Ins Denken ziehen - Dieter Henrich - E-Book

Ins Denken ziehen E-Book

Dieter Henrich

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Beschreibung

Dieter Henrich ist weltweit bekannt als Erforscher des deutschen Idealismus und Philosoph der Subjektivität. In Gesprächen mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow resümiert er die Stationen seines Wegs zur und in der Philosophie, den Gang seines Denkens sowie die Begegnungen mit Lehrern, Zeitgenossen und Weggefährten. Dazu zählen Hans-Georg Gadamer, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno, Hilary Putnam oder auch Sergiu Celibidache und Alexander Mitscherlich, der ihm nach einigen Sitzungen bescheinigte, keine Psychoanalyse zu benötigen.

Als Kind ist er lange Zeit schwer krank gewesen. Heute erkennt er darin einen der Gründe, warum die Philosophie zu seiner Lebensaufgabe wurde. Dieter Henrichs philosophische Autobiographie ist reich an prägnanten Erinnerungen an Personen und Begebenheiten in vielen Lebenssphären und Weltgegenden. Er wurde zu einem der einflussreichsten Philosophen seiner Zeit, mit einer ergebnisoffenen, undogmatischen Philosophie, in der die Freiheit des Subjekts als eine ermöglichte und nicht als eine aus Selbstmacht initiierte verstanden wird. In mit großer Offenheit geführten Gesprächen lernen wir einen eleganten, altersweisen Metaphysiker ohne System und ohne Lehrsätze kennen, der der menschlichen Subjektivität in ihrem Glück und ihren Nöten, ihren Wirrungen und befreienden Momenten nachgeht und dabei die Perspektiven und Konflikte erkundet, in die ein Denken zieht, das den Mut hat, sich auch letzten Fragen auszusetzen.

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Dieter Henrich

INS DENKEN ZIEHEN

Eine philosophische Autobiographie

Im Gespräch mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow

C.H.BECK

Zum Buch

Er ist eine der prägenden Figuren der deutschen Philosophie nach 1945: Dieter Henrich, «ein Meister des erzählenden Gesprächs» (Alexander Camann), führt durch sein an Erfahrungen und Begegnungen reiches Leben und verwebt es mit den großen Fragen und Denkfiguren der Gegenwartsphilosophie. Er erzählt von seinen Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Hilary Putnam oder Sergiu Celibidache und lässt die Schauplätze seines langen Lebens Revue passieren: das Marburg der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre, Berlin zur Zeit des Mauerbaus, Heidelberg während und nach der Studentenbewegung, Moskau im Kalten Krieg, New York und Harvard in den 1970er und 80er Jahren, schließlich die Arbeitsklausur unter Weltwandlungen in München. Scheinbar mühelos verbindet hier ein so eleganter wie altersweiser Denker die Kraft der philosophischen Begriffsbildung mit einer überall spürbaren Nähe zur Bedrängnis, Entfaltung und Besinnung des konkreten Menschen. Und zieht so seine Leser in den Bann und ins Denken – nimmt sie mit auf dem Weg des Philosophierens.

Über den Autor

Dieter Henrich ist einer der einflussreichsten deutschen Philosophen mit internationalem Renommee. Er ist Mitglied vieler nationaler und internationaler Akademien sowie Träger zahlreicher Ehren und Auszeichnungen, darunter des Deutschen Sprachpreises.

Matthias Bormuth hat seit 2012 die Heisenberg-Professur für Vergleichende Ideengeschichte an der Universität Oldenburg inne und leitet dort das Karl-Jaspers-Haus.

Ulrich von Bülow ist Leiter der Abteilung Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Inhalt

Vorwort

1. Prolog: Kindheit und Religion

2. Schul- und Studienzeit in Marburg (1933–1949)

3. Heidelberger Anfänge (1950–1960)

4. Erfahrungen in Berlin (1960–1965)

5. Wieder in Heidelberg – neue Blickbahnen (1965–1981)

6. Die amerikanischen Jahre

7. Philosophische Ostpolitik

8. München – Werke und Wandlungen (seit 1981)

9. Epilog: Kunst, Wissenschaft und letzte Gedanken

Editorisches Nachwort

Personenregister

Fußnoten

Vorwort

Früh hatte ich beschlossen, niemals eine Autobiographie zu schreiben. So viel Aufmerksamkeit, die eigene und die anderer, auf mein Leben zu ziehen, schien mir unangemessen, das eigene Zeugnis dabei zu wenig verlässlich. Dagegen schien es mir mit anwachsendem Alter sinnvoll, von den Zeitfragen und den Gestaltungsproblemen zu berichten, die jeweils in einer Spanne meiner Lebenszeit besonders aktuell wurden, an denen ich tätigen Anteil nahm und die auch weiterhin Aufmerksamkeit verdienen. Dazu gehören die Bemühung um die Neuordnung der deutschen Universität, die Öffnung der deutschen Philosophie für andere Kulturen und Traditionen und die Herausforderung durch die atomare Bedrohung und die deutsche Teilung.

Wegen der vielen Begegnungen und weltweiten Erfahrungen, von denen ich gelegentlich zu erzählen hatte, wuchs das Interesse an Ausnahmen von dieser Beschränkung. Der Verlag C.H.Beck hat schließlich durch Stefan Bollmann, dem dies Buch in allen Stadien seiner Entstehung viel verdankt, eine Art von Autobiographie von mir in Auftrag gegeben und in Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow zwei jüngere Kollegen dafür gewonnen, sie in der Form von Gesprächen wirklich werden zu lassen.

Die Interessen dieser Kollegen, mit denen ich schon länger freundlichen Kontakt hatte, gewannen nun Einfluss auf die Gestaltung der Arbeit. Sie hatten selbst ein Interesse an der Auskunft über einige Aspekte meiner Arbeit, vor allem aber an den Motiven, die mich in meinen Forschungen und meinem Philosophieren bestimmt haben.

Damit rückte das gemeinsame Buch notwendig näher an die Form einer Lebensbeschreibung heran. Dies Moment trat sogar in den Vordergrund derjenigen Gespräche, die meinem frühen Leben und meiner Entscheidung für einen Lebensweg in der Philosophie zugewendet waren. Meine Mitautoren haben mich davon überzeugt, dass ein Bericht über einen solchen Weg in seiner Zeit sehr wohl von ganz anderem als allein neugierigem Interesse für viele Leser bleiben werde. Mir selbst fiel der Verzicht auf meine ursprüngliche Zurückhaltung umso leichter, weil er mir die Gelegenheit gab, meinen geliebten Eltern, deren ich voll Dankbarkeit gedenke, ein kleines Denkmal zu setzen.

