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Dieter Henrich

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Beschreibung

ZUM BUCH

Samuel Becketts lebenslange, oft nur implizite Bezugnahme auf Hölderlin wird in diesem Buch neu und von Grund aus erschlossen. Der Hölderlin Becketts hat ein ganz anderes Profil als das, welches im 20. Jahrhundert insbesondere von George und Heidegger aufgerichtet worden ist. Überraschenderweise ist es nicht nur ein moderner Hölderlin. Er bleibt zudem seinen bedeutenden philosophischen Anfängen näher, von denen wir auch erst seit drei Jahrzehnten eine genauere Kenntnis haben. Doch wie lassen sich die Leitworte ‹das Sein› und ‹das Nichts› überhaupt verstehen? Dieter Henrich verbindet zwei ganz verschiedene Erkundungsgänge miteinander, in einer Werkanalyse und im Umriss einer eigenen philosophischen Konzeption. Sie enthält eine Kritik sowohl an den Folgerungen der sprachanalytischen Philosophie wie an Hegels, Heideggers und Sartres Thesen über "Sein und Nichts".

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Dieter Henrich

SEIN ODER NICHTS

Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin

Verlag C.H.Beck

ZUM BUCH

Samuel Becketts lebenslange, oft nur implizite Bezugnahme auf Hölderlin wird in diesem Buch neu und von Grund aus erschlossen. Der Hölderlin Becketts hat ein ganz anderes Profil als das, welches im 20. Jahrhundert insbesondere von George und Heidegger aufgerichtet worden ist. Überraschenderweise ist es nicht nur ein moderner Hölderlin. Er bleibt zudem seinen bedeutenden philosophischen Anfängen näher, von denen wir auch erst seit drei Jahrzehnten eine genauere Kenntnis haben.

Doch wie lassen sich die Leitworte ‹das Sein› und ‹das Nichts› überhaupt verstehen? Dieter Henrich verbindet zwei ganz verschiedene Erkundungsgänge miteinander, in einer Werkanalyse und im Umriss einer eigenen philosophischen Konzeption. Sie enthält eine Kritik sowohl an den Folgerungen der sprachanalytischen Philosophie wie an Hegels, Heideggers und Sartres Thesen über ‹Sein und Nichts›.

ÜBER DEN AUTOR

Dieter Henrich, geboren 1927, war nach seiner Habilitation ordentlicher Professor in Berlin (ab 1960) und Heidelberg (ab 1965), Gastprofessor u.a. an der Harvard University (1973–1984) und von 1981 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1994 Ordinarius für Philosophie in München. Hölderlin gelten mehrere seiner Veröffentlichungen. Der international renommierte Philosoph ist u.a. Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Sciences und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Friedrich-Hölderlin-Preis (1995), den Hegel-Preis der Stadt Stuttgart (2003), den Internationalen Kant-Preis (2004) sowie den Deutschen Sprachpreis (2006). Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten (2011).

INHALT

EINLEITUNG

I. «UND DANN – DAS NICHTS»

Übersicht zu den Kapiteln 1 bis 4

1. Die Begegnung als Einsichtsquelle

2. Beckett zitiert Hölderlin

3. «Mnemosyne» und «Krapp’s Last Tape»

4. Grunderfahrungen: Rousseau – Hölderlin – Beckett

II. GRENZGEDANKEN

5. Komplexionen um ‹Sein› und ‹Nichts›

6. ‹Das Nichts› als sprachlicher Ausdruck und Gedankenprogramm

7. Die Genesis des Gedankens ‹das Sein›

8. ‹Das Nichts› – Unbestimmbarkeit und Gehalt

9. Skizze einer Grundlegung

a. Wirklichkeitsbezug im Denken

b. Über einen Vorrang von ‹Sein› oder von ‹Nichts›

c. Ein Einwand gegen die Denkbarkeit von ‹das Nichts›

d. Zeitdiagnose: ‹das Nichts› und der ‹Nihilismus›

e. Zu Jean-Paul Sartre

f. Über die Möglichkeit des Gedankens ‹Ich bin›

10. Zwischenbilanz

III. GEGENLÄUFIGE VERTIEFUNG

11. Kontemplation

12. Hölderlin: ‹Sein› und Lebensgang

13. Trennung im ‹Sein› und der Weg der Dichtung

14. Becketts Erfahrung in Hölderlins Werk

15. Nichts und Form in Beckett

16. Himmelfahrt und Höllensturz eines?

IV. SELBSTSEIN, AMBIVALENZ UND VERGEWISSERUNG

17. Subjektivität oder Ganzheit in der Faktizität des Lebens

18. Spontane, natürliche Metaphysik – disziplinierte Metaphysik

19. Ambivalenz im Selbstverstehen

20. Die philosophische Theorie im bewussten Leben

21. Umwendung der Blickbahn

Fußnoten

EINLEITUNG

Zwei Worte, die ein Problemfeld anzeigen, das die Philosophie seit ihren griechischen Anfängen ins Nachdenken zog, sind im Titel dieses Buches mit den Namen von zwei philosophierenden Dichtern verbunden. Der Titel kündigt zudem ‹Erkundungen› an, die von der Beziehung Samuel Becketts zu Hölderlin ausgehen. Sie zielen aber zugleich auf die Grundfragen, die mit den beiden Worten der Philosophie verbunden sind. Diese Koppelung einer philosophischen Problematik mit den Namen von zwei Dichtern verlangt gleich zu Beginn nach einer Erklärung.

Obwohl die Namen der Dichter nur im Untertitel stehen, geht von ihnen offenbar der Impuls zu einem solchen Gebinde von Erkundungen aus. So wurde ich selbst fast wider Willen in einen komplexen Untersuchungsgang hineingezogen, als ich über die Lektüre der neueren Erinnerungsliteratur zu Samuel Beckett davon erfuhr, dass Beckett Hölderlin nicht nur bewundert hatte. Er hat sein Werk mit Motiven Hölderlins verbunden und den Leitgedanken, unter den er es stellen konnte, nämlich ‹das Nichts›, an ein Gedicht Hölderlins angeschlossen.

Ich hatte schon früh die Tiefenlotung der Selbsterfahrung, die Becketts Texte evozieren, in der Zusammenarbeit mit einem Studententheater und in einer Lebenskrise erfahren. Hölderlin wiederum war nicht nur ein Thema meiner Forschungen zur Entstehung der idealistischen Philosophie gewesen. Seine Gedichte hatten ebenso wie Beckett den Härtetest bestanden, gerade in verdunkelten Perioden des Lebens bedeutsam zu werden. Aber ich hatte nicht die enge Beziehung zwischen den beiden Dichtern wahrgenommen, die mir nun aus Becketts eigenem Umgang mit Hölderlin vor Augen kam. Daraus ergab sich das Motiv, sogar so etwas wie die Verpflichtung dazu, dieser Beziehung nachzudenken und sie möglichst bis auf den Grund zu durchleuchten.

Schon früher hatte ich dargelegt, in welchem Sinn von Becketts Werk eine Herausforderung an die Philosophie ergeht. Ich wusste von seinen philosophischen Studien und Vorlieben und hatte den philosophischen Motiven nachgespürt, die in seinen Werken zusammen mit dem, was offensichtlich war, ins Spiel kamen. Meine Forschungen zu Hölderlin hatten fast zur gleichen Zeit begonnen. Sie hatten zum Ziel, aus unerschlossenen Quellen die Stellung seiner philosophischen Arbeit in der Geschichte des nachkantischen Denkens und seine Bedeutung für die kritische Weiterbildung von Fichtes Lehre aufzudecken. Aber ich sah keinen Anlass dafür, eine Beziehung von Beckett zu Hölderlins Werk zu vermuten. Stilform und Grundton beider Werke schienen sie geradezu auszuschließen.

Nachdem nun aber klar war, welches Gewicht diese Beziehung für Beckett gehabt hat, musste alsbald das Verhältnis der philosophischen Leitgedanken zu einem Zentralpunkt für neue Überlegungen werden. Hegel hatte ‹Sein› und ‹Nichts› als die allerersten Gedanken überhaupt und als Ausgang der gesamten Geschichte der Philosophie erklärt. Sie traten nun als Leitgedanken der beiden Dichter in eine unerwartete Beziehung zueinander, welche aber die eines ausschließenden Gegensatzes zu sein schien. Denn Hölderlin hatte als Grundorientierung die Voraussetzung eines in sich ungeschiedenen ‹Seins› als Aufhebung aller Trennung begründet. Dagegen nannte Beckett ‹das Nichts› als letzthin einzig Wirkliches, weil es alles, was ist, in seinem ‹Fallen› und im Hingleiten zu einem Enden durchzieht.

So stellte sich nicht nur die Frage, wieso ein Autor, der unter diesem Leitgedanken schrieb, einem anderen nahe sein konnte, für den der Gedanke leitend war, der zu dem seinen im Gegensatz stand. Diese Frage zog sogleich die andere nach sich, die selbst ganz der Philosophie selbst zugehört: Wie sind beide Ausdrücke, deren Bedeutung schon im Alltagsgebrauch zwischen mehreren Allusionen flimmert, überhaupt zu verstehen, und wie ist der Gegensatz zwischen ihnen zu begreifen?

Diese Frage versetzt in die Mitte eines Problemstranges, der gerade die moderne Philosophie von Pascal über Hegel bis zu Heidegger und Sartre durchzieht. Ich war ihm zuvor aus mancherlei Gründen ausgewichen: Ich hatte den Grundsatz von Aristoteles im Sinn, dass ‹sein› in vielerlei Weise gebraucht wird, und war mir dessen bewusst, dass ‹Sein› nicht die Bestimmtheit der Rede von Gott oder der All-Einheit Spinozas erreichen kann. Zudem war klar, dass ‹nichts› gleichfalls in vielerlei Weise gebraucht wird und zudem in eine Paradoxie hineinziehen kann.

