Insel der wandernden Flüche - Moiras Traum - Tina Blase - E-Book

Insel der wandernden Flüche - Moiras Traum E-Book

Tina Blase

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Beschreibung

Für alle Fantasy-Fans: Ein Mädchen, das sie alle retten oder ins Verderben stürzen kann …  Sky ist nach Sidh gekommen, um hier ein festes Zuhause zu finden. Aber ist die von Flüchen heimgesuchte Insel wirklich der richtige Ort dafür? Sky hätte die Macht, alles zu verändern, doch nach den jüngsten Tiefschlägen plagen sie Zweifel. Die Meinung ihrer Mutter Moira hingegen steht fest: Sie will Sky so schnell wie möglich dort wegholen. Um Zeit zu gewinnen und Moira zu beeindrucken, befreit Sky das verwilderte Anwesen Tigh-Violet-Rose von dem darauf lastenden Fluch. Sie ahnt nicht, dass sie damit eine Kette von Ereignissen auslöst, die sie nicht nur wieder mit Jamie und Rory konfrontieren, sondern bald albtraumhafte Dimensionen annehmen.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 307

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Tina Blase

Moiras Traum

Tigh-Violet-Roseviele Jahre zuvor

Das Holz fühlte sich rau an unter ihren Fingern und Staub fiel auf sie herab. Sie drehte ihr Gesicht weg, hin zum Fenster. Doch das Gespenst in der Scheibe, ihr Spiegelbild, wollte sie nicht sehen, stattdessen richtete sie den Blick hinaus in den Garten.

Die Rosen standen noch immer in voller Blüte. Die Stöcke hatten so viele Knospen ausgetrieben, dass sie sich jetzt unter der Last bogen. Sie glaubte, den schweren, intensiven Duft bis hier oben wahrzunehmen. Auch die Rosen für das Grab hatten so gerochen. Noch nachdem sie längst unter der Erde verschwunden waren, hatte ihr Duft in der Luft gehangen.

Wieder flammte der Schmerz in ihr auf, brennend und unerträglich. Inzwischen fürchtete sie diesen Schmerz mehr als alles andere. Ein Zischen kam über ihre Lippen. Wie konnten die Rosen dort draußen so schön sein, so unberührt weiterblühen und gedeihen?

Und mit ihrem letzten Atemzug verwünschte sie sie dafür. Welken und verfaulen sollten sie. Sie alle!

1

Die Fähre öffnete ihren Metallbauch und entließ ihre rollende Fracht auf den Pier. An der Seite, wo die Fußgänger sich langsam in Bewegung setzten, winkte jemand wild und rempelte dabei mit seiner Reisetasche ein paar andere Passagiere an. Rotblonde Locken und ein knallblauer Sommermantel tauchten zwischen lauter Parkas und Regenjacken in gedeckten Farben auf.

»Sky!«

Mama hatte mich entdeckt und schob sich ungeduldig vor. Ein Mann in einem teuer aussehenden Outfit öffnete schon den Mund, um sich zu beschweren, ließ es nach einem Blick in Mamas leuchtendes Gesicht aber sein. Stattdessen schaute er sich noch ein paarmal nach ihr um.

Sie aber hatte nur Augen für mich, und ich rannte in ihre Arme wie ein Kind, obwohl ich mit meinen bald fünfzehn Jahren schon genauso groß war wie sie.

Mama schwankte lachend unter meinem Ansturm und ich erschrak. Hatte sie sich schon immer so schmal angefühlt oder war das die Krankheit?

Eine Weile hielten wir uns einfach fest und ließen die Leute ihren Weg um uns herum suchen.

»Bist du okay, geht es dir gut?«, fragte Mama und drückte mich noch ein wenig fester.

»Ja! Wirklich, es geht mir gut, alles in Ordnung«, murmelte ich mit geschlossenen Augen.

Als keine weiteren Passagiere mehr aus der Fähre kamen, räusperte sich hinter uns jemand.

»Hallo, Moira.«

Mama ließ mich los. »Hallo, Ethan.«

Ihre Umarmung war kurz und steif. Nicht gerade das, was man von einem Vater und seiner Tochter erwarten würde, die sich seit Jahren nicht gesehen hatten.

»Wie war die Reise?«, fragte Ethan höflich.

»Lang, aber sonst gut, alles ganz nach Plan.« Mama lächelte, doch sie sah blass und müde aus, mit feinen Knitterfältchen um die Augen, die ich vorher noch nie bemerkt hatte.

Ethan sah es auch. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen vertiefte sich, als er wortlos nach ihrer Tasche griff.

Für die Rückfahrt setzte ich mich nach hinten neben Mama.

»Und wie geht es dir? Wegen der Malaria, meine ich? Ist das jetzt überstanden?«

Mama drückte meine Hand. »Mach dir keine Sorgen, Sky, ich bin gut versorgt worden. Das Fieber hat mich geschwächt, aber ich werde bald wieder ganz die Alte sein.«

»Gut.« Ich lehnte meine Schulter gegen ihre und Mama rückte ein Stück dichter an mich heran. Ethan warf uns einen Blick im Rückspiegel zu, sah aber schnell wieder nach vorne auf die Straße. Ich spürte ein Ziehen im Bauch. Ja, wir würden reden müssen, aber wenigstens für diesen einen Tag wollte ich einfach nur glücklich sein. Als ich Mamas Tasche ins Haus trug, fiel mir auf, dass sie ziemlich klein und leicht war. Ich verdrängte den Gedanken, dass sie offenbar nicht lange bleiben wollte, und ging direkt in die Küche, um einen Tee aufzusetzen. Scottish Breakfast, wie immer. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt, bereute jetzt aber, keinen guten Rooibos für Mama besorgt zu haben. Schwarze Schlieren strömten aus dem Beutel in das Wasser, als würde er ausbluten.