Ich habe dann auch dem weiteren Wunsch der Mitautoren nicht widersprechen wollen, den Text mit einem Bericht über Religion einzuleiten und mit einer Reflexion über Kunst abzuschließen. So ist eine Autobiographie entstanden, deren Selbstbeschränkung dadurch angezeigt bleibt, dass sie durchgängig in Beziehung auf die Philosophie verfasst ist. Man sieht es schon daran, dass von meinem späteren Leben und von denen, die mir nahestanden und nahestehen, in ihr kaum je die Rede ist. Auch das vielbezügliche Satzfragment des Buchtitels zeigt dies an: Er verweist sowohl auf die Motive, die mich zum Philosophieren bestimmten, als auch auf die Hauptaufgabe meines tätigen Lebens. Ich selbst möchte sogar hoffen, dass das aus unterschiedlichen Interessen zusammengewachsene Werk durch seinen Überlegungsgang selbst als ein philosophisches Buch wahrzunehmen ist.

München, Sommer 2020

Dieter Henrich

1. Prolog: Kindheit und Religion

Wir möchten unser Gespräch zunächst auf das lenken, was in Ihrem Leben der Philosophie vorausging und für Sie von Bedeutung wurde. In welcher Familie sind Sie aufgewachsen?

Ich war das einzige lebende Kind. Meine Eltern hatten 1919 geheiratet, als mein Vater von der Front heimgekehrt und meine Mutter über den Krieg schon dreißig Jahre alt geworden war. Die ersten drei Schwangerschaften verliefen unglücklich: eine Fehlgeburt und zwei Knaben, die als Kleinkinder starben. Es war die Zeit der Spanischen Grippe. Die Ärzte waren von diesem besonderen Schicksal offenbar aufrichtig berührt. Der selbst noch junge Marburger Professor für Kinderheilkunde, Ernst Freudenberg, zu dem meine Eltern großes Vertrauen gefasst hatten, beriet sie voll Anteilnahme. Der Tod der Kinder war für sie eine tief entmutigende Erfahrung, so dass es über einige Jahre zu keinen Schwangerschaften mehr kam. Meine Mutter erzählte mir später, sie seien der Meinung gewesen, Gott wolle offenbar nicht, dass sie Kinder hätten. Nur im Glauben an den unbegreiflichen Gott konnten sie das schwere Geschick bestehen. Als dann aber die Zeit der Gebärfähigkeit allmählich zu Ende ging, fassten meine Eltern den Entschluss, es noch einmal zu versuchen. Das Ergebnis bin ich. Sie können sich vorstellen, mit welcher Bedeutung meine Eltern mein Leben besetzten. Meine glückliche Geburt war eine Erlösung für sie.

Ihre Eltern glaubten an einen Gott?

Meine beiden Eltern waren gläubige Christen und sehr darum bemüht, mich in das christliche Leben einzuführen. Dazu gehörte das gemeinsame Gebet. Tisch- und Gute-Nacht-Gebete waren lange selbstverständlich. Weniger die Erfahrung des Anrufs des Helfers in Nöten als jene der Zuversicht auf sein Geleit war mir durch die Eltern stets gegenwärtig.

Wie sah die christliche Lebensorientierung der Eltern aus?

Es gab wohl zwischen meinem Vater und meiner Mutter Unterschiede in ihrem Glauben. Mein Vater hatte als Naturwissenschaftler eine starke, ins Rationale ausgreifende Naturbeziehung. Er versuchte schon früh, mir Einsteins Relativitätstheorie zu erklären, und lehrte mich, den Nordstern zu finden, die Erd- und Mondbewegung zu verstehen und die Sternenwelten zu bewundern. Ich bekam Baukästen, mit denen man kleine elektrische Geräte konstruieren konnte. Ich baute einen Elektromotor mit primitiven Mitteln. Schon früh sah ich mit großer Verblüffung, wie in feinem Metallstaub die Magnetfelder ihre Spuren legten.

Sie erlebten in den Gesprächen mit dem Vater so etwas wie die wissenschaftliche Entzauberung der Welt, von der Max Weber spricht?

In gewisser Weise. Aber mein Vater bezweifelte nicht, dass die Wirklichkeit Gottes hinter allem stand. Er ging regelmäßig in die Kirche und lebte in einem in Not und Krieg gefestigten Gottvertrauen. Er stammte aus einer armen Familie. Sein eigener Vater war zwar schon Landmesser gewesen, starb aber mit kaum dreißig Jahren ohne Pensionsberechtigung und hinterließ eine Frau mit vier Kindern. Die Rente der Großmutter betrug etwa 20 Goldmark im Monat. So kam die kinderreiche Familie wirklich in wirtschaftliche Not. Meine Großmutter war als Tochter eines Zuchthausdirektors nicht dazu erzogen, berufstätig zu sein. So musste sie im Kaiserreich als Mutter einen Beruf erlernen und jahrzehntelang als Fleischbeschauerin im Schlachthaus von Kassel arbeiten, während die Kinder aufwuchsen. Obwohl die Mittel zum Leben knapp waren, konnte die Mutter meines Vaters zwei ihrer Söhne studieren lassen. Diese mussten sich allerdings auf das kürzest mögliche Studium beschränken. Als Primus im Abitur hätte meinem Vater auch sein Wunschstudium Jura offengestanden. Er sah die mangelhafte Versorgung einer Witwe mit vielen Kindern als Verfehlung des kaiserlichen Systems und erinnerte mich angesichts dieser Erfahrung immer an die Ideen der Sozialdemokratie, obgleich er selbst die SPD nicht wählte. Schon als ich acht oder neun Jahre alt war, sprach mein Vater mit mir ziemlich offen und ernsthaft über politische Fragen.

Wie verlief Ihre frühe Kindheit?

Als Kleinkind wurde auch ich krank, so dass meine Eltern ungewöhnlich quälende Angst um mich hatten. Sie befürchteten, auch dies Kind werde ihnen wieder genommen. Die nachfolgenden langen Krankheitszeiten, aber ebenso mein kindliches Gespür für die elterlichen Ängste bedrückten mein Leben, machten mich aber wohl zugleich hellwach.

An welcher Krankheit litten Sie?