Doch es war ebenso klar, dass sich mit diesen Worten Perspektiven für eine Verständigung über das Menschenleben verbinden. Pascal, Kierkegaard, Heidegger und Sartre genügten dafür als Zeugen. Zudem lassen sich die Diagnosen der Moderne als Epoche des ‹Nihilismus› letztlich nur dann verstehen, wenn sich in den Reden vom ‹Nichts› deren Vielfalt über einen inneren Zusammenhang erschließen lässt, in dem sie miteinander verbunden sind.

Für Hegel stand am Anfang der wahren Philosophie die Einsicht, dass ‹Sein› und ‹Nichts› eigentlich ein und dasselbe bedeuten. Für Heidegger, dem sich alles im Versuch erschloss, ‹das Sein› als solches zu denken, verstand es sich von selbst, dass ‹das Nichts› letztlich nur als eine Weise verstanden werden kann, in der ebendies Sein für den Menschen aufgeht. Aber schon der Umgang mit den beiden Dichtern, mit Beckett wie mit Hölderlin, machte deutlich, dass der Gegensatz zwischen beiden Ausdrücken in deren Verstehen nicht zum Verschwinden zu bringen sein wird.

Kurzum: Es war unumgänglich geworden, ein eigenes Konzept zu entfalten, in dem die Rede von ‹Sein› und von ‹Nichts› mit allen ihren Aspekten einen Platz würde finden können. Bücher werden nicht immer nach einem Plan entworfen. Sie können auch, wie in diesem Fall, aus scheinbar geringem Anlass einen Autor dazu nötigen, geschrieben zu werden und dabei weit auszugreifen.

Das Konzept, in das die Verständigung über Samuel Becketts Hölderlin einzufügen war, weist Grundzüge auf, von denen einige hier genannt werden sollen: Der Gegensatz in dem Paar ‹Sein› und ‹Nichts› wird nicht aufgelöst. Er behält mit seiner Forderung nach einer Option zwischen beiden seine Bedeutung für das bewusste Leben der Menschen. Sie ist durch das ‹oder› im Titel des Buches angezeigt. In beiden Ausdrücken artikuliert sich mehr als nur ein allgemeiner Zugang zu einem Gedanken von allem überhaupt. Als solcher sind sie aber auch diesseits aller diskursiven Bildung verständlich und darum dem literarischen Kunstwerk gemäß. Aber er ist auch nur ein erster, niemals ein definitiver Zugang zu einem Abschlussgedanken jenes Überlegens, welches ein ‹Alles› im Blick hat. Insofern muss die Philosophie über den Gegensatz hinausdenken.

In jedem der beiden Glieder des Gegensatzes sind nun aber mehrere Bedeutungszüge zusammengefasst. Das macht einen wesentlichen Teil ihrer Bedeutung für eine vortheoretische Lebenspraxis aus. Doch kann, was scheinbar nur Vieldeutigkeit ist, selbst erst dann verstanden werden, wenn man eine Dynamik in der Kognition und in der Gesamtverständigung des Menschen über sich überschauen kann. Sie wird in einer Skizze entfaltet. Ohne sie bliebe es auch unverständlich, wieso der Paradoxie im Gedanken eines absoluten Nichts doch eine bestimmte Stelle im Prozess der Selbstverständigung des Menschen zukommen kann.

Das Buch setzt nicht voraus, dass sein Leser diesem philosophischen Gedankengang nachgehen will. Darum ist allen Kapiteln ein Vortext vorangestellt. Er soll es möglich machen, sich jederzeit in der Übersicht über das Ganze zu halten oder sich in sie zurückzubringen – auch wenn das eigene Interesse auf Beckett oder auf Hölderlin allein konzentriert sein sollte. Wer umgekehrt nur den philosophischen Erkundungen nachgehen will, könnte somit auch die Passagen textnaher Interpretation übergehen.

‹Erkundung› werden alle Überlegungen des Buches genannt – zum kleineren Teil deshalb, weil in ihnen einer zuvor noch gar nicht absehbaren Fragestellung nachgegangen wird. Überwiegend geschieht das jedoch, weil jede Argumentation in einen bestimmten Zusammenhang übergreifenden Interesses gestellt ist. Sie kann deshalb nicht allseitig abwägend verfahren. Ein Text, der ‹Untersuchung› genannt wird, wäre dazu verpflichtet. Vor allem in den philosophischen Kapiteln geht es aber darum, einen Zusammenhang zu erschließen und übersichtlich werden zu lassen – nicht um seine Fundierung und Sicherung gegenüber allen Einwänden, die mit Gewicht gegen ihn geltend zu machen sind.

Die vielfach verschränkte Problemlage hat zu vier Buchteilen geführt, die sich in ihrem Thema und ihrer Verfahrensart grundlegend voneinander unterscheiden. Der erste Teil ist Forschung im engeren Sinn des Wortes, der detektivisches Kombinieren einschließt. Er versucht, aus vielerlei Quellen Samuel Becketts Beziehung zu Hölderlin möglichst umfassend zu erschließen. Dazu gehört, dass Spuren und Nachwirkungen seines Umgangs mit Texten Hölderlins in den eigenen Werken Becketts aufgedeckt werden. Der zweite Buchteil hat sprachanalytische Untersuchungen über die Bedeutung der Ausdrücke ‹sein› und ‹nichts› im Blick. Er nimmt Rücksicht darauf, dass über dieses Verfahren die wichtigsten Argumente dafür gewonnen werden, auf den Gebrauch der Rede von ‹dem Sein› und ‹dem Nichts› zu verzichten, widerspricht aber dieser Schlussfolgerung. Dazu wird der Genesis der Hauptwörter ‹das Sein› und ‹das Nichts› in der deutschen Sprache nachgegangen. Im Hintergrund ist dabei die These leitend, dass schon die Entwicklung der Sprachen selbst von philosophischen Denkaufgaben mitbestimmt ist. Dieser Teil geht dann zum Entwurf einer philosophischen Grundlegung über, die von fern kantischen Motiven folgt. In ihr sollen die Ergebnisse der genetischen Untersuchung, die vorausging, in ihren eigentlichen Zusammenhang gerückt werden. Dem folgt noch eine Reihe von selbständigen Exkursen. In ihnen werden auch Grundfragen aufgebracht, die in dem Begründungsgang selbst beiseitegelassen werden müssen.

Auf die unterschiedliche Weise, in der bedeutende Werke der Philosophiegeschichte im Ganzen des Buches besprochen und kritisiert werden, soll an dieser Stelle eigens hingewiesen werden. Sartres Theorie über Sein und Nichts gilt ein Exkurs im zweiten Buchteil. Auf Heidegger geht der Text selbst wiederholt ein, bevor eine Diagnose von Heideggers Zugang zu dem Thema seiner ‹Seinsfrage› in einem späteren Kapitel entwickelt wird. Die ebenso wichtigen Überlegungen, die Hegels Logik betreffen, sind wegen ihrer besonderen Schwierigkeit ganz in Anmerkungen verwiesen worden.

Der dritte Buchteil wendet sich nunmehr Hölderlins und Becketts Werk jeweils insgesamt zu. Es soll gezeigt werden, wie sich deren Werk unter den Leitgedanken von ‹Sein› und von ‹Nichts› so aufbaut, dass – unangesehen des Gegensatzes zwischen ihnen – die besondere Nähe beider zueinander verständlich wird. Beckett hat sie wahrgenommen, ohne von Hölderlins Eigenständigkeit in der Philosophie und von seinem Leitgedanken etwas wissen zu können. Auf Becketts Werk fällt dabei von einigen seiner Passagen her im Schlussteil des Kapitels noch ein neues, mir selbst besonders bedeutsames Licht. Der vierte Buchteil ist dann ein Erkundungsgang in demjenigen philosophischen Denken, das den eigentlich ganz unpassenden Namen ‹Metaphysik› ererbt hat. In der Philosophie um 1800 ist es grundlegend verwandelt worden – zu einer Gestalt, die für mich noch immer maßgebend ist, die aber heute durchaus nicht mehr zu imitieren ist, sondern eine eigenständige Umsetzung verlangt.

Da ich das Buch ohne jede Hilfe und wechselnd an zwei Orten zu schreiben hatte, wird man in ihm leider einige technische Mängel beobachten. Sie erklären sich oft daraus, dass ich nur noch selten zu den wissenschaftlichen Bibliotheken gelangen konnte. Zwar gibt es für Beckett noch keine Ausgabe, die einen Standard für Verweise so festlegen könnte wie die Große Stuttgarter Ausgabe es für Hölderlin noch immer tut. Aber ich musste in einigen Fällen auf meine eigenen Bücher zurückgreifen, die manchmal nur die deutsche Übersetzung enthalten oder die (wie manche Suhrkamp-Ausgaben) mehrsprachig verfasst sind und die nicht in anderen Sprachräumen zugänglich sein werden. Auch bei der Sekundärliteratur oder bei der erwünschten Einsicht in bisher noch nicht Publiziertes gibt es solche Einschränkungen. Mark Nixon (Reading) hat mir einige wichtige Dokumente und Daten zugänglich gemacht.

Der erste Buchteil entspricht in wesentlichen Teilen einem Aufsatz, den ich zu dem von Friedrich Vollhardt herausgegebenen Sammelband über Hölderlin in der Moderne (Berlin 2014) beigetragen habe. Für einen Austausch über die Bereiche, welche das Buch zum Thema hat, möchte ich vor allem meinen Kollegen Christoph Jamme, Charles Larmore, Ulrich Pothast und Friedrich Vollhardt sowie Rolf Breuer auch hier meinen Dank sagen. Stefan Bollmann und Angelika von der Lahr im Verlag C.H.Beck danke ich für ihre Geduld beim Anwachsen des Buches weit über den geplanten Umfang hinaus und für ihren Rat und eine umfassende Hilfe schon bei der Fertigstellung der Druckvorlage. Neben Stefan Bollmann hat Michael Schwingenschlögl zur Korrektur des Typoskripts vieles beigetragen. Die Autoren, deren Veröffentlichungen für mich von Bedeutung waren, sind in den Anmerkungen genannt.

