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Unsere Welt brennt – und auch wir Menschen brennen aus. Klimawandel, Artensterben und steigende Ungleichheit sind Ausdruck einer Entwicklung, in der wir die Verbindung zu uns selbst, zu anderen und zur Natur weitgehend verloren haben. Doch was, wenn uns der Blick nach innen helfen könnte, diese Verbindung wiederzufinden? Was, wenn der Schlüssel für eine Kehrtwende in unserem Innersten liegt? Seit 15 Jahren im Bereich der Nachhaltigkeit aktiv, wissen die Autoren, dass es für die Krisen unserer Zeit mehr braucht als äußere Maßnahmen (Ökologie, Ökonomie, Soziales). Sie erklären, warum auf dem Weg in eine gute Zukunft vor allem mentale, emotionale und spirituelle Aspekte entscheidend sind, und stellen konkrete Wege vor, wie mit mehr Bewusstsein, Achtsamkeit und Innenschau ein Wandel möglich ist. Mit bewegenden Geschichten, persönlichen Erfahrungsberichten und Ergebnissen aus der Verhaltens- und Achtsamkeitsforschung beschreiben sie die innere Dimension der Nachhaltigkeit und machen uns Mut, selbst Teil der Veränderung zu werden.
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Seitenzahl: 439
Veröffentlichungsjahr: 2021
Julia Buchebner / Stefan Stockinger
Innen wachsen – außen wirken
Eine nachhaltige Zukunft beginnt in uns selbst
ENNSTHALER VERLAG STEYR
Erklärung
Die in diesem Buch angeführten Vorstellungen, Vorschläge und Therapiemethoden sind nicht als Ersatz für eine professionelle medizinische oder therapeutische Behandlung gedacht. Jede Anwendung der in diesem Buch angeführten Ratschläge geschieht nach alleinigem Gutdünken des Lesers. Autor, Verlag, Berater, Vertreiber, Händler und alle anderen Personen, die mit diesem Buch in Zusammenhang stehen, können weder Haftung noch Verantwortung für eventuelle Folgen übernehmen, die direkt oder indirekt aus den in diesem Buch gegebenen Informationen resultieren oder resultieren sollten.
Mit dem Kauf dieses Buchs unterstützt du Klimaschutzprojekte der BOKU (Universität für Bodenkultur Wien), die in Ländern des Globalen Südens Treibhausgasemissionen einsparen und einen Beitrag zur Erfüllung der SDGs (Sustainable Development Goals, Ziele für nachhaltige Entwicklung) leisten.
www.ennsthaler.at
ISBN 978-3-7095-0142-9
Julia Buchebner/Stefan Stockinger · Innen wachsen – außen wirken
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2021 by Ennsthaler Verlag, Steyr
Ennsthaler Gesellschaft m.b.H. & Co KG, 4400 Steyr, Austria
Grafiken: Stockinger/Buchebner
Covergestaltung: © Ernst Miesgang, www.ernstmiesgang.com
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Praktische Hinweise
TEIL I: Die Reise beginnt
1.Willkommen in der westlichen Welt
1.1Die Geschichte der äußeren Zerstörung
1.2Der globale Zustand als Spiegel unserer selbst
1.3Die Vision eines umfassenden Wandels
2.Warum wir den Blick nach innen richten müssen
2.1Über den Wert innerer Reife
2.2Der innere Schweinehund
2.3Die innere Dimension der Nachhaltigkeit
TEIL II: Aufgeklärtes Wertebewusstsein
3.Werte als Richtungsweiser
3.1Wie Werte unser Verhalten beeinflussen
3.2Der Mensch, ein Herdentier
3.3Wie Werte die Nachhaltigkeit bremsen
4.Wie der Wertewandel gelingen kann
4.1Kenne deine Werte und handle danach
4.2Wähle dein soziales Umfeld bewusst
4.3Wir sind der Wandel
5.Neue Werte für das 21. Jahrhundert
5.1Lebensqualität durch Lebenssinn
5.2Neue Freiheit
5.3Selbstwirksamkeit
5.4Solidarische Kooperation
5.5Offenheit für Neues
TEIL III: Emotionale Kompetenz
6.Die Macht der Gefühle
6.1Der Schatten und seine Strategie
6.2Die Angst vor dem Fühlen
6.3Ängste und ihr Bezug zur Nachhaltigkeit
6.4Das ewige Spiel von Gut und Böse
7.Emotional erwachsen werden
7.1Gefühle wahrnehmen und verstehen
7.2Mit dem Herz durch den Schmerz
7.3Liebe deinen Schatten wie dich selbst
8.Die emotionskompetente Gesellschaft
8.1Mit-Gefühl in die Zukunft
8.2Im Dialog mit Andersdenkenden
8.3Das befreite Potenzial
TEIL IV: Weltbild der Verbundenheit
9.Die spirituelle Krise der Menschheit
9.1Die Illusion der Trennung
9.2Der Mensch als Krone der Schöpfung
9.3Sinnverlust und kollektive Identitätskrisen
10.Das Weltbild der Verbundenheit
10.1Die Natur als Ausdruck von Verbundenheit
10.2Das systemische Denken in der Wissenschaft
10.3Das Erwachen des Ökologischen Selbst
11.Wege zu neuer Bewusstheit
11.1Nachhaltig leben mit Achtsamkeit
11.2Komm in Kontakt mit deiner Natur
11.3Dem Weltschmerz begegnen
11.4Zeitgemäße Spiritualität
TEIL V: Die Quintessenz
12.Wenn die Ethik des Herzens erwacht
13.Dein Beitrag in der Welt
14.Utopische Ideen für eine bewusste Gesellschaft
Schlussworte
Danksagung
Endnoten / Literaturverzeichnis
Über die Autoren
Jeden Tag erblicken rund um den Globus mehr als 200.000 Babys das Licht der Welt, mit einem lauten JA zum Leben. Und doch gehen zunehmend mehr Menschen mit einem inneren NEIN durchs Leben. Jeden Tag erhöht sich unser Wissen zur Errichtung einer nachhaltigen Zukunft. Und dennoch schreiten die ökologischen Zerstörungen wie Klimawandel, Artensterben oder die Verschmutzung der Ozeane immer rascher voran. Ist das nicht paradox? Und während der Klimawandel schon jetzt ganze Erdteile unbewohnbar zu machen droht, hat sich die nächste Krisenwelle bereits in Stellung gebracht: Gemäß der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird Depression schon 2030 die weltweit größte Krankheitslast mit sich bringen.
Die Welt brennt und die Menschen brennen aus – Zufall? Keineswegs. Denn der gemeinsame Nenner all dessen, von Klimawandel und Burn-out-Epidemie lautet Ausbeutung. Die Ausbeutung von Natur und Menschen zur Maximierung von Profit in einer zutiefst konkurrenzorientierten, neoliberalen Hegemonie. Eine Hegemonie, die schon seit vielen Jahrzehnten aufrechterhalten wird. Durch globale Propaganda, eine ständige Präsenz negativer Schlagzeilen, die zunehmende Isolation der Menschen zueinander und durch die scheinbare Freiheit andauernder Erreichbarkeit, die längst zum Gefängnis geworden ist.
Während die Folgen unserer aktuellen Wirtschaftspraxis auf die Natur weitgehend bekannt sind, ist dies bei den psychologischen und seelischen Auswirkungen noch nicht ganz der Fall. Doch auch diese sind hoch riskant für uns als Gesellschaft. So hat etwa unser ständiges Multitasking oft fatale Folgen für unser Gehirn. Denn dabei werden all unsere negativen Erinnerungen in den Arbeitsspeicher des Gehirns hochgeladen und wir kommen in einen getriebenen Zustand mit erhöhter Stressaktivierung. So fangen wir vieles an, machen wenig fertig und haben dadurch kaum reale Erfolgserlebnisse. Die Frage »Wofür habe ich heute meine Energie verwendet?« ist deshalb Normalität geworden. Die Folgen für unsere Psyche sind eine Mischung aus Angst, Isolation und einem ausufernden Konsumverhalten als Ersatzbefriedigung für fehlende Erfolgserlebnisse und mangelnden Sinn des eigenen Tuns.
Menschen in diesem psychischen Zustand befinden sich oftmals in den sogenannten Bullshit-Jobs, wählen signifikant häufiger autoritäre und unsoziale Parteien und interessieren sich nicht für den Zustand unserer Welt. Zu all dem gesellen sich evolutionär bedingte Fehlannahmen des menschlichen Geistes. Dieser denkt nämlich linear und kann komplexe Systeme intuitiv nicht verstehen. Wenn etwas gut ist, muss mehr davon besser sein, so der Glaube. Doch stimmt dies in komplexen Systemen nie, und irgendwann wird mehr vom Guten dann schlechter. Mehr Kommunikation, mehr Besitz, mehr Konsum führen nicht zu einer besseren, freudvolleren und gesünderen (Innen-)Welt, sondern ins genaue Gegenteil.