Wir setzten uns an den wurmstichigen alten Holztisch, wobei Mama sich wie selbstverständlich auf meinen üblichen Platz sinken ließ, mit Blick auf das Fenster Richtung Garten.

»Jetzt erzählt mal«, sagte sie, als vor jedem von uns ein dampfender Becher stand. »Was genau war hier los?«

Ich wechselte einen Blick mit Ethan und er nickte mir zu.

Ich holte tief Luft. Es war nicht leicht, die Ereignisse der vergangenen Wochen in Worte zu fassen. Wenigstens musste ich nicht ganz von vorne anfangen, ich brauchte Mama nicht zu erklären, wie speziell diese Insel war. Sie war ja auf Sidh aufgewachsen, genau wie ihr Vater und unzählige Lamars vor ihnen.

Im Laufe der Zeit war es hier normal geworden, dass dem Bäcker jeden Morgen eine Fuhre Brot verbrannte, dass die Fischer regelmäßig einen Teil des Fangs opfern mussten oder gewisse Orte einfach nicht betreten werden durften, wenn man am Leben bleiben wollte. Es war normal geworden, dass die Insel von Flüchen heimgesucht wurde – und dass man ihnen selbstverständlich nicht in die Quere kam. Das war Gesetz auf Sidh: Die Flüche sind tabu.

Entsprechend überhaupt nicht normal war das gewesen, was ich vor wenigen Tagen getan hatte. Ich hatte das Gesetz gebrochen.

Natürlich hatte es in der Vergangenheit Versuche gegeben, damals, direkt nach den Clankriegen zwischen den Lamars und den MacLeods. Unsere Vorfahren hatten ihre Fehde zu weit getrieben und die Insel sozusagen magisch verstrahlt. Erst als es schon zu spät war, schlossen sie einen widerwilligen Waffenstillstand und ächteten den Einsatz jeglicher Magie. Es gab zwar noch Versuche, einzelne Flüche zu brechen, doch immer mit fatalen Folgen. Alle Interventionen zogen nur veränderte, schlimmere Flüche nach sich, so war es stets gewesen, ohne Ausnahme. Bis jetzt. Bis ich vor den Augen der halben Insel einen neugeborenen Fluch aufgehoben hatte.

»Also jetzt ist eigentlich gar nichts mehr los«, begann ich meinen Bericht. »Alles wieder wie immer. Nur zwischendurch ging es etwas drunter und drüber.«

Ich erzählte, wie ich kurz nach meiner Ankunft vor wenigen Wochen festgestellt hatte, dass ich eine besondere Verbindung zu den Flüchen hatte. Ich konnte sie spüren, als hätte ich extra Antennen für sie. Oben in den Highlands war es mir das erste Mal passiert. Ich war in den Bannkreis eines Magadh oder Mocker, wie die jüngeren Einheimischen sagten, gestolpert. Von den drei Kategorien, denen die Flüche auf Sidh zugeordnet wurden, war das die schwächste. Der Mocker hielt eine Schar Midgies gefangen und hatte einen Kreis Heidepflanzen verderben lassen. Wie in Trance hatte ich den Fluch gebrochen und Mücken und Pflanzen erlöst. Als wäre die Fähigkeit, Flüche zu brechen, so selbstverständlich für mich wie Fahrradfahren. Etwas, das man einfach tat, ohne über das Wie nachzudenken.

Erst später hatte ich von dem Kodex erfahren – und dass Verstöße gegen diesen Kodex mit der Verbannung bestraft wurden. Der Kodex regelte den Umgang mit den Flüchen auf Sidh. Und die wichtigste Regel – eine Lehre aus der Vergangenheit – war, niemals zu intervenieren. Man arrangierte sich, passte sich an, und mit der Zeit hatten einige Flüche sich auch tatsächlich abgeschwächt, während andere lediglich gewandert waren, über die Insel zogen oder ihren Charakter änderten. Eine Gruppe von vier Wächtern beaufsichtigte die Einhaltung des Kodex und behielt die Flüche im Auge wie anderswo Meteorologen das Wetter, um die Insulaner über jede noch so kleine Veränderung zu informieren. Davon hing unser aller Sicherheit ab. Dass ausgerechnet mein eigener Großvater zu den Wächtern gehörte, war allerdings Pech. Um nicht gleich wieder fortgeschickt zu werden, hatte ich meine seltsame Verbindung zu den Flüchen für mich behalten und mich allein auf die Suche nach Antworten begeben, natürlich möglichst ohne weitere Verstöße gegen den Kodex. Bis ich darauf nicht länger Rücksicht nehmen konnte, weil Menschenleben auf dem Spiel standen, insbesondere ein bestimmtes Menschenleben: das von Rory Connor MacLeod.

An diesem Punkt fing mein Herz unangenehm an zu klopfen. Rory und ich hatten uns angefreundet, trotz der alten Fehde zwischen unseren Familien, die sich bis heute gerne gegenseitig die Schuld an allem zuschoben. Zumindest hatte ich Rory und mich für Freunde gehalten. Vielleicht sogar für etwas mehr als das, wenn ich ehrlich sein wollte, doch das musste ich so schnell wie möglich vergessen. Rory konnte nichts an mir liegen, sonst hätte er mich nicht verraten.

Das aber würde ich Mama nicht erzählen, nicht nur, weil ich es selbst gerne vergessen wollte, sondern auch, weil es ihre schlechte Meinung von Sidh wieder verstärken würde.

Ich geriet ins Stocken. Ethan bemerkte es und übernahm. Er übersprang elegant den Teil, in dem ich versucht hatte, Rory von dem Fluch zu befreien, bloß um stattdessen eine ganze Festgesellschaft zu verdammen, und berichtete einfach nur von meiner späteren Heldentat oben auf der Burgmauer. Als ich den noch einmal eskalierten Fluch endlich aufheben konnte.

