Ins Dunkel hinein - Charles Frazier - E-Book

Ins Dunkel hinein E-Book

Charles Frazier

4,9

Beschreibung

Verstört, sprachlos, irgendwie zurückgeblieben – so kommen die Zwillinge Dolores und Frank bei Tante Luce an. Vermutlich waren sie dabei, als ihre Mutter starb, ermordet von Bud, einem brutalen Gelegenheitsgauner und dem ehemaligen Lebensgefährten der Mutter. Luce gewinnt langsam das Vertrauen der Zwillinge, und auch sie selbst, die Außenseiterin, die in einem verfallenden Sommerhaus in North Carolina lebt, scheint zur Ruhe zu kommen. Auf eine leichte, aufregend unspektakuläre Weise gelingt es Charles Frazier, eine Handvoll fragiler Menschen vor den Gefahren zu retten, die sie immer enger zu umschließen drohen.

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Zsolnay E-Book

Charles Frazier

Ins Dunkel hinein

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Anette Grube

Paul Zsolnay Verlag

Die Originalausgabe erschien erstmals 2011 unter dem Titel Nightwoods im Verlag Random House, New York.

ISBN 978-3-552-05706-7

Copyright © 2011 by 3 Crows Corporation

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2014

Umschlag: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

© Jim Hughes/Corbis

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

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und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Für Annie

Man kann nicht einmal einen Fluss durchqueren,

ohne einen Tribut entrichten zu müssen.

Archilochos (7. Jahrhundert v. Chr.)

I

1

LUCE’ NEUE FREMDE Kinder waren klein, hübsch und gewalttätig. Sie merkte rasch, dass es nicht klug war, sie unbeaufsichtigt im Hof bei den Hühnern zu lassen. Später fand sie Federn, einen schuppigen Fuß mit eingezogenen Krallen. Keins der Kinder sprach, doch das Mädchen sah sie mit mörderischer Miene an, als sie es wagte, sie zu fragen, wo der Rest des Gockels geblieben war.

Die Kinder liebten Feuer mehr als alle anderen Elemente der Schöpfung. Über einen Haufen brennbares Material freuten sie sich über jedes vernünftige Maß hinaus. Luce versteckte die Zündhölzer, abgesehen von ein paar wenigen, die sie in der Tasche ihrer Jeans aufbewahrte, um den Ofen in der Küche anzuzünden. Innerhalb von zwei Tagen lernten die Kinder, mit Reisig und einem grünen Stöckchen, das sie mit einem Schnürsenkel bogen, Feuer zu machen. Winzige Höhlenmenschen auf Amphetamin hätten es nicht schneller geschafft. Dann steckten sie eine Ecke der Lodge in Brand, und Luce musste mit Blecheimern voll schwappendem Wasser aus dem Brunnen hin und her rennen, um es zu löschen.

Sie versohlte beide mit einem dünnen Weidenzweig, bis ihre Beine rosa gestreift waren, doch offenbar begruben sie jeglichen Schmerz, der ihnen zugefügt wurde, tief in ihrem Innersten und weigerten sich zu weinen. Da schwor sich Luce, dass sie sie nie wieder schlagen würde. Sie ging in die Küche und begann schuldbewusst, einen Pfirsichkuchen zu backen.

Luce fühlte sich nicht unbedingt zur Mutter berufen. Der Staat halste ihr die Kinder auf. Hätte sie sie nicht genommen, wären die Kinder getrennt und wie Welpen vergeben worden. Als Erwachsene hätten sie sich nicht mehr aneinander erinnert.

Aber jetzt, da es vermutlich nicht mehr rückgängig zu machen war, schien es, als wäre es womöglich keine schlechte Idee gewesen. Sie zu trennen und dem Absonderlichen die Spitze zu nehmen, das ihnen gemein war und zu dem sie sich gegenseitig anstachelten. Als hätte es noch eines weiteren Beweises bedurft, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn nicht jeder hergelaufene Idiot das tiefe Bedürfnis verspürte, sich fortzupflanzen. Doch anscheinend hatte Gott in seiner unendlichen Weisheit geglaubt, dass es unterhaltsam wäre, wenn wir uns ständig aufeinander stürzten.