In dieser Situation schließt das Buch von Julia Buchebner und Stefan Stockinger eine wichtige Lücke. Denn eine nachhaltige Entwicklung der Welt beginnt nicht durch politische Ankündigungen für das Jahr 2050, sondern vor allem beginnt sie in den Köpfen und Herzen von uns Menschen. Vom Zustand des Planeten als Spiegel unserer eigenen Befindlichkeit hin zur Vision eines umfassenden Wandels spannen sie dabei einen breiten Bogen. Sie führen uns in Gefilde, mit denen man beim Thema Nachhaltigkeit oft nicht in Berührung kommt. Wird doch nachhaltige Entwicklung zumeist anhand von Veränderungen der äußeren Welt gemessen – CO2- Reduktion, Plastikverbot, nachhaltige Landwirtschaft und vieles mehr. Julia und Stefan hingegen spüren den Entstehungsbedingungen und der Entfaltung nachhaltiger Entwicklung im Innen nach.
Es mag zwar durchaus vorkommen, dass Veränderungen im Außen eine innere Veränderung nach sich ziehen. Doch auch äußere Entwicklungen wie Gesetze und Vorschriften haben letztlich immer ihren Ausgang in den Gedanken, Gefühlen und Haltungen von Aktivisten, Politikern oder anderen Menschen in entsprechender Vorbildfunktion. Wir landen also wieder im Innen.
Welche Werte werden uns in einer Gesellschaft vermittelt, in der sich alles um Äußerlichkeiten dreht? Wie wirkt sich das auf unsere emotionale Kompetenz, Empathie und Kooperationsfähigkeit aus? Welche Weltsicht erlangen wir, wenn wir bereits in der Schule möglichst alles auswendig lernen sollen und somit unauffällig an das hierarchische System angepasst werden?
Wird uns in den meisten Universitäten, Ausbildungszentren und Unternehmen nicht von vornherein abtrainiert, was echte Offenheit und Neugier überhaupt bedeuten? Und können wir als Gesellschaft in solch einem Umfeld überhaupt jemals wahrhaft erwachsen werden, unser Selbst herausbilden, ein selbstständiges Denken entwickeln und somit unsere soziale und ökologische Verantwortung übernehmen?
Diese und viele andere Fragen werden Julia und Stefan aufgreifen und von verschiedenen Seiten beleuchten. Die Autoren beschreiten mit uns einen systematischen Weg, der ganz unverfänglich beginnt, ehe er uns über unsere tiefsten Tiefen schließlich zu unseren höchsten Höhen führt und so – möchte man sagen – den Kreis gar nicht schließt, sodass wir dann wieder am Anfang stünden, sondern uns viel eher als Absprungrampe dient. Als Absprungrampe zur inneren Entwicklung und zur wirklichen Entfaltung dessen, was in uns steckt. In vollem Vertrauen darauf, dass sich in jedem von uns letztlich etwas Gutes entfalten möchte.
Am Beginn dieser Reise werden wir neugierig gemacht, unsere Wertehaltungen zu reflektieren und die Frage zu stellen, welche Werte im eigenen Verhalten zum Ausdruck kommen. Das ist wichtig, stellt doch das Bewusstsein über die eigenen Werte den ersten Baustein innerer Entwicklung dar.
Doch mit der Betrachtung von Werten gibt sich dieses Buch nicht zufrieden – danach geht es erst richtig los! In wahrer Ehrlichkeit vor uns selbst lernen wir auch unsere Schatten kennen und widmen uns unseren Verdrängungs- und Verleugnungsmechanismen. Angst vor Mangel, Angst vor Wertlosigkeit, vor Verletzt-Werden, vor Ausgrenzung, vor dem Scheitern. Nur wer seine Schatten kennt und umarmen lernt, kann emotional reifen, muss nicht mehr vor ihnen davonlaufen oder sie auf andere projizieren, sondern kann sie in sein Selbst integrieren. Und das schafft gleichsam die Basis für echte Empathie und eine Kultur der Menschlichkeit und des Miteinanders.
Nach dem Tal der Schatten sind wir schließlich bereit, mit Julia und Stefan in Höhen vorzudringen, die wir am Beginn des Buches noch gar nicht geahnt hätten. Geht es doch letztlich darum, zu erkennen, dass nichts unabhängig existiert. Wir sind zutiefst verbunden mit den Menschen in unserem Leben, mit dem, was uns unmittelbar umgibt, mit der Natur, mit allen Lebewesen und mit der allumfassenden Existenz allen Seins. Vorsicht an dieser Stelle vor »aufgeladenen« Worten wie »Schöpfung« oder »Spiritualität«. Sind sie doch nur Versuche, uns dem ewigen Rätsel unserer Existenz anzunähern, das wir doch niemals lösen können. Denn unser Leben, in dem alles, was wir wahrnehmen, nur in uns selbst passiert, in dem ständig wir selbst im Mittelpunkt stehen, kann uns auf wundersame Weise doch nur dann wirkliche Erfüllung und Geborgenheit geben, wenn wir unsere Verbindung mit allem anderen anerkennen, pflegen und verantwortungsvoll gestalten.
So zeigen uns Julia Buchebner und Stefan Stockinger in diesem wunderbaren Buch, wie wir zum Kern unseres Wesens vordringen können, um dann unsere Welt zu verändern. Und dies im Vertrauen darauf, dass das Beste in uns immer schon da ist.
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Lalouschek
Facharzt für Neurologie, Biologe, Systemischer Coach, Buchautor, Lehrstuhl für Psychosomatik an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien, Gründer der Initiative planetYES für nachhaltige Entwicklung – www.planetyes.com
Wien, im März 2021
Wir Autoren sind seit 15 Jahren im Bereich der Nachhaltigkeit aktiv. In dieser Zeit ist uns eine Sache klar geworden: Die Welt von morgen braucht mehr als nur neue Technologien oder Gesetze. Sie braucht einen generellen Werte- und Bewusstseinswandel – und dieser beginnt zuallererst in uns selbst!
Da solch eine ganzheitliche Verwandlung aber nicht allein im Kopf stattfinden kann, haben wir in diesem Buch auch Elemente für das Herz und den Körper mit eingebaut. In jedem Kapitel findest du also Übungen (Ü) mit Fragen zur Selbstreflexion, Meditationsanleitungen und andere Körperübungen. Wir laden dich ein, diese Übungen in Ruhe durchzuführen, um den größten Nutzen aus diesem Buch zu ziehen und deiner eigenen Tiefe noch ein Stück näherzukommen. Wir haben die Übungen in vielfacher Weise sowohl mit Seminarteilnehmern als auch bei uns selbst angewandt und freuen uns, sie nun mit dir teilen zu dürfen.
Weiters möchten wir erwähnen, dass wir uns nach langen Überlegungen gegen eine geschlechterspezifische Differenzierung entschieden haben. Eine politisch korrekte Ansprache aller Geschlechter hätte viele Textstellen sehr sperrig klingen lassen und den Lesefluss unterbrochen. Wenn wir also von Pionieren sprechen, sind auch immer die Pionierinnen gemeint. Reden wir von Bürgern, so reden wir natürlich auch von den Bürgerinnen. Wir hoffen, dass du unserer Entscheidung für das generische Maskulinum Verständnis entgegenbringen kannst und dich auch als Frau oder als Mensch mit anderer Geschlechtsidentität in all unseren Texten angesprochen fühlst!
Nun wünschen wir dir eine spannende Lektüre. Solltest du im Anschluss unseres Buchs an der praktischen Vertiefung der Inhalte interessiert sein und uns zu einem Vortrag oder Seminar einladen wollen, so freuen wir uns über eine Kontaktaufnahme über den Verlag oder unsere Webseite www.zukunftsalchemie.at.
Für Mutter Erde und all ihre wundervollen Geschöpfe.
Für die Menschen und die Liebe in ihren Herzen.
Für alles, was unser Leben so schön und lebenswert macht.
Mögen wir mutig neue Wege gehen
und gemeinsam eine neue Zeit auf Erden einläuten.
Hello, Hola, Bonjour – willkommen in der westlichen Welt!
Freu dich, du wurdest an einem der besten Orte in einer der besten Zeiten unserer gesamten Menschheitsgeschichte geboren. Kaum zuvor lebten so viele Menschen in einer so sicheren Umgebung mit beinahe endlosen Möglichkeiten und zudem genügend Zeit und Geld, diese auch nutzen zu können.
