Ins Watt gebissen - Regine Kölpin - E-Book
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Regine Kölpin

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Beschreibung

Vor dem Deich liegt eine Leiche! Der Küsten-Krimi "Ins Watt gebissen" von Erfolgsautorin Regine Kölpin bietet Nordsee-Flair, viel Humor, ein eigenwilliges Ermittlerteam und einen kuriosen Mord. "Ins Watt gebissen" ist der Auftakt zu einer neuen Küsten-Krimi-Reihe und die ideale Urlaubs-Lektüre! Tjarkshusen, Friesland: Gleich hinter dem Haus des alten Eigenbrötlers Ino Tjarks hat der Kurdirektor Alois Winterscheid ins Gras (der Salzwiese) gebissen. Und weil Ino nie ein Hehl daraus gemacht hat, was er von den Plänen hält, die der Bayer Alois für eine neue Touristenattraktion an der Küste Frieslands hatte, steht er nun unter Mord-Verdacht. Da hilft nur eines: gemeinsam mit seiner patenten Haushälterin Gerda und der Bäckerin Theda den wahren Mörder zu schnappen! Tatsächlich haben die drei bald eine heiße Spur: Alois hatte Streit mit einer Frau (nur welcher? Alois liebte nicht nur eine!). Doch bevor sie der Sache weiter auf den Grund gehen können, überschlagen sich die Ereignisse … Ein heiterer Küsten-Krimi für den Nordsee-Urlaub und für alle Nordsee-Fans! "Die perfekte Urlaubslektüre: wunderbar leicht und lustig." ("Das Neue Blatt" über Regine Kölpins "Oma geht campen")

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Seitenzahl: 351

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Regine Kölpin

Ins Watt gebissen

Ein Küsten-Krimi

Knaur e-books

 

Über dieses Buch

Tjarkshusen, Friesland: Gleich hinter dem Haus des alten Eigenbrötlers Ino Tjarks hat der Kurdirektor Alois Winterscheid ins Gras (der Salzwiese) gebissen. Und weil Ino nie ein Hehl daraus gemacht hat, was er von den Plänen hält, die der Bayer Alois für eine neue Touristenattraktion an der Küste Frieslands hatte, steht er nun unter Mordverdacht. Da hilft nur eines: gemeinsam mit seiner patenten Haushälterin Gerda und der Bäckerin Theda den wahren Mörder zu schnappen! Tatsächlich haben die drei bald eine heiße Spur: Alois hatte Streit mit einer Frau (nur welcher? Alois liebte nicht nur eine!). Doch bevor sie der Sache weiter auf den Grund gehen können, überschlagen sich die Ereignisse …

Inhaltsübersicht

1. KapitelMontagabend2. KapitelDienstagmorgen3. KapitelDienstagmittag4. KapitelDienstagnachmittagDienstagabend5. KapitelMittwochmorgen6. KapitelMittwochmittagMittwochnachmittag7. KapitelMittwochabend8. KapitelDonnerstagmorgen9. KapitelDonnerstagmittagDonnerstagnachmittag10. KapitelFreitagmorgen11. KapitelFreitagmittagFreitagnachmittag12. KapitelFreitagabend13. KapitelSamstagmorgen14. KapitelSamstagmittag15. KapitelSamstagnachmittagSamstagabend16. KapitelSonntagmorgen17. KapitelMontagmorgen18. KapitelMontagnachmittagMontagabend19. KapitelDienstagmorgen20. KapitelDienstagmittagDienstagnachmittagDienstagnachmittag21. KapitelMittwochmorgenMittwochmittag22. KapitelMittwochnachmittag23. KapitelMittwochabendNachwortFriesische Redensarten für alle, die es genau wissen wollenKrintstuutrezept nach Gerda JanßenDanksagungen
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1. Kapitel

Montagabend

17 Uhr

Wer fürchtet sich vor Ino Tjarks?«, tönte es von draußen.

»Niemand!«

»Und wenn er kommt?«

»Dann laufen wir!«

Ein schrilles Gelächter begleitete das alte, leicht abgeänderte Kinderspiel.

Der Märzwind pfiff an diesem späten Nachmittag unangenehm um das rote Backsteinhaus, in dem Ino Tjarks in seinem grünen Ohrensessel saß und missmutig den Kopf schüttelte. Sein Haus mit der Kornmühle lag rückwärtig in einer Sackgasse am Deichfuß und wurde nur von zwei weiteren Häusern flankiert. Rechts befand sich ein Landarbeiterhaus mit angebautem Stall, in dem Inos Haushälterin Gerda Janßen lebte, und auf der gegenüberliegenden Seite wohnte nun seit ein paar Wochen die Großfamilie van der Fisks.

Seitdem war es mit der Ruhe in Inos beschaulichem Tjarkshusen vorbei. Das war ihm schon aufgegangen, als sich die Familie vor ihrem Einzug bei ihm vorgestellt hatte. Wie es auf dem Land Tradition war, hatten er und Gerda vor ihrer Abreise auf die Kanaren bei den neuen Nachbarn den Türkranz aufgehängt, und auch da waren die Kinder ständig mit einem unglaublichen Lärm um sie herumgewuselt.

Wie vermisste Ino den alten Claas, der zuvor in dem Landarbeiterhaus gelebt hatte und leider vor über einem Jahr an einer unglücklich verschluckten Gräte erstickt war! Ein dummer Tod für einen Fischer in der dritten Generation. Ino hatte immer gehofft, ein anderer wortkarger Fischer würde nebenan einziehen, aber das Schicksal war ihm nicht hold gewesen. Dabei liebte er sein Tjarkshusen doch so! Die einzige Straße der kleinen Siedlung führte direkt auf Inos Mühlengrundstück zu, doch bei gutem Tritt in die Pedale war man in etwa zehn Radminuten im nächsten Ort Horumersiel.

Sachte strich er nun seiner schwarz-weiß gefleckten, betagten Doggendame Tiger über den Kopf. Tiger und seine beiden Schafe Lina und Berta waren die einzigen Lebewesen, die er außer Gerda über einen längeren Zeitraum an seiner Seite duldete und näher an sich heranließ. Und die Bäckersfrau Theda, hin und wieder. Ihre Brötchen waren einfach zu köstlich, und es war gut, wenn er in seinem frühen Rentnerdasein nicht versauerte. Deshalb saß er auch noch im Gemeinderat der Flächengemeinde Wangerland und versuchte, die Schrauben der Politik ein bisschen mit zu stellen.

»Wer fürchtet sich vor Ino Tjarks?«, ertönte es wieder.

Vielleicht sollte Ino mal Tiger auf die Gören loslassen! Bestimmt fürchteten sie sich vor großen Hunden. Im nächsten Moment wischte er die Idee mit einer unbeherrschten Handbewegung beiseite. Ach was, es würde nichts bringen. Tiger würde schwanzwedelnd auf die Kinder zugehen, denn sie freute sich über jede Zuwendung. Wirklich über jede, als Wachhund taugte die Dogge folglich nicht.