Anschließend hatte der Wächterrat heftig gestritten. Neben Ethan gehörten ihm Marybell MacLeod und zwei »Unparteiische« an, die keinem der beiden verfeindeten Clans verpflichtet waren. Die vier Wächter waren verunsichert, was mich betraf. Einerseits war mein Talent Furcht einflößend, und immer noch stellte sich die Frage, ob die neuen Flüche etwas mit meiner Ankunft auf der Insel zu tun hatten. Andererseits war die halbe Insel Zeuge geworden, wie ich einen sehr mächtigen Fluch aufgehoben hatte. Wegen mir gab es plötzlich etwas Neues auf Sidh: Hoffnung.

Ethans Augen leuchteten stolz, während er erzählte, und ich versuchte zu lächeln, doch es wurde eher eine Grimasse daraus. Auch Mama umklammerte nur blass und angespannt ihren Becher.

Ich könnte sie jetzt beruhigen, ihr sagen, dass die Gefahr gebannt war. Denn im Gegensatz zum Rest der Insel wusste ich genau, wie es zu den neuen Flüchen gekommen war. Nicht ich war dafür verantwortlich gewesen, nicht meine Ankunft auf der Insel, sondern jemand anderes. Diese Person hatte ihre Lektion gelernt, auf sehr schmerzhafte Weise. Doch ich hatte versprochen zu schweigen. Und im Unterschied zu Jamie spielte ich fair.

Ethan beendete den für seine Verhältnisse geradezu flammenden Bericht. Gespannt sah er Mama an, doch sie mied seinen Blick und schaute in ihren Tee.

Gerade, als das Schweigen unangenehm wurde, ging die Tür. Emily stürmte herein, beladen mit diversen Tüten und Beuteln, und sofort entspannte sich die Atmosphäre im Raum. Ich atmete auf, während meine Großtante ihren Ballast auf dem Tisch ablud und Mama an sich riss.

»Moira! Wie schön dich zu sehen!« Emily küsste sie auf beide Wangen und trat dann einen Schritt zurück, wobei sie Mama weiter festhielt. »Du meine Güte, du siehst ja furchtbar aus! Mit Malaria ist nicht zu spaßen, was? Armes Kind, aber wir werden dich schon wieder aufpäppeln.«

Mama grinste. »Hallo Emily, ich freu mich auch. Wie lange ist es her? Sechs, sieben Jahre? Du hast dich kein bisschen verändert.«

»Von wegen!« Emily schnaubte und ließ sie los, um nach den Tüten zu greifen. »Ich dachte, ihr seid bestimmt alle am Verhungern und hab einfach mal was vom Imbiss geholt, nachdem ich den Laden dichtgemacht habe.«

Sie verteilte Schalen mit Bratfisch und Chips vor uns auf dem Tisch. Der warme, salzige Duft ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»Ich bin gespannt, wie es im ›Lamar’s‹ jetzt aussieht, nachdem du auch noch eine Apotheke darin eingerichtet hast«, sagte Mama. »Ist es nicht sehr beengt?«

»Beengt und dunkel. Dazu sind die Arbeitszeiten katastrophal, wie Sky dir bestätigen kann.« Emily grinste. »Aber dafür bin ich jetzt meine eigene Chefin. Um nichts in der Welt würde ich das wieder eintauschen wollen.«

»Das verstehe ich.« Mama lächelte und wir fingen alle an zu essen, doch noch immer vermied Mama es, Ethan anzusehen. Emily fing meinen Blick auf und hob fragend die Brauen. Ich deutete ein Achselzucken an. Wie es aussah, hatten Mama und Ethan ihre alten Differenzen noch immer nicht überwunden. Aber vielleicht brauchten sie einfach nur ein bisschen Zeit.

Mama und ich teilten uns mein Zimmer. Eigentlich war es ja sowieso ihr altes Zimmer, in dem ich kaum etwas verändert hatte, seit ich vor ein paar Wochen eingezogen war. Ich war nach Sidh zu meinem Großvater und seiner Schwester gegangen, weil ich es satthatte, mit meiner erfolgreichen Hotelmanagerinnen-Mutter durch die Welt zu gondeln und immer wieder neu anzufangen. Früher war unser Leben auch für mich ein einziges großes Abenteuer gewesen, früher hatte Mama mir als Konstante darin gereicht, aber irgendwann nicht mehr. Jetzt wollte ich mehr als das, ich wollte irgendwo bleiben, wo ich mir etwas aufbauen konnte, daran hatte sich grundsätzlich nichts geändert. Sehr bald schon würden Mama und ich deswegen wieder streiten, das wusste ich, es war unausweichlich, da wir in dieser Sache einfach nicht auf einen gemeinsamen Nenner kamen. Gleichzeitig spürte ich jetzt, wo sie hier war, noch deutlicher, wie sehr ich sie vermisst hatte.

Es waren immer nur sie und ich gewesen. Mein Vater existierte nicht, er war ein blinder Fleck, über den Mama nicht sprach – auch darüber hatten wir zuletzt immer öfter gestritten. Und trotzdem riss Mamas Abwesenheit ein tiefes Loch bei mir.

Ich lag auf der schmalen Gästematratze und hörte ihrem gleichmäßigen Atmen zu. Sie war sofort eingeschlafen, die Reise hatte sie mehr erschöpft, als sie zugeben wollte. Nur bei mir wollte der Schlaf nicht kommen.

Das Mondlicht schien durch einen Spalt zwischen den Vorhängen. Ich beobachtete, wie der Strahl langsam durch das Zimmer wanderte. Es musste mindestens eine Stunde vergangen sein, seit ich mich hingelegt hatte, und noch immer wälzte ich mich von einer Seite auf die andere.

