Ingrid Babendererde - Uwe Johnson - E-Book

Ingrid Babendererde E-Book

Uwe Johnson

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Beschreibung

Eine Reifeprüfung besonderer Art haben die beiden Hauptprotagonisten in Uwe Johnsons erstem Roman, der erst nach seinem Tode veröffentlicht wurde, abzulegen: Klaus Niebuhr und Ingrid Babendererde müssen sich nicht nur auf die schulische Reifeprüfung vorbereiten, sondern sich auch zu der Kampagne der staatlichen Institutionen der DDR gegen die evangelische »Junge Gemeinde« verhalten. Ingrid Babendererde soll auf einer Schulversammlung, gegen die Wahrheit, die Mitglieder der »Jungen Gemeinde« denunzieren. Sie nutzt ihre Rede jedoch dazu, die »Junge Gemeinde« unter Hinweis auf die Verfassung der DDR zu verteidigen und den Direktor der Schule wegen seines Vorgehens zu kritisieren, und wird aus der Schule ausgeschlossen. Daraufhin entschließt sich das »Paar«, in den Westen zu gehen, in eine »Lebensweise«, die sie »für die falsche erachten«. Ingrid Babendererde weist bereits alle Merkmale auf, die für das Werk von Uwe Johnson charakteristisch sind: die distanzierte und zugleich einfühlend-liebevolle Art, in der der Erzähler mit seinen Personen umgeht, die eigensinnige Sprache, die den Eigensinn der Personen und ihrer Handlungen in den Anfangsjahren der DDR wiedergibt.

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Eine Reifeprüfung besonderer Art haben die beiden Hauptprotagonisten in Uwe Johnsons erstem Roman, der erst nach seinem Tode veröffentlicht wurde, abzulegen: Klaus Niebuhr und Ingrid Babendererde müssen sich nicht nur auf die schulische Reifeprüfung vorbereiten, sondern sich auch zu der Kampagne der staatlichen Institutionen der DDR gegen die evangelische »Junge Gemeinde« verhalten. Ingrid Babendererde soll auf einer Schulversammlung, gegen die Wahrheit, die Mitglieder der »Jungen Gemeinde« denunzieren. Sie nutzt ihre Rede jedoch dazu, die »Junge Gemeinde« unter Hinweis auf die Verfassung der DDR zu verteidigen und den Direktor der Schule wegen seines Vorgehens zu kritisieren, und wird aus der Schule ausgeschlossen. Daraufhin entschließt sich das »Paar«, in den Westen zu gehen, in eine »Lebensweise«, die sie »für die falsche erachten«. Ingrid Babendererde weist bereits alle Merkmale auf, die für das Werk von Uwe Johnson charakteristisch sind: die distanzierte und zugleich einfühlend-liebevolle Art, in der der Erzähler mit seinen Personen umgeht, die eigensinnige Sprache, die den Eigensinn der Personen und ihrer Handlungen in den Anfangsjahren der DDR wiedergibt.

Uwe Johnson, geb. am 20. Juli 1934 in Cammin (Pommern), dem heutigen Kamien Pomorski (Polen), starb am 23. Februar 1984 in Sheerness-on-Sea (Kent/England).

Uwe Johnson

Ingrid Babendererde

Reifeprüfung 1953

Mit einem Nachwort von Siegfried Unseld

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 17. Auflage der Ausgabeder edition suhrkamp 1817.

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1985

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-518-75083-4

www.suhrkamp.de

I

ANDERERSEITSlief der Schnellzug D 16 am Sonnabend wie üblich seit Mitternacht durch die sogenannte norddeutsche Tiefebene; der Bahnhof Rostock hatte Platzkarten verkauft und in Teterow wurden die Laufgänge mit Koffern und Fahrgästen verstopft vorgefunden. Die Benutzung von Zügen nach Berlin war gestattet nur für amtliches Gutachten; Klaus indessen konnte mehr als nur seinen Namen schreiben.

Vor dem Speisewagen des D 16 standen unablässig Wartende, aber der Kellner liess Ingrid mit Klaus sitzen bei einer halben Flasche Oedenburger Rotweins fast drei Stunden lang. Er kam zu ihnen nur um einzuschenken, und Ingrid bedankte sich, und er nahm sich die Zeit sie anzusehen und zu nicken. Ihr Kopf lehnte überlegsam an dem hellen sauberen Stoff ihres Mantels, und Klaus hatte ihr die Geschichte von Ali Baba und den vierzig Räubern zur Hälfte erzählt, als der Kellner sie bat den Speisewagen zu verlassen: indem die Polizei dies nun so vorschreibe.

Im Laufgang des dritten Wagens sass Ingrid auf dem Koffer eines fremden Herrn, neben ihr stand Klaus gelassen auf einem Bein zwischen zwei anderen Koffern und überlegte was er ihr nun noch erzählen könnte; draussen war es schon hell. Der Zug hielt der Polizei wegen zwischen Zäunen in einem weiten nebligen Flachland; Lautsprecher verboten den Zug zu verlassen. Klaus nahm Papier aus seiner Jacke und tat dies an einen anderen Ort; der fremde Herr erzählte Ingrid: vorn habe eine sechsköpfige Bauernfamilie aussteigen müssen, diese sitze jetzt neben dem Zug auf ihren insgesamt sieben Koffern. Die Kontrolle billigte das Schriftstück mit dem Stempel der Gustav Adolf-Oberschule. Der Polizist gab es Ingrid zurück und sagte danke, bevor er weiterkletterte, und Ingrid nickte. Der Zug fuhr von neuem. Das Land war unendlich aufgeteilt an Zäune und Gartenhäuser. Die Fahrgäste in den Abteilen schliefen schon wieder. Klaus redete von der Sklavin Mardshanah. Denn sie war ein Mädchen von scharfem Verstand und grosser Einsicht, wie du wohl weisst: sagte Klaus, und Ingrid antwortete: Wie ich wohl weiss. Und sie liess Ali Baba schlafen die ganze Nacht, erst morgens, nachdem er gebadet hatte, erfuhr er von der Bedrohnis … Klaus verbeugte seinen Hals und ergänzte: Die auf ihn zugekommen: wie du wohl weisst. Ingrid sah ihm zu und lächelte heimlich in ihren Augenecken. Neben ihr auf der anderen Ecke des Koffers sass eine Frau schon seit Güstrow, und ihr wurde übel wegen der raschen Fahrt bei geschlossenen Fenstern, und sie gurgelte in ihrem Hals und hatte keine Besinnung; sie kam erst zu sich, als der Zug hielt im Ostbahnhof von Berlin.