Außerdem waren die Kinder jetzt hier, was sollte Luce denn sonst machen? Man tat sein Bestes, die Welt trotz offensichtlicher Mängel in Entwurf und Ausführung zu lieben. Und sich aller bedürftigen Wesen anzunehmen, die sich einem während seines Aufenthaltes hier auf Erden präsentierten. Sonst war man nichts wert.

Das Gleiche galt für die Lodge. Sie gehörte Luce nicht. Sie war so etwas wie die Hausmeisterin. Manche würden sie jetzt, da der alte Mann tot war, Hausbesetzerin nennen. Aber niemand anders schien daran interessiert, das Haus davor zu bewahren, von Kudzu überwuchert und zu einem grünen Hügel zu werden.

Früher, zu Beginn des letzten Jahrhunderts, war die Lodge ein kühler sommerlicher Rückzugsort für die reichen Leute gewesen, die dem schwülen Augustwetter des Tieflands entfliehen wollten. Irgendein Eisenbahnmillionär, der in seinem eigenen Triebwagen durch dieses Tal im Hochland fuhr, hatte die Vision oder vielmehr den wunderlichen Einfall, einen Damm aufzuschütten, den Fluss zu stauen und das obere Ende des Tals bis zum Rand des Dorfes mit Wasser zu füllen. Und auf der anderen Seite ein Holzhaus nach eigenem Entwurf in Anlehnung an das Old Faithful Inn im Yellowstone Park zu bauen, allerdings kleiner, dafür jedoch exklusiver. Er musste ein besserer Eisenbahndirektor als Architekt gewesen sein, denn was er baute, war ein klobiges, viel zu großes Viereck, ein riesiges Blockhaus mit überdachter Veranda und Blick auf eine Rasenfläche bis zum See und über das Wasser bis zu der kleinen Stadt. Offenbar waren reiche Leute in der Vergangenheit mit schlichteren Dingen zufrieden gewesen.

Jetzt waren die Millionäre und die Eisenbahn verschwunden. Doch der See war noch da, eine unheimliche horizontale Fläche von veränderlicher Farbe in einer ansonsten verschachtelten vertikalen Landschaft blauer und grüner Berge. Auch die Lodge hatte standgehalten, ein seltsames verfallendes Haus, wenn man allein darin lebte. Im Erdgeschoss befanden sich die Gemeinschaftsräume, eine gewaltige Halle mit einem großen Kamin aus Stein, schönen Sesseln und gepolsterten Sitzbänken mit mörderischen Rückenlehnen im Craftsman-Stil, mit Tischen und Schränken aus Quartierschnitteichenholz. Ein langes Speisezimmer mit Dreifachschiebefenstern auf den See und hinter Schwingtüren eine große Küche mit einem kleinen Tisch, um den sich einst die Dienstboten geschart und die Reste gegessen hatten. Im ersten Stock schmale Flure und Schlafzimmer mit Sprossenfenstern hinter nummerierten Kassettentüren. Der zweite Stock unter dem Dach war ein dunkler, stickiger Kaninchenbau mit fensterlosen Dienstbotenquartieren.

Als sie allein hier gelebt hatte, war Luce nicht oft in die oberen Stockwerke gegangen, aber nicht weil sie Angst hatte. Nicht wirklich. Dort oben waren vor allem Bettstellen und Spinnweben, und sie wollte nicht an Geister oder derartiges glauben. Nicht einmal, dass schlechte Träume Omen waren. Dennoch regte die flüchtige Geisterwelt ihre Phantasie heftig an, wenn sie morgens um drei wach lag, allein in dem großen Haus. Die dunklen schlafenden Stockwerke mit den muffigen früheren Pferchen und Gitterbetten für die Gäste und ihr Personal waren ihr unheimlich. Das Haus erzählte vom Vergehen der Zeit. Davon, dass man hier ist, und dann ist man weg und hinterlässt nichts außer ein paar Gegenständen, die einen für eine kurze Weile überleben.

Ein typisches Beispiel dafür war der alte Stubblefield, dem die Lodge während der letzten Jahrzehnte gehört hatte. Luce hatte ihn während der Zeit, als er im Sterben lag, ein paarmal besucht, und sie war dabei gewesen, als das Licht in seinen Augen erlosch. In seinen letzten Stunden war Stubblefield vor allem damit beschäftigt, seine Besitztümer zu katalogisieren und aufzulisten, wer was bekommen sollte. Seine Sorge galt überwiegend dem Grundbesitz, der in seiner Gesamtheit an seinen nichtsnutzigen einzigen Enkel fallen sollte. Außerdem ein paar wertvolle Dinge wie das silberne Service und das Spitzentischtuch seiner verstorbenen Frau, das bis auf einen kleinen, kaum sichtbaren Rostfleck in einer Ecke noch tadellos war. Die silbernen Kerzenständer waren eine große Belastung für Stubblefield, weil seine Frau sie so geliebt hatte. Seltsamerweise hinterließ er sie Luce, der sie überhaupt nicht gefielen und wahrscheinlich nie gefallen würden.