Schließlich stand ich auf, um zur Toilette zu gehen. Doch statt anschließend wieder unter die Decke zu kriechen, schlüpfte ich in Jogginghose und Kapuzenpulli und schlich mich aus dem Haus.

Draußen atmete ich auf. Die Nacht war friedlich. Silbrig hell und windstill. Wie von selbst schlugen meine Füße den Weg zum Meer ein.

Ich war den Pfad über den Hügel hinunter unzählige Male gegangen, als ich Jamie noch in der Werft geholfen hatte. Wie unbeschwert mir diese Wochen rückblickend erschienen. Da hatte ich noch gedacht, ich könnte einfach so nach Sidh ziehen und hier heimisch werden. Freunde finden, ein ganz normales Leben führen, wie jemand, der nicht alle zwei Jahre den Wohnort wechselte. Mich vielleicht sogar verlieben.

Für eine Weile war auch alles in die richtige Richtung gelaufen, zumindest hatte ich das geglaubt. Ich hatte mit Rory die Insel erkundet und mir eingebildet, dass mich unsere Familiengeschichte nicht betraf. Parallel dazu hatte ich mit Jamie ihr altes Segelboot restauriert und dafür so schwer körperlich gearbeitet wie noch nie, die Schwielen auf meinen Handflächen bezeugten das. Umso befriedigender war es gewesen, unseren Fortschritt zu sehen, bis Eda schließlich wiederhergerichtet war, bereit für neue Abenteuer auf dem Meer. Im Austausch hatte Jamie versprochen, mir auf Eda das Segeln beizubringen, eine Fähigkeit, die mir für das Leben auf einer Insel äußerst passend erschien.

Aber dann war alles anders gekommen. Und nun war Mama hier, um mich zurückzuholen.

Ich duckte mich im Dunkeln unter ein paar tief hängenden Ästen hindurch. Es gab nicht viel Wald auf Sidh, doch dieses steile Stück Hang war noch nicht dem Weidevieh oder den Holzfällern zum Opfer gefallen. Kurz vor der Werft traf der Pfad auf eine befestigte Straße, die sich an der Küste entlangschlängelte und die Werft mit Sidh Harbour verband.

Sobald die Gebäude vor mir auftauchten, sah ich den Lichtschein aus Edas Bootsschuppen. Zögernd blieb ich stehen. Die Schlaflosigkeit hatte mich rausgetrieben, noch mehr Aufregung brauchte ich eigentlich nicht. Aber der Lichtschein zog mich magisch an. Was war da los, mitten in der Nacht?

Langsam ging ich weiter. Jetzt hörte ich neben dem vertrauten Klatschen und Knarzen der Boote draußen auf dem Wasser Schleifgeräusche aus dem Schuppen. Je näher ich kam, desto vorsichtiger bewegte ich mich, bis ich schließlich im Schatten eines Nachbarschuppens stehen blieb.

Das Rolltor stand halb offen, dahinter entdeckte ich Eda. Jamie hatte sie wieder aus dem Wasser geholt und aufgebockt. Sie arbeitete oben am Deck, wo die Brandschäden besonders schlimm waren. Hässliche schwarze Löcher klafften an den Stellen, wo die Planken verkohlt oder ganz weggebrochen waren. Jamie würde sie nicht nur abschleifen, sondern zum Teil komplett ersetzen müssen, das konnte ich selbst von hier aus erkennen. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie lange sie dafür brauchen würde. Die Zeit drängte, wie ich wusste, das war bestimmt auch der Grund, weshalb sie so spät noch arbeitete. Aber diesmal würde ich ihr nicht helfen.

Gerade stellte Jamie das Schleifgerät aus und zog sich die Schutzbrille runter. Die rote Mähne stand ihr wirr vom Kopf ab. Mit einem Ärmel ihres T-Shirts fuhr sie sich über das Gesicht. Dann wischte sie mit einem Tuch über die Stelle, die sie gerade bearbeitet hatte. Ihre Bewegungen wirkten eckiger als sonst und langsamer. Schließlich setzte sie sich auf die Knie zurück. Mit hängendem Kopf hockte sie da und starrte auf Edas geschwärztes Holz.

Ein Gewicht senkte sich auf meine Schultern. »Shit!«, fluchte ich leise. Warum musste ich auch ausgerechnet zur Werft spazieren? Wie blöd war ich eigentlich, mir das reinzuziehen? Jamie hatte sich das alles selbst eingebrockt, es war ihre eigene Schuld!

Jamie hob den Kopf. »Wer ist da?«

Mist, verdammter, hatte sie mich etwa gehört? Ich machte einen Schritt rückwärts und bemerkte zu spät das zusammengerollte Tau, das dort lag. Ich stolperte, ruderte mit den Armen, um mich zu fangen, und schlug dabei mit der Hand an die Blechwand des Bootsschuppens. Es gab einen dumpfen Laut und zeitgleich entfuhr mir ein kleiner Schmerzensschrei.

»Shit! So was Blödes …« Ich presste die schmerzenden Fingerknöchel an die Brust.

Mit einem katzengleichen Satz sprang Jamie von Edas Deck und stand einen Augenblick später vor mir.

»Sky«, stellte sie fest und schaute von dem Tau auf dem Boden zu meiner Hand und weiter zur Schuppenwand.

Das war’s, sie sagte einfach nur meinen Namen, nichts weiter. Normale Leute würden fragen, was machst du hier mitten in der Nacht, was ist los und was ist mit deiner Hand passiert? Nicht aber Jamie. Sie schaute bloß und dachte sich ihren Teil. Umso blöder kam ich mir vor, ertappt, wie ich sie aus den Schatten heraus beobachtete. Ich reckte das Kinn.

»Und Jamie? Kommst du voran?« Ich nickte rüber zu Eda.