Ingrid stand in der grossen lauten Halle früh am Morgen neben ihren Aktentaschen und wartete. Sie legte den Mantelkragen ordentlich um ihren Hals und betrachtete den leeren übernächtigen D 16. – Wann hat Mecklenburg eigentlich aufgehört? fragte sie den zurückgekehrten Klaus. Klaus sagte: Hinter dem Bahnhof von Fürstenberg war eine Brücke. Da war die Havel schon brandenburgisch. Ingrid fröstelte in ihrem dünnen Mantel. Sie sah auf das Schild »Warnemünde – Berlin« und sagte bedenklich: Also empfing Ali Baba den Ölhändler mit vieler Höflichkeit und Güte – da war es doch?

– Wenn du das so nennen willst: sagte Klaus.

EINERSEITS kam am Dienstag kurz vor Mittag ein langes graues Motorboot auf dem Fluss aus dem kühlen Weitendorfer Wald unter die Sonne. Das harte unermessliche Licht brachte das Grau zum Glitzern und der Wald warf den eingeschluckten Lärm hinterher in die Windstille der Uferbüsche und Knicks. Das Boot lief in beständiger Eile zwischen den Wiesen weiter zur Stadt, die weitab vor einem langen Waldbuckel war. Über dem Grasrand des niedrigen Ufers scheitelte sich der rote grobkantige Domturm stumpf gegen den Himmel vor dem Grossen Eichholz, darüber im tiefen Blau räkelte sich kleines rundliches Gewölk. Um den Turm lag ein breites unebenes Feld von Dächern, das sprühte Licht in seinen vielen Schrägen. Allmählich wurden die Häuser deutlich, die waren bunt und trocken in der Hitze des Mittags. Die Sonne stand sehr hoch über den Wiesen. Die Knicks rührten sich kaum und waren ohne Schatten. Knicks sind Buschhecken, die eigentlich den Zaun ersetzen sollen, aber es waren Lücken zwischen den kleinen Weiden und Erlensträuchern, und da standen doch lahme Drahtzäune neben ihnen. Durch die weite Mulde vor der Stadt krümmte sich eine Reihe alter grossköpfiger Weiden und zog sich mühsam empor an dem Weitendorfer Berg. Neben ihnen schwankte ein Pferdewagen in einer langsamen Staubwolke.

Durch diese freundliche weitgeschwungene Landschaft zog das Boot seinen ebenmässigen scharfen Lärm auf dem Fluss, die Kielwellen quollen gewaltsam auf und rutschten heftig in das dürre Schilf, das sich hastig vor ihnen verbeugte. Indessen schlugen die Birken auf dem rechten Ufer sich zur Seite, die grasige Böschung ging über in die sehr zarten hellgrünen Farben des kleinen Eichholzes, nach einer langen Biegung standen schwarz und klar die Schleusentore zwischen den Ufern. Der Motor hustete auf und verstummte plötzlich, das Boot lief langsam zu auf den breiten Steg vor der Schleuse über kleine schnelle Wellen, es war ganz still. Durch das zierliche Gehölz flirrte ein leichter Wind.

Oberhalb des Stegs kniete ein Junge auf dem Boden eines umgedrehten Kahns, der hatte nur eine Turnhose an sich und war mit grosser Andacht beim Kalfatern. Aber nun schabte er das Werg von seinen Fingern, legte das Messer weg und richtete sich auf. Sein Gesicht war völlig klar von seinen weissen Haaren und von der Sonne, er sah aus engen lustigen Augen hinunter auf das Boot der Wasserschutzpolizei und sagte höflich mit seiner frechen rostigen Stimme: Guten Tag. Auf dem hohen Vordeck lag bäuchlings der Polizist Heini Holtz und rauchte, der Polizist Franz hielt sich achtern über das Steuer gelehnt und eben stieg ein Mann in Hemdsärmeln aus dem Kajütraum hoch. Die anderen schwitzten sehr unter dem schweren Tuch ihrer Uniformen. Heini Holtz stützte sich auf seine Ellenbogen und sagte gelassen: Na, Günter? Der Mann in Hemdsärmeln liess sich neben Franz nieder, er hielt eine zusammengefaltete Zeitung vor seinen Mund und gähnte.

– Na? antwortete der Junge. Dabei kamen Falten in seine Stirn vor Lustigkeit, die im Boot sahen ihn freundlich an. Sie warteten eine Weile.

– Und was meinst du so? fragte Franz. Er war aufgestanden, hatte seine Hände in den Hosentaschen und wollte es nun wohl alles mit der Ruhe angehen lassen bei solcher Hitze.

– Ja-a: sagte Günter: Sie wollen nach oben mein ich. Aber wenn Sie ne halbe Stunde warten? Da kommt die »Schwanhavel«, das ist denn ein Durchgang.

– Wir wollen nicht warten: sagte der Mann, der jetzt seine Hemdsärmel nach unten krempelte. Günter sah Heini Holtz an und verzog also seinen Mund auf die gleiche geschwinde Weise wie der.

– Ja –: sagte er mithin und hob seine Schultern an und wandte sich gleichmütigen Gesichtes zur Torwinde. Der Atem wurde ihm ein wenig knapp bei der Arbeit, denn das Drehen war zu schwer noch für seine Arme und er warf sich ruckweise gegen die Kurbel. Als Franz aber an Land kommen wollte, schüttelte Günter seinen Kopf. Franz drückte das mächtige graue Boot mit dem Enterhaken vom Steg ab und durch das geöffnete Tor ins Schleusenbecken, vorn zog Heini Holtz sich an den eingemauerten Ringen vorwärts. Während Günter den Torflügel wieder herandrehte und die Schotten schloss, betrachtete er aufmerksam den Mann unter ihm im Achterraum, der auf dem Rand seiner Zeitung etwas ausrechnete. Der Junge erhob schweigend seine Augenbrauen und ging auf der Beckenkante entlang zum oberen Ende.

Auch als er die Schotten aus den oberen Toren hochzog und gegen die Gewalt der Winde an auf dem Laufsteg herumhüpfte mit seinen langen Beinen in der Sonne, sah er gelegentlich hin zu dem Boot. Die Polizei mit dem Finanzamt waren in Weitendorf gewesen um dort einen verlassenen Hof zu beschlagnahmen. Der Bauer war vor Pfingsten nach Berlin gefahren und inzwischen nicht zurückgekommen. Die Polizei hatte das Vieh der Genossenschaft übergeben, die Hinterlassenschaft gezählt, Haus und Ställe versiegelt. Seit die Genossenschaften gegründet wurden, war Franz viel unterwegs. Durch die windige Stille des Schleusengeländes und das murmelnde Gespräch im Boot klickerte das Drehen am oberen Ende, brach ab. Franz stand auf dem Heck neben der niedrigen schlaff hängenden Fahne, stützte sich auf den Enterhaken und liess sich vom sitzenden Finanzamt etwas erklären, aber das Heck trieb ab. – Eee-i: rief Günter. Franz sah auf und zog sich an die Mauer zurück. Am oberen Ende quoll das Wasser unter Günter in das Becken hoch, gurgelte in weissen quirlenden Aufsprüngen, schaukelte das Boot mit den müden verdrossenen Männern allmählich höher zwischen den kühlen triefenden Wänden. Heini Holtz lag wieder längelang, liess den Rauch seiner Zigarette in Fetzen vor seinem Gesicht auseinanderziehen und betrachtete das Haus, das langsam über dem Rand des Beckens erschien: das breite Ziegeldach, offene weissrahmige Fenster zwischen sauberen roten Steinen, endlich den Blumengarten vor allem. Auf den Flursteinen klapperten Holzpantoffeln.