Außerdem hatten diese schrecklichen Kinder sowieso keine Angst. Es war eine fürchterliche Bande, deren Eltern das Wort Verhütung vermutlich nicht einmal buchstabieren konnten, angesichts der vielköpfigen Kinderschar, die sie produziert hatten. Kein Mensch schaffte sich freiwillig so viele Nervensägen an!

Ino überlegte kurz, ob er vor die Tür gehen und diesen kleinen Van-der-Fisk-Abkömmlingen mal gehörig eins hinter die Löffel geben sollte. Aber dann würde ihm diese rothaarige Hexenmutter, die sich kleidete wie ein ausrangiertes Hippiemodell aus den Sechzigern, bestimmt gleich mit der Polizei drohen. Ino stieß wütend die Luft aus, als von draußen ein Kreischen ertönte, das augenblicklich in lautes Lachen überging.

»Wer fürchtet sich vor Ino Tjarks?«, hörte er wieder.

»Keiner.«

»Und wenn er kommt?«

»Dann laufen wir!«

Ja, sie liefen! Und wie sie das taten! Über sein Grundstück! An Inos Fenster huschte ein blonder Schopf vorbei, die Haare in alle Richtungen abstehend, das Gesicht voller Dreck, als habe sich der Bengel gerade im Schlick gesuhlt. Ihm folgte ein zweiter Kopf, der fast genauso aussah. Bestimmt klonten die van der Fisks ihre Brut. Mal in männlich, mal in weiblich.

»Ino Tjarks isst gern Quarks!«, hörte er nun. Was für ein Unsinn! Er war wirklich geschlagen.

»Ich mach mir mal lieber einen anständigen Grog, dann nerven mich die Gören nicht mehr so«, brummelte er. »Und danach versorge ich Berta und Lina.«

Mit einem lauten Stöhnen erhob er sich aus dem Ohrensessel. Sein Kreuz machte ihm nach dem langen Winter arg zu schaffen, aber bald würde es bestimmt besser werden. Die Tage wurden jetzt im März immer länger, das war gut für die Knochen und gut fürs Gemüt. Sogar die ersten Krokusse lugten an geschützten Stellen schon aus der Erde. Es war allerdings immer noch kalt und zugig genug, um einen Grog am Nachmittag zu rechtfertigen. Tiger verfolgte seine Bewegungen mit einem demonstrativen Gähnen. Sie verspürte offenbar keine Lust, sich auch nur einen Zentimeter zu erheben.

Ino schlurfte in die kleine Küche nebenan und stellte den Kessel mit heißem Wasser auf den Ofen, den er nur mit Holz oder Torf befeuern konnte. Er lebte sehr spartanisch in seiner Mühle, einem echten Galerieholländer mit Anbau, hellen Sprossenfenstern, rotem Dach und dem kleinen Schafstall daneben. Um zum Deich zu gelangen, brauchte Ino nur eine schmale Holzbrücke zu überqueren, weil sich hinter seinem Grundstück ein zwei Meter breiter Graben oder, wie die Friesen es ausdrückten, ein Schloot befand. Am Deichfuß führte ein schmaler Weg für Fußgänger und Radfahrer entlang, und dahinter lag der eingefriedete Deich, auf dem die Schafe grasten und auf dem man auch entlangradeln konnte. Von dort oben bot sich tatsächlich ein fantastischer Blick über die Salzwiese und die Nordsee. Landeinwärts guckte man über die grünen Marschwiesen. Niemals wollte Ino es anders haben! Was für ein Erlebnis jeden Morgen, wenn er von der Brüstung der Mühle aus über die Ländereien und die Weite schaute. So musste sich auch der Häuptling Ino Tjarksena, sein Namensvetter, gefühlt haben. Er war damals ein Richter gewesen und hatte die Burg Inhausen bei Sengwarden erbaut. Gut, das war ein Stück weg, und sie stand auch nicht mehr. Aber die Parallelen waren unübersehbar.

Ein markerschütternder Schrei ließ Ino zusammenfahren, und sogar Tiger trottete erstaunt an seine Seite. Ino stellte den Kessel neben die Kochplatte und sah aus dem Fenster. Der eine Blondschopf schubste eben das kleinere Exemplar unter der Hecke hindurch in den eigenen Garten, drehte dann ab und rannte mit weit aufgerissenen Augen auf Inos Mühle zu. Er umrundete sie und rüttelte nun wie verrückt an der Haustür des Anbaus, wo sich Inos Wohnbereich befand.

»Herr Tjarks!«, schrie er. »Herr Tjarks, Sie müssen kommen! Bitte, machen Sie doch auf!«

Herrje, der Kleine klang ja völlig panisch. Ino seufzte und ging, gefolgt von Tiger, gemächlich zur Tür. Nur keine Eile! Wer wusste schon, welchen Streich ihm der Rotzlöffel spielen wollte. Rotzlöffel spielten immer nur Streiche, auch wenn sie so taten, als hätten sie Angst.

Kaum war Ino im Flur angelangt, stieß der Blondschopf die Tür auf und fiel ihm förmlich entgegen.

»Wartet man heute nicht mehr, bis man hereingebeten wird? Wo kommen wir denn da hin? Unmöglich«, grunzte Ino.

Der Junge schluckte und hielt den Türgriff noch umfasst.

»Habt ihr Säcke vor den Türen? Mach die Haustür zu, es wird kalt.« Ino betrachtete den Jungen. »Warum hampelst du so herum? Bist du einem Schweinswal an Land begegnet oder hat dich eine Möwe angeschissen?«

»Nichts von beidem, Herr Tjarks!«, antwortete der Junge aufgeregt.

»Jou, aber nun beruhige dich mal. Immer langsam, mien Jung!«

Der Kleine japste nach Luft. »Also da liegt … vorm Deich … in der Salzwiese … nein, im Watt …«

»Wo genau soll nun was sein?« Ino kratzte sich am Kopf. »Bitte ganz langsam. Bin ja nicht mehr der Jüngste. Außerdem wollte ich gerade einen Grog trinken.«

Der Junge schluckte und sammelte sich kurz. »Also, Herr Tjarks, vorm Deich, in der Salzwiese, da liegt ein Toter!«

18 Uhr

Wenn Ino eins nicht abkonnte, dann waren es die Bullen. Mit der Staatsobrigkeit war er durch, nachdem zwei Beamte im letzten Sommer plötzlich bei ihm vor der Tür gestanden hatten und ihn als Exhibitionisten hatten festnehmen wollen. Dabei war er lediglich in seinem Bademantel durch den Garten spaziert, weil ihn am Abend noch eine ungeheure Lust auf Erdbeeren überfallen hatte und er sie frisch vom Beet genießen wollte. Was konnte er dafür, dass plötzlich die alte Berta Griese aus Horumersiel mit ihrem klapprigen Hollandrad, das sie überflüssigerweise grün lackiert und dann mit gelben Sonnenblumen bemalt hatte, auf dem unteren Deichweg an Tjarkshusen vorbeiradelte und eine schlimme Fantasie ihr Eigen nannte? War das ein Aufstand gewesen, die Bullen von seiner Unschuld zu überzeugen!