Ich hatte gleich nach der Geburt eine Furunkulose auf der Brust – wohl eine Ansteckung durch den Arzt. Später kam eine chronische Mittelohrentzündung auf, die jeden Winter in eine Eiterung ausbrach und dazu zwang, die Trommelfelle zu durchstechen. Schon sehr früh, mit zwei Jahren, musste der Schädel hinter einem Ohr aufgemeißelt werden. Da es noch kein Penicillin gab, bestand damals die Gefahr, dass das Gehirn infiziert werden könnte. Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt ist mir in lieber Erinnerung, weil er – um den ganzen familiären Hintergrund wissend – mit äußerster Vorsicht und Freundlichkeit vorging. Ich hatte vor dem Krankenhaus geradezu panische Angst, aber zum Professor Uffenorde Vertrauen. Die Klinik war eine Art Imitat einer kaiserlichen Kaserne mit strengsten Reglementierungen. Zweimal in der Woche war für eine Stunde der Besuch der Eltern erlaubt. Obwohl sich meine Mutter immer wieder gegen die Regeln für kurze Zeit zu mir durchkämpfte, war ich einsam und erlebte das Gefühl tiefer Verlassenheit. Damals habe ich meine ersten nihilistischen Erfahrungen gemacht. Sie wurden durch die Angst der Eltern verstärkt und standen im Widerspruch zur Erfahrung des unbedingten Einsatzes meiner Eltern für meine Gesundung. Diese Spannung ist ein mein Leben bestimmender Grundkonflikt geblieben: dass ich in meinem Lebensvollzug bedroht bin und lähmende Verluste erfahre – und dann aber auch, dass ich durch die Zuwendung meiner Eltern in einen warmen Glückszustand versetzt werden könnte.

Man erfährt sich als ausgesetzt, aber es gibt auch etwas Schützendes.

Ich denke manchmal, dass ich die nihilistische Erfahrung tiefer als Nietzsche durchlebt habe. Die Tonart, in der er ihr Ausdruck gibt, ist von Wirkungswillen bestimmt. Man kann aber seine Beobachtungen dennoch scharfsinnig und aufschlussreich finden. Aus solchen Erfahrungen geht ein anderes Grundverhältnis zur Wahrheit über das Menschsein hervor.

Besagte die von Ihnen geschilderte frühkindliche Erfahrung, dass Verlust und Umsorgtwerden zusammengehörten?

Ich war damals zwei Jahre alt. Was kann man zu dieser Zeit schon explizit denken? Ich konnte nicht umhin, meinen Eltern Vorwürfe zu machen, dass sie mich nicht aus diesem Verließ herausholten. In Briefen an Verwandten sprachen meine Eltern davon, wie schrecklich es für sie war, dass ich mich auch von ihnen abwandte, obwohl sie selbst weitgehend ohnmächtig waren und die Maßnahmen der Kasernierung nicht abschaffen konnten, von denen man damals meinte, sie seien als Schutz vor Infektionen in aller Strenge zur Rettung nötig.

Sie erinnern dies, obwohl Sie erst zwei Jahre alt waren!

Ich erinnere ganz genau das dunkle Zweibettzimmer, in dem ich nach der Operation lag. Die Erinnerungen sind kleinkindlich punktuell, aber vollkommen plastisch. Als ich gerade vier Jahre alt war, zogen wir um in eine andere Wohnung. Von diesen ersten Jahren könnte ich durchaus eine Art dichter Autobiographie schreiben. Es war noch die Zeit der Weimarer Republik, in der mein bewusstes Leben begann. Ich erinnere mich auch an politische Ereignisse, soweit sie in Marburg überhaupt präsent waren, beispielsweise an Hitlers Rede im Zirkus Sarrasani. Auf der Lahnwiese stand für ihn das Zirkuszelt. Meine Mutter sagte, sie ginge abends zu einer Rede von Hitler, der solle so elektrisierend sprechen. Sie kam dann enttäuscht zurück. Am nächsten Morgen erzählte sie, Hitler habe gar nichts in ihr ausgelöst.

Fiel in diese Zeit das Erwachen des Ich-Bewusstseins?

Ich habe sicher gewusst, wer ich bin und dass ich dem, was um mich und in mir geschieht, ausgesetzt bin. Allerdings nutzte ich damals das Wort «ich» in der eigenen Sprache nicht, obwohl es mir von den Erwachsenen her bekannt war. Ich erkläre mir, warum Kinder dies Wort erst später gebrauchen, obwohl sie es längst kennen, auf meine Weise. Im Gebrauch von «ich» liegt nämlich auch eine Distanznahme, die im kindlichen Gebrauch der Sprache im Umgang mit Erwachsenen erst stabil werden muss. In der Not, die ich in diesen Jahren erlebte, habe ich das Walten des lieben Gottes nicht erfahren können. Es half niemand. Allenfalls mit dem Trost, «es wird doch wieder». Ich bin vielleicht nur Philosoph geworden, professionell und mit eigenen Ideen, weil ich mit dieser hohen Erwartung an mein Überleben großgezogen worden bin und die langen, lebensgefährdenden Krankheitszeiten durchstehen musste. Ich begann in Schmerz und Schwäche nachzudenken, und sicher auch über die Frage «Wieso?».

Für Ihre Eltern war dagegen Gott eine große Hilfe, auch nach dem Verlust von drei Kindern.

Sie erfuhren im Leiden wie im Glück die Zuwendung Gottes, ungefähr so, wie es bei Mörike heißt: «Herr! schicke, was du willt,/Ein Liebes oder Leides;/Ich bin vergnügt, daß Beides/Aus Deinen Händen quillt.» Doch als ein Vergnügen im wörtlichen Sinne haben sie das ihnen auferlegte Leid kaum erfahren.

Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern charakterisieren?

Ich hatte zu beiden Eltern nach der Erlösung aus der Hospitalisierung wieder eine völlig ungestörte Beziehung des Vertrauens und der Liebe. Zwar habe ich damals ihre Ohnmacht gegenüber einem Geschick an mir selber erfahren. Aber als ich dann wieder bei ihnen war, gab es diese Bedrohung auch von innen her nicht mehr. Sie waren da, und ich war glücklich und geborgen in ihrer einfallsreich sich bezeugenden Liebe.

Doch wurde ich nicht etwa nur verwöhnt und verzärtelt. Meine Eltern waren ebenso sehr um die Bildung des Charakters ihres Kindes besorgt. Es gehörte zu ihrer Erziehung, die Anforderungen einer strikten, christlichen Lebensführung an mich zu stellen. So bekam ich zum Beispiel nur Weihnachtsgeschenke, wenn ich vorher etwas von den früheren Geschenken an arme Kinder abgegeben hatte. Ich erinnere mich heute noch gern, wie ich mit drei oder vier Jahren mühsam die Auswahl treffen musste, was ich von meinen Stofftieren und Blechautos an solche Kinder abgeben könnte. Meine Mutter fuhr dann mit mir vor die Stadtgrenze, wo ein Zigeunerlager war, und ich hatte diese Spielsachen selber zu überreichen. Die strahlenden Augen der Zigeunerkinder, die zu mir hingelaufen kamen, leuchten noch vor mir.

Welche Rolle spielte Ihr Vater?