Es war leicht, über die falschen Werte anderer die Nase zu rümpfen und sich lustig zu machen. Dennoch hoffte Luce, dass sie, wenn ihr Leben zu Ende ging, aus dem Fenster nach dem Wetter sehen oder die Form des Mondes oder einem einzelnen Vogel nachschauen würde, der vorbeiflog. Und nicht an einen Haufen abgenutzter Teelöffel denken müsste. Aber Luce war ein halbes Jahrhundert jünger als der alte Stubblefield und wusste nicht, was sie wertschätzen würde, sollte sie selbst so alt werden. Die wichtigste Lektion, die Luce immer wieder in ihrem Leben gelernt hatte, war, dass man auf niemanden zählen konnte. Deswegen glaubte sie, dass man hart an sich arbeiten konnte, um zu dem Menschen zu werden, der man sein wollte, und dennoch feststellen musste, dass man im Lauf der Jahre zu jemandem geworden war, den man selbst nicht wiedererkannte. Und dass man letztlich trotz aller Anstrengung von sich enttäuscht wäre. Und in diese Tiefe zog es Luce’ Gedanken, wann immer sie hinauf in die triste Vergangenheit ging.

Lange bevor die Kinder kamen, hatte Luce herausgefunden, dass es am besten war, wenn sie sich nach Einbruch der Dunkelheit in der großen Halle mit dem Kamin und den mehltaugefleckten Möbeln, den großen vollen Bücherregalen und dem riesigen Radiostandgerät mit einem Sendersuchring, so groß wie das Lenkrad eines Packards, aufhielt. Sie zog eine Liege aus der mit Fliegengitter geschützten Veranda herein und stellte sie so auf, dass sie mit dem Kamin und dem Radio ein gemütliches Schlafzimmer in Form eines Dreiecks bildete. In den Bücherregalen standen eine Menge zerlesener alter Romane und eine Ausgabe der Encyclopedia Britannica, von der nur zwei Bände in der Mitte des Alphabets fehlten. Daneben in einem Stickley-Stehpult mit zwei Bücherfächern eine ungekürzte Webster-Ausgabe von 1913. Die Stellen, an denen man den weichen Einband automatisch mit den Händen anfasste, waren dunkel verfärbt, und man war geneigt zu glauben, dass jahrzehntelang Gäste, kaum hatten sie ein fettiges Frühstück mit Wurstbrötchen beendet, sofort ein Wort hatten nachschlagen müssen.

Abends, bei ausgeschaltetem Licht, versank der Raum in Dunkelheit, nur das Feuer und die Röhren des Radios warfen einen freundlich glühenden Schein auf die Holzwände in der Nähe. Luce schlief jeden Abend ein, während sie WLAC aus Nashville hörte. Little Willie John, Howlin’ Wolf, Maurice Williams, James Brown. Magische Sänger, die ins Dunkel hinein von Hoffnung und Verzweiflung kündeten. Gebete, die in Nashville in den Äther geschickt und vom Radio hier oben neben dem Bergsee aufgefangen wurden, um ihr Gesellschaft zu leisten.

An klaren Abenden leisteten ihr auch die Lichter der Stadt Gesellschaft. Gelbe Stecknadelköpfe und Streifen, die sich auf dem schimmernden schwarzen Wasser des Sees widerspiegelten. Ein Vorteil der Lodge bestand darin, dass ausschließlich in Luftlinie Menschen in der Nähe waren. Mit dem Auto brauchte man fast eine Stunde, um den See zu umrunden und über den Damm und dann das Ufer entlang bis in die kleine Stadt zu fahren.