Und nun fielen die Typen gleich mit einer ganzen Horde bei ihm ein, zertrampelten sein Grundstück und erklommen den Deich. Nach Aussage des dicken Kommissars waren noch mehr von der Sorte zu erwarten. Dazu kam eine überraschend große Schar Schaulustiger, die zufällig am Deich entlanggeradelt waren, per Handy den Buschfunk in Gang gesetzt hatten und sich nun um den besten Platz an der Absperrung balgten.

Wäre Ino doch seiner ersten Eingebung gefolgt und hätte dem Jungen von nebenan eine Tafel Schokolade gegeben und ihn gebeten, das als bösen Traum abzutun! Dann hätte er den Toten einfach unter den zukünftigen Radieschen eingebuddelt. Aber das machte man nun mal nicht, also hatte er das getan, was jeder folgsame Staatsbürger getan hätte, und die Polizei angerufen.

Ino hatte seine Joppe über den dunkelblauen Troyer gezogen und die Pudelmütze aufgesetzt. Sie wärmte allerdings nur sein Haupt, denn er mochte nichts über den Ohren haben und pflegte die Mütze deshalb stets so hochzurollen, dass dieselben frei lagen. Ino war den Polizeibeamten erst über die Brücke am Schloot, dann über den Deich und schließlich durchs zweite Schafsgatter in die Salzwiese gefolgt und stand in nur geringem Abstand zu dem Ermordeten. Es dämmerte, und es war wirklich unangenehm windig. Ein paar Seevögel zogen ihre Kreise über der Salzwiese, ein Falke rüttelte rechts über der Deichkrone und stieß dann plötzlich herab. Direkt neben ihm klatschte es, und eine Silbermöwe keckerte über seinem Kopf. Ino hob drohend die Faust.

Er schaute über die Nordsee. Jetzt war Ebbe und das Wattenmeer lag frei. Es roch nach Schlick und Tang, ein Duft, den Ino über alles liebte. Trotz des Windes hätte es ein schöner Abend sein können. Wenn nicht …

»Erdrosselt«, sagte eben Traugott Fürchtenicht, wie er sich kurz zuvor als Polizeihauptkommissar von der Mordkommission Wilhelmshaven/Friesland bei Ino vorgestellt hatte. »Ich will der Spusi nicht vorgreifen, aber das sieht ja mal bannig danach aus!« Er fixierte Ino.

Der betrachtete die Absperrung ringsumher mit argwöhnischem Blick. »Wenn Sie nachher wieder durch meinen Garten trampeln, bitte ich um Vorsicht. Ich habe bereits die ersten Beete für die Aussaat fertig gemacht. Vorne sollen die Radieschen wachsen. Also sehen Sie sich vor! Vor allem, wenn gleich eine noch größere Bagage hier anrauscht.«

Der Kommissar nickte nur und umrundete den Toten ein weiteres Mal. »Wir passen schon auf, Herr Tjarks.« Er sah auf die Uhr. »Die Kollegen müssen sich beeilen, wird rasch dunkel. Ist Ihnen der Tote bekannt?«

Ino nickte. »Das ist Alois Winterscheid. Bin im Gemeinderat und musste mit dem arbeiten.« Er betrachtete die Leiche mit zusammengepressten Lippen. Da hatte also der neue Kurdirektor direkt hinter seinem Garten ins Gras gebissen. Nein, nicht ins Gras, sondern eher ins Watt. Es wäre gelogen gewesen, wenn er behauptet hätte, der Tod des Kurdirektors täte ihm leid. Ino kicherte leise. Ins Watt gebissen, das war ein würdiger Tod für einen Kurdirektor, der an der Küste sein Unwesen getrieben hatte. Ino biss sich auf die Lippe, als er den tadelnden Blick des Kommissars bemerkte.

»Entschuldigung«, rang er sich ab. Es war besser, sich mit Fürchtenicht gutzustellen – oder sich zumindest nicht mit ihm anzulegen.

Ino konzentrierte sich wieder auf das Mordopfer. Bei näherer Betrachtung und Überlegung wurde ihm dann doch heiß und kalt. Aber es galt erst einmal, entspannt zu bleiben und abzuwarten, wie es sich für einen Friesen gehörte.

Als Ino vorhin mit der Rotznase von nebenan und seiner Dogge hierhergekommen war, hatte Tiger tatsächlich kurz an dem Toten geschnüffelt und dann mit der Rute gewedelt. Außerdem hatte sie auf etwas herumgekaut und sich danach genüsslich das Maul geschleckt. Ino wollte lieber gar nicht wissen, was das gewesen war.

»Wir müssen warten, bis das restliche Team aus Wilhelmshaven und die Spurensicherung angekommen sind.« Fürchtenicht wandte sich an seinen Kollegen. »Dietrich, du passt auf, dass hier keiner was anrührt. Keiner! Bin gleich zurück.«

Der junge Polizist mit den viel zu großen Ohren, die unter der Polizeimütze hervorlugten, nickte wichtig.

»Sind Sie alle aus Wilhelmshaven?«, fragte Ino ihn. Schließlich hatte er noch nie mit einem Mord zu tun gehabt und wollte wissen, woher die Bande kam, die hier herumtrampelte.

Der Kommissar straffte die Schultern. »So sieht das aus. Unser Sitz ist in der Marinestadt, und wir sind somit für diesen Fall zuständig.«

Fürchtenicht sah Ino an. »Haben Sie Tee? Dauert sicher noch, bis die Kollegen da sind.«

»Ja, kann ich Ihnen aufbrühen«, brummte Ino. Nun wollte der Bulle auch noch in sein Zuhause. Schlimmer konnte es wohl nicht kommen. Wenn nur Gerda da wäre! Aber die weilte im Moment unter der südlichen Sonne, und entsprechend chaotisch sah es bei ihm aus. Ino hatte kein Händchen für Ordnung. Oder eine andere Vorstellung davon als Gerda, je nachdem, wie man es sah. Er vermisste sie aber nicht nur wegen des Aufräumens, nein, er liebte auch ihre fröhliche Art, in allen Dingen immer nur das Gute zu sehen. Er liebte ihre Art zu sprechen und … Aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken.

Ino gab sich für seine Verhältnisse überaus freundlich und konnte sich dafür selbst nicht leiden. Aber ein Toter hinter seinem Grundstück, und zwar einer, den er lebendig nicht besonders gut hatte leiden können, waren schlechte Voraussetzungen für eine zusätzliche Konfrontation mit den Bullen.