Ich bitte darum, dieses Buch, das wohl mein letztes dieses Formates sein wird, nicht für eine Zusammenführung oder gar für ein letztes Wort zu allem dem zu nehmen, dem ich in früheren Büchern und Abhandlungen nachgegangen bin. Es hat zwar einen Bezug zu vielem, was mir wesentlich gewesen und geblieben ist. Aber es ist doch das Resultat eines zufälligen Anlasses: des neuen und überraschenden Wissens von Hölderlins Bedeutung für Samuel Becketts Werk.

München, Oktober 2015

Dieter Henrich

I. «UND DANN – DAS NICHTS»

Übersicht zu den Kapiteln 1 bis 4

Es wird zunächst auf das Interesse eingegangen, das die noch neue Kenntnis von Becketts Kenntnis und besonderer Hochschätzung Hölderlins haben kann. Sodann werden die Quellen besprochen, und es wird dargelegt, welche Gedichte Hölderlins für Beckett von lang anhaltender Bedeutung gewesen sind. Dabei muss auf die Geschichte der neueren Hölderlin-Ausgaben eingegangen werden. Nur so kann nämlich verstanden werden, wie Beckett den Text las, der für ihn ein selbständiges Gedicht war, der aber nun als erste Strophe des dreistrophigen Gedichts Mnemosyne gilt. Diese Strophe war für Becketts Krapp’s Last Tape von zentraler Bedeutung.

Um diese Bedeutung tiefer zu erschließen, muss man weiter noch Becketts und Hölderlins Beziehung zu einem Schlüsseltext von Jean-Jacques Rousseau beachten. Dann wird auch verständlich, dass Beckett in einer wichtigen Äußerung an diesen Text Hölderlins, den er auswendig zitieren konnte, den Leitgedanken anschloss, unter den er sein gesamtes eigenes Werk stellen konnte: ‹das Nichts›.

Damit wird deutlich, dass eine Verständigung über Becketts Beziehung zu Hölderlin in eine philosophische Untersuchung über das Verhältnis der Leitgedanken einerseits von Beckett, andererseits von Hölderlin übergehen muss. Denn in der Zeit von Hölderlins philosophischen Anfängen lautet dieser Leitgedanke: ‹das Sein›. So muss es also zunächst einmal scheinen, als könne die Beziehung der beiden philosophierenden Dichter letztlich doch nur die eines direkten Gegensatzes sein. Nach der philosophischen Erkundungsarbeit des zweiten Buchteils ist es dann möglich, zu Hölderlins und Becketts Werk in einer neuen Perspektive zurückzukehren.

1. Die Begegnung als Einsichtsquelle

Ein Buch unter einem Titel zu schreiben, der auf eine Beziehung Becketts zu Hölderlin verweist – daran hätte niemand denken können, bevor das Jahrhundert auf sein Ende zuging, in dem Samuel Beckett gelebt hat. Der Titel zeigt nicht nur an, dass sich Beckett in irgendeine Beziehung zu Hölderlin bringen lässt oder dass er Kenntnis von Hölderlin hatte und gelegentlich auf ihn Bezug nahm.[1] Er setzt voraus, dass Beckett Hölderlin hoch schätzt, dass er ein ihm ganz eigenes Bild von Hölderlin und von seiner Bedeutung hatte, und zudem, dass Beckett Motive, die er in Hölderlin fand, anhaltend und als für ihn selbst wesentlich im Sinn blieben, so dass sie immer wieder in sein eigenes Werk einfließen konnten. Schließlich ist mit dem Titel angezeigt, dass das Nachdenken über die Bedeutung Hölderlins für Samuel Beckett in Probleme hineinzieht, die Anlass zu einer eigenständigen Erkundung von Grundfragen der Philosophie geben.

Die Tatsache der Bedeutung Hölderlins für Samuel Beckett ist den Freunden von Hölderlins Werk wohl noch ganz unbekannt. Selbst in der Literatur zu Beckett, die zu einer eigenen Fachrichtung angewachsen ist, sind die Kenntnisse von ihr sporadisch und fast ausschließlich neueren Datums. Die maßgebliche Beckett-Biographie von James Knowlson, die 1996 erschien, erwähnt Hölderlin nur als ein Beispiel für Becketts ausgedehnte Lektüre fremder Literaturen und deren Wirkung auf Becketts Werk.[2] Inzwischen ist die Zahl publizierter Erinnerungen an Begegnungen mit Beckett kontinuierlich angestiegen. Und seit Knowlson über Becketts Tagebücher von seiner langen Reise durch Deutschland im Jahr 1937 berichtet hat, ist das Interesse an Becketts Beziehung zu dem Land und zu seiner Kultur schnell angewachsen. Die Erinnerungen in englischer, französischer und deutscher Sprache lassen sich nun mit Texten Becketts zusammenführen, in denen Hölderlin erwähnt oder im Hintergrund gegenwärtig gewesen ist.

Damit erweitert sich das Spektrum von Hölderlins Gegenwart im zwanzigsten Jahrhundert überraschend und gewichtig zugleich. Denn der Hölderlin Becketts hat ein ganz anderes Profil als das, welches uns von Stefan George, Norbert Hellingrath und Martin Heidegger aufgerichtet worden ist. Geht man von dem Dichter aus, der in Georges Wirkungsbereich zu seiner wirklichen Größe allererst befreit werden sollte, so muss eine nahe Beziehung auf ihn im Werk Becketts als geradezu ausgeschlossen erscheinen. Becketts Hölderlin kann nicht der des hohen Frohlockens der vaterländischen Gesänge, der Dichter des Dichtertums und der Übersetzer pindarischer Form in eine verwandelte abendländische Zukunft sein. Beckett musste in Hölderlins Werk solche Züge gewahren und hervorheben, in denen sein eigenes Verstehen von Grundzügen des Wirklichen, von menschlichem Geschick und von moderner Kunst vorausgenommen und eindrücklich zur Sprache gebracht ist.

Nun wird kaum ein Dichter deutscher Sprache von Rang im zwanzigsten Jahrhundert an Hölderlin einfach nur vorbeigegangen sein. Von Trakl, von Celan und auch von Rilke wurde Hölderlin zwar in der Folge von Hellingraths editorischer Meisterleistung, aber doch in einer Weise wahrgenommen, die sich von Georges und von Heideggers Aufnahme und Anschluss an die Hymnendichtung Hölderlins mehr oder weniger weit entfernt hielt.[3] Keiner von ihnen hat zwischen seiner Wahrnehmung Hölderlins und der Formgebung der eigenen Werke eine Verbindung von solcher Nähe sehen können, wie dies von Beckett bezeugt ist. Die neueste britische Erforschung der Genese von Becketts Verständnis von Dichtung hat sogar eine Begründung für die These geben können, dass Becketts Berührung durch Hölderlins späte Gedichte von Bedeutung dafür war, dass er auf den Weg zu der Werkform finden konnte, die ihn berühmt gemacht hat.[4]

Nun besteht zwischen Beckett und Hölderlin gerade auch in Beziehung auf die Philosophie eine Verwandtschaft. Beckett konnte sie wohl wahrnehmen, von ihrer Eigenart aber keine Kenntnis haben. Denn Hölderlins Philosophieren war samt dessen Quellen zu Becketts Lebenszeit noch kaum bekannt. Beiden ist aber gemeinsam, dass sie zu ihrem Eigenen in der Kunstproduktion erst gelangten, nachdem sie eine Zeit nachhaltigen Umgangs mit der Philosophie durchlebt hatten. Bei Beckett war dies ein anhaltendes Studium philosophischer Werke, dessen Intensität von der eigenen Erwartung der Bedeutung für seine Welterfahrung und deren Vertiefung gesteuert gewesen ist. Seine Lektüre lag folglich auch weitab von den Präferenzen seiner Umgebung und seiner Freunde. Seine Studien haben nirgends die Grenze hin zu eigenständiger theoretischer Arbeit überschritten. Dagegen hatte Hölderlin in den Erkundungen der Frühzeit der nachkantischen ‹idealistischen› Philosophie eine wichtige Rolle gespielt.[5] Unangesehen dieser Differenz zeichnet sich in den poetischen und literarischen Texten beider ein philosophischer Untergrund deutlich ab. Der Wunsch, Klarheit über ihn zu gewinnen, kann aus dem Studium der Texte beider als so dringlich hervorgehen wie bei kaum einem anderen Werk großer Dichtung.

Beckett hat nicht versucht, diesen Untergrund in Hölderlins Werk aufzuspüren und sich deutlich zu machen. Die Hinweise auf eine philosophische Position, der Hölderlin zugerechnet werden könne, die er in seinem Lehrbuch zur Geschichte der Deutschen Literatur finden konnte, hat er ignoriert.[6] Wohl aber hat er Passagen aus Hölderlins Gedichten (und auch aus dem Hyperion) mit den Einsichten verbunden, die für ihn selbst erschließende Bedeutung hatten. Dadurch hat er Hölderlin noch mehr, als dies über einen Versuch textnaher Interpretation hätte geschehen können, mit dem in Verbindung gebracht, was er aus eigenem Nachdenken gewonnen hatte. Dieses Nachdenken hatte aber doch einen philosophischen Bildungsgang durchlaufen und ist mit ihm, der doch nie als Philosoph gelten wollte, auch immer verbunden geblieben.