Als Luce in die Lodge gezogen war, war die Stadt nur zwanzig Minuten weit weg gewesen, weil sie in einem Nebengebäude ein Ruderboot gefunden hatte. Aber das Boot war morsch, und bei den ersten Fahrten über den See verbrachte sie ebenso viel Zeit damit, mit einer Pfanne Wasser zu schöpfen, wie mit Rudern. Und sie war keine gute Schwimmerin, zumindest nicht gut genug, um es von der Mitte bis zu einem der beiden Ufer zu schaffen. Sie zog das Boot an Land und ließ es ein paar Tage lang trocknen, und dann schüttete sie eines Abends bei Einbruch der Dunkelheit einen Becher Kerosin darauf und verbrannte es. Die Flammen loderten brusthoch, ihr Widerschein reichte auf dem stillen Wasser bis zur Stadt.

War sie zu viele Tage allein gewesen, ging sie die halbe Meile zu Stubblefields Haus und die weitere halbe Meile zu Maddies Haus und noch eine Meile weiter zu dem kleinen Laden, in dem man alles kaufen konnte, solange es sich um Fleischwurst und Weißbrot, Milch, Halbhartkäse und Schmalzfleisch und jede nur erdenkliche Sorte Limonade, Schokoriegel und verpackten Fertigkuchen handelte. Vier Meilen hin und zurück, nur um eine halbe Stunde auf einem Stuhl vor dem Laden zu sitzen und Kirschlimonade zu trinken und MoonPie zu essen und andere Menschen zu beobachten. Sie hatte aber auch immer ein Buch dabei für den Fall, dass sie ein paar Seiten lesen musste, um eine unerwünschte Unterhaltung zu vermeiden.

Am letzten 4. Juli hatte Luce auf der Veranda der Lodge gesessen, kostbaren braunen Whiskey aus dem Keller getrunken und die winzigen Feuerwerksexplosionen auf der anderen Seite des Sees betrachtet. Explosionen, die bestimmt am ganzen Himmel direkt über dem Ort zu sehen gewesen waren, wurden zu Funkenbläschen, die ungefähr so groß waren wie eine auf Armeslänge weggehaltene Pusteblume. Erst als sie verglühten, erreichte das ferne Knallen und Zischen endlich die Lodge. Im Herbst leuchtete am Freitagabend das Flutlicht des Footballfelds silbern am östlichen Himmel. Ein leises Geräusch wie ein Ausatmen war zu hören, wenn die Heimmannschaft einen Punkt machte. Jeden Sonntagmorgen klirrten die Glocken der Baptisten- und der Methodistenkirche wie Eiswürfel in einem Glas, und Luce ging immer ein Spruch ihrer Mutter durch den Kopf: Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit. Lola brachte ihn als Trinkspruch auf den Sonntag aus, eine große Bloody Mary und eine eben angezündete Kool in ein und derselben Hand, nur Minuten nachdem die Glocken sie geweckt hatten.

Die Kinder kamen an einem Tag im Hochsommer, als der Himmel gesättigt von Feuchtigkeit war und die Oberfläche des Sees platt und eisenblau. Am anderen Ufer schichteten sich die Berge olivgrün schattiert über der Stadt auf, bis sie im Dunst mit dem blassgrauen Himmel verschmolzen. Luce sah zu, wie das Mädchen und der Junge vom Rücksitz des kreideweißen Fords stiegen und sich nebeneinander stellten, auf Konfrontationskurs mit der Welt. Sie starrten nicht wirklich, aber sie hatten eine Art, einen anzuschauen und doch nicht anzuschauen. Raubtierhaft, die Augen dominant in den Gesichtern, suchten sie ihre Umgebung ab nach was immer sich als Nächstes bieten mochte, aber sie wollten keinen Schrecken verbreiten. Noch nicht. Füchse, die sich in einen Hühnerstall schleichen, das war Luce’ Eindruck.

Sie trugen die neuen Kleider, die der Staat für sie besorgt hatte. Das Mädchen ein blau gemustertes Baumwollkleid, weiße Söckchen und weiße Turnschuhe. Ein weißes Baumwollhemd, eine steife neue Jeans, schwarze Socken und schwarze Turnschuhe der Junge. Das Haar beider Kinder war von der Farbe von Erdnussschalen, es stand ihnen unordentlich vom Kopf ab, als hätte dieselbe Person es rasch geschnitten, ohne große Rücksicht auf das Geschlecht zu nehmen.

Luce sagte: »Hallo, ihr zwei Zwillinge.«

Die Kinder sagten nichts, sahen weder sie noch sich an.