Wer fremde Länder besuchen will, steigt einfach ins Flugzeug und fliegt hin. Will man es dabei noch gemütlich haben, bucht man First Class. Braucht es diese Vielfalt auch im eigenen Zuhause, besorgt man sich Möbel, Kleider, Obst und Gemüse aus allen möglichen Weltregionen zum Spottpreis im Einkaufscenter um die Ecke. Und wem diese reale Welt noch immer nicht genügt, der steigt über die Virtual Reality in einen gänzlich neuen Erfahrungsraum jenseits aller Grenzen ein.
Uns geht es gut, zumindest gesamt gesehen. Und selbst wenn es uns nicht gut ginge, würden wir es wohl kaum merken. Denn wir haben gelernt, uns immer und überall zu vergleichen. Und solange es uns besser geht als irgendwelchen anderen, geht es uns irgendwie auch gut, oder?
Um auf Nummer sicher zu gehen, haben wir noch entsprechende Gradmesser entwickelt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist ein solcher. Ist es gestiegen, geht es uns gut. Liegt das Wirtschaftswachstum höher als woanders, geht es uns gut. Haben wir ein neues Auto, Handy, Spiel oder Fitnessgerät, geht es uns gut. Sind diese Dinge dann noch eine Spur teurer, exklusiver oder auch preiswerter als die von jemand anderem, geht es uns manchmal sogar noch besser. Und weil sein Auto exklusiver war als ihr Auto, gleichzeitig das ihre aber preiswerter als das seine, sind alle zufrieden. Eine klassische Win-win-Situation, irgendwie jedenfalls.
Viele von uns leben also in dem Glauben, die bestmögliche Welt bereits erschaffen zu haben. Und weil uns dieser Glaube so viel wert ist, sind wir auch bereit, ihn um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Doch dieser Preis wird immer höher. Für die Erhaltung unserer Wirtschaft bezahlen wir mit unserem Sozialsystem. Für den Luxus Tausender Konsumgüter bezahlen wir mit ständigen Umweltkatastrophen. Und für unsere Gesundheit bezahlen wir seit Corona sogar mit einer drastischen Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit. Die Rechnung wird immer länger und unser Budget immer geringer, doch das scheint uns nicht zu stören. Selbst wenn uns immer mehr dämmert, dass unser westliches System womöglich doch nicht so genial ist wie angenommen, erscheint es uns noch immer besser als alle anderen Systeme. Und somit muss es auch erhalten bleiben, koste es, was es wolle!
Gefangen in diesem Glauben würden wir am liebsten ewig so weitermachen, und alles wäre »in Ordnung«. Wenn da nicht noch diese andere Welt wäre, die nicht-westliche. Trotz unseres Empfindens, es gehe uns besser als anderen, begreifen wir, dass es manch anderen gerade deshalb schlecht geht, weil es uns so gut geht. Keine neue Information, schon klar. Spätestens seit Social Media ist auch den Letzten unter uns bewusst geworden, dass unser westlicher Lebensstandard an anderen Orten oft zu verheerenden Problemen führt. Doch auch hierauf hatten wir lange Zeit die Antwort, dass wir unseren Lebensstil, unsere Werte und Güter einfach nur in die gesamte Welt exportieren sollten, und irgendwann würde es allen Menschen ebenso gut gehen wie uns im Westen. Schon wieder eine Win-win-Situation. Herrlich, zumindest in der Theorie.
Die Praxis jedoch erzählt eine andere Geschichte, als oben beschrieben. Denn unser Planet, der als Grundlage für all diese Überlegungen dient, ist kein endloses Rohstofflager. Und damit er »funktioniert« und seine Leben spendenden Aufgaben überhaupt für uns übernehmen kann, braucht er ganz spezielle Bedingungen und auch jede Menge Platz und Zeit. Für unseren »Masterplan« – siehe oben – bedeutet dies wiederum das Aus. Ein ewiges »Weitermachen wie bisher« ist also nicht möglich. Denn egal, wie gewieft das manche Ökonomen auch durchrechnen mögen, die Natur wird dabei nicht mitspielen. Unsere Ressourcen sind eine Limited Edition, Ende der Geschichte.
Beispiel Plastikverschmutzung
Um zu sehen, dass diese Geschichte langsam wirklich ihr Ende nimmt, braucht man nicht sonderlich weitsichtig zu sein. Nehmen wir als erstes Beispiel die seit Jahren heftig diskutierte Verschmutzung durch Plastik zur Hand. Vom Kleinkind bis zur Oma und vom Punk bis zur Konzernerbin sind sich quasi alle einig: Dieses künstliche Material schafft massive Probleme und wir müssen es in den Griff bekommen oder am besten durch Alternativen ersetzen.
Solch eine schöne Einigkeit hat man selten im Umweltbereich. Ein Grund dafür ist wohl, dass wir das Plastikproblem eher weit in der Ferne sehen und uns somit nicht so leicht gegenseitig die Schuld zuschieben können beziehungsweise müssen. Die Bilder in den Medien zeigen vor allem die verschmutzten Meere und Flüsse in Asien. Und jeder, der schon einmal in Indien am Ganges entlangging oder in Bali zur falschen Zeit bei der falschen Strömung das Meer besucht hat, weiß, dass die Bilder nicht lügen. Auch vor der pazifischen Küste der USA tummelt sich ein riesiger Müllstrudel. Der sogenannte Great Pacific Garbage Patch ist der größte seiner Art und hat mittlerweile eine Fläche erreicht, die 19 Mal so groß ist wie Österreich.1 Wer sich zuvor noch gefragt hat, warum wir vom »Ende der Geschichte« sprechen, der hat hier eine erste Antwort.
Apropos Österreich. In der schönen Alpenrepublik haben wir das Plastikproblem ja im Griff, oder? Obwohl wir uns gerne als Recycling-Weltmeister bezeichnen, fällt die Bilanz dann leider doch nicht so gut aus. Im Jahr 2015 benötigte die Herstellung von Kunststoffen mehr als 1,1 Millionen Tonnen Rohstoff. 96 Prozent davon wurden über Erdöl gedeckt. Gerade einmal vier Prozent kamen von recyceltem Regranulat bzw. erneuerbaren Alternativen.2 Bedenkt man, dass wir seit mehreren Jahrzehnten brav unseren Müll trennen und entsorgen, kommt man zu dem Schluss, dass unser derzeitiges Recycling seine Grenzen hat und nur einen geringen Teil zur Lösung des Problems beitragen kann. Und wen wundert’s: Plastik ist nicht nur Bestandteil von Tragetaschen oder Getränkeflaschen, es ist überall! Kaum ein Elektrogerät, Haushaltsartikel oder Baustoff kommt ohne Plastik aus. Mehr als 60 Prozent aller Textilien bestehen teilweise oder gänzlich aus Polyester. All unsere Lebensmittel sind in Kunststoff verpackt, und selbst die meisten Kosmetika enthalten mittlerweile Mikroplastik. Kurz gesagt, wir schmieren uns Erdöl auf die Haut und finden das obendrein noch sexy. Und auch wenn das allein schon verrückt klingen mag, ist es in diesem Fall nicht das eigentliche Problem. Das entsteht erst später. Denn irgendwann waschen wir das Zeug wieder vom Körper ab, wodurch es in den Kanal gelangt, der wiederum in einen Fluss mündet, und somit landet das Mikroplastik schließlich nach langer Reise im Meer. Laut Schätzungen kommt allein im Mittelmeer bereits auf zwei Plankton-Lebewesen ein Teilchen Mikroplastik.3
Und hier im Meer wird es so richtig spannend, denn auf unserer Erde läuft alles in Kreisläufen ab. Anders ausgedrückt: »All you ever do is coming back to you« (Man bekommt im Leben alles zurück). Wenn Meereslebewesen wie Fische oder Muscheln das Mikroplastik in sich aufnehmen und wir sie daraufhin verspeisen, schließt sich der Kreislauf wieder und das Mikroplastik kommt zurück zum Verursacher, dem Menschen. Dieses Mal allerdings nicht auf der Haut über Kosmetika oder Kleidung, sondern gleich direkt in den Körper. Klingt alarmierend, oder? Doch obwohl wir pro Woche im globalen Durchschnitt fünf Gramm Mikroplastik über das Trinkwasser, die Luft und die Nahrung zu uns nehmen, gibt es offenbar keinen Grund zur Sorge.4
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 2019 verkündet, dass Mikroplastik im Körper derzeit kein Problem darstelle.5 Und hört man den ausführenden Organen bei ihren Reden zu, so beschleicht einen das Gefühl, dass selbst die Plastikverschmutzung zum Teil des großen Plans gehören muss. Denn solange es sich ökonomisch rechnet, nehmen wir die Verschmutzung von Natur und Körper offenbar gern in Kauf. Wir können beides ja wieder säubern, sobald sich auch das ökonomisch rechnet. Streng genommen muss es sich also auch hier wieder um eine Win-win-Situation handeln. Wenn mit der Verschmutzung wie auch mit der anschließenden Säuberung etwas verdient werden kann, ist alles in Ordnung.