Davon unabhängig, und doch damit verbunden, war Becketts Hochschätzung von Hölderlin als Dichter – in der Formgebung und sprachlichen Fügung ebenso wie in der Verdichtung human-bedeutsamen sprachlichen Ausdrucks. So hat er über die Wandlung seiner eigenen Ansicht von poetischer Formgebung hinweg in Hölderlin kraft jeweils anderer Facetten seines Werkes eine Art von Weggenossen sehen können.[7]

Es bedarf der Erwähnung, dass Beckett Literatur und die romanischen Sprachen studierte. Wollte man ihn in seinen früheren Jahren einer Profession zurechnen, so wäre es die des Fremdsprachenlektors und des Literatur- und Kunstkritikers gewesen. Solche Personen sind oft zugleich auch Lyriker oder literarische Autoren. Beckett kam mehrfach auch nach Deutschland, um eine Cousine, in die er verliebt war, und deren Familie zu besuchen. Ihr Vater war Kunsthändler in Kassel.[8] So konnte sich seine Kenntnis der deutschen Literatur, die sich aus dem nahen Umfeld seiner Studien ergab, leicht durch persönliche Erfahrungen erweitern. Mit etwa dreißig Jahren lernte er Deutsch im Selbststudium bis hin zum flüssigen Schreiben in dieser Sprache. Schon früh muss er mit Hölderlin-Texten bekannt geworden sein – über das wenige hinaus, was Robertsons Lehrbuch ihm bot. Einer der für ihn wichtigsten Texte Hölderlins, die er lebenslang im Sinn hatte, muss ihm schon früh geläufig gewesen sein.[9] Aus Robertson konnte er aber auch über Hölderlins Krankheit erfahren. Das Wissen vom Lebensschicksal des Dichters muss, wie für viele der Späteren, auch für Beckett die Aufmerksamkeit auf Hölderlin und die Beglaubigung seiner Bedeutung als Dichter gestärkt haben.

Ich werde im Folgenden allenfalls indirekt zu den Untersuchungen beitragen, welche dem Stellenwert von Becketts Hölderlin-Lektüren innerhalb seines eigenen Entwicklungsganges gelten. Der Konzentrationspunkt des Folgenden ist vielmehr die Bemühung darum, in Beziehung auf jene Texte Hölderlins, die für Beckett von nachhaltiger Bedeutung waren, deren Wahrnehmung und den Grund ihrer Hochschätzung durch Beckett zu verdeutlichen. Dabei muss auch auf den eigenen Zusammenhang dieser Texte in Hölderlins Werk geachtet werden, soweit dies eben für die Verständigung über Becketts Wahrnehmung unerlässlich ist.

2. Beckett zitiert Hölderlin

Beckett hat Hölderlins Namen in einigen Texten erwähnt, die er publizierte oder die er mit dem Ziel der Veröffentlichung niederschrieb. Seit Beckett, kurz bevor er vierzig Jahre alt wurde, aufgegangen war, welchen Weg als Autor er als den ihm ganz eigenen einzuschlagen hatte,[10] sind gelehrte Splitter samt der Erwähnung von historischen Personen aus seinen Werken verschwunden. Zeugnisse für seine Beziehung zu Hölderlin sind nun aus den Texten selbst, im Übrigen auch aus Briefen, aus Interviews und den Berichten über Gespräche zu entnehmen. An deren Seite sind als ergiebige Dokumente inzwischen viele Berichte über Begegnungen mit Beckett oder von einer Freundschaft mit ihm getreten. In ihnen sind, oft in großer Übereinstimmung miteinander, Äußerungen Becketts über Hölderlin und über sein Verhältnis zu ihm enthalten.

Zu Beginn sollen nun diese Quellen und mit ihnen die wichtigsten Passagen in Hölderlins Werk, die Beckett selbst gern zitierte, in eine erste Übersicht gebracht werden. Danach soll das Bild, das Beckett von Hölderlins Werk und von seiner Bedeutung hatte, in Beziehung auf drei dieser Passagen deutlich gemacht werden. Es bedarf kaum der Anmerkung, dass sich dies alles immer auch im Vorfeld einer Verständigung über Beckett selbst vollziehen muss.[11]

1.) In Becketts erstem, von ihm selbst nicht veröffentlichtem Roman Dream of Fair to Middling Women[12] ist der ‹arme Hölderlin› erwähnt, und zwar mit zweifachem Verweis auf den Text, der in der Großen Stuttgarter Ausgabe nun die Anfangsstrophe der dritten Fassung von Hölderlins Hymne Mnemosyne ausmacht.[13] Der Bezug ergibt sich aus einer Art inneren Monologs der Hauptperson des Romans, die über ein eigenes mögliches Buchprojekt räsoniert, in dem sich, wie oft in bedeutender Kunst, ein Auseinanderbrechen vollziehen wird. Diese «zerschürfende Dünung der Kunst» – so heißt es in einer Periode, die adäquate Ausdrücke für den Sachverhalt sucht und die Kandidaten dafür überhäuft – mag sogar (und hier lässt Beckett seinen Belacqua aus dem Beginn der ersten Strophe von Mnemosyne zitieren) «zur Not» des «armen Hölderlins alles hineingeht, Schlangen gleich sein. SCHLANGEN GLEICH!» Was da als ein ‹désuni› hervorgeht, wird von Beckett auch mit einem Wort aus einer anderen Zeile der Strophe Hölderlins, die lautet

Und immer ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht,

als das «Ungebund» bezeichnet. Beckett hat das deutsche Wort in den englischen Text hineingesetzt. Der ist allerdings ohnedies mit Splittern von allerlei Lektüren und Sprachkenntnissen überfrachtet. Dennoch erscheint die Erwähnung von Hölderlin auch in einem solchen Zusammenhang noch als hervorgehoben – und dies in Assoziationen zur literarischen Form eines Buches, von dem der Hauptakteur sagt: «Das Erleben meines Lesers soll sich zwischen den Ausdrücken ereignen, im Schweigen, übermittelt in den Pausen, nicht den Worten der Aussage.»[14]

Beckett hatte in einem Notizbuch, das als Dream-Notebook veröffentlich ist,[15] die drei ersten Zeilen dieser Strophe notiert, unter Ausschluss der Schlusswendung, der dritten Zeile («Schlangen gleich»), die er dann aber in den Text des Romans einfügte. Hier folgen die drei Zeilen, die bei Beckett zwischen Notebook und Romantext getrennt sind:

  Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet

Die Frücht und auf der Erde geprüfet und ein Gesez ist

Daß alles hineingeht, Schlangen gleich,

Alle diese Umstände, samt dem Hinweis auf Hölderlin als des ‹armen›, machen es wahrscheinlich, dass Beckett zu dieser frühen Zeit nicht nur irgendein Textfragment von Hölderlin unter die Augen gekommen war, sondern dass ihm zumindest der Text der gesamten Strophe vorlag. Wie und aus welcher Ausgabe er ihm zugänglich war – lange bevor er selbst eine solche Ausgabe besaß –, lässt sich nicht ausmachen. Ob bei seinen Verwandtenbesuchen in Kassel oder auf den Bibliotheken, die er benutzte – er hatte genügend Gelegenheiten, Hölderlin-Texte in die Hand zu bekommen. Die Strophe ist auch so bedeutungsgeladen und reich an gnomischen Sätzen Hölderlins, die inzwischen bekannt sind und weithin auch aufgenommen werden, dass man sich leicht vorstellen kann, er sei schon zu so viel früherer Zeit in einem Gespräch auf den Vers aufmerksam geworden. In der Folge wird sich noch zeigen, dass die Frage, welche Textedition ihm vorlag, durchaus einiges Gewicht hat. Denn die Strophe schließt mit Zeilen, die für Beckett über lange Jahre besondere Bedeutung erhalten sollten.

2.) Die Strophe Hölderlins, von der soeben zu handeln war, ist in Robertsons Hölderlin-Darstellung nicht enthalten. In seinem Roman Watt, den Beckett während des Krieges in Frankreich in seiner Muttersprache schrieb, ist dagegen auf Hyperions Schicksalslied angespielt, also auf einen Text, der vollständig Robertsons Darstellung zu entnehmen war. Beckett kannte das Gedicht auswendig und hat es bei vielen Gelegenheiten auf Deutsch vorgetragen. Wahrscheinlich prägte er es sich unabhängig von seiner Lektüre des Hyperion ein, die für die Zeit nach 1937 bezeugt ist. Es gibt keine Hinweise darauf, dass er sich über die Stellung des ‹Liedes› in der Komposition des gesamten Hyperion Gedanken gemacht hat. Obwohl es kraft seiner lyrischen Form im Text des Hyperion eine Sonderstellung hat, ist in ihm nicht etwa die Quintessenz von Hyperions Einsicht auf dem Wege in sein Eremitendasein zu sehen.[16] Aber in ihm ist die Erkenntnis eines Grundzugs im Leben der Menschen ausgesprochen, die Beckett bis in den Wortlaut hinein als wahr und ihm selbst vertraut erfahren hat. Die letzte der drei Strophen spricht diese Einsicht aus:

Doch uns ist gegeben,

            Auf keiner Stätte zu ruhn,

                  Es schwinden, es fallen

                        Die leidenden Menschen

                              Blindlings von einer

                                    Stunde zur andern,

                                          Wie Wasser von Klippe

                                                Zu Klippe geworfen,

                                                      Jahr lang ins Ungewisse hinab.

In Watt hat Beckett in Hölderlins Text, dessen Sinn nicht ungemäß, das ‹Jahr lang› der letzten Zeile zu ‹endlos› verändert.[17] ‹Schwinden› und ‹fallen› sind Worte, die Becketts eigener Sprache über das Geschick des Menschen zugehören. Beckett konnte auch wissen, dass Hyperions Schicksalslied zum lyrischen Bildungskanon der Deutschen gehört. Wenn er es also auswendig zitierte, so konnte er auf mehr Verstehen rechnen als bei anderen Gedichten Hölderlins, die ihm ebenso vertraut waren und die ihm noch bedeutender, auch bedeutsamer für ihn selbst erschienen sind.