Als die alte Frau Niebuhr mit Teller und Handtuch in den Händen an das Becken trat, sah sie erstaunt auf Heini Holtz und sagte: Se sünd sche woll nich de »Schwanhavel«? Goden Dag ok: setzte sie hinzu. Günter war jetzt zurückgekommen und stand neben ihr. Heini Holtz richtete sich bis zum Sitzen auf und sagte dass sie nicht die »Schwanhavel« seien. – Wat sünd wi schuldich? fragte Heini Holtz grossartig. Die alte Frau griente auch in ihrem verschmitzten altershellen Gesicht, ernsthaft sagte sie: Von Se kriegn wi niks. Sie nickte ihm und Franz zu und ging zurück ins Haus; beiläufig sah sie in Günters aufmerksames Gesicht und fuhr mit der freien Hand durch seine Haare, als sie fragte: Wo is Onkel Martin? Günter bog seinen Kopf unwillig weg, – Bi de Immen: antwortete er.

Günter ging neben dem träg aufbrummenden Motorboot her nach oben. – Kannst aber man fein schleusen: sagte Franz. – Natürlich: sagte der Junge höflich. Die Polizei solle doch mal sagen, ob sie sich schlecht bedient vorkomme, sei das so? Er sprang vom Torsteg gefährlich auf die Mole, als die Polizei in die Ausfahrt kam. Nein: sagte die Polizei: so sei das nicht. Sie komme sich vorzüglich bedient vor. Und was sei das mit der »Schwanhavel«? fragte Heini Holtz den Jungen, der auf der Mole neben dem langsam fahrenden Boot mitging. Mit der »Schwanhavel« sei nichts weiter: sagte Günter. Aber er würde nun die ganze Schleuse wieder umfüllen müssen, und er lachte auch, als Franz und Heini Holtz nicht mehr an sich halten konnten. Das Finanzamt würgte ein Band unter seinen Hemdkragen und verknotete das vorn mit grosser Kraft, nun war es am Halse etwas eng. Da war nichts zu lachen.

Günter stand am Tor und sah zu wie das Boot zwischen den Molen hinaus und quer über den Unteren See auf die Stadt zu ging. Über der Baumzeile am Stadtufer und Dächern stand sehr gross und breit der Dom gegen den Himmel, mit der Schattenseite zum See. Hinter dem Dom hob sich ein grosser Wald auf lang ausschwingendem Hügel um den rechten Bogen der Bucht herum: das war das Grosse Eichholz. Dessen blauschwarze sonnenfleckige Kuppe war ganz scharf, weil der Himmel so klar und hart strahlte; über ihm trieb sich geringfügiges Gewölk umher. Das Grosse Eichholz lief bis zum Ufer aus, dort standen nur einzelne Häuser zwischen dem dichten Baumgrün. Vor ihnen entlang bog sich eine lange Reihe von Bootshäusern mit breiten Stegplattformen im Wasser, aber das Polizeiboot hielt auf die Dampferbrücke zu, wo die Lücke zwischen den Bäumen war unterhalb des Doms. Günter stand achtsam aufgerichtet da und liess sich gerben von der Sonne. In seinen Haaren flackerte der Wind, der sich an den Fliederbüschen der Schleuse verfing. Der Tag roch nach jungem Gras in der Sonne.

2

Am südlichen Rand der Stadt hielt sich der dunkle grüne Bogen des alten Walls um die weite freie Fläche eines Platzes, auf dem der Dom breit und zuverlässig lagerte in seinem grossen ausgetrockneten Rot. Über die Bäume am Mittelschiff hob sich der Turm in den Himmel, seine groben Kanten zitterten im Licht. Die goldenen Ziffern und Zeiger auf der grossen schwarzen Uhrplatte wiesen wenige Minuten vor ein Uhr.

Die Schulstrasse lief längs des Domplatzes neben niedrigen hitzeharten Häusern, überbrückte den hier ziemlich breiten Stadtgraben und hielt am Wall an vor einem tüchtigen ordentlichen Gebäude mit drei Fensterreihen übereinander und zwei leeren Fahnenstangen vor einem grossen Eingang. Der lange Streifen Sandsteins in dem endlosen tiefroten Gemäuer sagte dies sei die Gustav Adolf-Oberschule. An der dem Domplatz zugekehrten Schmalseite des Hauses standen die Fenster offen. Aus dem ersten Stock redete eine unnachsichtige Stimme etwas offenbar Unzweifelhaftes. Darüber war es still.

Der Klassenraum war ein staubig strahlender Hohlwürfel, der in seinen Kanten zitterte. Durch seine Fenster fielen breite Bahnen Sonne und schoben sich unmerklich weiter: über zerkratzte Tische und Hände und Hefte und Mappen und Gesichter und stumpf glänzendes Linoleum: dies war tröstlich als ein Zeichen dass die Zeit nicht stehen bleibe.

Ähnst stand müde an die Tafel gelehnt und sprach zögernd vor sich hin. Dabei hielten seine Augen sich fest an einem Stück Papier, das unordentlich auf dem Fussboden lag vor dem Schuh der Schülerin Stuht. Ähnst hiess eigentlich Herr Dr. Ernst Kollmorgen, und er sprach ein Wort wie »Erde« als »Ähde«: er hatte also Ähnst geheissen von jeher. Und Ähnst berichtete mit ebensolcher Aussprache über die grossartige Umgestaltung, die die Natur erfahren hatte in der Sowjetunion.

Seine elf Zuhörer sassen hinter ihren Tischen und schrieben, sahen vor sich hin oder aus den Fenstern. Sie starrten in ein Nichts, das sich unmittelbar neben Ähnsts Brille befand, ruckten mitunter vorsichtig auf ihren Stühlen, schwiegen. Was sie schwiegen war dies: noch neun Minuten.

Ähnst überzeugte sich mit flüchtigem Aufblicken: das Benehmen seiner Schüler lasse sich auffassen als Aufmerksamkeit. Er begann von neuem. Die Gründe für die bisher ungenügende Ausnutzung der Naturkräfte, man hat da Westeuropa im Auge, liegen im System des Privateigentums.