Wir scheinen nämlich immer noch einem mechanistischen Weltbild zu folgen, wonach auf unserem Planeten alle Vorgänge wiederholbar und reversibel sind. Was auch immer wir zerstören, kann auch wieder repariert werden, so der Glaube. Und diese Sichtweise prägt nicht nur unsere politischen Gremien und Organisationen, auch in weiten Teilen der Bevölkerung hält sie sich nach wie vor. In diesem Denken ist die Natur wie eine Maschine, unbelebt und beliebig steuerbar, frei nach den Wünschen jener Spezies, die sich diese Weltsicht ausgedacht hat. Und so fahren wir – völlig entspannt – gegen eine Wand und wissen dies sogar. Glauben jedoch, diese Wand kurz vor dem Aufprall noch aus dem Weg räumen zu können. Das heißt, sofern es sich ökonomisch rechnet …
Beispiel Artensterben
Ein weiteres großes Thema, das in den vergangenen Jahren mächtig für Schlagzeilen gesorgt hat und selbst hartgesottene Sitzenbleiber vom Sessel heben könnte, ist der Verlust der Biodiversität. Alle zehn Minuten stirbt auf unserer Erde eine Art aus!6 Wir befinden uns somit bereits im sechsten Massensterben in der Geschichte unseres Planeten. Entgegen dem letzten Massensterben können wir diesmal aber keinen Meteoriten als Verantwortlichen heranziehen, sondern müssen uns selbst an der Nase nehmen. Und bevor wir wieder in die Ferne schweifen und dem Artensterben im Amazonas unsere Aufmerksamkeit schenken, sollten wir lieber bei uns zu Hause beginnen. In Deutschland etwa fanden Hobbyforscher heraus, dass der Insektenbestand in den letzten dreißig Jahren um achtzig Prozent zurückgegangen ist. In Österreich sind alle Reptilien- und Amphibienarten entweder auf der Roten Liste oder auf einer Vorwarnstufe dazu. Und auch die Schweiz zählt mehr als 4900 bedrohte Tierarten.7 Mechanistisch gesehen kann man diesen Zahlen natürlich entgegnen, dass das Aussterben der Rumpelstilzchen-Zwergheuschrecke keine Bedrohung für uns Menschen darstellt. Deshalb lassen wir diese stampfende Zwergheuschrecke mal außer Acht und beginnen mit einer altbekannten Artgenossin, der Biene.
»Stirbt die Biene aus, so haben wir Menschen nur noch fünf bis zehn Jahre zu leben.« Immer wieder erschüttern uns Wissenschaftler mit solch haarsträubenden Thesen. Auch wenn wir Autoren dieser Drastik nicht ganz zustimmen, ist uns das Thema sehr wichtig, denn auch wir wollen in Zukunft nicht nur Brot mit Kartoffeln und Reis essen. So ähnlich könnten nämlich unsere Mahlzeiten in einer Zukunft ohne Bienen aussehen. Immerhin sind die bestäubenden Insekten, allen voran die Biene, für etwa ein Drittel all unserer Ernteerträge verantwortlich. Ohne Bienen gäbe es also kaum noch Äpfel, Birnen, Erdbeeren, Zwetschgen, Melonen, Kaffee, Kürbisse, Karotten, Zwiebeln oder auch Bohnen. Dies würde zudem unsere Versorgung mit Proteinen, Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen, wie etwa Eisen, massiv beeinträchtigen. Außerdem würden die Blühpflanzen verschwinden und unsere Landschaft würde noch ein Stück kahler werden, als sie es ohnehin bereits ist.
Anhand der Biene sieht man also schon sehr gut, wie sehr wir Menschen von der Natur abhängig sind. Bedenkt man nun, dass neben der Varroamilbe die Pestizide, vor allem die Klasse der Neonicotinoide, stark zum Bienensterben beitragen, wird die Kehrseite unserer wechselseitigen Abhängigkeit sichtbar. Und auch wenn die Pestizidhersteller ihre Verantwortung gern herabspielen, ist vielen Menschen langsam klar geworden, dass sich in unserem Umgang mit der Natur etwas ändern muss. Das Bienensterben hat uns hierbei ungewollt geholfen, weil es direkt vor unserer Haustür stattfindet und somit einen größeren Einfluss zu haben scheint als andere Umweltprobleme: Wenn der Imker oder die Imkerin aus der Nachbarschaft ihre Völker verlieren, brennt sich das in unseren Köpfen ein – und zwar stärker, als wenn ein Fisch in den Weiten des Mittelmeers an Plastik zugrunde geht.
Beispiel Klimawandel
Ein weiteres globales Thema, das uns wohl wie kein anderes im 21. Jahrhundert prägen wird, ist der Klimawandel. Solltest du womöglich gedacht haben, wir könnten zur Nische jener gehören, die den Klimawandel ablehnen oder gar leugnen, müssen wir dich enttäuschen. Wir sind seit über einem Jahrzehnt im Bereich der Nachhaltigkeit tätig und deshalb kommt für uns die Leugnung des Klimawandels in etwa dem Glauben gleich, die Erde wäre eine Scheibe. Abgesehen von ein paar Astronauten kann niemand wirklich sagen, dass unsere Erde rund ist, dennoch erscheint alles andere de facto unmöglich und alle Forschungsergebnisse und Bilder sprechen dieselbe Sprache. Somit gibt es bei diesem Thema schon lange eine breite Einigkeit: Die Erde ist keine Scheibe, Punkt. Auch beim Klimawandel gibt es – glücklicherweise – eine ebensolche Einigkeit. Dass sich das Klima auf unserer Erde über die Zeit hinweg immer verändert hat, wissen wir schon lange. Dass dies derzeit ungewöhnlich schnell passiert und durch uns Menschen verursacht wird, wurde dann im 20. Jahrhundert entdeckt.
In den 1950er-Jahren konnten die Klimaberechnungen erstmals mit Computern unterstützt werden, und seit den späten 1960er-Jahren fließen die Messungen von Satelliten in die Klimatologie mit ein. Eine breite Forschung, auch seitens der Ölkonzerne, gab es in den 70er- und 80er-Jahren. 1988 wurde schließlich das IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) – der Weltklimarat – gegründet. Dies war zugleich der Zeitpunkt, als die Klimaproblematik auf breiter Ebene erkannt wurde und die Ölfirmen begannen, im großen Stil ihre eigenen Forschungsergebnisse zu leugnen und viele Millionen für Desinformationskampagnen auszugeben.8 Dazu mehr in einem späteren Kapitel.
Neu ist das Phänomen Klimawandel also schon lange nicht mehr und wir können bei seiner Beschreibung auf weit über fünfzig Jahre Forschungsergebnisse zurückgreifen. Mithilfe von Eisbohrkernen können wir heute genaue Informationen über das Klima der vergangenen Jahrtausende gewinnen. Abbildung 1 zeigt uns dazu, wie sich die Konzentration von Kohlendioxid in der Erdatmosphäre im Lauf der Zeit verändert hat. Demzufolge gab es die aktuelle CO2- Konzentration in den vergangenen 800.000 Jahren, ja wahrscheinlich sogar drei Millionen Jahren, nicht!
Abb. 1: Der CO2-Gehalt unserer Atmosphäre in den vergangenen 800.000 Jahren.9
Der starke Anstieg anthropogener Treibhausgasemissionen, hauptsächlich angetrieben durch das Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum seit Beginn der Industriellen Revolution, hat in weiterer Folge auch zu einem Anstieg der globalen Erdtemperatur geführt. So wissen wir heute, dass die Temperatur im globalen Mittel um etwa 1 °C im Vergleich zum vorindustriellen Niveau angestiegen ist. Für Europa war das Jahr 2018 mit einem Anstieg um 1,78 °C das bisher heißeste in der Messgeschichte.10 Auf unserem Kontinent haben wir mittlerweile vier Jahre in Folge die Ein-Grad-Grenze überschritten11, und seit den 1970er-Jahren war jedes Jahrzehnt wärmer als das vorherige12. Generell war es noch nie während der letzten 2000 Jahre – und sehr wahrscheinlich auch noch nie im Lauf der menschlichen Zivilisation – so warm wie heute.13
Nicht nur die wissenschaftlichen Ergebnisse sprechen diese Sprache, auch in unserem Alltagsleben ist dieser Wandel spürbar. Dass die Pegelstände großer Flüsse in den vergangenen Jahrzehnten gesunken sind, ist nichts Neues. In den letzten Sommern kam es durch die extremen Dürreperioden dazu, dass sie noch einmal deutlich weniger Wasser führten als sonst und sogar die Schifffahrt eingestellt werden musste. 2018 etwa hatte der Rhein als Deutschlands wichtigste Wasserstraße bei Düsseldorf zeitweise nur noch eine Fahrwassertiefe von weniger als zwei Metern.14 Neben dem Wasserverkehr musste in diesem Jahr auch die Landwirtschaft starke Einbußen hinnehmen. Die Hektarerträge deutscher Landwirte lagen bei Getreide um 16 Prozent niedriger als in den Vorjahren, und wer im damaligen Sommer per Auto oder Bahn quer durch Mitteleuropa unterwegs war, konnte sich von den vertrockneten Feldern selbst überzeugen.15
Neben den Feldern hat auch unser geliebter Wald massive Probleme mit den veränderten Temperaturen der letzten Jahrzehnte. Unsere hochgezüchteten Fichtenwälder wollen es eigentlich kühl und sondern bei zu starker Hitze ein Stresshormon ab, das wiederum den Borkenkäfer anlockt. In einer Monokultur voll von Fichten hat dieser dann ein leichtes Spiel und kann binnen einer Saison ganze Waldstriche dem Erdboden gleichmachen. Auch deshalb, weil er sich aufgrund längerer Wärmeperioden jährlich einmal mehr fortpflanzen kann, als dies früher der Fall war.