»He«, sagte Luce ein wenig lauter. »Ich rede mit euch.«

Nichts.

Luce schaute ihnen ins Gesicht, doch es war ihnen nichts anzumerken. Ihre Mienen besagten lediglich, dass man sich keinesfalls mit ihnen anlegen sollte, aber es war nicht ausgeschlossen, dass sie sich mit ihr anlegen wollten. Sie ging zum Kofferraum des Wagens, aus dem der Beamte zwei Kartons auslud. Er stellte sie auf den Boden und tippte mit der Schuhspitze auf den kleineren.

»Ihre Kleidung«, sagte er. »Und in dem da sind die persönlichen Dinge Ihrer Schwester.«

Luce wandte nur kurz den Blick von den Kindern ab. Sie sagte: »Was ist los mit ihnen?«

»Nichts Besonderes«, sagte der Mann. Er drückte mit dem Daumen auf das Rädchen eines Feuerzeugs, zündete sich eine Zigarette an und wirkte müde von der langen Fahrt. Zehn Stunden.

»Irgendetwas stimmt nicht mit ihnen«, sagte Luce.

»Sie haben eine schwere Zeit hinter sich.«

»Eine was?«

Luce stand da und wartete, während der Mann ein-, zweimal an der Zigarette zog, und dann unterbrach sie seine Rauchpause und sagte: »Der Staat zahlt Ihnen ein Gehalt dafür, dass Sie diese Arbeit machen, aber Sie können sich nicht einmal klar ausdrücken. Schwere Zeit.«

Der Mann sagte: »Ein Arzt meinte, dass sie nicht ganz richtig im Kopf sind. Ein anderer sagte, es liegt daran, dass sie gesehen haben, was sie gesehen haben, und dass sie aus ihrem Alltagsleben gerissen und in das Methodistenheim gesteckt wurden, bis die Dinge geklärt waren. Die Rechtsangelegenheiten ihres Vaters.«

»Er ist nicht ihr Vater. Sie sind Waisen.«

»Es hat gedauert, bis das alles klar war. Wir haben uns an eine bestimmte Ausdrucksweise gewöhnt.«

»Und Johnson?«, fragte Luce.

»Der Prozess steht bevor, und sie werden ihn verurteilen. Ihn auf den großen Holzstuhl setzen, festschnallen und die Tablette in den Eimer werfen. Sie fängt an zu sprudeln, und bald darauf erstickt er. Die nächsten Familienangehörigen kriegen eine Einladung.«

»Zum Zusehen?«

»Es gibt ein Bullauge aus dickem Glas, angelaufen wie ein Aquarium mit schmutzigem Wasser. Wenn viele Leute da sind, wird abgewechselt. Es ist ungefähr so groß wie ein Teller. Immer einer nach dem anderen.«

»Rechnen Sie mit mir«, sagte Luce.

Sie sah den Kindern zu, die schweigend auf dem Hof vor der Lodge umhergingen. Langsam, aber irgendeinem zielgerichteten Plan folgend, als würden sie wie zwei Wünschelrutengänger das Gelände nach der besten Stelle für einen Brunnen absuchen.

»Und die schwere Zeit«, sagte Luce. »Das ist alles, was mit ihnen nicht stimmt?«

»Soweit wir wissen.«

Der Mann schaute zu der verfallenen Lodge und dem See und der Stadt auf der anderen Seite, die im Dunst nahezu verschwand und nur noch als weit entfernte, niedrige geometrische Unterbrechung der monotonen grünen Wälder zu erkennen war. Zwei spitze Türme, die wie gen Himmel zielende Pfeilspitzen über den winzigen roten Ziegelbauten der Geschäfte aufragten, und weiße Häuser, die sich von der Main Street den Abhang hinaufzogen. In jeder anderen Richtung nichts als Berge, Wälder, See.

Der Mann beschrieb mit der Zigarette zwei Kreise um all die einsame Schönheit und den Verfall. Er sagte: »Wenn man das von hier aus sieht, würde man nicht glauben, dass es so lange dauert, um aus der Stadt bis hierher zu kommen.«

»Der See ist lang.«

»Ja, und es gibt viele Kurven, und die Straßen sind nicht asphaltiert.«

»Ja«, sagte Luce.