Klaus sass in der Ecke am hinteren Fenster (rechts); Ähnst sah von ihm nur die weissen Haare, wirr unter der Sonne, und dass er seinen braungebrannten Kopf in einer nachdenklichen Art über den Tisch hielt; und Klaus war der Schüler Niebuhr. Der Schüler Niebuhr spitzte diesen Bleistift an seit Beginn der Stunde. Die Graphitmine war aber vielmals zerbrochen, so wurde es eine Beschäftigung mit nachdenklichem Aussehen. Klausens Gesicht war reglos über seine Hände mit dem Taschenmesser gebeugt und so schien er zu warten wie alle anderen auch: dass es eine Minute weniger werde.

Diese Bemerkung über das private Eigentum war ihm übrigens durchaus neu; eigentlich sollte er das aufschreiben. Vielleicht hätte er so getan: nur um herauszukommen aus diesem sinnlosen Warten, solcher endlos verlängerten Albernheit (so dachte er). Aber ihm stiess in eben diesem Augenblick etwas zu: eine Entdeckung sozusagen. Er liess plötzlich die Hände auf seine Knie sinken, lehnte sich überrascht zurück. Er besichtigte den verlegenen Herrn Kollmorgen und die versperrten Köpfe vor ihm mit einem Erstaunen als habe er dies noch nie gesehen; er lächelte vorsichtig und aufrichtig: dies war sehr komisch.

Er vergass dass er etwas hatte aufschreiben wollen; unverhofft und beglückend war ihm ein Widerspruch erschienen in solcher Erdkunde-Stunde und ihren Umständen, der sah so aus, komisch: da vorn stand dieser wohlerzogene und gebildete und durchaus würdige Herr …, der sagte Dinge, die zu sagen ihm wirklich unangenehm war, weil er sicherlich meinte sie seien unwürdig und ungezogen … Dinge, an denen obendrein keinem seiner Zuhörer gelegen war (mit einer Ausnahme). Ja. Und ihm gegenüber sassen elf Abiturienten, fünf Mädchen und sechs Jungen, die hielten es für immerhin nützlich ihm zuzuhören, aber ausser dem Schüler Petersen fühlten sie sich alle gestört und belästigt. Und jenem Jungen, dessen schmaler langer Kopf mit den weissen Haaren überraschend gegen die Klasse gehalten war, während seine Augen zurückhaltenden Spott ausgaben nach allen Seiten, dem Schüler Niebuhr erschien es unerhört komisch dass sie hier etwas begingen in ernsthafter Arbeitsgemeinschaft, was ihnen im Grunde nicht gefiel.

Klaus starrte Ahnst begeistert an, er hatte arg zu tun seine aufmerksame Haltung zu verteidigen gegen eine stille ungebärdige Heiterkeit: und weil er jedenfalls nicht mehr sich unbeweglich halten konnte, sah er schnell mal zu Hannes hin. Er wusste währenddessen dass er dies hätte unterlassen sollen. Hannes sass neben ihm mit seinem treuherzig gelangweilten Gesicht und bog sein Lineal zu verzweifelten Spannungen, blinzelte gegen die Sonne und zog seinen linken Mundwinkel zu einer Figur, die ungefähr bedeutete: Hähä.

Klaus grinste zurück als ergebe er sich in gemütlichen Stumpfsinn, und während er neben Hannes Jürgens zusammengefasstes Gesicht wahrnahm, fühlte er seine Begeisterung weggleiten und ebenfalls albern werden. Er kehrte sich zurück in sein nachdenklich vertieftes Dasitzen und kratzte weiter mit seinem Messer an dem Bleistift.

Dabei aber begann er zu reden zu dem Mädchen, das vor ihm sass, schweigend, Ingrid hörte ihn nicht. Sie sass überhaupt da, als höre sie gar nichts, sie hatte ihren Arm auf dem Fensterbrett liegen und sah wohl immerzu auf den Domplatz. Von hier sah er ja nur ihren schmalen gebeugten Nacken und ihre Haare unter der Sonne und ein weniges Schläfe, dazu redete Klaus so in seinen Gedanken: Lieben Ingrid, dies ist nun gleich zu Ende. Noch sechs Minuten: sagte er, und er sagte auch: nach diesen sechs Minuten werde der Tag tatsächlich anfangen, und plötzlich war in seinen Fingern der ganze Nachmittag mit Segel und mit viel Wind und mit seiner aufregenden Wichtigkeit, dass er erschrak bei dem Gedanken: Ingrid könne es vergessen haben, oh Gott: dachte er. Hat Gott gar nichts mit zu tun: wies er sich zurecht. Dann fiel ihm auf dass dieser Bleistift jetzt zum – warten Sie mal: achten Male abgebrochen war. Aber die Stunde würde ja wohl bis zum neunten Male noch andauern.

3

Jürgen Petersen schrieb in sein Heft die Ausmasse des Wolga-Don-Kanals. Derselbe habe eine ausserordentliche Bedeutung, indem nämlich … Dabei unterlief ihm eine ruckende Bewegung seiner unbeschäftigten linken Hand, nach der Armbanduhr ergab sich: noch sechs Minuten. Dies war ein vergleichsweise erfreuliches Ergebnis.

Er zog die Brauen zusammen, nahm die breite schwarze Brille ab und strich langsam über seine geschlossenen Augen. Dabei dachte er: Langeweile müsse irgendwie zur Schule gehören, daran ändere wohl die grundsätzlichste Reform nichts. Er hielt die Brille in der linken Hand und in der anderen den Bleistift auf dem Tisch, so sah er vor sich hin. Ähnst sah an seinem weiten gleichgültigen Gesicht dass der Schüler Petersen ehrlich müde war und uneins mit sich. Das war so, Jürgen war ärgerlich. Er hatte zur Uhr gesehen als könne er das Ende der Stunde nicht abwarten: während doch so grossartige Dinge vorkamen. Er meinte wirklich: dieser Kanal sei eine gute Sache, und sei es nicht eine wunderbare Vorstellung wieviel Strom diese Kraftwerke würden erzeugen können – aber er (gerade er) war voll Langeweile und kümmerte sich um die Uhrzeit. Noch fünf Minuten.

Jedoch als Jürgen dies festgestellt hatte, legte er alles aus den Händen und gab die Aufmerksamkeit auf. Um irgend etwas zu tun sah er um sich und zum Fenster. Dort war das wie immer mittags in der sechsten Stunde. Hannes liess ein Lineal auf seinem Daumen schaukeln, Klaus schabte auf kunstgewerbliche Art an seinem Bleistift, Marianne (vor Hannes) schrieb jedes Wort mit in hoffnungloser eifriger Verkrümmtheit. Was Ingrid betraf – nein sieh mal, also wirklich: du brauchst sie nur da sitzen zu sehen in der Sonne und schon wird dir erhaben zu Mute, das hat sie so an sich. Tatsächlich aber denkt sie – Jürgen wusste nicht woran Ingrid tatsächlich vielleicht denken mochte, und jetzt war der Ärger von vorhin wieder da. Was ging ihn das an, bitte? Wie war das gewesen mit dem Bewässerungssystem –?