Unsere Normalität ist eine Krise
Klimawandel, Artensterben und Plastikverschmutzung sind nur drei von vielen Dutzenden Beispielen, die bezeugen, wie wir Menschen auf die Natur Einfluss nehmen und sie schädigen oder irreversibel zerstören. Im Anthropozän, dem Erdzeitalter des Menschen, haben wir bereits sieben von neun planetaren Grenzen überschritten und damit die Stabilität und Resilienz unserer Ökosysteme massiv gefährdet.16 Wer behauptet, dass unsere Normalität auch ohne Coronavirus einer einzigen Krise gleicht, der liegt also gar nicht so falsch.
Lange Zeit haben wir Menschen uns eingeredet, dass ökologische Probleme nur rein ökologische Folgen mit sich bringen und uns deshalb nicht unmittelbar zu kümmern brauchen. Somit wurde der Schutz der Natur eher als Benefit denn als Notwendigkeit, geschweige denn als etwas Selbstverständliches gesehen. In der Realität haben ökologische Probleme aber immer auch soziale und wirtschaftliche Auswirkungen zur Folge und betreffen uns damit ganz direkt. Als etwa die Ölbohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko nach einer Explosion versank, zerstörten die 800 Millionen Liter an austretendem Erdöl nicht nur das dortige Ökosystem.17 Auch Tausende von Fischern verloren ihre Existenz und der Tourismus und viele zuliefernde Betriebe mussten schließen.18
Wenn heute immer mehr Menschen aufgrund von Trockenheit, Unfruchtbarkeit, Wassermangel oder Waldrodung ihre bäuerliche Lebensgrundlage verlieren, dann machen sie sich auf und flüchten in andere Länder. Dies führt zu massiven Problemen in überfüllten Flüchtlingscamps und in der Folge auch zu sozialen Spannungen in unserer Gesellschaft, die, einfach formuliert, mit fremden Kulturen meist nicht wirklich umzugehen weiß.
Ökologische Katastrophen sind also eng mit sozialen und wirtschaftlichen Problemen verflochten und können zu Hunger, Armut, globaler Ungerechtigkeit oder im schlimmsten Fall zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Und was lange Zeit scheinbar nur auf fremde Länder zutraf, setzt sich mittlerweile auch bei uns immer weiter durch. Unser hiesiges Bienensterben führt auch zum Imkersterben und das wiederum bedroht die Existenz der ohnehin ständig unter Stress stehenden Landwirte. Der Borkenkäfer rodet nicht nur unsere Wälder, er führt auch viele Waldbesitzer in den Ruin. Und unsere durch Stickoxide und Feinstaub belastete Luft führte allein 2016 zu mehr als 400.000 Todesfällen innerhalb der EU.19
All diese Dinge wissen wir und finden sie bedenklich, tragisch oder sogar gefährlich. Doch gleichzeitig ist dies eben auch unsere akzeptierte Normalität. Solange es aber normal ist, unser Land in einzelne Monokulturen zu verwandeln, unsere Felder mit Gift zu bespritzen und unsere Luft mit Dutzenden Abgasen zu verunreinigen, so lange wird sich auch nichts ändern. Und so wird diese Normalität noch zu vielen weiteren Krisen führen und irgendwann unsere eigene Existenz bedrohen.
Wie aber könnte unsere Welt aussehen, wenn wir beginnen würden, diese geltende Normalität von ihrem hegemonialen Thron zu stoßen? Was wäre, wenn es ein neues »Normal« gäbe, das unsere Lebensgrundlagen nicht langfristig ruiniert? Und was, wenn es an uns läge, diese neue Normalität zu erschaffen?
Im 21. Jahrhundert ist es die große Herausforderung unserer Spezies, wieder in Einklang mit der Natur zu kommen und sie in all unserem Tun mit zu bedenken. Damit uns dies als Kollektiv gelingt, braucht es die Anstrengung und Veränderung von jedem Einzelnen von uns. Wie wir bereits gesehen haben, ist unser Umgang mit der Natur eher von Zerstörung denn von Respekt und Miteinander geprägt. Die Verbindung zur Natur ist uns über weite Bereiche abhandengekommen, und viele Menschen haben darüber hinaus auch die Verbindung zu sich selbst verloren.
Könnte es also sein, dass es Parallelen gibt zwischen der Art, wie wir mit der Erde umgehen, und der Art, wie wir mit uns selbst umgehen? Könnte es sein, dass wir Menschen ähnlich kränkeln wie unser gesamter Planet? Wäre es möglich, dass der Zustand der Welt lediglich ein Spiegel für den inneren, geistigen und emotionalen Zustand der Menschheit ist? Wir sehen ein paar spannende Parallelen, die wir im Folgenden näher beleuchten wollen.
Burn-out im Menschen, Burn-out in der Natur
Beginnen wir mit der immerzu produktiven Marktwirtschaft. Ob diese wirklich produktiv ist, sei dahingestellt. Fakt ist, sie will es sein! Und da uns in unserer Kurzsichtigkeit nichts Produktiveres einfällt als eine Maschine, haben wir die gesamte Arbeitswelt auch entsprechend diesem Maschinen-Denken gestaltet. Nicht nur das, wir haben es sogar so weit gebracht, dass sich der heutige Mensch seine eigene Daseinsberechtigung erst verdienen muss. Es scheint, als wären wir nur dann wertvoll, wenn wir funktionieren, uns zu Tode arbeiten und dabei irgendetwas produzieren.
Mit diesem maschinellen »Funktionieren« in der Arbeitswelt geht die Tatsache einher, dass wir auch gesellschaftlich funktionieren müssen. Wir sollen brav sein, zur Arbeit gehen, unser Geld verdienen und es am besten allen anderen recht machen. Ob wir es dadurch auch uns selbst recht machen, steht oft nicht zur Debatte. Solche Bestrebungen beschreiben Psychotherapeuten wie der Deutsche Wolf Büntig als eine Dynamik, die man an der Basis aller psychosomatischen Krankheiten sieht.20 Und dass diese vor allem in der Arbeitswelt immer stärker zunehmen, ist seit dem Massenphänomen Burn-out kein Geheimnis mehr.
In einer 2019 veröffentlichten Studie mit rund tausend Erwachsenen wurde festgestellt, dass 19 Prozent der österreichischen Bevölkerung zumindest erste Anzeichen dieser Störung aufweisen, 17 Prozent sich in einem Übergangsstadium befinden und 8 Prozent als erkrankt gelten.21 Die Studienautoren erklären ferner, dass sich gemäß ihrer Forschung nur rund die Hälfte, 52 Prozent, als gesund betrachten können. Unser aktueller Umgang mit Arbeit lässt uns also ausbrennen und macht uns im schlimmsten Fall sogar krank. Zur Erklärung: »Ein Burn-out ist ein emotionaler, geistiger und körperlicher Erschöpfungszustand nach einem vorangegangenen Prozess hoher Arbeitsleistung, Stress und/oder Selbstüberforderung.«22
Die Analogie zur Natur ist in diesem Fall recht einfach zu sehen. Auch unser Planet leidet an einer Art Burn-out. Unser hohes, krank machendes Arbeitspensum führt natürlich auch zu einer dauerhaften Produktion aller möglichen Güter und dies wiederum zur Erschöpfung des Planeten. Die nachwachsenden wie auch die nicht nachwachsenden Ressourcen erschöpfen sich, die fruchtbaren Böden gehen zur Neige und die meisten Ökosysteme stehen, ebenso wie wir Menschen, ständig unter Stress.