»Wasser ist schnell warm gemacht, und so gemütlich ist das hier draußen wirklich nicht. Kommen Sie!«

Der Kommissar folgte ihm über den Deich durch den Garten ins Haus und schaute sich dort interessiert um. In einer alten Mühle mit Anbau hatte er wahrscheinlich noch nicht so oft ermittelt.

In der Diele, die die Mühle mit dem Anbau verband, hatte Ino versucht, das Flair einzufangen. Ein alter Mühlstein diente als Tisch, auf dem er seine Schlüssel und ähnliche Dinge ablegte. Ein Trockenblumenstrauß sorgte für Atmosphäre. Die Wände hatte Ino weiß gekalkt, so wie auch die in der Mühle selbst, die noch voll funktionsfähig war. Hinter der Diele lag die große Wohnküche, deren Mittelpunkt der alte Ofen war. Auf dem Sims darüber standen diverse antike Krüge und Teller. Der Küche folgte die Stube, die ebenfalls aussah, als sei sie Teil eines Museums. Inos Schlafraum lag oben unter dem Dach. Dorthin musste er eine Treppe ausfahren, die sich verborgen hinter einer Klappe in der Stubendecke befand.

Ino nahm die Mütze ab und hängte die Joppe an den dafür vorgesehenen Haken in der Diele.

Er zeigte Fürchtenicht, wo sich die Küche befand, nahm den Kessel mit Wasser und stellte ihn erneut auf den Ofen. Seinen Grog hatte er vorhin zu seinem Leidwesen ja nicht mehr aufbrühen können. Anschließend bereitete er den Tee zu. »Kluntje und Sahne?«

Der Kommissar nickte und setzte sich an den Küchentisch. Dort trank er einen Tee nach dem anderen, immerhin richtig, weil er nicht umrührte. Irgendwann stellte er den Löffel in die Tasse, als Zeichen, dass sein Bedarf gedeckt war.

»So ein Schiet aber auch mit dem toten Kurdirektor, was? Das wünscht man sich nicht hinter seinem Garten. – Waren Sie das?« Ein kurzer abschätzender Blick begleitete seine Worte.

Ino zuckte zurück. »Natürlich nicht! Ich bringe doch niemanden um, nicht mal Alois Winterscheid, obwohl das bestimmt nicht mein Freund gewesen ist.«

»Dass Sie den Kurdirektor nicht besonders mochten, war kein Geheimnis, wie ich schon von den Schaulustigen gehört habe.« Fürchtenicht fixierte Ino. »Das haben die gleich rausposaunt. Es ging um einen Streit wegen eines Bauprojekts.«

Ino kratzte sich wieder am Kopf und beschloss, die Feststellung zunächst zu ignorieren. Das Eisen war zu heiß. »Ich bin ja nicht blöd und würde mein Mordopfer doch nicht direkt vor der eigenen Haustür ablegen!«, lenkte er ab. »Mich nervt das alles, Herr Kommissar. Wenn es nach mir ginge, hätte der Tote woanders gelegen, das sag ich Ihnen.«

»Kann ich verstehen«, knurrte der Kommissar. »Trotzdem muss ich Sie fragen, wo Sie denn zur Tatzeit waren.«

Ino verdrehte bei dieser Frage die Augen. »Ich hab hübsch brav in meiner Mühle gesessen und Grog getrunken. Nein, falsch: Ich wollte Grog trinken, bin dann aber nicht mehr dazu gekommen, weil der Nachbarjunge wegen des Toten so einen Lärm veranstaltet hat. Doch das Wasser hatte ich schon heiß gemacht. Deshalb ging das bei Ihnen eben so fix, war noch lauwarm.«

Draußen zerhackten plötzlich Blaulichter die beginnende Dunkelheit.

»Ich geh dann mal raus. Die Spusi mit dem erweiterten Team ist angekommen«, sagte Traugott Fürchtenicht mit einem Blick aus dem Fenster.

Ino war froh, als er wieder allein war. Er brachte die Teetasse des Kommissars gleich zur Spüle und wusch sie ab. Der Mann sollte keine Spuren bei ihm hinterlassen. Danach setzte er sich an den weißen Küchentisch, der aus schwerem Eichenholz gefertigt war, und schenkte sich selbst noch eine letzte Tasse Tee ein. Auf Grog hatte er keinen Appetit mehr, es war besser, die nächsten Tage seine Sinne beisammenzuhalten. Ob er so einfach aus der Sache rauskam, war schließlich nicht sicher.

Schlimm genug, wenn dem Kommissar von den paar Gaffern, die ihn kannten, schon gesteckt worden war, dass er und Alois Winterscheid sich nicht grün gewesen waren. Dass es sogar eine abgrundtiefe Feindschaft gegeben hatte, musste der Kommissar nicht zwangsläufig wissen. Und schon gar nicht, wenn – wie er vorhin lang und breit erklärt hatte – die Pension nahte und der Fall schnell abgeschlossen werden musste. Dass Ino sich als Schuldiger eignete, war auch dem dümmsten Bullen klar.

Nicht, dass er ratzfatz in der Zelle saß.

Ino strich Tiger flüchtig über den Kopf. Die Dogge war wirklich der einzige Lichtblick – wenn man von Gerda Janßen und seinen Schafen Berta und Lina mal absah. Es wäre sicher gut, die beiden jetzt zu versorgen. Sie fürchteten sich bestimmt bei all der Aufruhr da draußen.

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2. Kapitel

Dienstagmorgen

10 Uhr

Ino saß am Frühstückstisch. Ihn plagten Kopfschmerzen, denn er hatte in der Nacht kaum geschlafen. Er war zwar nicht gerade von zartem Gemüt, aber die Leiche seines Erzfeindes hinter seinem Grundstück liegen zu sehen, war ganz schön harter Tobak gewesen. Außerdem war die Verstärkung der Fürchtenicht-Truppe verdammt lange auf seinem Grund und Boden herumspaziert und hatte natürlich doch das frisch angesäte Radieschenbeet nebst sämtlichen Blumenrabatten zertrampelt. Die Stauden würden eine Weile brauchen, bis sie sich von der Polizeigewalt erholt hatten. Und das Beet konnte er ganz neu bestellen. So viel zum Thema »Wir nehmen Rücksicht«.

Derart viel Tamtam – und das alles wegen dieses blöden Heinis von Kurdirektor, der nicht einmal von hier kam! Die Gemeinde hatte Alois Winterscheid extra aus dem südlichen Ausland einfliegen lassen. Ein Bayer im Wangerland, der konnte ja nur tot im Watt enden, dachte Ino, während er einen weiteren Kluntje in der Teetasse versenkte. Heute brauchte er es besonders süß.