Plötzlich schrak der Klassenraum vor einer Stille zusammen. Ähnst hatte aufgehört zu reden. In die betroffene Pause legte er die Worte: Bitte, wollen Sie mal das Wichtigste wiederholen.

Und elf gesenkte Köpfe baten um Erbarmen. Und Ähnst sah dass sie ihn alle rücksichtlos fanden und dass sie meinten: er sei ohne Einsicht. Ob er wohl meine: sie hätten eifrig seinen Worten gelauscht? er wisse doch: sie hätten nicht. Selbst Günter Bormann, der doch tief im Schatten sass und nicht im Hitzelicht dieses Maimittages, selbst der blickte mit ruckhafter Empörung auf die Tafel und zog sich ablehnend an seiner Stuhllehne zurecht. Allmählich aber begannen alle nachzudenken: was sie nun wohl sagen würden über das bisher Gesagte. Jürgen betrachtete ebenso zurückgelehnt wie vorhin die nunmehr peinlich gespannte Haltung der 12 A, wachsende Unlust wischte sein Denken trübe und liess ihn gereizt gähnen. Bei diesem Anblick entschied sich Ähnst. Er hatte die Klasse nun mit einer Art unbehaglicher Belustigung beobachtet. Er hob seine Schultern ein wenig gegen den Tafelpfosten und sprach beruhigend zur rechten Fensterecke hin: Na, Niebuhr.

Jürgen sah neben Hannes wie Klaus gestört wurde. Klaus steckte das Messer in die Hosentasche und sagte grinsend vor sich hin: Tschä. Dann begann er: Voraussetzungen für eine Umgestaltung der Natur möchten (also) geschaffen werden durch die Beseitigung des privaten Eigentums.

Jürgen lächelte wider seinen Willen anerkennend vor sich hin: ob der Frechheit des »also«. Hatte Ingrid es auch gemerkt? Ja, Ingrid hatte sich umgedreht und Jürgen traf genau ihre Augen. Sie verständigten sich mit leise erhobenen Brauen.

Plötzlich, als er Ähnsts lehrerhaftes Zuhören wahrnahm, wurde ihm deutlich: es lag gar nicht an der Schule, an der Schule überhaupt. Die grosse Gleichgültigkeit dieser Windschutz-Waldstreifen und bewässernden Kanäle kam davon dass Ähnst von Dingen gesprochen hatte, an die er nicht glauben wollte und deren Voraussetzungen er wahrscheinlich nicht mochte. Also behandelte er das Ganze als Stoff bloss, als Stoff, der auswendig zu lernen war. Und wenn es ihm so ging, sollten sie hier wohl ohne Teilnahme in der Sonne sitzen und froh sein dass irgend jemand redete: hoffentlich bis zum Schluss der Stunde redete.

Jürgen betrachtete Ähnst aus seinen müden angestrengten Augen und sah dass der ein bekümmerter zurückhaltender Herr war: bescheiden und bürgerlich. Und Jürgen dachte: es sei aber doch höchst schädlich, wenn man so wichtiges Wissen als Lernstoff nur vermittle. Noch drei Minuten. Jürgen blickte auf Ähnsts geduldige Hände um das Lehrbuch, und Jürgen fühlte sich mit einem Mal befangen vor diesem Herrn, der ein Schädling war: ein Schädling mit einem erwachsenen Knabengesicht unter schwarzen Haaren, die waren ordentlich gescheitelt. Und es war ausserordentlich freundlich für Jürgen jetzt Ähnsts gutmütige knarrende Stimme sagen zu hören zu Klaus: Sie haben aber den Klassenkampf vergessen.

Den gebe es in der sozialistischen Gesellschaft doch nicht: erinnerte Klaus. Und Jürgen war durchaus einverstanden mit Klausens hinterhältiger Höflichkeit, die sich bezog auf Dr. Kollmorgens Art von Sozialismus und Klassenkampf zu reden als sei das theoretischer Unsinn. Das ist gar nicht theoretisch, verehrter Herr Kollmorgen. Unsinn ist es schon überhaupt nicht, Herr Doktor. Jürgen wartete wirklich gespannt auf Ähnsts Antwort gegen solche Herausforderung. – Das eben habe Klaus zu erwähnen unterlassen: sagte Ähnst.

Während Jürgen zusah wie diese Marianne mit dem frommen Haarknoten im Nacken ihr Heft zuschlug und den Federhalter befriedigt obenauf legte und offenbar weiter nichts begriffen hatte als dass Klaus nun wohl am Ende sei –: während dessen dachte Jürgen mit dem ganzen Ärger und Zorn der sechsten Stunde: Denn es muss doch alles seine Richtigkeit und Ordnung haben –!

Ähnst sagte friedfertig dankeschön. Klaus sagte auch etwas, aber das verstand nur Hannes, und der grinste erschüttert in sich hinein. Nun setzte sich Ähnst an den Lehrertisch, zog das Klassenbuch heran und trug dort ein das Geständnis: für diese Stunde geografischen Unterrichtes sei er verantwortlich.

Noch eine Minute.

Nein: die Stunde war zu Ende.

Sie verabschiedeten sich von Ähnst, indem sie einfach zur Tür hinausgingen mit ihren Mappen oder indem sie ihm zunickten oder indem sie ihn neugierig betrachteten (so tat Klaus). Ähnst schrieb vor sich hin.

Sie gingen ziemlich leise durch den oberen Flur, in den die Sonne gewaltig hineinfiel. Sie gingen ohne viel Aufsehen und lautes Reden an den noch geschlossenen Türen vorbei. Denn sie waren Abiturienten und also von Natur aus würdig. Ausserdem wollten sie Ähnst keine Ungelegenheiten bereiten; indem sie meinten: er werde bald noch mehr Ärger haben ohnehin.

4

Und jetzt kam die Klingel doch, regte das in Stille eingetrocknete Treppenhaus auf, während Ingrid die grosse Treppe hinunterstieg, Ingrid. Dies grosse schmale Mädchen mit dem verrückten Blond, siehst du ihren Mund, diese sorgfältig verheimlichte Fröhlichkeit: ja gewiss. Dieser Vormittag war unwiderruflich zu Ende.