Gerät ein Mensch ins Burn-out, so ist er gut beraten, sich erst einmal völlig zurückzuziehen und eine längere Auszeit zu nehmen. Auch eine mehrwöchige Kur in einer entsprechenden Klinik wird als sinnvolle Maßnahme genannt. Zusätzlich ist ein genereller Lebenswandel vonnöten, soll dieser Zustand nicht einige Jahre später erneut auftreten. Um dies zu begreifen, braucht man in der Regel kein Arzt zu sein. Der gesunde Menschenverstand reicht hierfür völlig aus.
Leider reicht dieser Menschenverstand meist nicht weit genug, um auch der Natur eine solche Auszeit zu gewähren. Gerade unsere Ökosysteme bräuchten dringend Zeiten der Ruhe, um nicht ins Burn-out zu geraten. Viele davon haben Tausende Jahre benötigt, um entstehen zu können und eine Vielfalt hervorzubringen, die wir an manchen Orten glücklicherweise noch immer zu sehen bekommen. Diese Vielfalt wird bald schon verschwinden und zahlreiche Ökosysteme werden sich nie wieder von ihren Beschädigungen erholen können. Ebenso wie jene Menschen, die ihre Symptome zu lange ignorieren und irreversible Schäden an Körper und Geist erfahren.
Ein Verständnis für die Ruhezeiten der Natur fehlt im gesellschaftlichen Bewusstsein jedoch meist gänzlich. Die einzigen Auszeiten, die unsere Erde in den vergangenen zwanzig Jahren erlebt hat, waren die Wirtschaftskrise rund um 2009 und die Coronakrise ein Jahrzehnt später. In diesen Zeiträumen lässt sich sogar anhand wissenschaftlicher Kennzahlen darstellen, dass eine kurzfristige Erholung auf unserem Planeten stattfand. So wanderte in diesen Zeiten etwa der »Welterschöpfungstag«, an dem die menschliche Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen die Kapazität der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen übersteigt, weiter nach hinten.23 Darüber hinaus kennen wir vermutlich alle die im April 2020 aufgenommenen Bilder aus Venedig, wo die sonst dauerbefahrenen Kanäle wegen der Ausgangsbeschränkungen einmal leer blieben, wieder klares Wasser führten und von zahlreichen Fischen und Schwänen besiedelt wurden. Oder die Luftbilder aus Frankreich, Spanien und China, wo der Ausstoß von Stickoxiden aufgrund der Corona-Maßnahmen im Vergleich zum Vorjahr drastisch zurückging.
Da wir nun aber wieder alles daransetzen, weitermachen zu können wie zuvor, war diese Erholung nur eine kurze Verschnaufpause für Mutter Erde. Verglichen mit dem menschlichen Burn-out war es wohl wie ein Wochenendtrip in den Wald, nach dem man am Montag pünktlich um 7 Uhr wieder zur Tat schreitet – um sich selbst und dem Planeten den Rest zu geben.
Der kollektive Pillenwurf
Nicht nur bei psychischen Symptomen wie dem Burn-out gibt es Analogien zwischen dem planetaren Zustand und uns selbst. Auch beim Umgang mit unserem Körper können wir das Ausmaß unseres Irrwegs gut sehen. Ein wacher Mensch weiß, dass ein gesunder Körper nur dann ein solcher bleibt, wenn man ihn täglich pflegt. Zu dieser Pflege gehören neben einer guten Work-Life-Balance und einer ausgewogenen Ernährung vor allem auch regelmäßige Bewegung, Sport, Meditation oder andere körperliche Betätigungen. Und da der Gesundheitsmarkt gerade Hochkonjunktur hat, hat diese Entwicklung schon zahlreiche Köpfe unserer geliebten Spezies erreicht.
Gleichzeitig gibt es immer noch zu viele von uns, die von all dem entweder nicht viel halten oder aber noch nichts mitbekommen haben. Sozialisiert nach einem veralteten Weltbild, behandeln sie ihren Körper so, als wäre er eine Maschine. Brummt das Köpfchen, gibt’s Tablette Nummer eins, bei Magenbeschwerden die zwei, im Grippefall dann Pille Nummer drei, Tablette Nummer vier hilft bei Mangel an Vitamin D und die fünfte lässt die Muskeln schneller wachsen. Dem nicht genug, wird bei Beschwerden aller Art zur Sicherheit noch eine Reihe Antibiotika nachgelegt, frei nach dem Motto: »Hilft es nicht, dann schadet’s auch nicht.«
Dass ein gesunder Mensch bei entsprechender Lebensführung über weite Lebensstrecken fast zur Gänze ohne Medikamente auskommen kann, ist vielen nicht einmal mehr bewusst. Zu sehr hat sich der Griff zur Pillenschachtel in unser Bewusstsein eingebrannt. So leben viele von uns ihr Leben unachtsam vor sich hin – im guten Glauben, dass es für alles, was kommt, die passende Tablette geben wird. Und wenn nicht, dann setzt sich dieses Spielchen im Krankenhaus eben fort. Bis man irgendwann doch mal in die Grube fährt.
Im Bereich der Nachhaltigkeit lässt sich eine analoge Geschichte erzählen. Obwohl wir in manchen Bereichen schon erkannt haben, dass ein Umdenken dringend nötig ist, betreiben wir dies bestenfalls halbherzig. Auch im Umgang mit unserer Natur hat sich ein Verhalten eingestellt, das einem kollektiven Tabletteneinwerfen ähnelt.
Eine wache Gesellschaft denkt die Natur als ihren Leben spendenden Körper bei all ihren Handlungen von vornherein mit. Von einem wachen Zustand sind wir derzeit jedoch weit entfernt. Wir schädigen uns und unseren Heimatplaneten in dem irrwitzigen Glauben, dass es auch in diesem Fall für alle Probleme die passende Tablette geben wird. Anstatt etwa unsere fossilen Heizsysteme vollständig auf umweltfreundliche Alternativen umzustellen, entwickeln wir lieber immer neue Filter für unsere Schornsteine. Anstatt das Müllproblem an der Wurzel anzugehen, bauen wir immer bessere Müllanlagen. Und anstatt unseren Fleischkonsum und damit unsere Treibhausgase zu reduzieren, entwickeln wir Mundschutzmasken für Kühe. Nicht wegen Corona, sondern um die Methangase aus den Rindermäulern ein klein wenig zu reduzieren. Diese Gummimasken sind mit solarbetriebenen Ventilatoren versehen und sollen die Ausatmungen der Tiere in eine Kammer leiten und dort unschädlich machen.24
Auch wenn viele dieser Ideen sicherlich einer guten Absicht entspringen, beschäftigen sie sich einzig und allein mit der Bekämpfung des Symptoms und werden das Problem somit nie lösen können. Das ist schade, denn für viele Probleme gäbe es bereits sehr vielversprechende Alternativen, die wirklich einen Unterschied machen könnten. Für die Schonung der Ökosysteme gibt es die biologische Landwirtschaft, für den gerechten Handel haben wir das Fair-Trade-System eingeführt, und das Verkehrsproblem löst sich womöglich über eine Stärkung der öffentlichen Verkehrsmittel mit gleichzeitigem Carsharing von Elektroautos mit Strom aus PV-Anlagen.
Dank unzähliger Pioniere haben wir in den letzten Jahrzehnten neue Möglichkeiten entwickelt, wie eine zukunftsfähige Gesellschaft aussehen könnte und wie wir die ökologische Krise in den Griff bekommen. Würden wir diese Ideen als Masterplan verstehen, so könnten sie tatsächlich die Gesundung unserer Erde vorantreiben. Doch leider verwenden zu viele von uns diese neuen Möglichkeiten nur als Tablette für zwischendurch.
Als Geschenk kauft man seinen Liebsten gern mal die Pralinen in Bioqualität, im Alltag bleibt man bei jenen vom Diskonter. Eine Spende für den brasilianischen Regenwald ist immer drin, bei der Verhandlung mit den Bauern muss man aber doch die Preise drücken, um seine Boni zu erhalten. Und auch wenn man im Alltag mal gern aufs Auto verzichtet, so ist der jährliche Städtetrip über den Atlantik einfach ein Muss. Manchmal kaufen wir auch Öko-Schuhe, regionales Biogemüse, lassen die Eckbank vom örtlichen Tischler bauen und genießen die Firmenfeier am Bauernhof in der Region. Beim großen Rest unserer Lebenszeit heißt es dann halt doch wieder business as usual.
Man könnte diese Beispiele endlos weitertreiben und würde zu dem Schluss kommen, dass wir in Mitteleuropa zu einer Art Wochenend-Ökos geworden sind. Überall, wo es leicht geht, sind wir bereit, Abstriche für die Natur zu machen. Überall dort, wo nur eine kleine Tablette zu schlucken ist, tun wir dies gern, der Umwelt zuliebe. Der große Bewusstseinswandel sieht aber anders aus. Darum lass uns doch einmal ausmalen und untersuchen, wie ein echter und tiefgreifender Wandel aussehen könnte!