Was wusste denn ein Bergsteiger vom Wattenmeer und von den Gepflogenheiten der Leute hinterm Deich? Die meisten Wangerländer hatten das Auftreten Winterscheids eher skeptisch gesehen, denn natürlich war der Typ auch noch ein Fan vom FC Bayern München und nicht, wie es sich hier gehörte, von Werder Bremen. Seine Vorliebe trug der Kerl in seiner Freizeit mittels eines Bayernschals auch gern zur Schau. Wenigstens hatte er diese Lederknickerbocker abgelegt und gegen Jeans getauscht, aber sein merkwürdiges blau-weißes Karohemd hatte er sogar noch als Leiche angehabt. Ja, jetzt war er tot, aber das lag vermutlich nicht am Fußballklub. Das hatte Ino auch diesem Kommissar gesagt. Keiner wurde im Wangerland umgebracht, weil er den falschen Verein anfeuerte!

Ino nahm noch einen Schluck Tee, das beruhigte, so wie es auch jeden Friesen gnädig stimmte.

10:30 Uhr

Tertius war neu auf dem Gymnasium und musste seinen Platz in der Gruppe noch finden, doch heute war er sich der Aufmerksamkeit seiner Schulklasse sicher. Von seinen Mitschülern hatte noch keiner eine waschechte Leiche gefunden und schon gar nicht die des bayerischen Kurdirektors.

»Ganz blass ist er gewesen, und an seinem Hals war ein dicker Striemen!« Ehrfürchtig lauschte die Klasse den Ausführungen des Zwölfjährigen. Tertius tat die Geschichte mittlerweile zum fünften Mal und in einer neuen Variante kund.

»Haro-Hein van der Fisk, Ruhe jetzt!«, dröhnte die Stimme des Mathelehrers Müller durch die Klasse. Er musste schon eine Weile dort gestanden und ihm zugehört haben. Die Tür des Klassenraums schlug heftig zu. Gleich würde die Luft mit mathematischen Formeln erfüllt sein.

»Was erzählst du da wieder für Märchen? Du spielst bestimmt zu viele Computerspiele. Ich muss mal mit deinen Eltern sprechen. – Alles setzen, aber rasch!« Der Lehrer rückte seine Brille zurecht.

Binnen Sekunden waren alle Mitschüler auf ihre Plätze geflüchtet und schlugen die Hefte und Bücher auf.

»Stimmt das denn gar nicht, dass Tertius den Toten gefunden hat?«, piepste Selina mit einem Fingerzeig auf Tertius.

»Haro-Hein übertreibt mal wieder«, beschied Herr Müller. »Wo soll er den denn gefunden haben? Wir beginnen.« Herr Müller bemerkte nicht, dass sich sein Lieblingsschüler Achim meldete und schließlich flüsterte: »Aber da war doch ganz viel Blaulicht, und im Radio habe ich auch was von einem Toten im Watt gehört!«

Der Unterricht floss wie ein zäher Strom über Tertius hinweg. Er war froh, dass Selina ihn beim Spitznamen genannt hatte und nicht mit dem Taufnamen Haro-Hein – was auch immer sich seine Eltern beim Verhängen dieser Namensstrafe gedacht hatten. Wahrscheinlich hatten sie blitzschnell nach einer friesischen Alternative passend zum Nachnamen gesucht, fest in dem Glauben, kein Mensch würde ihn je so nennen. Denn trotz des alten friesischen Stammbaums liebten seine Eltern die römische Kultur. Sein Vater hatte etliche Bücher dazu in den Regalen stehen, und im Wohnzimmer standen getöpferte Skulpturen. Als Nächstes wollte er eine Sauna nach historischem Vorbild bauen. Tertius fand das hier im Wangerland etwas schräg, aber seine Eltern unterschieden sich so oder so von denen seiner Klassenkameraden. Das war schon immer so gewesen und würde sich auch in der neuen Umgebung nicht ändern. Das Interesse der Eltern an den Römern hatte sich auch auf die Namensgebung der Kinder niedergeschlagen: Zu Hause riefen sie ihre Kinder stets nur durchnummeriert, so wie es die alten Römer getan hatten, schenkte man ihrem mittlerweile senilen Lateinlehrer Glauben.

Haro-Hein war jedenfalls der dritte Abkömmling der van der Fisks und wurde deshalb Tertius gerufen. Seine älteste Schwester war die sechzehnjährige Prima, die ihren Namen Adalberta vermutlich schon vergessen hatte. Der zweite Spross der van der Fisks war seine Schwester Grete oder eben Sekunda, dann folgte er und schließlich Pupt, der nur Quartus gerufen wurde. Pupt war ein alter friesischer Name, nur wusste das leider keiner. Tertius litt unter dem Ausrutscher besonders, denn wenn seine Eltern so richtig tüchtig wütend waren, riefen sie ihre Kinder doch mal bei ihren richtigen Namen. Das klang dann so: »Adalberta, Grete, Haro – Pupt! Herkommen!«

Super Aktion … Immer hatte er als Letzter vor Pupt die A-Karte.

Bevor Tertius weiter darüber nachdenken konnte, klopfte es an der Tür, und der Kommissar von gestern stand im Klassenraum. An seiner Seite war Oberstudienrat Obermark und deutete aufgeregt auf Tertius. »Herr Müller, wir müssen den Schüler Haro-Hein van der Fisk unbedingt kurz entführen. Ach nein, mitnehmen müssen wir ihn. Entführen klingt so kriminell.«

»Was hat der Bengel denn angestellt?«, fragte Herr Müller und klang wie der Vater von Michel aus Lönneberga.

»Nichts.« Herr Obermark winkte ab. »Wir müssen ihm nur ein paar Fragen stellen. Natürlich mit pädagogischer Unterstützung meinerseits.«

»Hach, dann stimmt es also doch«, hauchte Selina verzückt, und Tertius warf ihr einen lächelnden, Herrn Müller aber einen triumphierenden Blick zu.

Im Lehrerzimmer wartete schon seine Mutter, Maria van der Fisk. Ihre Gesichtsfarbe hatte sich vor Aufregung dem Ton ihrer roten Dreadlocks angeglichen.

Der Kommissar strich sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn und klebte sie nach einem kurzen Lecken an der Innenhand gekonnt zurück an die Glatze.

»Nun, Haro-Hein«, begann er, aber Tertius fiel ihm augenblicklich ins Wort. »Bitte sagen Sie Tertius zu mir. Dann fühle ich mich sicherer nach dieser schrecklichen Sache.«

Der Psychodruck funktionierte. »Gut, dann eben Tertius. Wir haben ja schon gestern über alles gesprochen, aber ich möchte es jetzt, mit etwas Abstand, noch einmal hören, denn es gibt ein paar Ungereimtheiten, die ich im Moment nicht näher erläutern kann. Du hast also mit deinem Bruder Pupt Verstecken gespielt.«

Tertius verneinte. »Es war ›Wer fürchtet sich vor Ino Tjarks‹, und Quartus, also mein Bruder Pupt, war auf dessen Grundstück gelaufen. Der wohnt nebenan in der Mühle mit dem Anbau und ist echt ein voll fieser Typ. Ich fand das sehr mutig von Quartus.«

Der Kommissar nickte bedächtig, konnte sich aber bei der Formulierung »mein Bruder Pupt« nur schwer ein gehässiges Grinsen verkneifen. »Und dann seid ihr durch seinen Garten gerannt und über den Deich geklettert, um dort weiterzuspielen?«

»Na ja, erst mussten wir über die Holzbrücke, die voll rutschig war. Und Klettern kann man das nicht nennen. So hoch ist der Deich ja nicht, dass man Steigeisen und Pickel braucht.« Tertius ignorierte den scharfen Blick des Kommissars und redete weiter. »Jedenfalls sind wir erst den Deich rauf- und dann auf der anderen Seite wieder runtergerannt. Bis zur Salzwiese. Aber nur über den erlaubten Pfad, weil wir schließlich nicht die Vögel erschrecken wollten. Aber da war es rasch schlickig.«

»Nicht so umständlich, junger Mann«, sagte der Kommissar.