Jürgen war drei Stufen vor ihr. Er stieg gleichmütig und ratlos tiefer, er sah zu Ingrid zurück und verwunderte sich in all seiner Gleichgültigkeit: wer war die eigentlich. Ja um Gottes willen, er kannte sie nun ziemlich lange, er hatte sie sogar einmal geküsst, wer weiss wie das vorkommen konnte, – aber jetzt war es doch wohl unglaublich anzusehen wie sie dastand in all dem Sonnenstaub und die Mappe schaukeln liess an ihrer Hand. Nun kamen aber die Herren Itsche und Klacks, die hatten zwischen sich die hagere verlegene Marianne und beunruhigten sie mit ungeheuer leichtfertigen Reden. Da sah Ingrid auf und lächelte flüchtig zu Jürgen hinunter mit ihren grauen Augen: verstehst du? Ja, er verstand wohl. Aber wollten sie jetzt nicht weitergehen?

Überall warf eine Klassentür nach der anderen Lärm auf die Flure. Im ersten Stock kamen sie bereits ins Gedränge. Jürgen machte ein breites Kielwasser mit den beiden Mappen hinter sich und sie schob ihn an den Schultern vorwärts durch die Menge von Jungen und Mädchen, die nun eilig an die frische Luft wollten. Zwischendurch sah Jürgen von weitem die Schulwandzeitung HÖR ZU, JUGENDFREUND. Mechanisch las er das im zweiten Stockwerk zwischen Pfeiler gespannte Spruchband, das mitteilte: DIE ARBEIT AN DENOBERSCHULEN MECKLENBURGS IST EINBEDEUTENDER BEITRAG IM KAMPFUM FRIEDEN UND EINHEIT FÜR DEUTSCHLAND: weisse Buchstaben auf blauem Tuch. Dann war wieder die Treppe mit Sonne durch hohe Fensterbögen, mit Stimmenlärm und Gedränge; als sie an der Uhr vorüberkamen, zeigte die zwei Minuten nach eins. In der Ausgangstreppe staute sich der Strom. Ingrid wartete neben Jürgen, bis sie hinauskonnten ohne eng gequetscht zu werden, und so sagte ihnen Johann Wolfgang Goethe von der linken Wand: EDEL sei der Mensch, hilfreich und gut. – Arbeit ist die Quelle aller Kultur: sprach Karl Marx von rechts her; beide in trotziger brauner Fraktur. Unter den Inschriften schaukelte sich eine Art Schlinggewächs, das hatte eine schmückende Aufgabe.

Draussen schliesslich schoben sie sich auf die selbe pflügende Weise durch das verfilzte Menschenknäul, endlich konnte Ingrid Jürgens Schultern loslassen. Sie holte tief Atem und sprach mit völliger Begeisterung: Oha! Damit meinte sie die Drängelei. Dann liess sie sich ihre Tasche wiedergeben und begann ein würdiges Benehmen.

Jürgen ging gross und langsam neben ihr. Während seine Blicke die Fugen des Pflasters nachzogen, wusste er dass Ingrid heute ihr Skandalkleid trug; eben wandte der Wind den Saum beiläufig neben das Paar zerquetschter Bügelfalten, die vor ihnen schlenkrig bogen und knickten. Das Skandalkleid war einfach eine Art Leinen zwischen Schwarz und Blau, das war mit geraden weissen Strichen in grosse Vierecke aufgeteilt, vorn zusammengeknöpft, am Hals legte es sich eben wieder auseinander: was alles mit dem unmässig schmalen Gürtel einen frechen und vornehmen Schlag hatte, den es nicht zu kaufen gab in diesem Lande. Sie hatte damals ihre Nase in die Höhe gehalten und so von oben herab erklärt: Ja –, man muss sich dann eben was einfallen lassen … was sagst du? Jürgen hatte gar nichts gesagt. Er verzog seinen Mund in einer gleichgültigen Art und redete von anderem. Er meinte noch heute dass ihr da was Erfreuliches eingefallen war, aber er betrachtete es nicht.

– Halloh –: sagte es an Jürgens anderer Seite. Die Räder standen einen Moment ruckend still unter den Bremsen, dann gab Klaus sie frei und fuhr langsam neben ihnen her. Das Fahrrad schnurrte leise und vertraut in dem vielfältig verrenkten Stimmengewirr. Klaus stützte sich weit vor auf die Lenkstange und sagte: Lach mal.

Das kam für Jürgen überraschend, und sein grosses schweres Gesicht bewegte sich einige Zeit, bevor er antwortete: Ja. Aber er lachte nicht. Während er die gleissende Lenkstange zwischen Klausens Händen in seine Augen hineinsah, war er entschlossen jede Einladung zum Segeln abzulehnen, und die Verlegenheit eines Nachmittages ohne die beiden meldete sich an vor ihm. Ingrid betrachtete aufmerksam seine Mundwinkel und fragte: Ist etwas? – Nee: lehnte Jürgen ab und ging herum um einen Jungen aus der 11 A, der hier vor einem Mädchen aus der 9 BI stehen geblieben war; als er wieder zwischen Klaus und Ingrid ankam, gelang es ihm Ingrid zuzulächeln. – Sozialismus: sagte er mit der Aussprache und dem Gesichtsausdruck des Herrn Dr. Ernst Kollmorgen. Klaus sah ihn bekümmert an, er hob mit seiner rechten Hand Jürgens Jackenaufschlag ein wenig, so dass das Abzeichen darauf funkelte in der Sonne, Klaus sagte mit sorgenvollem Grinsen: Ach Mensch … Ingrid strich begütigend entlang an seinem Ärmel und versicherte ihm in ähnlich tantenhafter Art: Nu brauchs dich nich mehr ssu ä-gin, der Klassenkampf hat heut schon eine Minute vor eins aufgehööt …!

Jürgen blickte störrisch von Klaus zu Ingrid, er sah Klausens wohlwollend spöttisches Dahocken und Ingrids schöne Gutherzigkeit und (in einer schnellen Welle von Herzklopfen) er hatte die beiden übermässig gern. Er lachte und tröstete sie wahrhaftig. – Na nu weint man nich: sagte er.

Klaus grinste höflich zurück. Aber er sagte bye, er winkte Ingrid zu und war schon an der Grossen Strasse. – Bye: sagte Jürgen nun. Ingrid sah Klaus betroffen nach, bis seine langbeinige schmale Gestalt hinter einem verstaubten Lastauto verschwunden war, und sie wusste gar nicht was dies nun bedeuten sollte: hatte Klaus es vergessen? Aber sie liess ihre Hände wieder sinken (sie hätte ihm beinahe nachrufen wollen), sie sagte sehr schnell etwas von fürchterlicher Eile und sonst nichts weiter, eben hatte sie Jürgens Hand geschüttelt und nun lief sie auch schon um den Prellstein in die Grosse Strasse. Lief mit ihren langen Bewegungen zwischen den Oberschülern auf dem Bürgersteig, ihre hellen Haare flogen an Peter Beetz vorbei, alles war so wie sie gesagt hatte: eilig nämlich.