Nachhaltigkeit bedeutet, Ökonomie, Ökologie und Soziales miteinander in Einklang zu bringen und heute das Leben so zu führen, dass die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen nicht gefährdet und dauerhaft erhalten werden. Leider ist unsere Lebensweise von solch einer Nachhaltigkeit weit entfernt. Wenn uns die vorigen Kapitel eines klargemacht haben sollten, dann, dass die missliche Lage, in der wir uns heute global befinden, nach mehr als nur Korrekturmaßnahmen verlangt. Kleine, punktuelle oder symptomorientierte Rettungsaktionen sind zwar wichtig, reichen aber einfach nicht aus, um eine zukunftsfähige und dauerhaft lebenserhaltende Gesellschaft zu verwirklichen.
Was wir heute vielmehr brauchen, ist eine Nachhaltigkeit, die als ganzheitlicher und umfassender Wandel in Erscheinung tritt. Ein Wandel, der alle Bereiche der Gesellschaft berührt: die Spielregeln und Funktionsweisen unserer Wirtschaftskreisläufe und Arbeitswelten; die Gestaltung unseres gesellschaftlichen und sozialen Zusammenlebens; die Fragen von Verteilungsgerechtigkeit im Hinblick auf Chancen, Macht und Kapital; die Art, wie wir demokratische und partizipatorische Prozesse in der Politik einsetzen; das Selbstverständnis, das wir von uns selbst haben, und wie wir auf die uns umgebende Welt blicken; das Ausmaß an Wertschätzung und Liebe, das zu schenken wir imstande sind; die Art und Weise, wie wir unsere Bedürfnisse befriedigen, und auf Basis welcher Ethik wir darüber entscheiden; und nicht zuletzt ein genaues Prüfen unserer Konzepte von Wohlstand und Lebensqualität sowie unserer Wertehaltungen und Prioritäten.
Bei einer wirklich zukunftsweisenden Vision darf es längst nicht mehr nur darum gehen, kein Unheil anzurichten oder die gesetzlichen Mindestanforderungen zu erfüllen. Vielmehr muss sie regenerative Kulturen25 und Praktiken hervorbringen, die die Schäden der Vergangenheit wieder sanieren und ein gesundes Gleichgewicht zwischen Mensch, Gemeinschaft und Natur herstellen. Nicht Schadensbegrenzung, sondern echte Heilung, Regeneration und Kooperation mit der Natur sind das Gebot der Stunde!
Wie also könnte diese Welt aussehen, in der eine solch tiefgreifende Trendumkehr bereits gelungen ist? Welche Zukunft könnten wir erschaffen, wenn wir alle erforderlichen Kräfte für die Umsetzung beisammenhätten und entsprechend einsetzen würden? Wie würde sich das Leben auf Erden wohl gestalten, wenn Nachhaltigkeit und Naturverbundenheit auf allen Ebenen Eingang in unsere Lebensweise gefunden hätten?
Anstatt nur die Probleme zu betrachten, sollten wir uns wieder verstärkt mit Utopien und Visionen beschäftigen! Warum nicht einmal träumen von der Welt von morgen, wie wir sie uns wünschen? Sind es denn nicht die Träume, die unsere Sehnsucht schüren und uns Motivation und Antrieb für die Umsetzung schenken? Sind es nicht die positiven Zukunftsbilder, die uns Lust auf dieses schöne Morgen machen – viel mehr, als es die angstmachenden Katastrophenszenarien je vermögen?
Das gute Leben für alle
»Stellen wir uns eine Welt vor, die frei von Armut, Hunger, Krankheit und Not ist und in der alles Leben gedeihen kann. Eine Welt, die frei von Furcht und Gewalt ist. Eine Welt, in der alle Menschen lesen und schreiben können. Eine Welt mit gleichem Zugang zu hochwertiger Bildung, zu Gesundheitsversorgung und Sozialschutz. Eine Welt, in der das körperliche, geistige und soziale Wohlergehen gewährleistet ist. Eine Welt, in der wir unser Bekenntnis zum Menschenrecht auf einwandfreies Trinkwasser und Sanitärversorgung bekräftigen und in der erschwingliche und nährstoffreiche Nahrungsmittel in Fülle und für jeden vorhanden sind. Eine Welt, in der die menschlichen Lebensräume sicher, widerstandsfähig und nachhaltig sind und in der alle Menschen Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher und nachhaltiger Energie haben.«26 Diese Zeilen sind keineswegs nur das Wunschdenken von ein paar weltfremden Träumern. Nein. Sie finden sich etwa in der Präambel der wegweisenden Agenda 2030 der Vereinten Nationen (UN).
Deshalb möchten wir dich fragen: Ist es denn nicht dieses »gute Leben für alle«, nach dem wir Menschen uns eigentlich sehnen? Wollen wir denn nicht alle in einer Welt leben, in der auch unsere Kinder noch die unschätzbare Schönheit des Planeten mit eigenen Augen sehen und erfahren können? Wünschen wir uns denn nicht alle dieses Leben aus dem Herzen, das uns friedfertig, liebevoll und mitfühlend mit unserer Mitwelt sein lässt? Wollen wir denn nicht alle diese großzügigen Menschen sein, die lieber schenken als gierig horten? Wollen wir nicht viel lieber eine Wirtschaft in Richtung Gemeinschaftlichkeit und Kooperation aufbauen, als weiterhin auf Profit und Konkurrenz zu setzen? Und ist es nicht unser tiefster und sehnlichster Wunsch, die unbändige Liebe, die tief in jedem von uns verborgen liegt, zu verschenken und auszudehnen, auf alles, was lebt? Wir Autoren sagen Ja!
Was wir als Gesellschaft daher brauchen, ist eine grundlegende Neuausrichtung all unserer Handlungen, wie es übrigens schon im Jahr 2000 in der visionären Erd-Chartaa geschrieben steht.27 Dieser Wandel muss sowohl breite strukturelle und systemische Alternativen hervorbringen, als auch die destruktiven Paradigmen in unseren Köpfen in lebensdienliche Welt- und Wertebilder überführen. Die ökologischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen, ethischen und spirituellen Probleme und Hoffnungen der Menschheit sind eng miteinander verbunden, sie können nicht voneinander getrennt betrachtet werden.28 Dementsprechend können sie auch nicht einzeln gelöst werden. Weshalb es erforderlich ist, einen umfassenden Blick auf das Ganze zu entwickeln.
In einer so vernetzten und komplexen Welt wie der unsrigen hängen beispielsweise Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden eng zusammen mit dem Schutz der Natur und dem wirtschaftlichen Wohlergehen. Viel zu lange haben wir die Welt in kleine Stückchen, in einzelne Disziplinen geteilt und uns gegen den Blick über den Tellerrand gewehrt. Nun aber ruft die Welt nach globaler Partnerschaft und Zusammenarbeit, um umfassende Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit zu finden und realisieren zu können.
Wenn wir als Menschheit auf diesem Planeten also noch lange weiterbestehen wollen, so müssen wir erkennen, dass wir trotz aller Vielfalt an Kulturen und Lebensformen letztlich eine Familie sind. Eine globale Gemeinschaft, die einer gemeinsamen Herausforderung gegenübersteht. Da wir alle denselben Planeten bewohnen, teilen wir »die Sorge um das gemeinsame Haus«, meint etwa Papst Franziskus in seiner berühmten, 2015 veröffentlichten Enzyklika »Laudato si«29.Wir müssen also zusammenarbeiten, um jene Gesellschaft zu erschaffen, die wir uns im Grunde alle wünschen. Eine Gesellschaft, in der die Natur und die Menschenrechte, die soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit und eine Kultur des Friedens gewahrt werden.
Um diese Wünsche zu verwirklichen, müssen wir eine neue Wahl treffen und uns mit der ganzen Weltgemeinschaft und mit allem Lebendigen genauso verbinden wie mit unseren lokalen Gemeinschaften vor Ort. Wir sind Bewohner verschiedener Nationen und gleichzeitig der einen Welt. Und so sind wir als Weltbürger mitverantwortlich für das gegenwärtige und künftige Leben auf der Erde, und es ist unabdingbar, dass wir als Bevölkerung der Erde gemeinsam Verantwortung übernehmen. Und zwar für uns selbst, füreinander, für die größere Gemeinschaft allen Lebens und auch für künftige Generationen. Denn eine Welt, in der die negativen Auswirkungen unseres Lebensstils und unserer Wirtschaftsweisen alle betreffen, erfordert einen globalen Masterplan. Einen Masterplan, der aus einer globalen Perspektive der Gerechtigkeit heraus entworfen und umgesetzt wird.