Der Mann sagte: »Und wenn man von hier aus weiterfährt, dann was? Nichts?«

»Die Straße geht noch ein paar Meilen weiter, aber das ist das letzte bewohnte Haus.«

Der Mann blickte zu dem verwitterten Holzschild, das an zwei rostigen Ketten über den Stufen zur Veranda hing. WAYAH LODGE.

Er fragte: »Indianisch?«

»Cherokee. Es bedeutet Wolf.«

»Ich weiß nichts über Ihre finanzielle Situation«, sagte der Mann.

Luce schaute ihm in die Augen und verzog keine Miene.

»Sie nehmen keine Touristen mehr auf?«

Luce sagte: »Das hat irgendwann während der Weltwirtschaftskrise oder im Zweiten Weltkrieg aufgehört. Ich bin die Hausmeisterin.«

»Gut bezahlt?«

»Ich kann hier wohnen, Gemüse anbauen und den Obstgarten abernten. Und ich bekomme einen Sold.«

»Einen Sold?«

»So sagt man doch, wenn die Bezahlung so gering ist, dass es jedem peinlich ist, sie anders zu nennen. Aber jetzt ist der alte Mann gestorben. Der Besitzer. Deswegen ist der Sold jetzt ausgesetzt.«

»Kinder können teuer werden«, sagte der Mann. »Essen und Kleidung und so weiter.«

»Die beiden bringen also kein Geld mit?«, fragte Luce.

»Vielleicht können die Großeltern aushelfen?«

»Nein, können sie nicht.«

»Dann weiß ich auch nicht. Wenn Sie jemand hätten, der Ihnen mit den Kindern hilft, könnten Sie in die Stadt ziehen und einen besseren Job suchen.«

»Ja, wenn das Wörtchen wenn nicht wäre.«

»Tja«, sagte der Mann.

»Wahrscheinlich wird es schon irgendwie gehen. Machen Sie und die Regierung sich keine allzu großen Sorgen mehr um uns, nachdem Sie in den Wagen gestiegen und in die Hauptstadt zurückgefahren sind.«

»Haben Sie Strom und fließend Wasser?«

»Sind das Voraussetzungen?«, fragte Luce.

Der Mann zuckte die Achseln.

Luce deutete mit dem Daumen auf das schräg stehende Kreuz des Strommastes an der Straße und die schwarzen durchhängenden Leitungen, die zu dem weißen Porzellanisolator im Giebel über der Veranda führten.

»Auch wir leben schon seit einer Weile nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert«, sagte sie.

Der Mann zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und schnippte die Kippe weg, als handelte es sich nicht um Abfall, nur weil sie ein paar Augenblicke lang so intimen Kontakt mit seinem Atem gehabt hatte. Die qualmende Kippe prallte von einem Kiefernstamm ab und fiel in braune Nadeln.

Luce ging hin und hob sie am fleischfarbenen Filter auf, ließ sie auf die rote Erde der Einfahrt fallen und trat sie mit dem Schuh aus. Sie wischte sich Daumen und Zeigefinger dreimal an ihrer Jeans ab, was wahrscheinlich ein- oder zweimal zu viel war.

Der Mann sagte: »Sie würden es wahrscheinlich nicht glauben, wie schlecht ich für diese verdammte Arbeit bezahlt werde.«

»Wahrscheinlich würde ich es glauben«, sagte Luce.

Weil sie noch nicht entschieden hatte, wie sie mit den Kindern in der Lodge leben wollte, zog Luce am Abend eine weitere Liege von der Veranda vor den Kamin und stellte sie ihrer eigenen gegenüber auf. Das Radio lief leise, die vom langen Tag erschöpften Kinder schliefen fest, doch Luce dämmerte am Rand des Schlafs dahin, während drei DJs auf Sendung waren.

Immer wieder dachte sie an die langen friedlichen Tage vor der Ankunft der Kinder, und sie vermutete, dass es naiv wäre anzunehmen, daran würde sich nichts ändern. Tage, die sie hatte verbringen können, wie sie wollte, an denen sie frei und unbeschwert die Straße entlanggegangen war. Doch neben den vielen positiven Aspekten hatte ein Leben ohne fahrbaren Untersatz zugegebenermaßen auch ein paar Nachteile. Beim Trampen setzte man größere Hoffnung auf andere Leute, als im Allgemeinen gerechtfertigt war. Man marschierte und marschierte, und es veränderte sich nicht viel. Man musste darauf achten, Langeweile zu vermeiden. Aber für die Mühen wurde man entschädigt. Mit Besuchen bei älteren Menschen, die schwer verdiente Eigenheiten zu bieten hatten.