Ein Bericht besonderer Art steht im Zusammenhang mit Becketts Regiearbeit in Stuttgart. Bei einem Essen «aller Beteiligten» mit dem Intendanten des Senders kam es zunächst nur zu einem stockenden Gespräch. Schließlich kam man «über Goethes Lieblingswein, den ‹Eschendorfer Lump›, aber auf Hölderlin zu sprechen». Beckett rezitierte in Deutsch lange Passagen dieses von ihm besonders geschätzten Dichters. Er rezitierte auch Hyperions Schicksalslied und gewann gegen den Gastgeber eine Wette über den Wortlaut von dessen erster Zeile. Am nächsten Tag wurde Beckett vom Intendanten zum Hölderlin-Turm in Tübingen gefahren. Zudem überreichte ihm der Intendant «eine große Hölderlin-Ausgabe». Beckett schrieb, als er nach Paris zurückgekehrt war, an den Intendanten: «I think with emotion of your many kindnesses to me in Stuttgart, of which not least the visit to Tübingen …»[18] Ein anderer Bericht will es, dass Beckett auch dort «ergriffen» das Schicksalslied «in wunderbarem Deutsch» gesprochen haben soll – dann also in einer direkten Beziehung auf das Lebensschicksal seines Dichters.[19]

3.) Noch vor dem Entstehen von Watt hat Beckett in einem kritischen Essay zu Gedichten von Denis Devlin auf Hölderlin und auf dessen spätes Gedicht Der Spaziergang Bezug genommen.[20] Er schreibt einem Gedicht von Devlin «the distinction of a late Poem by Hölderlin» zu, aus dem er die Zeile zitiert «Ihr lieblichen Bilder im Thale». Seine Hochschätzung begründet er mit der Wiederholung einer Zeile in dem Gedicht Devlins und aus der «außerordentlichen Evokation des Ungesagten durch das Gesagte».[21]

Der Hinweis auf Hölderlin geschah 1938, also kurz nachdem eine Ausgabe von Hölderlin in Becketts Besitz war.[22] Aus ihr hat er wohl dies Gedicht kennengelernt. Es ist gut bezeugt, dass seine Hochschätzung so weit ging, dass er ein eigenes vierzeiliges Gedicht, das 1937 entstand, nämlich Dieppe, auf Hölderlins Vorbild zurückführte.

Beckett ergänzt seinen Verweis auf Der Spaziergang mit dem Zitat in Deutsch einer Zeile («Ihr lieblichen Bilder im Thale») des Gedichts als Beispiel. Dies Zitat macht deutlich, von welcher Passage in Hölderlins Gedicht Becketts Dieppe angeregt worden ist. Hier folgen die vier Zeilen aus Der Spaziergang, gefolgt von Becketts Gedicht in seiner eigenen Übersetzung ins Englische:

Ihr lieblichen Bilder im Thale,

Zum Beispiel Gärten und Baum,

Und dann der Steg der schmale,

Der Bach zu sehen kaum,

  DIEPPE[23]

again the last ebb

the dead shingle

the turning then the steps

towards the lighted town

Beckett hatte keine umfassende Kenntnis von Hölderlins Werk. Er hatte viel von ihm gelesen, hatte sich aber nur auf wenige seiner Gedichte wirklich konzentriert. Von einer Hochschätzung etwa der Oden, deren Kunstform Hölderlin auf einen Gipfel geführt hat, findet sich keine Spur. Dennoch kann Beckett der Absturz aus der dichterischen Höhenlage nicht entgangen sein, der in den Turmgedichten vollzogen ist und der zu ihrem scheinbar kindlich-kunstlosen Ton und zur Unbeholfenheit schon ihrer grammatischen Mittel geführt hat. Aber Beckett hat selbst gesagt, was ihn dennoch in solchen Gedichten wie Der Spaziergang berührte: Gerade aus diesen Zügen spricht die Distanz zur Welt und die Mühe, die auf jedem Schritt in ihr lastet. Gerade in der Schwäche der Worte liegt zugleich die Kraft, das von ihnen Ungesagte und nicht mehr Sagbare hervortreten zu lassen. In dem scheinbar nur aufzählenden ‹und dann› spürt Beckett die immer wieder erfahrene, vergebliche Last der Umwendung des Lebens im Dämmerlicht zu einem Ziel ohne jedes Versprechen. Elmar Tophoven hat Dieppe, wohl wie immer in Zusammenarbeit mit Beckett selbst oder zumindest mit seiner Zustimmung, mit solchem Hintergrund eindrucksvoll ins Deutsche übersetzt:[24]

und wieder das letzte Verebben

das tote Geschiebe

die Umkehr und dann die Schritte

nach den alten Lichtern

Becketts Hochschätzung von Hölderlin gerade in dessen spätesten Entwürfen und in den Gedichten der Zeit der Krankheit ist vielfach bezeugt.[25] Sie hat mit einer Wendung in Becketts Gedanken über Kunst noch zugenommen, die ihn nunmehr das Gewicht eines Kunstwerks nach dem Grad und der Art seines Scheiterns bemessen ließ. Charles Juilet berichtet von einem Gespräch aus dem Jahre 1977, dass Beckett die Gedichte der Wahnsinnszeit besonders schätzte, dass ihm aber ganze Seiten von Hölderlin auch wenig bedeuten konnten.[26] Dem Bericht von Patrick Bowles aus viel früherer Zeit (1955) ist bereits zu entnehmen: Hölderlins «only successes are the points where his poems go on, falter, stammer, and then admit failure». Wohl mit dem Kontrast entweder zu den frühen Gedichten oder auch zu den ersten Hymnen nach 1800 fuhr er fort: «When he tried to abandon the spurious magnificence» «he was most successful».[27] Bei einer anderen Gelegenheit übersetzte Beckett ihm ein ‹sehr langes› Hölderlin-Gedicht, in dem «ruin and failure» dominieren, spontan aus der Erinnerung an den deutschen Text heraus, als ob er einen in Englisch geschriebenen Text rezitiere.[28]

Nur noch von einem der späten Gedichte Hölderlins wissen wir, dass Beckett mit ihm vertraut war: Die Titanen.[29] Anne Atik, die Frau des Malerfreundes Avigdor Arikha, berichtet, seine Anfangsstrophe habe zu den Texten gehört, die Beckett und Arikha gemeinsam immer wieder rezitiert haben – und zwar im Stehen. Über die Anfangszeilen

Nicht ist es aber

Die Zeit. …

«hielten sich die beiden ekstatisch» als über ein «ungrammatisches Wunder» auf.[30]

Es ist nicht notwendig anzunehmen, dass Arikha das Gedicht erst durch Beckett kennenlernte. Eine «gemeinsame Liebe zur deutschen Literatur»[31] könnte sie ebenso gut wechselweise zu ihrer jeweiligen Wertschätzung geführt haben. Denn der Israeli Arikha hatte Deutsch sprechende Eltern und war, wie Celan, in Czernowitz zur Schule gegangen. Wie viele Gedanken müssen in uns aufkommen, wenn wir uns den Juden Arikha mit dem Iren Beckett in Paris Hölderlin in deutscher Sprache uni sono rezitierend vergegenwärtigen – und ‹ekstatisch› darüber diskutierend!

Man versteht leicht, dass der Romanautor Beckett spätestens dann, als er selbst eine Hölderlin-Ausgabe besaß, den Hyperion lesen wollte – zumal er Hyperions Schicksalslied schon seit langem zu zitieren wusste. Aus den Anstreichungen und Marginalien in der Insel-Ausgabe aus Becketts Besitz lässt sich nun auch erkennen, was ihm in Hölderlins Roman und auch in einigen der früheren Gedichte, die kurz vor und nach 1800 entstanden, bemerkenswert war.[32] In den inneren Einband ist das Erwerbungsdatum «SB 24/12/37» eingetragen.[33] Beckett hat das Bändchen zu einer selektiven Lektüre, nicht aber so genutzt, dass sich von ihm allein und den Spuren seiner Nutzung her seine Hochschätzung und seine genaue Kenntnis einiger der späteren Gedichte erklären lassen. Für die Art der Aufmerksamkeit, mit der er in dem Band las, mögen hier Anstreichungen zu den beiden letzten Zeilen des Geburtstagsgedichts An Landauer erwähnt sein:[34]

Das Fest verhallt, und jedes gehet morgen

Auf schmaler Erde seinen Gang.

Beckett hat die Zeilen angestrichen und das ‹schmaler› zudem unterstrichen: Beckett war also aufmerksam auf alle Spuren von Last und Fall des Erdenlebens in Hölderlins Werk.

Die Annotationen im Hyperion sind von ähnlicher Art. Ich sollte in diesem Text, der noch vor ihrer Veröffentlichung abgeschlossen wird, nicht weiter auf sie eingehen. Becketts Lektüre mit dem Bleistift in der Hand ist über das erste Buch nicht hinausgekommen. Obwohl es möglich ist, dass er sich später noch an die eine oder andere der angestrichenen Stellen erinnerte, hat doch keine von ihnen das Gewicht und die Aufschlusskraft, die dem Nachdruck entsprechen, mit dem Beckett Hyperions Schicksalslied, Der Spaziergang und die Anfangszeilen der Strophe «Reif sind, in Feuer getaucht …» auch nach vielen Jahrzehnten noch zitieren und rezitieren konnte. Ob Beckett Hyperion in seiner Ausgabe gleich nach deren Erwerb las und annotierte, ist nicht auszumachen. Doch berichtet er in einem Brief vom Juni 1939,[35] dass er Hölderlin gelesen habe und dass es ein «deprimierender Gedanke» sei, Hyperion möchte eine notwendige Voraussetzung sein «to the Freie Rhythmen» und «the terrific fragments of the Spätzeit».[36] Da die beiden Obertitel, die er hier auf Deutsch nennt, denen nach Zinkernagel in seiner Insel-Ausgabe entsprechen, liegt die Annahme nahe, dass er Hölderlin zumindest erneut in seiner Ausgabe gelesen hat. In dem Brieftext verwendet er übrigens, an den Briefempfänger gewandt, auf Deutsch die Schlusswendung des letzten Briefes im zweiten Buch von Hyperion: «Nächstens mehr.»[37] Da in seiner eigenen Ausgabe das zweite Buch nicht annotiert ist, kann man also davon ausgehen, dass sich seine Kenntnis von Hölderlins Romantext – auch sofern sie sich aus dem Lesen in seiner eigenen Ausgabe ergab – nicht auf das erste Buch beschränkte.