Maria van der Fisk wurde unruhig. »Herr Fürchtenicht! Mein Sohn ist schwer traumatisiert und da muss er frei sprechen können. Sie stören seinen Flow.«

Der Kommissar nickte ergeben. »Gut. Und dann lag da also der tote Mann.«

»Jou.« Tertius strahlte. »Er hatte die Augen ganz weit auf, und am Hals prangte ein roter Strich.«

Seine Mutter legte ihm beruhigend die Hand auf den Unterarm. »Mein armes Kind, es leidet so!« Ihre Gesichtsfarbe war nun von kräftigerer Farbe als das Haar.

Tertius schluckte. Ganz unrecht hatte seine Mutter nicht, denn so cool, wie er sich in der Klasse gegeben hatte, war er beim Fund des Toten wirklich nicht gewesen. Und hier war niemand, dem er imponieren musste. »Also, wir dachten zuerst, da ist bloß einer hingefallen. Wir sind dann zu ihm gerannt und wollten ihm helfen. Macht man ja so.« Tertius nagte an seiner Unterlippe.

»Und dann habt ihr gesehen, dass er tot war?«, versuchte der Direktor das Gespräch zu beschleunigen.

»Nö«, sagte Tertius. »Dann haben wir erst gesehen, dass der Mann wie ein Käfer auf dem Rücken lag und sich den Himmel anguckte. Er hatte die Augen schließlich auf. Wir wollten schon weiterspielen, um den nicht zu stören. Gibt ja ein paar Spinner, die so was zur Entspannung machen.«

Seine Mutter stieß ihn kopfschüttelnd an. »Das brauchen einige Menschen eben, Tertius. Das ist nicht negativ!«

»Aber ihr seid dann doch ganz nah hingelaufen?«, hakte der Kommissar nach und ignorierte die Maßregelung.

»Genau. Weil der Mann irgendwie eigenartig wirkte. Ich habe den Typ dann angestoßen, und da ist die Hand vom Bauch runtergerutscht. So richtig platsch!« Tertius machte die Bewegung vor. Dabei begann er zu zittern. »Es war ekelig, Herr Fürchtenicht. Ich habe bisher noch keinen Toten gesehen. Also keinen toten Menschen. Nur tote Tauben oder Möwen. Na ja, und mein Hamster, als er von der Fensterbank gefallen ist. Aber das ist schon etwas her.«

Der Kommissar nickte kurz. »Dann bist du sofort zu Herrn Tjarks gelaufen?«

Tertius schüttelte den Kopf. »Nee, erst habe ich Quartus die Augen zugehalten, damit der den Toten nicht sieht. Der ist nämlich sehr empfindlich und schon umgefallen, als mein Hamster gestorben ist. Einen Menschen als Leiche hätte er nicht verkraftet. Ich hab ihn mitgenommen und zu uns in den Garten geschubst, damit er in sein Zimmer gehen konnte. Weil Mama und Papa nicht zu Hause waren, bin ich gleich zu Herrn Tjarks gelaufen, obwohl ich echt Muffe vor dem hab. Aber bei so was muss man ja Erwachsenen Bescheid sagen.«

Herr Fürchtenicht schrieb alles in sein zerfleddertes Notizbuch. »Du hast Angst vor deinem Nachbarn?«

Tertius nickte. »Es war voll mutig, da zu klingeln, so wie der drauf ist. Und es war schon mutig, dass Quartus da überhaupt aufs Grundstück gerannt ist. Hab ich ja schon gesagt.«

Auch das schrieb der Kommissar auf. »Wie alt bist du noch mal?«

»Mein Sohn ist zwölf«, antwortete Maria van der Fisk für Tertius.

Der Kommissar nickte. Dann wandte er sich wieder dem Jungen zu. »Und was hat Herr Tjarks gemacht, als du ihm Bescheid gegeben hast?«

Tertius überlegte kurz, entschied aber, dass er das sagen durfte. »Erst war er sauer, weil er seinen Grog nicht trinken konnte. Das hat er ziemlich deutlich gesagt. Dann hat er den Kessel vom Ofen genommen. Das ist voll das alte Ding. Wird noch mit Holz geheizt. Aber dann ist er mitgekommen, hat den Toten angesehen und gemurmelt: ›Zum Glück trifft es meist die Richtigen.‹ Tiger, seine schwarz-weiße Riesendogge, war auch dabei, hat an dem Toten rumgeschnüffelt und wie immer gesabbert.« Tertius überlegte kurz. »Danach hat Herr Tjarks mich zu meinen Eltern gebracht, die inzwischen vom Einkaufen zurück waren. Er hat sogar geklingelt und meiner Mutter gesagt, was los ist. Mehr weiß ich nicht, weil man mich in mein Zimmer geschickt hat.« Er grinste. »Aber später habe ich meinen Vater noch gefragt, wer der Tote war. Das wollte ich dann doch wissen.«

»War Herr Tjarks irgendwie komisch?«

»Der ist immer komisch, Herr Fürchtenicht.«

Der Kommissar räusperte sich. »Ich meine, war er anders als sonst?«

Jetzt dämmerte es Tertius. »Sie glauben, dass er den Kurdirektor abgemurkst haben könnte?«

»Ich fragte lediglich, ob Herr Tjarks sich merkwürdig verhalten hat.«

»Sag ich doch. Und gestern war er zudem noch echt stinkig. Nicht nur, weil er den Grog nicht trinken konnte. Wir sind durch seinen Mühlengarten geturnt. Das mag er auch nicht.«

Herr Fürchtenicht nickte. »Gut, ich lese dir kurz noch einmal vor, was du gesagt hast.«

Tertius lauschte seinen Worten. Es klang alles korrekt, der Polizist hatte ihm gut zugehört. Innerlich plusterte Tertius sich auf. Ein Verhör war schon sehr spannend, damit konnte man später in der Klasse etwas anfangen. Dieses Ereignis würde seinen Marktwert immens nach oben katapultieren!