Ich empfand höchste Bewunderung und Verehrung für ihn. Mein Vater spielte so wunderbar mit mir in allen Varianten und hatte offensichtlich die größte Freude daran. Vom Schlüsselbund, den er klappern ließ, über das Malen von Uhren, über kleine Szenen, die inszeniert wurden, das Kasperletheater und den Kaufmannsladen. Später sammelten wir zusammen Briefmarken, wir spielten Schach. Mein Vater starb, als ich elf Jahre alt war, im Alter von nur siebenundfünfzig Jahren.

Ihr Vater stand noch mitten im Berufsleben?

Er war gerade versetzt und befördert worden. Das war für ihn eine glückliche Wendung, denn mein Vater liebte seine bisherige Arbeit ganz und gar nicht. Er war im staatlichen Vermessungsdienst tätig; damals ging es um die Zusammenlegung der zerstückelten Felder in den ländlichen Gebieten. Dies war die Antwort des preußischen Staats auf die Folgen der jahrhundertelangen Erbteilungen in den Dörfern, nach denen die Höfe kaum noch wirtschaftlich zu führen waren. Das bedeutete für meinen Vater, viele Monate in einem Dorf zu sein und den Zank unter und mit den Bauern austragen zu müssen, die sich durch die Maßnahmen sehr oft für benachteiligt hielten. Allerdings kamen sie dann bei seiner Beerdigung in großer Zahl nach Kassel. Uns bewegte, wie sie ihn sichtlich verehrten und anerkannten, dass er Gutes bei der Neuverteilung der Ländereien wirken wollte.

Was passierte in Kassel?

Dort erhielt er ein Lehramt für die jungen Vermessungsbeamten. Er freute sich sehr, dass er nicht mehr auf die Dörfer hinaus musste, und schenkte meiner Mutter ein Opernglas. Denn nun würden sie wieder zusammen in die Oper gehen, die es in Marburg nicht gegeben hatte. Sie freuten sich auf das Großstadtleben. Aber mein Vater litt an Nierensteinen und hoffte, in der Klinik von diesem Übel befreit zu werden. Wir waren alle glücklich, dass nun alles gut für uns werden sollte. Es war im Mai 1938. Ich war jetzt im Kasseler Gymnasium Fridericianum. An diesem Maitag herrschte schon große Hitze, so dass wir von der Schule früher frei bekamen und ich durch die alte Residenzstadt bummelte, die mir noch neu war. Ich schaute mir das geschäftige Treiben in den Straßen an, ging langsam, aber geradewegs zur Klinik und freute mich darauf, den Vater als Überraschung besuchen zu dürfen. Und dann sah ich schon von weitem im Flur über seinem Zimmer das rote Licht blinken. Meine Tante saß auf dem Gang und sagte: «Dieter, du kannst nicht hinein.» Und nach wenigen Augenblicken war mir klar: Die Ärzte kämpften gerade um meines Vaters Leben. Das Gefühl des Glücks schlug unmittelbar um in die schrille Angst um den geliebten Vater. Wir saßen da, warteten eine gute Stunde. Er hatte eine Lungenembolie erlitten, von einer Nierenkolik ausgelöst. Man hatte damals keine Möglichkeit, den Blutpfropfen, der von der Lunge ins Herz geriet, aufzulösen. Als die Ärzte resignierten, wurde ich hereingerufen. Es war seine Todesminute. Meine Mutter, die ihren Mann verlor, hatte die Kraft, zurückzutreten. Ich kniete am Bett meines Vaters – und vor dem unbedingten Bedeutungsgewicht des Augenblicks fiel die Erregung des Todesschreckens von mir ab. Er, mein Vater, nahm seine letzte Kraft zusammen und sprach stockend ein Segenswort, mit dem er meines Lebens Zukunft Gott anbefahl. Ich konnte ihm noch mit der zärtlichen Anrede ‹Väterchen› antworten, die zwischen uns üblich war. Dann war er diesem Leben entzogen.

Was bedeutete dieser Moment für Sie?

Ich habe den Verlust des Vaters über viele Jahre nicht verwinden können. Aber es war mir immer klar: Was ich in seiner letzten Lebensminute erfahren hatte, war für mein Leben unbedingt verbindlich. Er, der mehr über die Natur als über Gott sprach, hatte in der letzten Not, den Weg seines Sohnes nun nicht mehr begleiten zu dürfen, einen Ruf an die höchste denkbare Instanz über allem ergehen lassen. Es war eine spontane Segnung, dem entsprechend, was unter der Übermacht des Geschehens noch möglich war. Es liegt nahe, sich an Berichte im Alten Testament erinnert zu sehen. Ich habe rückblickend nicht das Gefühl, dass mir magisch etwa eine Lebenskraft übertragen wurde. Ich kann gegenüber dem Geschehen von damals aber dennoch keine Distanz aufkommen lassen. Ich denke, mein ganzer Lebensgang erfuhr mit seinen letzten Worten etwas, das man ganz zutreffend als einen Segen zu verstehen hat. Er enthält die Forderung und den Impuls, der Hoffnung des Vaters in meinem Leben zu entsprechen, und meine Freude daran, dass mir das gelingen könne. Deshalb werde ich immer Gedanken fassen, in denen dieser Moment als eine letzte Bedeutungsquelle bewahrheitet bleibt.

Wann hat dieses Gedankenfassen eingesetzt? Und war es ein kontinuierlicher Prozess?

In dieses Geschehen reichen auch einige Wurzeln meiner Subjektivitätstheorie, in der die Freiheit des Subjekts als eine ermöglichte verstanden wird und nicht als eine aus Selbstmacht initiierte. Sie kann als eine Energie, die mit anderen assoziiert ist, in einer großen Befreiungs- und Aufklärungsbewegung münden, die im eigenen Denken anhebt. Dann versteht man das, was man erwirkt, nicht nur als eigene Tat. Ich war deshalb auch nie in der Versuchung, meinen Weg allein meiner eigenen Geschicklichkeit oder Leistungsfähigkeit zuzuschreiben, sondern immer ebenso einem Geschehen, in dem mir Gutes zuteil geworden ist und Aufgaben und Chancen mir zuwuchsen.

Handelt es sich nicht auch bei solchem Nachdenken, das durch den Segen des gläubigen Vaters initiiert ist, um eine Form des Enthusiasmus, der bei aller Spannung zur Religion auch Hölderlin, Schelling oder Hegel vertraut war?

Ja, zumal es etwas ist, das von Anfang an dieser Nichtigkeitserfahrung hat standhalten müssen. Dies galt eigentlich schon für meinen Vater, der die prekäre Erfahrung machte, sich nirgends mit der Wirklichkeit identifizieren zu können, in der er zu leben hatte. Er wollte eigentlich gern Richter werden, um, wie er hoffte, der Gerechtigkeit zur Verwirklichung zu verhelfen. Doch da seiner Mutter das Geld fehlte, war ihm dieser Weg versagt. So musste er als Preis für den Status des Akademikers und für ein nur kurzes Studium den ungeliebten Beruf im Vermessungsbereich hinnehmen. Dann wurde er im Ersten Weltkrieg Soldat und erlitt ihn als blutiges, schmutziges Geschehen. Die Frontbriefe, die er nach Hause schickte, drücken das beredt aus.