3. «Mnemosyne» und «Krapp’s Last Tape»

Tatsächlich gibt es eine Passage aus den Texten zu Hyperion, der Beckett noch in späteren Jahren ein großes Gewicht gegeben hat, obwohl sie in seiner eigenen Ausgabe nicht annotiert zu sein scheint. An sie lassen sich Betrachtungen zu einem weiteren Text Hölderlins mit einem verwandten Motiv anschließen. Dieser andere Text aus einem späten Gedicht Hölderlins hat in Becketts eigenem Werk noch tiefere Spuren hinterlassen als alle Texte, auf die bisher einzugehen war. Der Weg über diese beiden Texte wird in das Zentrum von Becketts Nähe zu Hölderlin und seiner Bewunderung für ihn führen.

Der dem Umkreis von Hyperion zugehörige Text stammt aus dem Fragment von Hyperion des vierundzwanzigjährigen Hölderlin, das Schiller der Veröffentlichung in seiner Zeitschrift wert befunden hatte. Er ist der Szene eines Besuchs der ‹Grotte des Homer› und des Totengedenkens an den ‹göttlichen Sänger› entnommen:[38]

Alles war nun stille. Wir sprachen kein Wort, wir berührten uns nicht, wir sahen uns nicht an …

Beckett hatte den Text Hölderlins mit der Angabe seiner Herkunft an den Rand der Übersetzung von That Time geschrieben, die Elmar Tophoven ihm gesandt hatte.[39] Die Zeichensetzung des Zitats entspricht dem Original so genau, dass man vermuten möchte, Beckett habe den gedruckten Text bei der Niederschrift des Zitats vor Augen gehabt. Die Funktion des Zitats ist die einer grundlegenden Anweisung für den gesamten Part B der Stimme im Text von Damals.[40] In dem Stück lauscht ein Gesicht drei Textblöcken nach, die ihm in einer, nämlich der eigenen Sprache von drei Seiten der Bühne zugesprochen werden. Jeder Part entfaltet sich um eine Grundszene, Part zwei um ein Paar, das regungs- und bewegungslos auf einem Stein liegt.

Becketts Kenntnis der Passage aus dem Fragment von Hyperion ist bisher erst aus so später Zeit zu belegen. Die Notiz im Regiebuch setzt vermutlich auch eine so späte neuerliche Aufmerksamkeit auf Hölderlin voraus. Sicher erklärt sich die Notiz auch aus dem Umstand, dass Beckett nunmehr sein Stück mit deutschen Schauspielern in deutscher Sprache inszenierte. Aber es ist höchst wahrscheinlich, dass die Erinnerung an Hölderlin bereits für die Komposition von That Time eine konstitutive Bedeutung hatte. Das folgt daraus, dass die Passage B eine Szenerie entfaltet, die für Beckett auch mit einem anderen Text von Hölderlin koinzidierte, von dem wir wissen, dass er für Beckett über viele Jahre hinweg die erwähnte große Bedeutung gehabt hat.

Damit werden wir zu der Strophe zurückgeführt, deren Anfang Beckett schon zur Zeit seines ersten Romans bekannt war und die, zusammen mit Hölderlins Namen, in seinen Text Eingang fand.[41] Im Blick auf alles Nachfolgende wird hier nunmehr die ganze Strophe vor Augen gestellt:[42]

  Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet

Die Frücht und auf der Erde geprüfet und ein Gesez ist

Daß alles hineingeht, Schlangen gleich,

Prophetisch, träumend auf

Den Hügeln des Himmels. Und vieles

Wie auf den Schultern eine

Last von Scheitern ist

Zu behalten. Aber bös sind

Die Pfade. Nemlich unrecht,

Wie Rosse, gehen die gefangenen

Element’ und alten

Geseze der Erd. Und immer

Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist

Zu behalten. Und Noth die Treue.

Vorwärts aber und rükwärts wollen wir

Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie

Auf schwankem Kahne der See.

Beckett stand wahrscheinlich jederzeit der Wortlaut der gesamten Strophe zur Verfügung, da er sie auswendig kannte. Das ist umso mehr der Bemerkung wert, als es sehr schwer ist, sich den Text mit seinen abrupten Sprüngen und seiner ausnehmend ‹harten Fügung› einzuprägen. Aber es gibt doch hinreichend viele Zeugnisse dafür, dass Beckett ihn besonders wichtig fand und dass er ihn gern rezitierte.

Ehe aber auf den Text eingegangen wird, muss noch ein Sachverhalt aufgeklärt werden, der in der Forschungsliteratur zu Beckett unbeachtet geblieben ist. Die Strophe wird nämlich überall aufgrund der Autorität von Beißners Stuttgarter Ausgabe als die erste Strophe der ‹Dritten Fassung› von Hölderlins letzter Hymne genommen, die den Titel Mnemosyne trägt. Dabei bleibt unbeachtet, dass Beckett diese Ausgabe gar nicht zur Verfügung gestanden hat.[43] Es gehört zu Beißners Leistungen, Mnemosyne, von der keine Reinschrift erhalten ist, aus dem ‹Homburger Folioheft› mit guten Argumenten neu konstituiert zu haben.[44] Die Konstitution der zitierten Strophe als die erste Strophe einer dritten, dreistrophigen Fassung ist gut begründet, hat jedoch keine schlechthin zwingende Evidenz und ist von anderen neueren Ausgaben in Frage gestellt worden.[45]

Für unsere Thematik ist es aber von besonderer Bedeutung, sich darüber klar zu sein, dass Beckett die Strophe zu der Zeit, als er sie kennenlernte, dem Text von Mnemosyne überhaupt nicht zuordnen konnte! Denn in den beiden maßgebenden Ausgaben der Zeit, die früh im zwanzigsten Jahrhundert entstanden und in denen die Strophen zum ersten Male veröffentlicht wurden, galt die Strophe als ein selbständiger Text, der in einem Entwurf und dann in einer gültigen Fassung (untereinander und rechtsbündig) im Homburger Folioheft niedergeschrieben war – und zwar auf einer Folio-Seite neben der Seite, auf der Strophen entworfen waren, die unter dem Titel Mnemosyne standen.

Norbert von Hellingrath hat darum die Strophe «Reif sind, in Feuer getaucht …» ohne Titel unter der Rubrik ‹Lyrische Gedichte› als selbständiges, vollendetes Gedicht herausgegeben. Mnemosyne erscheint dagegen in der Rubrik ‹Hymnen in freien Strophen› an ganz anderer Stelle mit der Eingangsstrophe, die Beißner durch die Strophe «Reif sind, in Feuer getaucht …» für ersetzt hielt.[46] In Franz Zinkernagels Ausgabe ist die Distanz zwischen beiden Texten noch größer: Er hat über die Strophe «Reif sind, in Feuer getaucht …» in Klammern einen eigenen Titel eingefügt, nämlich «[Erntezeit]».[47] So hat er ihn in seinem Band 1 in der Rubrik ‹Freie Rhythmen› erscheinen lassen. Mnemosyne erscheint hingegen im Band 5, der eine Nachlese sowie Briefe an den Dichter darbietet, unter der Rubrik ‹Fragmentarische Gedichte› als Bruchstück.[48]

Die Insel-Ausgabe, die Beckett seit 1937 besaß, hat die Ausgabe Franz Zinkernagels zur Voraussetzung und Grundlage. So erklärt es sich, dass Beckett (auf Seite 214) die Strophe «Reif sind, in Feuer getaucht …» unter Zinkernagels Titel «[Erntezeit]» vorfand, dass in dieser Ausgabe aber Mnemosyne gar nicht enthalten ist. Das mag verwundern, weil der Titel des Bändchens doch eine Ausgabe «sämtlicher Werke» Hölderlins verspricht. Damit ist aber vereinbar, dass ‹fragmentarische Gedichte› nicht oder nur in Auswahl aufgenommen worden sind. In der Auswahl des Insel-Bändchens, für die sich im Druck niemand als verantwortlich bezeichnet hat, ist zumindest bis zur Zeit des Drucks, den Beckett besaß, Mnemosyne ausgeschieden gewesen.[49]

Aus diesem Befund ergeben sich zwei Folgerungen: Die Editionslage von Hölderlins Werk bis zum Erscheinen des zweiten Bandes der Stuttgarter Ausgabe (1951) spricht zusammen mit dem Text, den Beckett besaß, dafür, dass Beckett die Strophe «Reif sind, in Feuer getaucht …» für ein selbständiges und auch ein abgeschlossenes Gedicht gehalten hat. Insbesondere kann man daraus, dass inzwischen diese Strophe zumindest in den Bestand der Texte um Mnemosyne eingebunden ist, nicht folgern, dass Beckett andere Worte, Verse oder Strophen von Mnemosyne überhaupt bekannt gewesen sein müssen.[50]

Damit wird aber die Tatsache umso bemerkenswerter und der Erwägung würdiger, dass die Strophe «Reif sind, in Feuer getaucht …» für Beckett unter Hölderlins Texten eine so herausgehobene Bedeutung gewonnen hat. Dafür geben nicht allein ihre ersten Zeilen eine Erklärung, die schon zur Erwähnung Hölderlins in seinem ersten Roman geführt hatten.[51] In späterer Zeit hatte er jedenfalls die drei Schlusszeilen der Strophe vor Augen:

Vorwärts aber und rükwärts wollen wir

Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie

Auf schwankem Kahne der See.[52]

Beckett muss angenommen haben, dass in ihnen so etwas wie die bedeutsame Schlussfolgerung der dichten Gedankenbewegung der Strophe vollzogen ist, die für sich allein steht und somit aus sich allein verstanden werden muss.