»Dann kannst du jetzt wieder zurück in den Unterricht gehen. Danke.« Der Kommissar verabschiedete sich. Tertius hörte noch, wie ihm der Oberstudienrat zuraunte: »Gut, dass Sie in mir so wertvolle pädagogische Unterstützung hatten, sonst hätte der kleine Kerl das nicht geschafft.«

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3. Kapitel

Dienstagmittag

12 Uhr

Horumersiel zeigte sich in strahlendem Sonnenschein, als die beiden Kommissare Fürchtenicht und Dietrich zur Kurverwaltung fuhren, wo der Kurdirektor sein Büro gehabt hatte. Nichts war mehr von dem gestrigen ungemütlichen Wetter zu bemerken. Durch die Goldstraße flanierten bereits die ersten Touristen und erfreuten sich an den bunten Auslagen wie Muschelnetzen, kleinen Käschern und Leuchttürmen in allen Variationen, die den Ort neben Piratenflaggen und Sandspielzeug sehr farbenfroh erscheinen ließen. Ein paar Cafés hatten ihre Möbel bereits draußen platziert. Die scheinbare Idylle ließ Fürchtenicht und Dietrich fast vergessen, in welcher Mission sie unterwegs waren. Am Vorabend hatten sie noch die Wohnung des Toten durchsucht, aber keine brauchbaren Hinweise gefunden. Sogar sein Handy war unauffindbar. Genau wie die Tatwaffe, mit der er erdrosselt worden war.

Sie hatten die Kurverwaltung erreicht. Dietrich, der den Dienstwagen lenkte, fuhr mit Schwung auf einen der Parkplätze, die sich hinter der Bücherei befanden. Dann liefen sie zum Eingang, und Dietrich hielt seinem Chef die Tür auf. Am großen Tresen fragten sie sich zu Winterscheids Büro durch.

Die Nachricht vom Tod des Kurdirektors hatte sich im Ort bereits wie ein Lauffeuer verbreitet. Seine Sekretärin Laura Stern bat die beiden Polizisten, Platz zu nehmen, und bot ihnen einen Kaffee an. Ihre Hände zitterten, aber sie war um Fassung bemüht. Als sie sich umdrehte, wischte sie sich rasch eine Träne von der Wange.

»Wollen Sie sich setzen?«, fragte Dietrich.

Laura Stern schüttelte den Kopf und schaute die beiden mit jetzt tränenverschleiertem Blick an. »Das ist so furchtbar! So furchtbar.«

»Möchten Sie ein Glas Wasser?«, fragte Fürchtenicht. Die Frau sah aus, als würde sie gleich kollabieren.

»Nein, danke.« Sie schob mit zitternden Fingern die herausgerutschten Haare zurück in den straff gekämmten Zopf, atmete einmal tief durch und setzte dann ein unverbindliches Lächeln auf. »Es geht schon wieder. Was kann ich für Sie tun?«

Fürchtenicht konnte Laura Stern nur schwer einordnen. Sie wirkte wie eine Frau, die ihren Job gut machte, aber zugleich hatte sie etwas von einem zarten Pflänzchen.

Graue Maus, beflissen und unsicher, notierte er in Gedanken. Ob er sie hübsch fand, wusste er nicht so genau. Für seinen Geschmack hatte sie zu viele Sommersprossen und eine zu langweilige Haarfarbe, die zwischen blond und hellbraun changierte. Auch ihre Frisur wirkte mehr nachlässig als arrangiert.

»Sie haben also vom Tod Ihres Chefs schon gehört?« Fürchtenicht merkte am Blick der jungen Frau, dass er jetzt dünnes Eis betrat, aber sie hatte sich überraschend gut im Griff.

»Ja, das habe ich natürlich!«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

»Gibt es Verwandte? Wir haben gestern bei ihm in der Wohnung nichts gefunden. Außer dem Hinweis auf eine blonde Frau, von der dort ein Bild auf der Kommode steht. Sein Handy ist verschwunden, ein Adressbuch gibt es nicht.«

Die Stimme von Frau Stern festigte sich von Satz zu Satz. »Die Frau auf dem Foto wird seine Verlobte sein, Vroni Hinterlechner. Warten Sie, ich hole die Adresse und Telefonnummer, damit Sie sie informieren können.« Laura stöckelte auf ihren hochhackigen grauen Pumps ins Nebenzimmer.

Fürchtenicht sah sich im Büro um. Es wirkte unpersönlich, hell und aufgeräumt.

Laura Stern kam kurz darauf zurück und legte Traugott einen Zettel hin. Er warf einen kurzen Blick darauf. »Die Dame kommt also auch aus Bayern, genau wie der Tote. Aber sie lebt noch immer in München. Ich werde sie nachher informieren. Gibt es sonst noch Anverwandte?«

»Ich weiß von niemandem, Herr Kommissar. Herr Winterscheid hielt sich stets sehr bedeckt, was seine Privatangelegenheiten anging. Er war ja auch erst ein halbes Jahr lang Kurdirektor. So genau weiß ich das also nicht.« Ihre Stimme flackerte wieder leicht.

»Es gab ein paar Andeutungen zu einem Bauprojekt, das er verwirklichen wollte und mit dem vor allem Ino Tjarks nicht einverstanden war«, lenkte Fürchtenicht das Gespräch in eine andere Richtung, und sofort straffte sich Frau Sterns Körperhaltung, und ihre Stimme wechselte zurück ins gewohnt geschäftlich ruhige Timbre.

»Ja, diese Häuptlingsburg mit angegliedertem Freizeitpark hier am Rand von Horumersiel in Richtung Hooksiel. Ein tagesfüllendes Thema, sag ich Ihnen! Und Ino Tjarks war ein ganz furchtbarer Gegner.«

»Das möchte ich genauer wissen«, forderte Fürchtenicht die Sekretärin auf.

»Der ist so ein Stinkstiefel! Er hat hier jeden Tag, wirklich jeden Tag, die Welle gemacht. Dabei war das doch erst mal nur eine Idee. Ob sie überhaupt realisiert werden könnte, stand ja noch in den Sternen. Der Rat in Hohenkirchen hätte erst zustimmen müssen und –«

»Moment«, unterbrach Fürchtenicht die junge Frau. »Der Kurdirektor musste sich also nach dem Ratsbeschluss richten?«

»Ja, so ist es. Wir sind hier eine Gesellschaft für Tourismus, und so sind die finanziell sehr aufwendigen Projekte aus dem Gemeindehaushalt ausgegliedert.« Sie sah Traugott an, und der ermunterte sie, weiterzusprechen. »Wir werden wie eine normale Gesellschaft geführt. Aber der Gesellschafter ist die Kommune, also das Wangerland mit Sitz in Hohenkirchen. Und die hat Herrn Winterscheid eingestellt.«

»In der Funktion wollte er also diese Häuptlingsburg mit Freizeitpark am Wattenmeer bauen«, vervollständigte Fürchtenicht die Erklärung.