Viele spätere, existentiell anmutende Lebensfragen, die zuletzt in Ihr Buch «Sein oder Nichts» eingingen, scheinen schon in Ihren frühen Jahren angelegt worden zu sein.

Alles, was ich darin über die Lebensführung darlege, sollte sich vor solchen Erfahrungen bewähren können. Es darf ohnedies nichts Ausgedachtes sein. Der für einen Menschen beste Halt beruht auf Implikationen von Erfahrungen, die für ihn unhintergehbar geworden sind.

Handelt es sich gleichsam um etwas Mythisches, das Sie erfuhren und das später erst durch den Logos aufgearbeitet wurde?

Die Begründung muss aus sich selbst heraus überzeugen können. Jürgen Habermas und Niklas Luhmann haben die Religion auf jeweils ihre Weise zum Thema eines theoretischen Ansatzes gemacht. Angesichts der Analysen meiner Generationsgenossen muss das, was ich theoretisch ausarbeite, aus dieser Begründung allein heraus überzeugen – und zugleich verfugt mit dem sein, was ich als meine eigene Erfahrung in Erinnerung halte und seitdem sprachlich und begrifflich zu durchdringen versuche. Was wir hier im Gespräch berühren, hat sich in dieser zweifachen Hinsicht zu bewähren.

Kommen wir noch ein wenig genauer auf Ihre Mutter zu sprechen.

Sie hatte eine ästhetisch-künstlerische Neigung. Meine Mutter sprach das an, was in der Religion das Geheimnisvolle ist. Sie hatte Freundinnen, die mit der Bewegung um Rudolf Steiner verbunden waren und die versuchten, mich ebenfalls zu gewinnen. Eine andere gute Bekannte meiner Mutter war Anhängerin der Sekte um Mathilde Ludendorff, der Frau des Generals. Sie verstand sich als völkische Theosophin, die mit ihren umfangreichen, meist in Versen verfassten Werken eine Art militarisierter Mystik begründen wollte. Die musste ich als Jugendlicher lesen, weil diese Tante mich dazu drängte. Meine Mutter selbst blieb immer protestantische Christin, zugleich offen gegenüber jeder Erfahrung des Heiligen, des Einbrechens einer numinosen Wirklichkeit, in die wir für sie auch im alltäglichen Leben bereits einbezogen waren.

Entspricht dies nicht dem Denken von Rudolf Otto, der im Zentrum der Religion geradezu die Erfahrung des Heiligen sieht?

Bei Otto gibt es die Doppelung von Faszinosum und Tremendum im Phänomen des Heiligen: Ich erschrecke über dessen Präsenz, aber ich kann nicht von ihm ablassen. Meine Eltern kannten übrigens Rudolf Otto, der in Marburg lehrte. Von seinem Tod im Jahr 1937 hörte ich, dass er krank gewesen und von der Burgruine des Frauenbergs herabgestürzt sei. Ich spürte damals, dass man meinte, es könne wohl ein Suizid gewesen sein. Mich selbst haben Erfahrungen des Numinosen, die für Otto den kirchlichen Ritus, etwa das Abendmahl, zu tragen hatten, wohl berührt, aber niemals im Zentrum ergriffen. Die Klarheit einer Einsicht wollte ich in jeglicher Erfahrung von Unbedingtem nicht schwinden sehen.

In welche Kirche gingen Sie damals?

Der Pfarrer meiner Mutter war Karl Bernhard Ritter. Er war einer der Gründer der Berneuchener Bewegung und der Michaelsbruderschaft, dessen erster Ältester er war. Im protestantischen Gottesdienst spielten bei ihm die Gewänder und die Sprechgesänge eine neue und beträchtliche Rolle. Das gefiel mir nun doch wiederum. Ritter war der Pfarrer, der mich im «Dritten Reich» in der Marburger Universitätskirche konfirmiert hat. Er versuchte, psychedelische Grenzphänomene wie die Telekinese glaubwürdig werden zu lassen. Uns Konfirmanden erzählte er, wie er selbst erlebt habe, dass sich zum Gebet eines Sufis die Krüge auf den Emporen der Moschee neigten. Im Unterschied zur Telepathie, für die meine eigene Mutter zwingende Zeugnisse gab, blieb all das für mich unglaubwürdig.

Was wirkte auf Sie befremdlich?

Es gibt einen Unterschied zwischen der in der Subjektivität verwurzelten Frömmigkeit und den Erfahrungen und Beglaubigungen, die charismatisch gegründete Religionsgemeinschaften in ihren Riten aufrufen und vollziehen. Ich halte die persönliche Frömmigkeit für eine dem Menschen wesentliche Möglichkeit, wenn sie das entfaltet und vertieft, was auch Kant im Blick hatte, obgleich er dem nur in der strengeren, resonanzärmeren Sprache der Moral einen Ausdruck zu geben vermochte und meinte, die Folgerichtigkeit verlange es, sich abwertend gegen die Sprache der Liebe zu wenden. Dabei hat die Erfahrung der unbedingten Liebe in Wahrheit ihren Ort in der Evidenzsphäre der personalen Religiosität. Dennoch muss man dem ganzen Komplex der mythischen Aneignung und Auslegung von Welt und Leben gerade in den frühen Zivilisationen und auf ihrer Stufe der Entfaltung von Besinnung und Selbstdistanz eine überlegene epistemische Überzeugungskraft zuerkennen; sie ist nicht psychologisch als Selbsttäuschung oder Einbildung zu analysieren und zu entwerten.

Rührte Ihre Zurückhaltung gegenüber dem Numinosen nicht doch auch im Respekt vor ihm?

Kaum – ich hätte eher einer Religion zugehören wollen, die auf den Schauder im Heiligtum verzichten kann. Doch lässt sich ja auch für manche zentralen Riten eine Verwurzelung im bewussten Leben aufweisen. Hölderlin hat dies, überraschend und wenig bekannt, aber eindrucksvoll, für das christliche Abendmahl getan.

Hat das mit Pantheismus zu tun?