Jamies Gesicht blieb ausdruckslos. »Es dauert, aber ich krieg’s hin.«

»Aha.« Ich wartete. Doch als wieder nichts weiter von ihr kam, platzte mir plötzlich der Kragen. Jamie war der eigenbrötlerischste Mensch, den ich kannte, aber immerhin waren wir so etwas wie Freundinnen gewesen. Vorher. Bevor sie alles zerstört hatte.

»Wie wär’s mit einem ›Und wie geht’s dir so, Sky?‹«, brach es aus mir heraus. »Gott, Jamie, ist das wirklich so schwer?«

Jamie drehte ihren Kopf so, dass ihr Gesicht völlig im Schatten lag. »Wie geht’s dir, Sky?«

»Es geht mir super!«, fuhr ich sie an. »Bis auf dass meine einzige Freundin mich gerade als Bauernopfer für ihren persönlichen Rachefeldzug missbraucht und in ein dunkles Verlies gesperrt hat. Danke der Nachfrage!«

»Aye, dachte ich mir«, sagte Jamie.

»Machst du dich lustig über mich?«

»Nein.«

Ich versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen. Von Anfang an war es schwer für mich gewesen, Jamie zu fassen. Sie war so jung wie ich und doch handwerklich geschickter als die meisten anderen Menschen, die ich kannte, und sie hatte einen beeindruckend zielstrebigen Plan für ihr Leben: Sie wollte eine Ausbildung bei Callum in der Werft machen und Bootsbauerin werden. Dafür hatte ich sie bewundert, trotz ihrer sturen, geradezu unfreundlichen Art. Mit der Zeit hatte ich mich sogar daran gewöhnt – und festgestellt, dass hinter der rauen Schale ein sehr menschlicher Kern lag. Jamie konnte sehr hilfsbereit sein, wenn sie wollte, fürsorglich geradezu, wie ich es bei ihrem Umgang mit der alten Einsiedlerin Caitlín erlebt hatte. Ethan und Emily schätzten sie wegen ihrer zupackenden Art und ihrer Zuverlässigkeit.

Und Jamies Boot war für sie nicht nur ein lebloser Gegenstand, nein, Eda war viel mehr: Sie bedeutete Jamie die Welt. Dass sie das Boot nach ihrer toten Mutter benannt hatte, sprach Bände. Ja, auch Jamie hatte ein Herz, und ich glaubte, sie hatte sogar angefangen, mich zu mögen. Doch ihr Hass auf die MacLeods war stärker gewesen.

Dabei war Jamie selbst eine MacLeod, nur war sie unter völlig anderen Umständen aufgewachsen als Rory in seiner Burg. Jamies Vater Michael hatte sich vor zwanzig Jahren mit einem Fluch angelegt, mit verheerenden Folgen. Daraufhin hatte seine eigene Familie ihn verstoßen. Jamie war als Außenseiterin zur Welt gekommen, so wie ich als Heimatlose. Und als Rorys Familie ihre Finger nach der Werft ausstreckte und damit Jamies Zukunft bedrohte, hatte Jamie beschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Auch das konnte ich nur zu gut nachvollziehen, doch Jamie hatte keinerlei Rücksicht auf Verluste genommen.

Wie ich besaß sie eine besondere Verbindung zu den Flüchen, nur standen wir auf entgegengesetzten Seiten. Während es mir zweimal gelungen war, die Fluchmagie aufzulösen, konnte Jamie neue Flüche heraufbeschwören. Sie hatte versucht, Rorys Familie mit einem Fluch von der Insel zu vertreiben. Und dafür in Kauf genommen, dass ihr Fluch mir in die Schuhe geschoben wurde.

Aber die Flüche waren ihrem schlechten Ruf gerecht geworden. Sie hatten Jamies Wunsch nicht erfüllt, sondern sich letztlich gegen sie gewandt, als die halbe Insel verrücktgespielt hatte und Eda in Flammen aufging. Um ein Haar hätte es Jamie selbst erwischt. Die Bilder aus jener Nacht hatten sich in meine Netzhaut gebrannt. Jamie, wie sie völlig lethargisch inmitten der vielen Brandherde hockte, die Wut der Inselbewohner vor unserem Haus, der Schock, als der erste Stein flog ….

Mit einem Ruck drehte ich mich um und ging. Was hatte ich hier überhaupt verloren?

»Sky!« Jamies Gesicht lag noch immer im Dunkeln. »Was erwartest du von mir? Was passiert ist, ist passiert.«

»Ach, so einfach ist das für dich?« Ich lachte auf. »Wie bequem für dich, Jamie! Leider sieht das bei mir anders aus.«

Ich wartete nicht auf eine Antwort von ihr, es war sinnlos. Was ich von ihr erwartete? Eine Entschuldigung zum Beispiel, das wäre ein Anfang gewesen, aber darauf musste Jamie schon selbst kommen. Entschuldigungen forderte man nicht ein, genauso wenig wie Geschenke. Die mussten aus eigenem Antrieb kommen, sonst waren sie nichts wert. Ein normaler Mensch lernte das spätestens in der Grundschule, aber an Jamie war das offenbar vorbeigegangen wie manches andere in Sachen Sozialleben auch.

Meine Beine waren schwer vor Müdigkeit, als ich mich über den Hügel zurückschleppte, nur mein Kopf ratterte leider noch immer auf Hochtouren. Wütend trat ich nach einem Ast, der quer über dem Pfad lag. »Super Idee, zur Werft zu gehen, Sky, tolle Aktion!« Jetzt würde es mir sicher nicht leichterfallen, einzuschlafen.

2

Irgendwann musste ich wohl doch eingeschlafen sein, denn ich wachte mit dem Gefühl auf, angeschaut zu werden. Mama lächelte, als ich die Augen aufschlug. Sie lag mit dem Gesicht zu mir gewandt auf der Seite.