Vor allem Maddie, die in ihrer eigenen, seit 1898 oder, wollte man großzügig sein, vielleicht auch erst seit 1917 unveränderten Welt lebte. Ihr Alter war nicht zu bestimmen. Man fing mit alt an und stockte immer weiter auf. Ihr Haus war ein Stück weit von der Straße zurückgesetzt, und im Spätsommer war ihr Vorgarten von Blumen überwuchert. Ein Durcheinander aus Sonnenhut, Gladiolen, Stundenblumen und Entenschnabel-Felberich. Im Herbst trockneten scharfe rote Chilischoten und braune Dörrbohnen an Schnüren, die zwischen den Verandapfosten hingen. Maddie hielt sich vor allem in ihrer Küche mit dem holzbefeuerten Herd, dem Esstisch und dem Kamin auf, die Steine verrußt von fünfzigtausend Feuern, die überwiegend von längst verstorbenen Frauen entfacht worden waren. Als Zugeständnisse an dieses Jahrhundert hatte sie ein paar Glühbirnen an geflochtenen Kabeln aufgehängt.

Maddie trug das ganze Jahr über Baumwollkleider mit Blumenmuster, in den kalten Monaten zog sie eine Strickjacke voller Knötchen darüber. Als junge Frau mochte sie groß und gertenschlank gewesen sein, doch die Zeit hatte sie geschrumpft, sie Jahr um Jahr breiter und kleiner und gebeugter gemacht, bis von der jungen Frau nur noch die flinken blauen Augen übrig waren, die jetzt fast so grau wie Stahl waren. An manchen Tagen war sie schlechtgelaunt. Dann wollte sie nur Wörter benutzen, mit denen sie aufgewachsen war. Fürderhin und zuvörderst. Darob. An einem wirklich schlechten Tag musste man sich die Hälfte dessen, was sie sagte, über den Kontext zusammenreimen. Anfangs betrachtete Luce Maddies Lebenswelt als überwiegend imaginär, als kreiste ihr Leben noch ums Schweineschlachten, um Öllampen, Wasserholen, Plumpsklos und all die anderen althergebrachten Dinge. Bis Luce merkte, dass ihr Leben auch jetzt noch davon geprägt war.

Wenn Luce bei ihr vorbeischaute, füllte Maddie ihr mit einem verbeulten Schöpflöffel ein Glas mit kaltem Quellwasser und sang ihr ein Lied vor. Maddie kannte viele alte Balladen über in Not geratene Mädchen, umgebracht von denselben Männern, die sie zuvor drangsaliert hatten. Sie jammerte und klagte in einer extrem gefühlvollen Tonlage, die Jüngere nicht hinbekamen, und eine Strophe reihte sich an die andere bis zu einem weit entfernten Ausklang. Es waren Lieder, finster wie die Nacht. Geschwängerten Mädchen wurde der Schädel eingeschlagen, sie wurden erstochen oder erschossen und dann in der kalten Erde verscharrt oder in den tiefen schwarzen Fluss geworfen. Pretty Polly. Little Omie Wise. Go down, go down, you Knoxville Girl. Manchmal ging es in der Geschichte gar nicht um Reproduktion. Der Mann brachte das Mädchen um die Ecke, weil er sie nicht haben konnte, eine todbringende Beleidigung, wenn die Ansichten des Mädchens nicht seinen Wünschen entsprachen. In den Balladen waren Liebe, Mord und der Wunsch nach Besitz so untrennbar miteinander verbunden wie ein zu kleiner Ehering an einem geschwollenen Finger.

Früher hatte Luce Maddies Lieder nur als interessante Antiquitäten betrachtet, doch ihre Schwester hatte ihren bleibenden Wahrheitsgehalt bewiesen, als sie auf Johnny Johnson traf. Ihre Gefühle waren zu Beginn so überhitzt, dass es traurig mit anzusehen gewesen sein musste, aber es war spannend, in Lilys gelegentlich eintreffenden Briefen davon zu lesen, in denen die Glocken der neuen Liebe schrillten wie die eines Feuerwehrautos. Lilys seelische Bedürftigkeit drückte sich so ungestüm aus wie eine Kerosinexplosion in der materiellen Welt. Liebe, Liebe, Liebe. So beschrieb sie die wenigen Monate des Begehrens. Jeder Brief schwungvoll unterzeichnet mit: In Liebe, Lily.