Jürgen betrachtete das eine Weile aus seinem Stillstehen. Jetzt fühlte er die dumpfe Enttäuschung deutlich, bis jetzt hatte sie erwartet dazusein. Sie hatten beide nicht mehr gesagt als er gehört hatte, was wohl sollte er anfangen mit diesem Nachmittag?

Jürgen ging über die Strasse, eine aufgeregte Fahrradklingel beschimpfte ihn. Er dachte dabei vorsätzlich an eine gewisse Wendung in der heutigen Mathematik-Aufgabe. So entging ihm dass das Mädchen aus der 9 BI sich hinter ihm hielt und mit einer sozusagen bereitwilligen Neugier emporblickte an der ruhigen Länge dieses jungen Mannes. Jürgen zog die Jacke aus und hängte sie über seine Schultern; die Tasche in seiner Hand behinderte ihn. Er ging quer über den Markt auf die Fleetstrasse zu. Seine Augen schmerzten unter dem Licht und er sah die enge kleinhäusige hitzehelle Strasse, die er jetzt gehen würde bis zu einem langweiligen verlegenen Nachmittag.

5

Klaus hielt aber gleich hinter dem Lastauto an. Er drehte sich um und wartete, bis die beiden weitergingen. Als Ingrid von dannen lief mit ihren langen Beinen, lachte er leise in sich hinein. Nun querte Jürgen die Fahrbahn und ging fort auf den Markt. Klaus kehrte um und fuhr die Grosse Strasse wieder zurück; als er kurz hinter Jürgen war, fiel ihm auf wie ruhig und scheinbar ohne Ziel sein Freund dort ging unter der eiligen Jugend, und es tat ihm leid um diese Langsamkeit. Aber er konnte nichts tun als das wiederum bemerken und weiterfahren, nicht wahr.

An der Ecke zum Markt vor dem schattentiefen zurückhaltenden Schaufenster von Herrn Goldschmied Wollenberg stieg er ab und stellte sein Rad am Rinnstein auf. Die Tür schloss sich hinter dem Kunden nicht anders als mit vielem Geläute und Herr Wollenberg sagte Jawohl! mit seinem Barte, indem er den Kopf zwischen den Vorhängen hindurchstiess, und: Guten Tag, Herr Niebuhr. Sie sollen Ihren Willen haben. Er verschwand wieder.

Klaus sah durch das andere Fenster des kühlen dämmerigen Ladens in die grosse Helle des Marktes. Vor dem Rathaus trugen zwei alte Frauen in schwarzen Kleidern ihre schweren Einkaufstaschen auf die Brückenstrasse zu; sie mochten zum Dampfer wollen. Klaus bedachte mit zurückgezogenen Lippen dass Ähnst heute abermals nicht die Junge Gemeinde mit irgend etwas verglichen hatte. Vielleicht fürchtete er sich vor solchem Lärm, wie er vor der Erdkunde-Stunde im Mittelflur aufgekommen war. Aber Ähnst liess seine Tochter immer noch in die Christenlehre gehen: als ob es nicht schlimm genug war Oberschullehrer zu sein. Vom See hoch wehte dumpf das Heulen der »Schwanhavel« auf den Markt.

Herr Wollenberg kehrte zurück mit einem schmalen kantigen Silberreifen auf seiner Hand, den legte er vor Klaus hin, stützte sich ohne Eile auf die Theke und sprach: War das so? Klaus drehte das matt schimmernde kühle Silber in seinen Fingern, hielt die Innenseite gegen das Licht, sah Herrn Wollenbergs gelassenes Zusehen, legte den Ring hin. Während Herr Wollenberg wohlwollend erzählte: Ja-u …, neulich sei doch das Fräulein Babendererde hier gewesen und habe sich das Fach mit den Armreifen angesehen. Ja (sagt sie), ich möcht wohl gern einen haben, aber die hier mag ich alle nicht (sagt sie). Einer ist wie der andere, und die sünd alle so »wölbig« (hat sie gesagt). Ja-o (sage ich), andere hab ich nich, die werdn nämlich so geliefert … (sage ich), – ich werd ihr doch nich erzählen dass ich ihr grade einen baue, nich? Das sünd genau fünf Millimeter, Herr Niebuhr, die Breite, und dick is er zwei, stimmt genau. Eine Gravierung wollten Sie ja wohl nich, wird sonst immer verlangt, … na. Ja, und denn ging sie, und wusste von nichs. Ja, Herr Niebuhr!

Klaus nickte zu diesem auf seine zurückhaltende höfliche Weise, und er betrachtete Herrn Wollenberg mit freundlicher Gründlichkeit, während der ganz ernsthaft und wohlmeinend aussprach: Ich gratuliere auch, Herr Niebuhr. (Vierzehn Mark, Herr Niebuhr.) Während Klaus das Geld auf der Theke ausbreitete, erwähnte Herr Wollenberg noch: das Fräulein Babendererde sei ja wohl das schönste und netteste Mädchen am Orte, könne man wohl sagen. Er sagte dies vielleicht damit es Klaus nicht so hart ankam eine solche Menge Geld auf ein Mal zu verlieren; der Schüler Niebuhr war aber so beschaffen dass er sich das dachte. Er sah Herrn Wollenberg neugierig an, indessen verhielt Herr Wollenberg mit fragendem Ausdrucke …; er machte dann deutlich in seinem Gesicht dass er nun also etwas verschweigen werde. Mithin griff er hinter sich in den Schrank und liess auf seinem Zeigefinger etwas schaukeln, das so aussah wie der Rest eines silbernen Löffels. – Das ist übriggeblieben! sprach er und betrachtete den halben Stiel mit verschwörerischer Verlegenheit. Er schloss das rechte Auge ein wenig.

– Das soll nicht sein: sagte Klaus. Er lächelte ebenso abgefeimt.

– Ich weiss von gar nichts: sprach mit grosser Gebärde Herr Wollenberg; er wollte damit aber das Gegenteil gemeint haben. Er wog den Löffelstiel, und sozusagen abermals Glück wünschend reichte er Klaus etwas von seinem Geld zurück. Klaus stopfte dies und den Ring in seine hintere Hosentasche, gleichzeitig sprach er Herrn Wollenberg seinen vollständigen Dank aus; Herr Wollenberg bemerkte noch dies und jenes und begleitete Herrn Niebuhr vor die Tür: gewiss, Herr Niebuhr. Als Klaus in weitem Bogen auf die andere Strassenseite geschwenkt war, stand noch Herr Wollenberg in seinem weissen Kittel zuverlässig lächelnd in der Sonne, er verbeugte sich und sagte: Grüssen Sie man.