»Wenn du schläfst, kann ich noch immer mein kleines Mädchen sehen.«

Ich lächelte zurück. »Ich bin nicht mehr klein.«

»Nein, das bist du nicht«, stimmte Mama mir zu.

Ich drehte mich auf den Rücken und streckte mich. Dann lag ich still und schloss die Augen wieder. Die Nacht war kurz gewesen. Gerade als ich noch einmal in den Schlaf glitt, räusperte Mama sich.

»Sky?«

»Mmh?«

»Ich bin gestern nicht ganz schlau aus eurem Bericht geworden. Diese Nachricht von dir und Ethan auf meiner Mailbox, was genau war da los?«

Ich drückte die Handballen auf meine Augen. Natürlich hatte sie das nicht vergessen. Sie sprach von der Nacht, in der der Wächterrat meine Verbannung von der Insel beschlossen hatte. Nachdem ich endlich gehandelt hatte – und gescheitert war.

Ich war in dieser Nacht kaum noch fähig gewesen, klar zu denken, geschweige denn zu sprechen. Später, nachdem ich alles wiedergutgemacht hatte, war das Urteil zurückgenommen worden. Doch da hatte Mama sich in Südafrika schon auf den Weg gemacht, kaum genesen von einer schweren Malariainfektion.

»Du erinnerst dich bestimmt, dass Emily, Ethan und ich zu dem Ceilidh in der Burg gegangen sind«, fing ich an, wobei ich unterschlug, dass Rory eigentlich nur mich allein zu dem traditionellen Sommerfest der MacLeods eingeladen hatte und nicht meine ganze Familie. Eine Kleinigkeit, die ich im Überschwang glatt übersehen hatte. Oder übersehen wollte.

»Ja, ich kann immer noch kaum glauben, dass die MacLeods euch ihre heiligen Hallen geöffnet haben«, sagte Mama.

»Mitten auf dem Fest habe ich etwas gespürt«, fuhr ich fort. »Es war stark und es betraf Rory MacLeod, also habe ich etwas unternommen. Doch ich wurde gestört und es … ist schiefgegangen.« Ich schluckte. »Der Fluch ist gewandert und hat sich auf sämtliche Gäste im Burgsaal gelegt. Sie haben mir die Schuld dafür gegeben. Danach haben wir dir die Nachricht geschickt.«

Das war die vereinfachte Version, aber ich sah keinen Grund, die Details noch einmal zu erzählen. Besser, ich vergaß das alles.

»Du hast versucht zu helfen und wurdest dafür bestraft?«, fasste Mama zusammen. Ihre Stimme klang hart, und ich wusste, dass sie an einen ähnlichen Vorfall dachte, der sich lange vor meiner Geburt ereignet hatte. An Michael MacLeods Verstoß gegen den Kodex.

»Zuerst ja. Aber später hat der Wächterrat das Urteil aufgehoben. Den Rest kennst du ja schon.«

Mama schwieg eine Weile, und kurz dachte ich, sie würde das Thema fallen lassen. Doch dann räusperte sie sich.

»Was genau tust du, um einen Fluch aufzulösen, wie fühlt sich das an, Sky?«

Ich drehte mich auf die Seite und stützte mich auf den Ellbogen. »Das ist schwer zu erklären. Aber vielleicht bist du beim nächsten Mal ja dabei?«

Mama seufzte und sah aus dem Fenster. Dann stand sie auf.

»Ich geh schon mal nach unten, ich brauche dringend einen Kaffee.«

»Okay, ich komme gleich nach.«

Ich wartete, bis sie ihre Sachen zusammengesucht hatte und aus dem Zimmer ging, und legte den Kopf zurück auf das Kissen. Nur noch fünf Minuten liegen bleiben und einmal im Vergessen versinken.

Eine Stunde später erwachte ich mit einem Ruck. Nach einem Blick auf die Uhr beeilte ich mich, ins Bad zu kommen, und lief dann die Treppe runter.

Erstaunt entdeckte ich Ethan Mama gegenüber am Frühstückstisch. Um diese Zeit war er sonst immer schon weg. Emily schien allein vorgefahren zu sein, ihr benutztes Geschirr stand in der Spüle.

»Guten Morgen«, sagte ich und unterdrückte ein Gähnen. »Fährst du heute gar nicht in den Laden?«

»Guten Morgen, Sky.« Ethan nickte mir zu. »Ich wollte einfach gerne noch mit euch beiden einen Kaffee trinken, bevor ich aufbreche.«

»Darauf kannst du dir echt was einbilden«, sagte ich mit einem Grinsen zu Mama. »Für mich allein hat er das nie gemacht.«

Als ich ihr Gesicht sah, biss ich mir auf die Zunge. »Was nicht heißen soll, dass ich einsam war oder so was! Ich hatte ja auch immer was zu tun.«

Mama sah noch immer skeptisch aus. Kerzengerade saß sie auf ihrem Stuhl.

»Es passt ganz gut, dass wir noch einen Moment Ruhe haben. Ich wollte mit euch besprechen, wann Sky und ich aufbrechen müssen. In drei Tagen gehen unsere Flüge abends ab London. Das bedeutet, wir sollten die erste Fähre …«

»In drei Tagen? Aber …« Mit einem Ping sprang mein Toast aus dem Gerät. Ich ignorierte es und sah Ethan an. Er war blass geworden.