Das führt zurück zu dem Zitat aus dem Fragment von Hyperion, mit dem Beckett eine Verbindung zwischen Hölderlin und der Grundanlage zumindest eines Parts in seinem späteren Stück That Time hergestellt hat. Zu der Aufforderung, in welche die Strophe mündet: uns ohne Gedächtnis und Hoffnung, ausgestreckt im Kahn, von den Wellen wiegen zu lassen, fügt sich leicht die Erinnerung, regungslos beieinander zu liegen in Homers Grotte. Es ist fast dieselbe Grundszenerie, die in beiden Bildern im Blick erscheint. In einem damit legt sich aber die doppelte Frage nahe: Wie konnte für Beckett ein scheinbar doch so alltägliches Bild zu so hoher Bedeutung gesteigert sein?[53] Und wie konnte er gerade in dem, was ihn Hölderlin bewundern ließ, eine solche Szene als das verstehen, in dem sich die Erfahrung des Menschen aus der Erinnerung an die Notzeit einer historischen Epoche zu einer verwandelten Bewusstseinsweise erhob?[54] Beide Fragen können Antworten finden, die unterschieden sein können, obwohl sie miteinander in Beziehung stehen müssen. Auf dem Weg dahin ist noch einiges über die Bedeutung des Gedichts und seiner Schlusspassage für Beckett nachzutragen.

Zum Part der Stimme B in That Time findet sich in Krapp’s Last Tape eine Parallele, die besonders zu beachten ist, weil sie der Szene der Schlusszeilen von «Reif sind, in Feuer getaucht …» noch nähersteht. Krapp spielt die Passage von seinem alten Band drei Mal ab – nach Pausen und mit Einsätzen verschiedener Art. Das Band hält, vor dreißig Jahren besprochen, eine bedeutsame Erinnerung fest. Es wird klar, dass Krapp die Passage genau kennt – samt der Bedeutung, die ihr auf dem Band zugesprochen ist.[55] Er kennt auch die Motive, die ihn die Spule immer wieder abhören lassen. Krapp liegt mit einer Frau, die schon verabredete Trennung von ihr noch vor sich, in einem Kahn, der ins Uferschilf treibt:

Wir trieben mitten ins Schilf und blieben stecken. Wie die Rohre sich seufzend bogen unter unserem Bug! … Ich sank auf sie nieder, mein Gesicht in ihren Brüsten und meine Hand auf ihr. Wir lagen da, ohne uns zu bewegen. Aber unter uns bewegte sich alles und bewegte uns, sachte, auf und nieder und von einer Seite zur anderen[56]

Das alte Band fährt fort mit einem Protokoll zu der Zeit, zu der das Band besprochen wurde:

Nach Mitternacht. Nie erlebte ich solche Stille. Die Erde könnte unbewohnt sein.

Mit Hölderlins Texten aus Fragment zu Hyperion und aus «Reif sind, in Feuer getaucht …» hat der Krapp-Text gemeinsam, dass Menschen im Kahn bewegungslos liegen. In Becketts beiden Texten sind es ein Mann und eine Frau. Beide erscheinen gleichermaßen erfüllt von der Bewegung um sie und unter ihnen.

Es sind nur sehr geringe Zweifel daran möglich, dass Beckett bei der Komposition von Krapp’s Last Tape Hölderlins Schlusszeilen im Sinn gehabt hat. Sie werden wohl ganz schwinden, wenn ein Bericht hinzugezogen wird, der einem deutschen Bekannten von Beckett zu verdanken ist.[57] Bei einem Treffen am 23. September 1969 «sprach Beckett wiederum mit Wärme über Friedrich Hölderlin, dessen Gedichte er liebte. Besonders die ‹aus der Periode des Wahnsinns›. Er zitierte einige Zeilen aus einem Gedicht, das mir unbekannt war.» Nach langer Zeit fand Büttner, der Berichterstatter, heraus, dass es sich, da es «von einem Gewässer, von Ruhe über dem Wasser» spreche, um die Zeilen handeln müsse, die sein Gewährsmann, der Büttner die Herkunft erklärte, wiederum Hölderlins Mnemosyne zuschrieb. Das Gespräch mit Beckett fand in Berlin während der Zeit statt, in der Beckett mit Martin Held an der Inszenierung von Das letzte Band arbeitete.[58]

Einem jungen Bekannten Becketts aus noch späteren Jahren ist die Beziehung zwischen den Zeilen Hölderlins und einem Schlüsseltext in Krapp’s Last Tape gleichfalls aufgefallen. André Bernold[59] berichtet, dass er Beckett zu dessen Geburtstag 1983 die Strophe «Reif sind, in Feuer getaucht …» abgeschrieben habe.[60] Im November habe er, quasi als Antwort, ein Exemplar von Disjecta erhalten. In diesem Band ist ein erster kurzer Auszug aus dem noch ungedruckten Roman aufgenommen. Er umfasst gerade die Passage, in der Beckett über ein halbes Jahrhundert vorher Hölderlins Namen zusammen mit einem Zitat aus jener Strophe aufgenommen hatte. Beckett hatte diesem Abdruck sicherlich seine Zustimmung gegeben. So liegt die Vermutung nicht ganz fern, mit diesem in Disjecta aufgenommenen Auszug und der Gabe des Bändchens an Bernold sei dessen Wahrnehmung, es müsse ein Zusammenhang zwischen der Strophe und Krapp’s Last Tape bestehen, indirekt bestätigt worden.

Die sprachlose Ruhe und Konzentration im Beieinanderliegen haben die beiden Texte des jungen und des erkrankenden Hölderlin miteinander gemeinsam. Doch es ist das Bild aus der späteren Strophe von dem von unten leise bewegten Kahn, welches Beckett mit besonderem Gewicht in sein Werk hat eingehen lassen. Denn Beckett gab seinem Krapp nicht nur viele autobiographische – auch autosatirische – Züge. So will Krapp diese Passage mehrfach anhören, die für ihn in einem direkten Zusammenhang mit einer anderen Erinnerung steht, nämlich an eine ‹Vision›, die, von Beckett dramatisiert und ausgeschmückt, Becketts eigener Erinnerung an eine wichtige plötzliche Einsicht in seiner Biographie als Autor entspricht: an das plötzliche Aufgehen dessen, was sein eigener Weg in der Literatur sein müsse. Von dieser ‹Vision› her war die Eruption (das «Feuer») der Niederschrift seiner Nachkriegsromane in Gang gekommen, in deren Folge auch die Theaterstücke entstanden, die seinen Weltruhm begründet haben. Becketts Krapp, der gescheiterte Schriftsteller, lässt den Tonband-Bericht davon nur gerade anlaufen, um von ihm weg immer wieder auf die Szenerie im Kahn weiter- oder zurückzuschalten. Der Band-Bericht gipfelt in den Sätzen:

Nie erlebte ich solche Stille. Die Erde könnte unbewohnt sein.

Damit und mit dem Verzicht dessen, der diese Sätze einst sprach, als er noch ein neues Feuer in sich spürte, darauf, sich in die eigene Vergangenheit zurückzuwünschen, läuft Krapps letztes Band wortlos weiter in ein unbestimmtes Ende.

Beckett konnte, wie gezeigt worden ist, nur der Meinung sein, dass auch Hölderlins einstrophiges Gedicht «Reif sind, in Feuer getaucht …» mit der Szene im Kahn zu Ende geht. Die Fragen, die sich uns angesichts des Bedeutungsgewichts dieses Hölderlin-Textes für Beckett ergeben haben, stellen sich damit erneut und mit vergrößertem Nachdruck.

4. Grunderfahrungen: Rousseau – Hölderlin – Beckett

Die Antwort verlangt, sich dessen zu erinnern, was der Bildungsgang Becketts mit dem von Hölderlin gemeinsam hatte, so dass sich allein daraus eine große Nähe beider zueinander und gegenüber vielen anderen Dichtern herleiten ließe: den frühen Ausgang von der Philosophie. Zwar war die Studienart der beiden gänzlich verschieden. Das eigenständige Denken und Erkunden Hölderlins in einer historisch bedeutsamen Konstellation hatte viel weiter reichende Folgen als Becketts Selbststudium einiger weniger Autoren. Beide waren jedoch immer von der Last angetrieben und gelenkt, aus den Erfahrungen und den Evidenzen, die ihr Leben durchherrschten und bedrängten, zu einer gefestigten Selbstverständigung zu kommen. Das allein erklärt, warum das, was sie aus diesem Philosophieren gewannen, ihnen auch in ihrem dichterischen Werk immer im Sinn geblieben ist.

Die Szene im Kahn über dem leicht wogenden Wasser könnte als eine ganz alltägliche Situation angesehen werden – etwa eine für viele geläufige Ferienerfahrung von Entspannung in träumerischem Nichtstun. Doch für Beckett war sie nicht nur wie selbstverständlich mit einer hoch gesteigerten Lebensbedeutung besetzt. Er hat diese Bedeutung ebenso unmittelbar aus Hölderlins Strophe herausgehoben. Beides wird nun sogleich verständlich, wenn man sich klarmacht, dass Beckett an eine ihm bekannte Passage eines dritten Autors erinnert war, der diese Szene zum ersten Mal mit solcher Bedeutung besetzt hatte – einer Passage zudem, von der Beckett ohne weiteres voraussetzen konnte, dass sie auch Hölderlin geläufig und dass sie für die Schlussverse seiner Strophe maßgebend gewesen war.

Jean-Jacques Rousseau hat im ‹Fünften Spaziergang› seines letzten Werkes Les rêveries du Promeneur Solitaire die Szene mit dem Vollzug einer Kontemplation des eigenen Selbst und seines Daseins verbunden.[61] In Rousseaus Les Confessions, die um einige Jahre früher geschrieben wurden, sind auch schon Szenen erinnert, die vom Gespür der Bewegung der Wasser des Bieler Sees handeln.[62] Aber erst im ‹Fünften Spaziergang› wird von ihnen gesagt, mit ihnen sei jenes «makellose, vollkommene Glück» aufgegangen, in dem «einzig das Gefühl zu existieren» unsere Seele ganz erfüllt.[63] Von einem Selbstbewusstsein, in dem sich das Leben konzentriert und erfüllt, ist somit die Rede. Damit ist das Thema markiert, von dem gesagt werden kann, dass sich um es, auf jeweils andere Weise, das gesamte Denken von Rousseau, von Hölderlin und auch von Beckett entfaltet hat. Und eben darin ist auch die Nähe von ihnen allen zur Philosophie begründet.