Jetzt lag Luce wach in der Dunkelheit und wusste, dass Maddies Mordballaden von genau dieser Situation erzählten und daran erinnerten, dass die Flammen leidenschaftlicher Paarungen die Frauen am heißesten verbrannten, gleichgültig, wie romantisch, laut und tief betrübt die Männer im Nachhinein ihr Leid herausschrien. Luce stellte sich den Mörder von Omie Wise durch ein Bullauge aus schmutzigem grünem Wasser vor. Eine Schlinge um den Hals und eine Falltür unter den Füßen, die sich in ein schwarzes Loch öffnete. Oh, was für eine Sehnsucht und Reue er da empfand. Aber zu spät. Und auf ewig zu spät auch für Lily, um noch zu lernen, dass wilde Leidenschaft nur ein Chaos schlechter Nachrichten für alle prophezeit.

Luce versuchte zu schlafen, doch Hunderttausende Laubheuschrecken oder andere zirpende Insekten erfüllten die Sommernacht mit einem Starkstromsummen. Sie stand auf, schaltete eine schwache Lampe ein, ging zu einem Eichenschrank, der größer war als sie, und holte eine Zigarrenkiste heraus. Die Kinder schliefen weiter, und Luce setzte sich in den goldenen Lichtkegel, die Kiste auf dem Schoß, und blätterte in Lilys Briefen aus den letzten Jahren. Grüne, lavendel- oder pinkfarbene Tinte in großer, fröhlicher Schreibschrift auf dazupassendem pastellfarbenem Briefpapier.

Luce öffnete aufs Geratewohl Umschläge und las, bis sie zu einer Stelle kam, an der es nicht länger möglich war, Lilys fatale Hoffnung und ihr Vertrauen in andere Menschen nicht zu kritisieren. Jeder Mann, den Lily kennenlernte, war einfach wunderbar, und die leuchtende Zukunft erstreckte sich bis in die Unendlichkeit. Auf jeder Seite fanden sich Hinweise, die gegen sie sprachen. Luce las keinen Brief zu Ende, bevor sie ihn wieder so präzise zusammenfaltete wie Lily vor ihr.

Luce beschloss, sie erst wieder zu lesen, wenn sie mehr damit anfangen konnte. An irgendeinem fernen Tag, wenn sie ein besserer Mensch wäre und etwas anderes empfinden würde als brennenden Zorn, dass ihre schöne sanftmütige Schwester sich nicht besser vor einer Welt voller Gefahren geschützt hatte.

2

BUD WAR EIN gutaussehender Mann, zumindest im nicht mehr zeitgemäßen Stil der verflossenen fünfziger Jahre in den Südstaaten, den er noch immer liebte. Hohe Wangenknochen, Koteletten, hochgeschlagener Kragen und Stirnlocke, mit zwei Fingern und Royal-Crown-Pomade zu einem perfekten Komma geformt. Niemand hieß wirklich Bud. Irgendwann in seiner Jugend hatte eine verblendete Seele ihn als Freund betrachtet und ihm den Namen Buddy Buster verpasst.

Bereits als Teenager wurde er dabei erwischt, wie er in einem Supermarkt eine Jackentasche voller gelber Sun-Singles klaute. In der Highschool versteckte Bud vom ersten Tag an eine kleinkalibrige Pistole in seinem Schrank, vor allem um Mädchen zu beeindrucken und sich Zugang zur Gesellschaft von Schlägern und Raufbolden zu verschaffen. Er hatte an beiden Fronten Erfolg. Mit vierzehn, zu einer Zeit, als es kühn war, mit einem oder zwei Bier zu einer Party zu gehen, tauchte Bud einmal mit drei Kästen Schlitz in einem gestohlenen Auto auf. Er tat seine Anwesenheit kund, indem er sich mit quietschenden Reifen im Hof vor dem Haus halb um die eigene Achse drehte, aus dem Wagen sprang und den Kofferraum öffnete, in dem auf zerstoßenem Eis zweiundsiebzig Dosendeckel die Verandalichter reflektierten, als wären es die Kronjuwelen eines kleineren Landes. Was Bud zum Helden der ganzen Clique machte, ausgenommen den Jungen, dessen Eltern über das Wochenende verreist waren.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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