»Moira, bitte …«, setzte er an. »Gib uns noch ein bisschen Zeit. Wir sollten in Ruhe entscheiden.«

»Die Sache ist entschieden«, gab sie scharf zurück. »Eure Botschaft war klar, ich sollte Sky abholen, und hier bin ich.« Sie schaute mich an. »Jetzt tut ihr beide so, als wäre das alles halb so wild gewesen, aber eure Nachricht auf meiner Mailbox spricht eine ganz andere Sprache. Ihr wart am Boden zerstört! Wollt ihr das etwa abstreiten? Ich habe mir furchtbare Sorgen um dich gemacht, Sky! Und auch Vorwürfe. Ich hätte dich nie alleine lassen dürfen, nicht hier auf Sidh. Und ich werde ohne dich nicht wieder abfahren.«

»Dann bleib wenigstens noch etwas länger!« Ich rang die Hände. »Willst du dir den Laden nicht anschauen und vielleicht auch ein paar Leute treffen? Was ist mit Ethan und Emily? Ihr seht euch so selten, lass uns noch ein bisschen Zeit miteinander verbringen, wir alle zusammen! Jetzt, wo du eh schon hier bist, das ist doch die Gelegenheit!«

»Wir haben drei Tage für all das. Dann muss ich zurück in der Lodge sein«, sagte Mama ungerührt.

Mir rauschten die Ohren. »Aber ich …«

»Wo du dich mit Malaria infiziert hast«, warf Ethan ein. »Glaubst du, Sky ist dagegen immun? Glaubst du, du kannst sie vor allen schlechten Erfahrungen beschützen?« Seine Stimme klang ruhig, doch ich erkannte an seiner Stirnfalte, wie aufgebracht er in Wahrheit war.

Mamas Wangen röteten sich. »Was ist schon eine Tropenkrankheit gegen die Flüche auf Sidh? Wenigstens gibt es gegen die Malaria eine Therapie!«

»Deine Tochter hat einen dieser Flüche aufgehoben!«, fuhr Ethan sie an. »Hast du nicht gehört, was ich gestern erzählt habe? Vielleicht können wir uns auch noch von anderen Flüchen befreien, vielleicht verändert sich bald alles! Findest du es nicht sehr egoistisch, das einfach zu ignorieren?«

Mama sprang auf. »Vielleicht ist mir nicht gut genug! Den Flüchen ist nicht zu trauen, das hast du selbst mir immer gepredigt. Ich erlaube nicht, dass Skys Sicherheit aufs Spiel gesetzt wird. Und darüber hinaus: Die Flüche sind längst nicht alles, woran diese Insel krankt. Dies ist kein guter Ort zum Aufwachsen, Vater, aber hat dich das je geschert? War das etwa nicht egoistisch?!«

»Ich übernehme nur Verantwortung für meine Heimat!«, rief Ethan aus. »Genau wie Generationen vor mir. Ein Lamar muss dem Wächterrat angehören, das ist unser Schicksal und das ist wichtiger als meine eigenen Wünsche. Aber das verstehst du natürlich nicht, wie auch, für dich ist es ja genau umgekehrt!«

»Komm mir bloß nicht so!«, zischte Mama. »Jeder Mensch hat das Recht, über sich selbst zu bestimmen! Dein sogenanntes Schicksal ist doch nur eine faule Ausrede. Es braucht verdammt viel Mut, sich zu fragen, was man wirklich will, und auch danach zu handeln! Tu nicht so, als hätte ich den leichteren Weg gewählt, ich hab mir alles selbst aufgebaut, ohne Rückendeckung von meiner Familie! Und was euren feinen Rat angeht: Was könnt ihr schon ausrichten? Nichts! Nur verurteilen könnt ihr und euch wichtig fühlen. Ich weigere mich, dafür mit Marybell oder Donald an einem Tisch zu sitzen. Ich werde niemals deine Nachfolge antreten, hörst du? Niemals!«

Fassungslos sah ich mit an, wie sie aus der Küche stürmte. Der Knall, mit dem sie die Tür hinter sich zuwarf, hallte in meinem Kopf nach. Genau wie die Sätze, die sich die beiden gerade um die Ohren gehauen hatten. Und über alldem hing Mamas Ultimatum: Drei Tage!

Ethan regte sich als Erster wieder. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und rieb sich müde über die Stirn. Langsam ging ich zu ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern. Für einen Moment blieben wir so, dann drückte er meine Finger.

»Besser, du gehst ihr nach. Sie ist imstande und reist sonst sofort wieder mit dir ab.«

Doch Mama war nicht oben in ihrem alten Zimmer und auch sonst fand ich sie nirgends. Unschlüssig stand ich im Flur. Durch die offene Küchentür sah ich Ethan noch immer am Tisch sitzen, mit hängenden Schultern, vor sich die Reste des Frühstücks. Ich ertappte mich dabei, wie ich auf einer meiner blau-schwarzen Haarsträhnen herumkaute, wischte sie mir aus dem Gesicht und nahm meine Jacke vom Haken. Auch Mamas Mantel fehlte. Also hatte sie ebenfalls das Haus verlassen.

Ethans altes Rad lehnte draußen an der schmutzig weißen Steinwand des Cottages. Wir beide hatten in den vergangenen Wochen so einige Kilometer zusammen zurückgelegt. Ich stieg auf und fuhr einfach drauflos, die Straße nach Sidh Harbour hinunter.

Der Hauptort der Insel schmiegte sich in eine große Bucht, die zu beiden Seiten durch vorgelagerte Felsen und Landzungen gegen Wind und Strömung geschützt war. Hier legten nicht nur die Fähren an und ab, sondern auch die Fischerboote und der größte Teil des anderen Schiffsverkehrs. Nur ein paar private Jachten sowie reparaturbedürftige Boote ankerten an dem Pier von Callums Werft, die weiter westlich in einer ähnlich geschützten, aber deutlich kleineren Bucht errichtet worden war.

Die belebte Kaistraße von Sidh Harbour mit dem nordöstlich angrenzenden Viertel schmaler, dicht bebauter Gassen war der älteste Teil der Stadt. Suzy’s Pub, das »Unicorn Inn«, das »Crown’s«-Hotel und ein Fish ’n’ Chips-Imbiss lagen in erster Reihe direkt am Hafen, auf dem schmalen Streifen Land zwischen dem Meer und den dahinter aufragenden Hügeln. Wie alle Geschäfte der Hafenpromenade lockten sie mit Meerblick und farbenfrohen Fassaden. Ethans Gemischtwarenladen dagegen war eher praktisch als schön und versteckte sich ein paar Straßen weiter im dunklen Herzen der Stadt. Doch statt hier weiter nach Mama zu suchen, bog ich auf die Straße ab, die hinauf in die Highlands führte.

Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, welchen Kurs ich unbewusst gesetzt hatte. Die Bodenwellen unter meinen Reifen brachten mich darauf. Es war der Feldweg, über den Rory und ich vor ein paar Wochen geholpert waren, um uns den Schaden mit eigenen Augen anzusehen. Den Schaden, den ein neuer Fluch hervorgerufen hatte, ein Mocker, der die ganze Gerstenernte über Nacht dahingerafft hatte. Damals hatte mich die Erkenntnis beinahe umgeworfen, dass ich womöglich dafür verantwortlich war, weil ich mich zuvor mit dem ganz ähnlichen Fluch oben in der Heide angelegt hatte. War er hier bei dem Feld verstärkt zurückgekehrt?

Jetzt war von dem Mocker nichts mehr zu spüren. Kein Kribbeln im Nacken oder in der Nase, kein Rauchgeruch, kein Schwindel.

Am Feldrand stellte ich das Fahrrad ab und kniete mich hin. Die Gerste war in sich zusammengefallen und klebrig schwarz gewesen, wie mit Pech bestrichen, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Auch jetzt lagen die umgeknickten Stängel noch am Boden, doch der klebrige Film war weg. Sie verrotteten scheinbar ganz normal und zwischen ihnen sprossen junge Triebe aus der Erde. Ich streckte die Hand aus und strich vorsichtig über einen grünen Halm. Nichts, keine Reaktion, nur ein leichtes Kitzeln in der Handfläche.

Es war immer noch alles so unfassbar. Dank mir und meiner Gabe konnte hier wieder etwas Neues wachsen, aber Mama wollte trotzdem nur weg – mit mir. Was sollte ich bloß tun?

»Hallo, Sky.«

Ich fuhr herum. Hinter mir stand Rory – ausgerechnet! Seine dichten Haare, wie immer das einzig Unkontrollierte an seiner ansonsten makellosen Erscheinung, hingen ihm in die Stirn und bedeckten halb seine graublauen Augen. Wie ich war er mit dem Rad hier, doch er hatte es ein ganzes Stück weiter hinten geparkt.

»Hast du dich absichtlich angeschlichen?«, entfuhr es mir.

Er grinste. »Um dich zu erschrecken? Nein, ich hab einen Platten und das letzte Stück geschoben.«

»Aha.«

Ich drehte mich weg, um weiter die Pflanzen zu inspizieren. In Wahrheit richteten sich all meine Sinne auf Rory. Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken.

»Du hast es wirklich geschafft«, sagte er. »Nicht nur die Burg ist befreit, sondern auch unsere Gerste. Ich hab’s heute Morgen erst erfahren.«

Ich gab keine Antwort. Es war Rory gewesen, der mich beschuldigt und so dafür gesorgt hatte, dass ich verbannt wurde. Nach dem Eklat auf dem Ceilidh hatte er mir unterstellt, ihn und seine Familie verflucht zu haben. Er hatte mich verdächtigt – aus dem einzigen Grund, dass ich eine Lamar war! Obwohl wir in den Wochen vorher so viel miteinander erlebt hatten, dass er mich besser kennen sollte. Trotzdem hatte er entschieden, dieser alten Fehde zwischen unseren Familien mehr Bedeutung beizumessen als mir als Person. Dabei hatte ich alles gegeben, um ihn zu retten, alles, sogar …

Ich musste mich abwenden, als ich an unseren Kuss dachte. Ich wollte nicht, dass Rory mein Gesicht sah.

Doch er hockte sich direkt neben mir hin und streckte ebenfalls die Hand nach den grünen Pflänzchen aus. Noch immer irritierte es mich, dass er nicht mehr wie üblich nach Holzfeuer roch. Nein, nicht wie üblich. Er war verflucht gewesen, die ganzen Wochen über, während er mir die Insel gezeigt hatte. Und jetzt war er es eben nicht mehr, dank mir.

Plötzlich wurde ich wütend.

»Was soll das? Was willst du, Rory?«

Erstaunt sah er mich an. »Mir das befreite Feld ansehen. Genau wie du.«

»Das kannst du auch mit etwas mehr Abstand!«, fauchte ich und sprang auf, um zu meinem Rad zu gehen.

Rory stand ebenfalls auf. »Sky, warte doch mal! Ich hab gehört, deine Mutter ist angekommen?«

»Ja, ist sie.«

»Und?« Rory fuhr sich durch die Haare in dem vergeblichen Versuch, sie zu ordnen.

»Und was?«

»Wie hast du dich entschieden?«

Ich wendete das Rad, doch Rory verstellte mir den Weg und legte eine Hand auf meinen Lenker. Heute waren seine Augen mehr grau als blau, genau wie der Himmel. Und ebenso bedeckt.

»Lass mich durch, Rory!«

»Warum können wir nicht einfach wieder normal miteinander reden? Ich hab dir doch gesagt, dass ich die Entscheidung des Wächterrats richtig finde. Du solltest bleiben, Sky.«

Ich gab mir Mühe, kühl und gelassen zu wirken.

»Und warum sollte ich das?«

»Du hast mich mal gefragt, was ich tun würde, wenn ich magisches Talent hätte.« Seine Augen blitzten auf. »Und ich würde ganz sicher nicht davor davonlaufen. Ich wäre stolz darauf!«

»Ach ja? Ist das so!« Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. »Auch wenn man dir deswegen misstraut, dich verraten, angefeindet und zwischenzeitlich verbannt hätte?«