Nein. Hölderlin fragt in einem Text, warum haben alle Menschen Religion. Seine Antwort ist die erstaunliche These, dass alle Menschen in dem Bedürfnis leben, eine Erinnerung zu haben und dankbar zu sein. Über die Wurzeln dieses Bedürfnisses wäre vieles zu sagen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich sah, dass dies auch Hölderlins Verstehen der Eucharistie impliziert. Denn das Abendmahl ist eine Feier der Erinnerung, wenn es heißt: «Tut dies zu meinem Gedächtnis»; und als Eucharistie – wörtlich ausgedrückt – eine Dankesfeier für die Erlösung, die man kraft der Auferstehung Jesu erfährt. Das Abendmahl ist konstitutiv für die Religion in der Form einer Gemeinde. Doch es steht dem philosophischen Vollzug von Transzendenz im bewussten Leben nicht entgegen. Dagegen habe ich die Wandlung, die auch noch Luther als physische Wandlung verstand, schon als Kind nicht glaubwürdig finden können. Man kann und muss zweierlei voneinander unterscheiden, was in einem ritualen Akt eng zusammengehen kann: die symbolische Vergegenwärtigung von dem, was für Menschen unbedingte Bedeutung hat und in einem Transzendenzbezug verankert ist, und die von Magie und Zauber nicht gänzlich abgelöste Wandlung und Konstituierung einer spirituellen Gemeinschaft.

Das erinnert an die Theorie der Entmythologisierung von Rudolf Bultmann, der ein existentielles Angesprochensein suchte; diese sollte die Bibel von mythischen Vorstellungen befreien und so den Glauben dem naturwissenschaftlich erzogenen Menschen der Moderne zugänglich werden lassen.

Ich habe Bultmann noch selbst gekannt und sowohl den Forscher als auch die Person in ihrer schlichten Frömmigkeit verehrungswürdig gefunden. In meinen Marburger Anfängen, Ende der 40er Jahre, hörte ich seine Vorlesung und erhielt später über einen Freund Zugang zu dem «Kreis der ehemaligen Marburger (Theologen)», den Schülern von Bultmann, die sich jedes Jahr einmal mit ihm trafen. Über diesen Kreis bin ich auch mit Martin Heidegger zusammengetroffen. Meine Vorbehalte gegenüber Heidegger als Person kontrastierten mit meiner Hochschätzung Bultmanns.

Kehren wir in die Zeit Ihrer Jugend zurück. Machte sich der Nationalsozialismus in der Kirche bemerkbar?

Der Nationalsozialismus war anders als die vom Sowjetmaterialismus fundierte Politik der DDR nicht offen antikirchlich. Hitler hatte mit der katholischen Kirche sogar ein Konkordat geschlossen. Aber es wurde die Doktrin verbreitet, dass das Christentum eine undeutsche Glaubensweise sei. Es seien statt der christlichen Selbsterniedrigung vielmehr Stärke und Härte in der Selbstbehauptung zu erfahren und zu lehren. In der evangelischen Kirche gab es als parteinahe Formation die «Deutschen Christen». Von ihnen hielt sich meine Mutter fern. Ihr Pfarrer Ritter wurde dagegen von den Nazis kaum geduldet und oft bedrängt.

Vertrat die Partei auch einen Glauben?

Im Nationalsozialismus begegnete man einem Kult. In ihm gab es keinen wirklichen Transzendenzbezug, sondern die Suggestion einer letztbedeutsamen Haltung und Erregung herrschte vor, verbunden mit dem Willen zum großen Akt und Auftritt. Das kann anziehend sein, zumal für junge Menschen, weil es ohne viel Hintergrund einen hochfliegenden Gestus ermöglicht. Es gab schon aus früherer Zeit Kultverse, die mir immer zugleich ein Hochgefühl und einen Schrecken einjagten. Wir sagten auch im humanistischen Gymnasium Philippinum Sprechchöre im Sinne des braunen Mythos auf: «Heilig Vaterland in Gefahren/deine Söhne sich um dich scharen.»[1] Heilig Vaterland – das hat mich zwar irgendwie erhoben, ich spürte aber sogleich einen Widerstand gegen die Zumutung der Autosuggestion und den implizierten Wirklichkeitsverlust.

Weil es sich um eine Instrumentalisierung handelte?

Ich fühlte mich in irgendetwas hineingesogen, das unaufrichtig werden lässt. Ich wehrte mich gegen eine politische Religion oder – genauer gesagt – eine bloße Doktrin, die in einer Erhebung durch Unterordnung kulminiert. Dagegen kann ich vielleicht im Blick auf wirkliche Religion sagen: Das Gebet, die Liebe, welche von der Abhängigkeit in Lust und Verlangen unterschieden ist, und die Dankbarkeit – sie alle enthalten die Freiheit in sich. Unserer Zeit fehlt vielleicht das Bewusstsein davon, dass es solches geben kann und dass es in vieler Gestalt wirklich war und ist. Die Freiheit ist nicht etwas rein Profanes. Sie hat wesentlich eine metaphysische Dimension. Auch darum kann die Moderne gar nicht als nachmetaphysisch definiert werden.

Die Abhängigkeit von etwas Absolutem ist etwas anderes als die von einem Relativen.

Diese Freiheit ist unsere, also von endlichen Wesen, und sie kann deshalb den Grund, von dem her sie ist, nicht so durchdringen, dass es in Beziehung auf ihn demonstrative Erkenntnisse oder unbezweifelbare, evidente Lehrsätze geben könnte. Zugleich habe ich immer versucht, der Religiosität in ihrer ganzen unverkürzten Wirklichkeit zu begegnen. Sie war mir, wie sich hier wieder zeigt, gerade als Thema philosophischen Verstehens wichtig. Auch ein Begriff vom Heiligen lässt sich ja philosophisch fassen (etwa als die adäquate Manifestation des einzig Unbedingten in einem Endlichen als solchem) und zugleich zu den Dispositionen des bewussten Lebens in Beziehung setzen – aber immer so, dass daraus wohl ein Verstehen, nicht aber ein Geltungsanspruch an unser Leben hervorgeht.

Können Sie Ihre Begegnungen mit der Religiosität genauer schildern?

Wenn auch nur ‹von außen›, das heißt in bestimmten historischen Situationen, aber doch in großer Nähe bin ich zweimal einer Präsenz des Heiligen in der Welt und in personaler Gestalt begegnet. Einmal war dies um Papst Pius XII. (Pacelli) spürbar, dem ich 1951 in Rom begegnete; das andere Mal trug es sich um den 68. Hinduistischen Shankaracharya in Kanchipuram bei Madras zu, den ich dort 1973 kennenlernte. Diese Situationen waren glaubwürdig, besonders die indische; aber in mir selber wollte die Erfahrung von Heiligkeit gleichwohl nicht Platz greifen.

Berichten Sie doch bitte davon!