Zunächst ist festzuhalten, dass wir nicht nur mutmaßen müssen, wenn wir unterstellen, beide, sowohl Hölderlin als auch Beckett, seien mit den Spaziergängen Rousseaus und ihren Träumereien vertraut gewesen. Für beide ist das verlässlich dokumentiert.

Ihren emphatischsten Ausdruck findet Hölderlins Verehrung Rousseaus in der Hymne Der Rhein. In ihr erscheint die Gestalt und Sprache Rousseaus im Zusammenhang mit einer Erwähnung des Walds «am Bielersee», auf dessen Petersinsel die Spaziergänge Rousseaus stattgefunden hatten, über die er in der wichtigsten, der ‹Fünften Promenade› berichtet und reflektiert.[64] Becketts Lektüre der Rêveries kann in die Jahre vor seiner Deutschlandreise datiert werden.[65] Beckett konnte gerade auf diesen Text allein schon deshalb aufmerksam sein, weil er auf ein Lob und Versprechen der Einsamkeit hinauslief. Es kann Beckett auch nicht ferngelegen haben, eine Nähe zwischen Rousseaus Ende als eines von der Gesellschaft Ausgestoßenen und Hölderlins zweiter Lebenshälfte im Tübinger Turm auszumachen.

Was nun aber Rousseaus reines Bewusstsein der eigenen Existenz betrifft, das ihm im Kahn und am Ufer der Insel aufging, so muss zunächst gesagt sein, dass es hier nicht darum gehen kann, seiner Verfassung, seinem Vollzug und seinen Voraussetzungen weiter nachzudenken. Schon im Text der Rêveries macht das nicht geringe Schwierigkeiten.[66] Das Selbstbewusstsein des Menschen wird in Rousseaus Gesamtwerk an vielen Stellen zum Thema. Sie wären also zu dem selbstbezogenen Glück der Erfahrung am See in Beziehung zu setzen. Um Becketts Hochschätzung von Hölderlin gerade in der Strophe «Reif sind, in Feuer getaucht …» zu verstehen, bedarf es einer Bezugnahme auf Rousseau aber nur so weit, wie dies unabdingbar dafür ist, den Text Hölderlins vom Blickpunkt Becketts aus wahrnehmen zu können. Dies allerdings setzt wiederum voraus, dass man Hölderlins eigene Fügung der Motive und Gedanken dieser seiner Strophe erwogen hat, was wiederum nur zusammen mit einem Rückblick auf Rousseau gelingen kann.

Hölderlins Strophe unterscheidet sich rein äußerlich von der Erfahrung, die Rousseaus einsamen Spaziergänger in Erinnerung bringt, schon dadurch, dass unbestimmt viele dazu ermutigt werden, gemeinsam in sie einzutreten:

Vorwärts aber und rükwärts wollen wir (!)

Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie

Auf schwankem Kahne der See.

Das ist als die unmittelbare Folge davon zu verstehen, dass die Strophe zuvor eine historische Situation eschatologischen Profils vergegenwärtigt: Unter einem Gesetz, dass alles in sein Ende gehen muss, spüren Menschen eine Last auf den Schultern, die ihnen auseinandergleitet – es drängt sie, aufzufahren in bindungslos Unendliches. Aber sie wissen doch zugleich deutlicher als je, was unverzichtbar und zu bewahren und was ‹noth› ist, erbracht zu werden. In diesen Zeilen kommen innerhalb des kosmisch-geschichtlichen Geschehens die Menschen zur Sprache, die es austragen müssen. In der Folge sprechen sie selbst sich aus, und zwar in ihrem Wollen, sich diesem Geschick zu entziehen. Dies geschieht so, dass sich der Leser des Gedichts in dies ihnen gemeinsame Wollen und Hoffen hingezogen sehen kann. Können wir aber nach und umgeben von all dem zurückgelangen in einen Kahn wie in unsere Wiege, in der weder Vergangenheit noch Zukunft uns zu bedrängen vermochten? Hölderlins Strophe sagt nichts über eine Vertiefung in einer Kontemplation, sei es des eigenen Lebens, sei es eines Weltgrundes, der die Katastrophenzeit einschließt und überragt. Man muss dies in sie hineinlesen.[67] Eben dies wird aber geradezu unvermeidbar sein, wenn man, wie Beckett, von zwei Voraussetzungen ausgehen muss: wenn man sieht, dass Hölderlin Rousseaus Motiv aufnimmt, das für Rousseau von einer kontemplativen Erfahrung mit höchster Lebensbedeutung unabscheidbar ist, und wenn man davon ausgeht, dass die drei Zeilen der Strophe ein vollständiges Gedicht von Hölderlin abschließen.

Folgt man Beißner, so hat man davon auszugehen, dass Hölderlin die zweite und die dritte Strophe vorlagen, als er einsah, er müsse die erste neu konzipieren. So war für ihn ganz selbstverständlich, dass mit dem Schluss der ersten Strophe keine Schlussfolgerung verbunden sein kann, die eine Perspektive auf das Ganze des Geschicks erschließt, das mit Beginn der ersten Zeile in gewaltigen Bildern vergegenwärtigt wird. Dass die Flucht vor diesem Geschick ins zeitlose Dasein ihm nicht entkommen lässt, macht der Kontrast der großen Bilder zu dem fast idyllischen Ton der letzten Zeilen der Strophe schon deutlich genug. Der Kahn, der uns wiegen soll, ist ‹schwank›, also nicht nur ruhig bewegt, sondern auch schmal und unstabil. Auf hoher See und im Sturm wird er nicht mehr einwiegen können.[68]

Seit der zweite Band der Stuttgarter Ausgabe erschienen ist, wird die Strophe «Reif sind, in Feuer getaucht …» fast allgemein in den größeren Zusammenhang der Hymne Mnemosyne eingegliedert. Beißner sah in ihr mit guten Gründen die neue Fassung der ersten Strophe eines dreistrophigen Gedichts. In ihm wird die zerklüftete Welt der Gegenwart, die eine Spätzeit ist, zugleich mit der Not einer Erinnerung beladen, so dass das Bewusstsein in dem Versuch, ihr zu entsprechen, zu zerbrechen droht. Am Ausgang der ersten Strophe kann der Vorsatz, im schwanken Kahn in die Ruhe einer reinen Gegenwart zurückzufinden, nur wie der vergebliche Versuch einer Ausflucht erscheinen – einer Flucht in ein Meditieren, das alle geschichtlichen Erfahrungen von sich abgeschüttelt hat.

Die Verbindung zu Rousseau ergäbe sich dann vor allem daraus, dass Rousseau selbst als einsamer Spaziergänger auf der Insel tatsächlich auf der Flucht war und vor einer ungewissen Zukunft lebte. Doch muss man nicht denken, dass Hölderlin deshalb so unüberhörbar an Rousseau erinnerte, weil er mit der Szene zugleich die Aussicht auf eine Kontemplation als leere Ausflucht dementieren wollte, in der das eigene Dasein sich selbst durchsichtig wird und damit eine untangierbare Ruhe findet. «Unhölderlinisch», wie Beißner fand,[69] ist der Strophenschluss nur insofern, als in ihm die Kontemplation nicht den Ursprung, den Vollzug und damit Gegenwart und Zukunft des bewussten Lebens in sich einbegreift, sondern sich von ihnen geradezu angstvoll abwendet. Das der Hymnenform zuzurechnende Gedicht Mnemosyne ruft aber auf, was einer solchen ‹Erinnerung›, in der sich das Leben sammeln kann, in der eigenen Endzeit und aus ihm selbst entgegenwirkt, so dass ihm mit der Möglichkeit der Katastrophe auch diese Sammlung vor Augen tritt. Dass ihrer der Mensch aber bedarf, wird gerade auch durch den Bezug auf Rousseau unterstrichen – indem nämlich zum Bewusstsein kommt, dass eine kontemplative Sammlung nichts als eine Ausflucht sein kann, wenn sie denn um den Preis geschieht, das Geschick seines Lebens zu vergessen. In Hölderlins Hymne Andenken war zuvor schon der Gang vergegenwärtigt worden, der über einen Weg des Erinnerns wirklich zu einer ganz anderen Art von Sammlung führt.[70]

Dies alles kann der Weise, wie Beckett Hölderlins Strophe, die er bewunderte, in ihrem Bezug auf Rousseau verstand, Hintergrund und Tiefenschärfe geben. Beckett kannte den Text nicht als eine erste Strophe von Mnemosyne, zumindest über zwei Jahrzehnte hinweg.[71] In der Kahn-Szene von Krapp’s Last Tape ist vorausgesetzt, dass Hölderlin, als er seinerseits auf Rousseau anspielte, die kontemplative Erfahrung, die beiden aus Rousseaus Text vertraut war, nicht etwa hatte ausgrenzen wollen. Beckett musste also Hölderlin so verstehen, dass auch für ihn am Schluss der Strophe etwas ganz anderes als eine Flucht aus der Zeit in eine Art Kinderleben als Ausweg angepriesen wurde. Weiterhin musste Beckett denken, dass diese Kontemplation in einer anderen Beziehung als der des Vergessens und der Verdrängung zu den grellen Bildern aufkommenden Endens und Scheiterns stehen werde, mit denen die Strophe zuvor schon großen Eindruck auf Beckett gemacht hatte.[72] So hatte sich Beckett, ausgehend von diesen Bildern, den Gehalt der Kontemplation ganz aus Eigenem zu erschließen und ihn in die Intentionen Hölderlins einzufügen, die er dem Verlauf der Strophe entnehmen konnte.