»Genauso ist es. Aber trotzdem stellt die Kommune ihm die Haushaltsmittel zur Verfügung, und die Gemeinden sind immer knapp bei Kasse, wie Sie wissen.«

»Das heißt im Klartext?«, hakte Fürchtenicht nach.

»Das heißt, der Rat entscheidet letztlich, was gebaut werden darf und was nicht. Und bei der Häuptlingsburg hätte alles zudem noch über Bebauungspläne abgesichert werden müssen.«

Der Kommissar ordnete im Kopf das Gehörte und kratzte sich am Kinn.

Frau Stern aber war jetzt voll in ihrem Element. »Herr Winterscheid hatte zwar Kontakte zu einem Großinvestor, der seine Idee als gute Einnahmequelle sah, aber da war noch nichts spruchreif.« Laura Stern schenkte Fürchtenicht eine Tasse Kaffee nach. »Wirtschaftlich läuft es in der Region suboptimal, aber mit Touristik kann man gute Geschäfte machen. Vielleicht hätte das Projekt das Wangerland vorangebracht?«

»Wer ist der Investor?«

Frau Stern zuckte mit den Schultern, aber sie wirkte kurz, als sei sie aus dem Konzept gekommen. »Darüber hat Herr Winterscheid nicht mit mir gesprochen. Ich weiß nur, dass es Interessenten gab, aber da war wirklich noch nichts in trockenen Tüchern. Ich weiß auch nicht, wie er den Rat hätte überzeugen wollen. Es gab viele, die das Ganze als Schnapsidee sahen. Ino Tjarks allen voran.« Laura Stern zog ein Taschentuch aus dem Blazerärmel und tupfte sich die Nase. Sie war plötzlich wieder sehr blass. »Entschuldigen Sie, das ist alles ein bisschen viel für mich. Es wäre bestimmt besser, wenn Sie wegen dieser Sache mit den Ratsherren reden würden. Und mit Herrn Tjarks, der plante sogar eine Bürgerinitiative dagegen zu gründen. Als Ratsmitglied! Tz!«

»Haben Sie die Namen der Mitstreiter? Also, wer noch mit Herrn Tjarks gegen Herrn Winterscheid agiert hat? Waren das ebenfalls Ratsmitglieder?« Dietrich rieb sich die Nase. Das tat er gern, wenn er glaubte, eine gute Frage gestellt zu haben.

Frau Stern nickte. »Es war eine gemischte Truppe, und es waren auch welche aus dem Rat dabei. Ich notiere Ihnen die Namen. Der Tjarks hat unserem Kurdirektor oft genug mit ihnen gedroht. Die meisten müsste ich aus dem Kopf zusammenkriegen, die Adressen sind mir allerdings nicht bekannt. Aber die bekommen Sie bestimmt bei der Gemeindeverwaltung.« Sie schrieb wieder etwas auf einen Notizblock und reichte das Blatt Fürchtenicht. »Hier bitte! Drei Männer und eine Frau.«

»Wo kann man sie denn antreffen, wenn Sie keine Anschriften wissen?«

»Am Tresen«, schlug Frau Stern mit spöttischem Unterton vor. »Da finden Sie zumindest die Männer. Gehen Sie nach 20 Uhr mal ins Leuchtfeuer. Da trinken Pitt Hohnheiser, Hero Melchers und Harm Oetjengerdes jeden Abend ihr Bier. Nach dem Melken. Die haben ja keine Frauen.«

Dietrich verdrehte die Augen. Er schien seinen freien Abend wegschwimmen zu sehen. Doch Fürchtenicht ließ sich nicht beirren. Er hatte sich vor dem Gespräch ein Matjesbrötchen gekauft und fühlte sich stark genug für neue Taten. Matjesbrötchen waren für ihn ein ähnliches Elixier wie Spinat für Popeye. Diesen vermaledeiten Mord würde er also noch vor seiner in Kürze anstehenden Pension aufklären, das war mal sicher. Eine Frage musste er allerdings noch loswerden. »Kannten Sie Herrn Winterscheid auch privat? Klang eben nicht so, aber ich muss das fragen.«

Frau Stern erstarrte kurz, schüttelte dann aber heftig den Kopf. »Er war ein guter Chef, wenn Sie das meinen. Er war fair. Nie gab es ein böses Wort, auch wenn es mal nicht so lief. Ich kann mich nicht über ihn beklagen.« Ihre Stimme zitterte bei den Worten, und ihre Gesichtsfarbe glich sich der weißen Wand im Hintergrund an.

Traugott studierte den Zettel mit den Namen noch einmal. »Und die genannte Frau? Wer ist das?«

»Klara Eichborn ist Vorsitzende der Kormorane, einer Naturschutzorganisation. Eine Telefonnummer habe ich nicht. Aber das Büro liegt hier in Horumersiel in der Nähe der Nordseeklinik Friesenhörn, soweit ich weiß.«

Traugott stand auf, und Dietrich folgte ihm. In der Tür blieb Fürchtenicht noch einmal stehen. »Da wäre doch noch etwas …«

Fragend sah Laura Stern ihn an.

»Wann ist die nächste Ratssitzung? Ich glaube, da sollten wir doch noch hin. Mal sehen, ob wir da etwas erfahren.«

»Morgen Abend.«

Fürchtenicht war die Haarsträhne bei all seinem Eifer von der Schläfe gerutscht. Deshalb drückte er sie immer wieder fest, aber es war zwecklos. Also verabschiedete er sich rasch.

Draußen sah er seinen jüngeren Mitarbeiter an. »Ich rufe jetzt bei der Verlobten an. Danach statten wir Herrn Tjarks noch mal einen Besuch ab, und heute Abend gehe ich ins Leuchtfeuer. Du übernimmst dafür morgen die Ratssitzung. Um Frau Eichborn kümmere ich mich ebenfalls selbst. Nach Inos Aussage war Winterscheid der Teufel persönlich, nach Aussage der Sekretärin aber kam er eher als der Erzengel rüber. Mal sehen, was stimmt!«

So langsam keimte in Fürchtenicht der Jagdinstinkt auf.

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4. Kapitel

Dienstagnachmittag

14 Uhr

Es klingelte an Inos Tür. Schon wieder dieser Kommissar mit seinem rotohrigen Gehilfen! Hatte der denn kein Zuhause? Ino wischte sich die Hände an seiner schwarzen Cordhose ab und schlurfte zur Tür. »Ja bitte?«

»Moin, Herr Tjarks.«

Ino sah Fürchtenicht und seinen Begleiter fragend an. »Was kann ich noch für Sie tun? Ich habe doch schon alles gesagt.«

»Das ist so weit korrekt, Herr Tjarks. Wir waren eben in der Kurverwaltung, und nun würde uns die Sache mit dieser Häuptlingsburg und dem Freizeitpark doch etwas näher interessieren.« Fürchtenicht sah Ino durchdringend an. »Können wir reinkommen?«