Ich reiste 1951, ermöglicht von einem Promotionsgeschenk, unter spartanischen Bedingungen mit einer kleinen Studentendelegation aus München nach Rom. Der Papst gab in diesem «heiligen Jahr» seinen Osterempfang just für diese Studentengruppe. Die Papstrede auf einem solchen Empfang galt als eine bedeutende Verlautbarung. Sie wurde am nächsten Tag auf der Titelseite des L’Osservatore Romano veröffentlicht. Die vatikanischen Würdenträger waren also in Erwartung versammelt. Als nun Pacelli den Raum betrat, knieten zu meiner Verblüffung alle nieder. Ich war der Einzige, der stehen blieb. Ich konnte es nicht über mich bringen. Da war eine Barriere, die mich hinderte, meine Knie zu beugen.

Man sollte denken, in so einer Situation erfordert es mehr Kraft, stehen zu bleiben als niederzuknien.

Als ich meine Freundin, die mit zur Gruppe gehörte, aber gleichfalls evangelisch war, dann fragte, wie konntest du niederknien, sagte sie: Es war so zwingend und angemessen. Für mich selbst hat offenbar der Totaleindruck einer solchen Szene nicht genügt, dass sich meine Knie gebeugt hätten.

Und was geschah in Indien?

Ich bin nach Indien wie nach Japan und später auch China immer mit einem Interesse am religiösen und spirituellen Leben gefahren. Das waren die Länder, die auch eine philosophische Tradition besitzen und die folglich eine Religion kennen, die sich in Nähe der philosophischen Betrachtungen und Argumente entfaltet. Es war mir wichtig, das nicht nur durch Lektüre oder in Vorträgen kennenzulernen, sondern möglichst an zentraler Stelle im authentischen Vollzug. Während einer Vortragsreise durch die Goethe-Institute Indiens war ich eine gute Woche in Madras. Dort lehrte an der Universität Professor Mahadevan, der Bücher über die Philosophie des Advaita-Vedanta geschrieben hatte. Diese philosophische Schule legt die hinduistische Grundlehre so aus, dass Brahman, also der Grund des Alls, in Atman, dem Leben der vielen endlichen Seelen, ungetrennt gegenwärtig ist. Letztlich ist «Gott» Einer in Allem und insofern Alles auch Eines. Es ist dies eine monistische Philosophie, die aber nicht nur als Philosophie gelehrt wird, sondern eine hinduistische Glaubenspraxis zum Grund und Korrelat hat. Dabei erfüllen die hinduistischen Götter – Vishnu, Shiva, Ganesha und so weiter – entsprechende Rollen; es gibt Klöster und Rituale, aber zugrunde liegt eine philosophische Lehre. So gab es neben der Universität eine von Professor Mahadevan geleitete hinduistische Gemeinde. – Nun lebte zu jener Zeit in Madras Friederike, die Königin-Witwe von Griechenland mit ihrer Tochter, Prinzessin Irene. Ihr Sohn, König Konstantin II., war nach seinem gescheiterten Gegenputsch vor der nun herrschenden Militärjunta nach England geflohen. Telefonisch hielt die Königin-Mutter Kontakt mit ihrem Sohn und versuchte, ihn zu beraten und zu unterstützen, wieder an die Macht zu gelangen.

Das Leben dieser eindrucksvollen Frau, die eine preußische Prinzessin war, verlief in Madras etwas eintönig, weshalb sie philosophische Gespräche mit mir suchte, zu denen sie durchaus fähig war. Friederike war Hinduistin geworden, weil sie diese Religion überzeugender fand als die christliche Glaubenslehre. Mit ihr zusammen durfte ich den ‹Gottesdienst› von Mahadevan besuchen. Sie hatte zwar einen privilegierten Status, musste und wollte aber die rituellen Praktiken der Hindugemeinde mitvollziehen. Eines Tages fuhren wir dann mit Autos nach Kanchipuram. An diesem heiligen Ort residiert ein Shankaracharya, der Nachfolger des Shankara ist, des Gründers der Lehre des Advaita-Vedanta. Es gibt an vier Orten solche Shankaracharyas, wobei jener in Kanchipuram als der oberste von ihnen gilt. Wir fuhren in der prächtigen Tempelstadt, deren Pracht um den residierenden Shankaracharya gipfelt, jedoch zu einem Besuch seines Vorgängers, der wiederum Professor Mahadevans Guru gewesen war. Er hatte sich der Übung gemäß ins asketische Einsiedlerleben zurückgezogen. Das ergibt sich aus der dortigen Personalsukzession: Jeder Nachfolger in dies Amt wird schon als Knabe vom amtierenden Amtsinhaber aufgrund der Eingebung eines Augenblicks bestimmt. Er zieht dann über Jahre lehrend und segnend durch ganz Indien. Wenn der Vorgänger älter wird und etwas gebrechlich, tritt der junge Mann in sein Amt ein, und der Vorgänger beginnt, seinen spirituellen Aufstieg zum einen und höchsten Grund in Armut und Askese zu vollenden. Der ältere Shankaracharya, Chandrashekarendra Saraswati, lebte in einer Holzhütte, eher einem Verschlag, ohne schließendes Dach und ohne Fenster. Er sprach nicht mehr. Über den oberen Rand der Hütte konnte er sein Gesicht zeigen und auf besondere Worte der wenigen Besucher mit seinen Gesichtszügen, etwa einem Lächeln, und zustimmenden Hin- und Her-Neigen antworten. Sein Anblick strahlte offenbar für die, denen er gewährt wurde, eine besondere Machtwirkung aus. Die Besuchsgruppe brachte ihm ein Geschenk mit: eine Taschenlampe. Denn seine Augen sahen schlecht, und es gab in der Hütte keine Elektrizität. Als sein Gesicht erschien, geschah, was meine Erfahrung bei Papst Pacelli in Rom weit überbot: Alle warfen sich zu Boden – jedoch diesmal nicht mit den Knien auf Teppiche oder Marmor, sondern mit dem ganzen Körper im Freien. Dort war der Boden leichtem Dauerregen ausgesetzt. So sah ich die Königin von Griechenland rechts vor mir flach sich auf den matschigen Boden niederwerfen.

War das vorgeschrieben oder eine spontane Reaktion?

Das war wohl schon vorgeschrieben, Mahadevan tat es auch. Und obwohl ich ebenfalls tief beeindruckt war, blieb ich wieder stehen. Einer, der die ganze geistliche Macht innegehabt hatte, lebt in einer Hütte mit halb offenem Dach. Stellen Sie sich das bei unserem pensionierten Papst Benedikt XVI. vor! – In der Folge kam es aber zu einer weiteren Szene, die den Gesamteindruck des Heiligen auf mich noch erhöhte: Eine Dienerin trug zu dem Shankaracharya eine Schale mit seinem Essen, die sie in eine Luke stellte. Sie war in ihrem Sari von großer Schönheit, zumal in ihren harmonischen und ausdrucksvollen Bewegungen. Diese indische Dienerin näherte sich dem Heiligen in einer Haltung tiefster Ergriffenheit und Überzeugung von der Gegenwart des Höheren und der Ehre ihres Dienstes. So etwas lässt sich nicht einüben. Ich hatte im selben Moment den Gedanken: So also muss man sich eine Frau vorstellen, die auf Jesu Frage, wer er sei, bekennend antwortet: «Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!» Ich habe eine solche gestische Szene nie wieder erlebt.

