wusste plötzlich, dass ich über sie schreiben wollte. Etwas an dieser Frau zog mich in Bann, in das kindliche Gesicht waren Spuren eingegraben, wie Kinder sie nicht mehr haben. Ihr Blick sprach von etwas, was ich ebenso ergründen wollte wie ihr Äußeres, das eine Form zu verbergen schien, die mein Interesse weckte.

„Diese verzehrende Sehnsucht, diese Ungerechtigkeit am Ende …“, Kira war bei der Traviata, „vermeintliche Liebe … Krankheit … diese Stimme, die sich aufbäumt, das Innere nach außen kehrt.“

Es fiel mir schwer, die Intensität aufzufangen, etwas zu entgegnen, um den Moment in ein Gespräch zu verwandeln. Dass das „wollen wir etwas trinken gehen?“ der Beginn einer langen Kette von Begegnungen sein würde, wusste ich damals noch nicht.

„Beim Ausruhen möge sich die Genussfähigkeit wieder stärken“, zitierte sie aus der Traviata. Ich lächelte, „den Rest der Nacht lasst uns von anderen Freuden aufhellen.“

Ich wollte sie kennenlernen, finden, sie beschreiben. Verstand ich mich doch lang schon als ‚Menschensammlerin‘: Damals als ich Journalismus und Religionsgeschichte studierte hatte und auch dann in dem Job, der mir eher zugefallen war und jetzt irgendwie an mir klebte: Station 53, depressiv Erkrankte betreuen. Seit 15 Jahren verdiente ich da meinen Unterhalt, seit zwei Jahren mit verringerter Stundenzahl und stattdessen neuen, journalistischen Ideen im Gepäck. Trotzdem müde.

Und nun hatte Kira sich mir in den Weg gestellt.

„Was gibt’s?“

Da, wo das Hinweisschild stand, hatten Graffitykünstler etwas Neues entstehen lassen. Und so fand ich den Weg zu dem Ort, an dem ich Kira treffen sollte, nur mühsam und beinah zu spät.

Sie hatte mir von einem philosophischen Seminar erzählt, das sie belegt habe und ich hatte mich kurz entschlossen auch dort angemeldet.

Zuerst sah ich ihre Hände, so ganz und gar keine, wie Philosophinnen sie haben sollten, dachte ich und schaute wie gebannt auf die kräftig breit geformten Flächen, die markant knochigen Finger.

Das Schild führte im Gelände der Akademie zu dem Gebäude, wo ‚Workshop B, Thema Kommunikation, Fachbereich Philosophie‘ stattfand. Es war leicht, noch zugelassen zu werden.

„Ich träume nicht mehr davon, Promovendin zu sein“, erzählte sie mir.

„Hast du je ernsthaft davon geträumt?“ Ich musterte sie: Wie sah eine Philosophiepromovendin aus? Hier stand Kira, vielleicht war sie Mitte dreißig, mit diesen Händen und den großen Augen, Blümchenbluse und grüner Strumpfhose zwischen all den anderen Studierenden. Genau wie die junge, kahlrasierte Frau auf dem Hof, deren magere Beine in großlöchrigen Netzstrümpfen und die Füße in Doc Martens steckten, weckte sie, obwohl sie schon älter als die meisten war, unmittelbar den Impuls, sie zu beschützen. Ich kannte meinen Beschützerinstinkt nur zu gut. Ich wollte ihm widerstehen.

Als ob sie meine Gedanken lesen könne, zeigte Kira zu der jungen Frau im Hof, „Interessante Leute hier, oder? Ihre blauen Augen, wie sie so schwarz gerändert aus dem Hungergesicht schauen, die Art, wie sie zur immer gleichen Zeit an der Absperrung da hinten ihre Zigaretten dreht …“, Kira sah mich an. Ein sehr weißes Gesicht, die glitzrige Haarklammer verloren in einer fransigen Frisur.

„Etwas denken, was noch niemand gedacht hat und dafür Anerkennung bekommen. Das wäre doch etwas“, sagte sie und der Tonfall signalisierte mir ein ’Nicht nachfragen, bitte!‘

An der Tür zu Raum F 308 verteilte eine Frau in übergroßem Antirassismus-Shirt Flyer. Steif stand sie da, ernst.

Ich wandte mich Kira zu. Trotz des eher schweren Körpers wirkte sie irgendwie flüchtig. Kira, die Philosophin: Ich stellte mir vor, wie sie Stunden über Stunden an ihrem Schreibtisch verbringen konnte, in irgendein Buch vertieft; den Geruch von wortgeschwängertem Staub liebte, papiergewordene Klugheit einsog und womöglich davon träumte, balancieren zu können, auf dem Grat zwischen Philosophischem, Spirituellem, Transzendentem. Es gefiel ihr, dass ich sie ansah.

„Ich bin hier gern. Ein Sog, ein Taumel, dem ich mich gern hingebe, Gespräch für Gespräch, Seite für Seite, Zeile für Zeile. Manchmal.“

Kira sah nicht aus, als lese sie viel. Die Art, wie sie sich gab, redete, gestikulierte, machte sie besonders. Ich meinte deutlich Spuren von Etwas wahrzunehmen, dem ich keinen Namen zu geben wusste.