6

Ingrid trat aus dem Bogengang des Rathauses in die schattige Halle des Postamtes, auf dem Linoleum des Fussbodens wurden die Schritte ganz leise. Von den drei Schaltern war nur einer besetzt. Die Frau hinter dem Glas rechnete aufmerksam und gründlich viele Zahlen zusammen. Ingrid blieb seitlich stehen und betrachtete den in trockenem Licht erstarrten Markt. Die jungen Blätter vor dem Fenster flirrten leise. Die Frau rechnete noch immer, sass angelegentlich vorgebeugt und blätterte hin und her; in ihrem blonden Haar widerschien die Sonne. Aus der Grossen Strasse schwenkte ein langer Omnibus auf den Markt und ruckte vor das Rathaus. Neben Ingrid klirrte Glas und die Stimme der Frau sagte überrascht: Du kommst aber auch so wortlos. – Oh: antwortete Ingrid und kam ebenso träge näher. – Stehst du schon lange da? fragte die Frau. Sie hatte eine inständig lustige Art zu reden. Sie sprach die Worte aus dass sie so trocken und bunt waren, schliff sie anschlägig zurecht mit ihrer spröden schwingenden Stimme: dies alles mit einem sozusagen hinterhältigen Zögern … eben wie Ingrid nun sagte: Nein. Sie legte ihre Tasche vor sich auf die Theke, stützte ihre Ellenbogen auf und sagte: Wie du hier so über die Briefmarken herrschst …! Ich geh ja bloss zur Schule. Die Frau legte leise lachend ihre Listen zusammen. – Wie war es denn heute? fragte sie. Vor dem Fenster stiegen Leute in den Bus, hier innen war es ganz still. – Doch man so: sagte Ingrid. Aber nun war sie wohl ein bisschen zu schnell gewesen mit der Antwort, denn die Frau hob den Kopf und betrachtete achtsam ihre Tochter, – War etwas? fragte sie. – Nichts, Frau Babendererde: sagte Ingrid mit amtlichem Gleichmut. Sie stand geduldig auf die Theke gestützt und sah vorgeblich erstaunt auf Frau Babendererdes Misstrauen. – Ich lach nich zuerst: sagte sie. – Aber ich: sagte Katina, als sie schon längst dabei war. – Es ist nämlich eine ewige Angst mit euch: verteidigte sie sich ernsthaft. – Meine Mutter ist ja so furchtsam: sagte Ingrid unter nachsichtig erhobenen Augenbrauen. Die Frau holte viel Luft ein und setzte an zu Ausbrüchen, aber Ingrid sagte Katina solle sich nicht empören, man habe es eilig, man werde zum Abendessen zu Hause sein. Katina hiess gar nicht Katina, aber Ingrid nannte sie so. Katina atmete alle Luft wieder aus und sagte: Du willst mit der »Schwanhavel« zur Schleuse? – Hast was gegen? fragte Ingrid sehr neugierig. – Du sollst mich nicht immer zum Lachen bringen: sagte Katina: Ich bin deine würdige Mutter. – Ach so: sagte Ingrid, und Katina schluckte in ihrem Hals. – Damit du es weisst: wiederholte sie. – Und dann hast du noch Zeit. – Ich hab mein Segelzeug vergessen: sagte Ingrid. – Ich weiss! sagte Katina. Sie brachte das Netz mit Ingrids Segelzeug unter ihrem Amtstisch hervor, schob die Glastür ganz zurück und warf das Netz wie achtlos von sich; aber Ingrid konnte ganz gut fangen. – Meine Mutter hat so höfliche Gedanken in ihrem Kopf: sagte sie. Katina schloss das Glas und stellte heftig ein Schild auf, das sagte KEINE ABFERTIGUNG. Und Katina sagte: Meine Geduld – Das Mass meiner Geduld: sagte Ingrid hilfsbereit. Katina wiederholte mit nachdrücklichem Kopfbewegen: Das Mass meiner Geduld – Ja also was denn nun? fragte Ingrid.

– Ich wollt eigentlich sagen …: begann Katina als sei sie verwirrt. Aber dann sank sie in ihren Stuhl zurück und erschöpfte sich in innigem Gelächter.

Als Ingrid schon an der Drehtür war, rief Katina sie an und sagte: Wenn ihr auf den Oberen See geht – segelt nicht so hart gegen an, seid vorsichtig, ja?

– Sicherlich: sagte Ingrid in umständlicher Aussprache. – So lange: sagte sie. – So lange: sagte Katina.

7

Günter war langsam auf dem Fussweg durch das Kleine Eichholz bis zum Weitendorfer Weg herangegangen; dort setzte er sich wartend an den Rand ins Gras. Vor ihm lag die weite Mulde mit Saatgrün in der Mittagssonne, hinter der Kuppe des Bergs stand dünn und zitternd die Spitze des Weitendorfer Kirchturms gegen den Himmel; die Weidenköpfe waren viel grösser da oben. Günters Zehen spielten mit dem hellen warmen Sand des Weges und er sah ihnen nachdenklich zu.

Nach einer Weile klingelte ein Fahrrad von der Stadt her. Günter zog seine Beine zur Seite und liess das Mädchen herankommen; er blickte mit Anstand hoch und sagte: Guten Tag. Das Mädchen nickte zu ihm herunter und fuhr schweigend weiter. Günter sah ihm nach mit aufmerksamen Stirnfalten.

Plötzlich bremste Klaus gefährlich nahe vor den ausgestreckten Beinen seines Bruders. Er stützte sich gelassen vor auf die Lenkstange des Rades und erwartete was der hier nun allenfalls dazu sagen würde. Günter erhob sich ebenso gelassen. – Kommst aber spät heute: sagte er; es war nun deutlich zu sehen dass er sich freute. Er stieg auf Klausens grossartiges Rad und fuhr vorsichtig neben ihm her durch das Kleine Eichholz: unablässig redend. Es brauche ja nichts weiter auf sich zu haben (sagte er), jedoch: Tanten Gertrud habe den ganzen Vormittag nach einem silbernen Löffel gesucht, weisst du: der einzelne, dünne, den du in der Pötterkuhle gefunden hast gleich nach dem Krieg? Der sei nicht zu finden, und Tanten Gertrud verstehe das nicht und kann sich das nicht erklären … sei ja möglich dass sie das besprechen sollten: schloss er und sah Klaus an mit der ganzen Freundschaft und mit allem Vorbedacht seiner dreizehn Jahre.

Klaus fasste tiefsinnig an seine hintere Hosentasche und sagte: Ich soll dich grüssen von Herrn Wollenberg.

– Mich? fragte Günter sehr erstaunt, aber er behielt das Rad in seiner Gewalt. – Wieso: sagte er. Der kenne ihn doch gar nicht; mich grüssen –?!