Dies waren die beiden Momente, während derer mir das Heilige vollkommen gegenwärtig schien. Ich konnte mich selbst aber nicht in die Erfahrung hineinziehen lassen. Ich kann nur von außen die Realität des Heiligen bestätigen und suchen, es im Vollzug bewussten Lebens anderer zu verstehen.

Zu welchem Ergebnis kamen Sie dabei?

Vielleicht geht das Phänomen in seiner Grundbedeutung für eine religiös orientierte Lebensführung auf frühere Epochen der Entfaltung des bewussten Lebens zurück. Jedenfalls hatte diese Erfahrung Folgen für mein Verständnis der Kirche, das heißt der Geschichte und möglichen Gegenwart des Christentums. Es gibt offenbar Religiosität in verschiedenen Modalitäten. Wenn ich an meine Eltern zurückdenke, so spielte eine Erlösung durch Jesus Christus in ihrer Frömmigkeit kaum eine Rolle. Gott ja, und zwar der Gott, in dem die Liebe selbst gründet und ganz verwirklicht ist. Meine Mutter glaubte und wollte mich lehren, dass eine von inniger und hingebungsbereiter Liebe geprägte Lebensführung das Höchste dessen ist, was in der Welt überhaupt erreicht werden kann.

Gott also nicht als Schöpfer?

Dass es einen Grund für das Dasein der Welt geben muss, erscheint ja schon dem alltäglichen Nachdenken als zwingend. Erst Humes Skepsis und Kants Tiefenanalyse des Ursprungs dieser Überzeugung haben den Zweifel an ihr allgemeiner werden lassen. Jeder kann aber noch immer die argumentative Kraft schon in Kinderliedern nachvollziehen: Weißt du, wie viel Sternlein stehen? – «Gott der Herr hat sie gezählet». Es muss doch einen Wissenden geben, dem das Unendliche nicht verschlossen ist. Und die Lieder sagen zudem, dass er kein Ingenieur ist, der sich nur für sein Werk als Ganzes interessiert, und dass man sich ihm anvertrauen kann. Ich habe solche Lieder als Kind mit allen Strophen gern gesungen. Die kindliche Weltbeziehung und Frömmigkeit, die in den Argumenten dieses Liedes anklingen, hat größere Vorgänger inspiriert, so Paul Gerhardt und Matthias Claudius zu ihren Dichtungen.

Ein Leben in Frömmigkeit?

Paul Gerhardt hatte als Dichter das Glück, einen Komponisten zu finden, der auf der Höhe der Kompositionskunst der Zeit seine Gedichte vertonte und eingängig werden ließ. Wahrscheinlich haben die Kirchenlieder von Paul Gerhardt für den Protestantismus mehr bedeutet als alle Predigten und Dogmatiken zusammen. Die einfachen Gedankenführungen von Matthias Claudius, dieses frommen Journalisten, gehören dazu, der mit seinen Gedichten die Atmosphäre kindlicher Frömmigkeit auch in Erwachsenen ganz rein aufgehen lassen kann. Deren Werke hatten auch für meinen katholischen Kollegen Robert Spaemann, der vor kurzem starb, eine herausragende Bedeutung

Betrachten Sie die christliche Lebensführung mit Bewunderung, auch wenn Sie ihr selbst nicht folgen?

Mit Spaemann konnte ich über vieles offen sprechen. Er war Christ zunächst aus Erkenntnis, die mehrere Wurzeln haben kann. Dagegen hatte ich die christliche Kindheitserfahrung, die dann unter Herausforderungen gestellt worden ist. Vor allem in dogmatischer Betrachtung hat das Christentum übrigens wirklich insofern einen Vorrang unter den monotheistischen Religionen, als es der Unbegreifbarkeit des Göttlichen in ganz anderem Maße als die übrigen gedanklich Ausdruck zu verleihen vermag.

Wie meinen Sie das?

Aufgrund der gerade für das Christentum wesentlichen Gedanken über den Einschluss des Endlichen in der Unendlichkeit Gottes kann sich auch ein katholischer Systematiker wie Klaus Müller in Münster als Philosoph meiner Art des Verstehens von Endlichkeit anschließen. Seine Glaubensform ist die des Panentheismus, der nicht das All als solches das Göttliche sein lässt, sondern im All etwas, durch das das All Eines ist. Im 19. Jahrhundert wurde diese Richtung von der katholischen Kirche als Häresie, als Irrlehre, verurteilt. Nun versucht Klaus Müller, ihr wieder Ansehen zu verschaffen. Da ist viel Gemeinsames, aber ich bleibe in der philosophischen Welt, in der man Verheißungen und Verkündigungen auch philosophisch muss einlösen können. Die Bibel ist für mich kein kanonisierter Lehrinhalt, sondern umgekehrt ein Ort, an dem man vieles entdecken kann, was die geistige Kraft verständlich macht, aufgrund derer das Christentum zur Weltreligion werden konnte.

Wie würden Sie diese Kraft näher beschreiben?

Ich sehe diese Kraft konzentriert in einigen Grundaussagen über das Menschsein. Zu ihnen gehören also nicht die Lehren vom Ende aller Dinge, vom Jüngsten Gericht, vom kommenden Gottesreich oder gar von Hölle, Teufel und Erlösung; vielleicht nicht einmal die von der Schöpfung und unvergänglichem seligen Leben. Wohl aber Aussagen, in denen die gesamte Theologie des Paulus oder des Johannes angekündigt und beglaubigt sind. Für Johannes etwa: «In der Welt habt ihr Angst», und dagegengestellt: «Furcht ist nicht in der Liebe».

Ihre Position erinnert an Spinoza, den Kritiker eines dogmatischen Bibel-Glaubens. Als Philosoph wollte er sich die Freiheit zu subjektiven Spekulationen offenhalten. Dabei respektierte er Religionsgemeinschaften. Spinoza erwartete, dass diese auch die Frömmigkeit des Philosophen in seiner Eigenart achten sollten.

Hegel sagt, man sollte nicht den einen Atheisten nennen, der lehrt, dass es nichts anderes gibt als Gott. Spinoza sei Akosmist: Es gibt keinen Kosmos unabhängig von Gott.[2] Die Welt ist in Gott. Auch der Panentheismus trägt eine spinozistische Erbschaft in sich.

Bei Spinoza oder Hegel ist das höchste Wesen immer auch eine Denknotwendigkeit, aber nicht unbedingt eine Erfahrung.