Wir betraten den Raum. Ich ließ mir von der Aktivistin einen Flyer geben und steckte ihn in die Tasche. Kira ignorierte sie.

Der Dozent, ein Kommunikationstrainer, stellte sich als Heiner Piekenburg vor. Er lud ein, sich mit dem Thema Heimat zu befassen, darüber Kommunikationsmuster zu erarbeiten und die anhand der Themen Erfahrung, Erinnerung, Mitteilung zu analysieren. Ich flüsterte Kira zu, „hier in Frankfurt ist er aufgewachsen, steht im Reader zu dieser Veranstaltung, vielleicht deshalb das abgegriffene Thema.“ Kira verzog keine Miene.

Er erzählte von seiner Vergangenheit in dieser Stadt, die er vor etwa 20 Jahren verlassen hatte und verknüpfte seine Erzählungen damit, Theorien des Erinnerns vorzustellen.

Mit seiner Oma habe er im Café Kante am Merianplatz Käsekuchen gegessen, das sei das Höchste gewesen, weshalb er auch jetzt noch dieses Ritual mit Frau und Kind pflege. Er lächelte verlegen; Kira fand ihn langweilig, sein Äußeres ebenso wie die Versuche, seine Verlegenheit angesichts rührseliger Gefühle mit Scherzen zu übermalen. Er fuhr ungehindert fort, von den Demonstrationen für Frieden und gegen Atomwaffen an der Hauptwache zu erzählen, zeigte ein entsprechendes Foto, auf dem langhaarige Bartträger Bettlaken hochhielten, auf denen „Frieden schaffen ohne Waffen“, „make love not war“ in schwarzen, selbstgemalten Lettern stand. Auch die Schilderung seines ersten Kusses ersparte er den Seminarteilnehmern nicht, irgendwo in der Nähe des Großmarkts, nahe der Eisenbahnbrücke über den Main sei das gewesen. Susi habe die Angebetete geheißen, eigentlich Susanne, den Namen hätten damals viele Mädchen gehabt.

„Ich habe auch einmal ein Mädchen namens Susanne geküsst, die hatte rote Locken und viele Sommersprossen.“ Kira flüsterte in meine Richtung. „Das war ungefähr in der sechsten Klasse. Die Haut dieser Klassenkameradin war sehr weiß, vielleicht wie die der jungen Studentin da draußen“, sie zeigte auf den Campus.

Wieder zog sie sie mich in ihren Bann.

Was war plötzlich los mit mir? Was wollte ich hier? Was von ihr? In meinem Kopf ratterte es: Hessenheimat, Heimat Hessen. War Hessen meine Heimat? Was ist Heimat? Wer ist Kira?

„Hey, teilst du auch was mit, von dem, was du da ausbrütest?“ Hilke, eine Studentin, die es übernommen hatte, Ergebnisse auf der Flipchart festzuhalten, schubste mich an. Ich schaute auf, „Ich, ich bin auch hier in der Nähe aufgewachsen …“

Ich spürte nun Kiras Interesse an mir.

„Umso besser“, Heiner schaute mich an, „dann verknüpft dein Gehirn jetzt Erfahrung, Information und emotionale Erlebnisinhalte und du kannst uns etwas erzählen, nicht nur erzählen, nein anschaulich machen, lebendig werden lassen …“ Ich sagte nichts.

Mir war unklar, ob Kira neben mir sich langweilte, eigenen Gedanken nachhing, neugierig war oder nichts von all dem. Sie starrte auf die Wand. „Die Maserung beunruhigt mich“, sagte sie nach einer Weile, „lauter Gespenster.“ Dann sah sie aus dem Fenster in die Weite, der Himmel war grauverhangen, vielleicht würde es noch regnen. Sie sagte auch weiter nichts.

Heiner versuchte noch einmal, mich anzusprechen, offenbar verstand er aber, dass da nichts mehr anzusprechen war.

Er setzte seinen Vortrag fort: manchmal sei es schwer, sich zu erinnern. Es fühle sich dann an, wie in einen Tunnel zu fallen, in eine Röhre, deren Stahlwände Kontakt verhinderten, die zugleich schützten und etwas verhinderten: das Aufkommen der Bilder.

Matilda, eine beflissene, unscheinbare, junge Frau, sprach, als spreche sie gegen diesen Tunnel an.

Sie sprach druckreif.

Heiner korrigierte ihren Vortragsstil nichtsdestotrotz, strich sich immer wieder zufrieden über die sich anbahnende Glatze und wandte sich dann an Kira: „Ich mag deine Farben“, er deutete auf ihre rote Kette, die sich von der geblümten Bluse abhob und Ton in Ton mit den eigenwilligen Schuhen korrespondierte. Sie lächelte und sagte, dass die Kette nichts zur Sache beitrage und blieb dabei, auch weiterhin nichts zu äußern.

Die Beiträge der anderen zogen an mir vorüber: Ich war abgetaucht. So gut ich diesen Zustand auch kannte, ich mochte ihn nicht.

Warum war ich hierhergekommen? Warum folgte ich Kira?