Einen vielversprechenden Ansatz dazu liefern etwa die Sustainable Development Goals, die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung, kurz SDGs genannt. Diese wurden 2015 von den Vereinten Nationen in ihrer »Agenda 2030« verabschiedet. Anhand von 17 Zielen und 169 Subzielen beschreiben sie, wie die »Transformation unserer Welt« aussehen kann, in der »people, planet and profit« – also Mensch, Natur und Wirtschaft – im Einklang miteinander stehen. Dabei werden neben sozialen Themen wie Armut, Bildung und Gleichstellung auch ökonomische Fragen, wie nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, und ökologische Themen, wie der Schutz und die Regeneration der Ökosysteme, behandelt. – Ein wichtiger Meilenstein, wie wir finden! Alle 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen haben die Agenda unterzeichnet und bekennen sich damit zur Umsetzung der Ziele auf nationaler wie internationaler Ebene.30
Mut zur eigenen Vision
Auf globaler Ebene gibt es sie also bereits, die Vision einer besseren und nachhaltigeren Welt. Wie aber sieht es auf der individuellen Ebene aus? Welche Zukunftsbilder tragen wir Menschen in uns? Kann die Utopie einer regenerativen Gesellschaft überhaupt funktionieren, oder sind wir als Individuen viel zu verschieden, um uns auf eine gemeinsame Zukunftsvision einzulassen? Diese Frage lässt sich wohl nicht vollständig beantworten. Mit dem folgenden Erlebnisbericht möchten wir dir jedoch Mut machen und zeigen, dass viel mehr möglich ist, als wir uns oft vorstellen können.
Im September 2020 hatte ich, Julia, die große Freude, beim Zukunftsdialog im Rahmen des Projekts »Tales of Tomorrow«b 23 Jungpolitiker und Jugendvertreter, Männer wie Frauen, aus den verschiedenen politischen Lagern mit einer meditativen Visionsreise ins Jahr 2035 zu entführen. Auf den Flügeln unserer Vorstellungskraft reisten wir in die Zukunft, öffneten uns für unsere eigenen Träume und Visionen und teilten diese den anderen im Anschluss mit.
Zugegeben war ich im Vorfeld schon unsicher, ob sich die Teilnehmer für diese unkonventionelle Methode öffnen würden und die Visionsreise in diesem kurzen Rahmen denn überhaupt funktionierte. Meine Bedenken waren schnell verflogen, denn die Ergebnisse waren wirklich verblüffend. Nicht nur, dass sich der Großteil der Teilnehmer gut einlassen konnte, sie alle hatten auch sehr ähnliche Visionen und Vorstellungen.
Ich dachte, wie kann es sein, dass Menschen aus so unterschiedlichen politischen Lagern, mit so verschiedenen ideologischen Hintergründen, von ein und derselben Zukunft träumen? Wie kann es sein, dass eine so bunt gemischte Gruppe von Menschen die gleichen Bilder über die Zukunft empfängt? Meine Erklärung dafür ist, dass wir Menschen uns im Herzen oft viel näher sind, als es der Verstand je vermuten würde. Der Verstand zieht ideologische Grenzen, unterscheidet zwischen »wir« und den »anderen«, teilt die Welt und die Menschen sozusagen in Schubladen ein.
Die tiefere Weisheit in uns kennt diese Trennungen allerdings nicht. Wir alle sehnen uns nach einer lebenswerten und liebevollen Zukunft. Nach einem Leben im Einklang mit uns selbst und der Natur. Nach einer Welt voller Wertschätzung und Miteinander. Nach Sinn und Freude im täglichen Tun. Leider sprechen wir viel zu selten über diese Träume. Dabei würden wir darin so viel Verbindendes finden! Wir würden sehen, dass wir viel mehr gemeinsam haben, als wir denken. Wir würden viel motivierter an einem Strang ziehen – jeder mit anderen Zugängen und Methoden, aber alle fokussiert auf das gemeinsame Ziel. Genauso, wie wir es damals beim Zukunftsdialog erleben durften.
Für einen Einblick in die Ergebnisse dieser Visionsreise habe ich die Erlaubnis eingeholt, einige Auszüge aus der gemeinsamen, parteiübergreifenden Vision zu teilen, die die Jungpolitiker und Jugendvertreter an besagtem September-Wochenende geschmiedet haben. Die Vision ist aus der Sicht des Jahres 2035 formuliert. Möge sie auch deine inneren Bilder beflügeln und dir ein Gefühl vermitteln, wie eine nachhaltige Zukunft aussehen könnte.31
Das Jahr 2035:
Unsere Städte sind überall von Grün bedeckt: auf den Dächern, an den Fassaden, zwischen den Häusern und auf öffentlichen Plätzen. Die Stadt ist zu einem großen Park geworden, voller Artenreichtum und voller Natur.
Der Individualverkehr hat rasant abgenommen und findet fast nur noch unterirdisch oder als Schwebeverkehr statt.
Der öffentliche Raum ist wieder ganz an die Bedürfnisse der Menschen angepasst.
Ehemalige Parkplätze sind zu Plätzen der Begegnung umgebaut. Hier wird gelacht, gespielt, geredet und freundlich miteinander umgegangen.
Viele Menschen haben den Wert des Miteinanders, der Nachbarschaft und des Zusammenhalts neu für sich entdeckt. Man hilft einander aus, man tauscht und teilt Güter: Lebensmittel, Geräte, Elektroautos, Bücher u. v. m.
Es gibt eigene Zonen der Stille, wo Menschen Kraft tanken und Ruhe finden können.
Das Leben ist viel entschleunigter und bewusster geworden.
Geld hat nicht mehr den Stellenwert, den es früher einmal hatte. Heute zählt vor allem, wie viel Zeit man im Leben hat und wie glücklich und zufrieden man ist.
Unsere Arbeitsmodelle sind flexibler, ortsunabhängiger und dezentraler geworden.
Im Beruf geht es vor allem darum, einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen, Freude bei der Arbeit zu erfahren und sich persönlich entfalten zu können.
Arbeit wird fair entlohnt. Vormals unbezahlte Arbeit, wie die Pflege, der Haushalt, die Kindererziehung oder zivilgesellschaftliches Engagement, wird als gleichermaßen wichtig angesehen, wertgeschätzt und finanziell honoriert.
Es gibt viel mehr nachhaltige Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen. Diese werden transparent gekennzeichnet, sodass die Konsumenten genau wissen, welchen ökologischen und sozialen Fußabdruck ein Produkt hat.
Urban Gardening ist zu einem beliebten Hobby avanciert, das viele Städter dazu einlädt, ihr eigenes Gemüse und Kräuter anzubauen.
Die Menschen essen viel weniger Fleisch als früher, dafür qualitativ hochwertiges. Das Tierwohl ist zu einem wichtigen Anliegen geworden.
Neue politische Partizipationsformate, ähnlich jenen der Bürgerinnen- und Bürger-Räte, sind aktiv in Entscheidungsfindungen integriert.
Das Wissen wird den jungen Menschen nicht mehr frontal vermittelt, sondern auf eine Art und Weise, die sie befähigt, selbst aktiv zu werden und zu Lösungen beitragen zu können.
Wie geht es dir, wenn du solche Zeilen liest? Kannst du dich darauf einschwingen und die Bilder vor deinem inneren Auge lebendig werden lassen? Oder klingt das alles zu utopisch für dich? Natürlich werden wir niemals wissen können, wie unsere Zukunft aussieht oder welchen Lauf unsere Geschichte nehmen wird. Egal wie viele Forscher ihre Prognosen abgeben, das Ergebnis ist immer das gleiche: »Alles ist möglich, aber nix is fix.« Die Zukunft steht niemals fest. Sie ist ein Netz aus potenziellen Möglichkeiten. Sie will erträumt, erdacht und gewählt werden. Wir können uns diesbezüglich also nur folgende Frage stellen:
Welche Zukunft wollen wir denn? Wie wollen wir leben und wer wollen wir sein?
Diese Fragen muss sich jeder Mensch selbst stellen. Denn eine kollektive Vision kann nur dann Wirklichkeit werden, wenn sie von vielen einzelnen Individuen getragen wird.
Darum fragen wir dich heute: Welche Zukunft erträumst du dir? Welche Zukunftsbilder nährst du mit deinen Gedanken, Worten und Handlungen? Welche Realität erschaffst du für dich und damit für uns alle?
Viel zu oft glauben wir, dass es nicht wichtig sei, wie wir über die Zukunft denken. Doch das ist weit gefehlt! Denn so, wie wir unser eigenes Leben wählen und gestalten können, so gestalten wir zugleich auch den kollektiven Lauf der Dinge mit.