Die fing plötzlich an zu erzählen: „Hessen ist rot, gefährlich rot, nicht politisch rot. Voller Verbote. Blutrot auch“, sagte sie, „wie meine Kette, ‚Devil Hunter Soul Stone‘ übrigens, Mangaschmuck“ und dass sie an ihre Schwester denke, „Valeria hat Monate in der Psychiatrie zugebracht, nachdem sie sich die Arme aufgeschnitten hatte. In Gießen befindet sich die Anstalt, da, wo das Elefantenklo ist, wie die Leute sagen und dabei verschämt lachen. Ich erinnere mich nur verschwommen an sie. Sie ist nur ein Jahr jünger als ich, sie liebte auch Mangas …“ Kira sprach wie von weither.

Gundula, die Pflegemutter habe es ihr erzählt. Valeria habe ebenso wie sie in einer Pflegefamilie gelebt, später im Heim. Sie wären früh getrennt worden. Ich spürte, wie nah sie sich ihr fühlte, aber vielleicht gar nichts weiter von ihr wusste.

Kira wollte nicht weiter von der Schwester erzählen. In Frankfurt lebte Gundula, die Pflegemutter, die sie mindestens einmal im Jahr besuche. Sie fand Anlässe wie zum Beispiel dieses Seminar, um mal wieder vorbeizukommen, so nannte sie es. Deshalb also war Kira immer wieder in Frankfurt.

Auch für mich war diese Stadt eine Herkunftsstadt. Mir fiel ein, dass etwa 50 Kilometer entfernt die Gemeinde mit dem seltsamen Namen Linsengericht lag.

„Ich bin da in der Nähe aufgewachsen, da hab‘ ich mein Hessisch her, auch wenn meine Eltern Zugezogene sind. Was soll ich erzählen? Ein bisschen langweilig war es. Irgendwann bekamen wir einen Farbfernseher, aber wirklich bunter wurde das Leben damit auch nicht.“

Kira schaute mich an.

Ich hörte unvermittelt auf, weiter zu reden. Kira spielte mit dem Wort Linsengericht: “Biblisch ist das, Jakob und Esau, Freiheit, Linsen essen, Gericht, Schuld … Schuld, Schuld, Schuld … Es sind die ewigen Schuldgefühle, die alles andere als freimachen: schwer, gefangen, eng … So ist es.“

Sie stierte vor sich hin.

Ich fröstelte.

„Hey, Kira, wo bist du?“, Chris, einer, der seine langen Haare zum Pferdeschwanz band und dann aufsteckte, stieß sie an. „Nichts.“ Kira schüttelte seine Hand ab.

„Also, wir sollen hier Kommunikation üben oder analysieren – und deine Art der Kommunikation ist ausgesprochen merkwürdig!“ Chris war hartnäckig.

Heiner setzte seine neurophysiologische Abhandlung darüber, wie emotional Erlebnisinhalte mit Bildern, in welchem Teil des Gehirns gespeichert würden, fort.

Kira fand es überflüssig, ihren Manga-Paper-Block aufzuschlagen und etwas auf das Papier zu schreiben. Sie ging zur Toilette und setzte ihre Gedankenreihe fort, als sie wiederkam, warf sie ein: „Das Klo, der Quadratmeter Raum, der Sitz, auf dem man Abdrücke in die Oberschenkel bekommt, wenn man nur lang genug sitzen bleibt, die kalkweiß gestrichene, schmucklose Wand, der Klopapierabziehroller, die Klobürste, vor der mich ekelt: Für mich ist dies der Zufluchtsort schlechthin, immer gewesen, ein Heimatort gewissermaßen: über viele Grenzen hinweg, überall gab es die immer ähnlich gestalteten Toilettenräume, die eine Art Heimstatt sein können, Zuflucht, Vertrautheit, Entlastung …“, sie hörte auf zu reden, als sie merkte, dass viele lachten.

Und dann hatte sie keine Lust mehr und verließ den Raum. Wenn ich aus dem Fenster schaute, sah ich sie im Hof.

Sie ging geradewegs auf die Punkerin zu, die immer noch dort stand und fragte sie nach einer Zigarette. Die junge Frau hatte Lippenstift aufgetragen, der sich blutig von der weißen Gesichtshaut abhob; hielt ihr eine Selbstgedrehte hin und dann gab Kira ihr einen Kuss auf die Backe.

Sie kam dann noch mal kurz in den Seminarraum und ging kommentarlos an den anderen vorbei, nickte mir zu, sagte zu Heiner gewandt etwas wie „tschuldigung, … Magen-Darm-Probleme …“ und verschwand, nicht ohne mir „wir sehen uns“ zuzuraunen. Ihre Handynummer hatte sie mir bereits zugesteckt. Ich war verwirrt.

Vielleicht deshalb rief ich sie schon nach ein paar Tagen an und verabredete mich mit ihr. Es fühlte sich leicht an.

Wir tranken Apfelwein in einer Bockenheimer Studentenkneipe, lachten über das Seminar und dann erzählte Kira von ihrem Frankfurt:

„Ihr Freunde auf, schlürfet in vollen Zügen“