Insel der wandernden Flüche - Skys Gabe - Tina Blase - E-Book

Insel der wandernden Flüche - Skys Gabe E-Book

Tina Blase

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Beschreibung

Für alle Fantasy-Liebhaber: Eine mystische Reise auf die schottischen Hebriden beginnt Sky Lamar hat die Nase gestrichen voll: Sie will nicht schon wieder umziehen! Da lebt sie ab jetzt lieber bei ihrem Großvater auf der abgelegenen Insel Sidh. Zunächst freut sie sich, zu ihren schottischen Wurzeln zurückzukehren, doch die Bewohner der Insel begegnen ihr merkwürdig reserviert. Ob es etwas mit der uralten Feindschaft zwischen den Lamars und MacLeods zu tun hat? Als Sky mitbekommt, dass auf der Insel seltsame und unerklärliche Dinge vor sich gehen, will sie mehr wissen. Ausgerechnet Rory, der Sohn der MacLeods, erklärt ihr herablassend, dass die Insel verflucht sei und sie besser wieder abreisen solle. Doch damit ist ihre Neugier erst recht geweckt. Vor allem, weil sie eine besondere Verbindung zu den Flüchen zu haben scheint …

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Seitenzahl: 336

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INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Danksagung

Kapitel 1

1

Die Fähre wurde langsamer, wir näherten uns Sidh Harbour. Endlich. Nach der letzten Stunde oben auf dem Passagierdeck war ich durchgefroren bis auf die Knochen. Das kam davon, wenn man unbedingt nach vorne gucken und das alte Leben hinter sich lassen wollte. Dann musste es halt der zugige Schiffsbug sein. Aber für Juli war es auch wirklich kalt. Ob man hier im äußersten Westen Schottlands überhaupt richtiges Sommerwetter kannte? Was, wenn es immer so windig war auf der Insel und die Sonne es kaum mal durch diese graue Wolkendecke schaffte?

Ich schauderte. Selbst die schmalen Häuser rund um den Hafen drängten sich aneinander, als wollten sie sich wärmen. Immerhin leuchteten die bunten Fassaden hübsch vor den grünen Hügeln dahinter. Ich reckte den Hals. Irgendwo dort am Kai wartete mein Großvater auf mich.

Die Fähre bebte und stand still, wir hatten angelegt. Ich war mittlerweile allein auf dem Deck und sah zu, wie die ersten Autos aus dem Schiffsbauch rollten. Ethan hatte ich noch immer nicht entdeckt. Meine Hände schienen an der Reling festgefroren zu sein.

Ungeduldig schnalzte ich mit der Zunge. Komm schon, Sky, nimm dich zusammen!

Mit einem Ruck riss ich mich los, schulterte meine enorme Reisetasche und wankte damit die steile Treppe hinunter. Nein, ich würde nicht zum Festland zurückfahren. Ich würde nicht in das nächste Flugzeug steigen und nach Johannesburg fliegen, und ich würde auch nicht in einer Lodge mitten im Nirgendwo leben, wo meine einzigen Freunde ein paar Giraffen und Elefanten sein konnten, und auch die nur widerwillig! Ich hatte andere Pläne für mein Leben.

Ich zerrte meine Tasche über die Rampe und ließ sie auf den Kai plumpsen. Nach der stundenlangen Überfahrt schwankte der Boden noch immer unter meinen Füßen, hoffentlich hörte das bald auf. Wo war Ethan? Ich schaute mich um.

Das hier war also jetzt mein Zuhause. Die Insel Sidh, Heimat aller Lamars. Und Heimat von Leuten, die bei gefühlten Minusgraden in Minirock und Top herumliefen. Ich starrte einer Gruppe Teenager hinterher, die den Kai entlangschlenderten. Sie lachten sich halb kaputt über irgendeinen Witz, den ein großer Junge gerade gerissen hatte. Er hatte dichte rotbraune Haare, sie erinnerten mich entfernt an das Fell schottischer Hochlandrinder. Aber, immerhin: Es gab auf der Insel noch andere Bewohner in meinem Alter.

»Sky! Hier drüben!«

Erleichtert sah ich Ethan auf mich zukommen. Er lächelte, aber die tiefe Falte zwischen seinen Brauen blieb, wo sie war. Dann stand er vor mir, mit seinem grauen Bart und den blitzblauen Augen unter der Schiebermütze. Mamas Augen.

»Hallo, Ethan.«

Ich konnte mich nicht überwinden, ihn »Grandpa« zu nennen. Wir hatten uns seit drei Jahren nicht gesehen und auch davor nicht oft. Wie viele Weihnachtsfeste hatten Mama und ich auf Sidh verbracht, vier oder fünf? Ich holte tief Luft und streckte die Hand aus. Ethan ergriff sie, zögerte und zog mich dann an sich. Überrascht stolperte ich einen Schritt vorwärts und landete mit der Nase in seiner kratzigen Tweedjacke. Sie roch nach Seife und Salzwasser und nach ihm, meinem Großvater. Plötzlich wurde mir die Kehle eng. Als hätte er es gespürt, ließ Ethan mich schnell wieder los und trat einen Schritt zurück.

Er räusperte sich. »Du bist groß geworden.«

»Du nicht«, gab ich zurück und rang mir ein Grinsen ab.

Ethan lächelte ebenfalls, dann schaute er auf meine sackartige Tasche und hob die Brauen. »Viel Gepäck für ein paar Wochen.«

Ich reckte das Kinn. »Vielleicht bleibe ich ja länger. Für immer oder so.«

»Mmh, wolln mal sehen.« Ethan bückte sich und warf sich die Tasche über die Schulter. Er hatte erstaunlich viel Kraft für einen alten Mann. Wie alt war er noch gleich? Irgendwas über sechzig jedenfalls.

Ich trottete hinter ihm her auf einen blauen Kombi zu. Es war leicht zu erkennen, dass es sein Auto war, denn es trug den Schriftzug seines Ladens auf den Seitentüren: »Lamar’s General Store & Pharmacy«. »& Pharmacy« war allerdings neu.

Ethan bemerkte meinen Blick. »Das ist Emilys Werk. Sie hat die Apotheke eröffnet, kurz nachdem sie zurück auf die Insel gekommen ist. Hat den ganzen Laden dafür umgeräumt.« Er warf meine Tasche in den Kofferraum und hielt mir die Beifahrertür auf.

Richtig, Emily. Meine Großtante hatte ich noch seltener zu Gesicht bekommen als Ethan, sie hatte bis vor Kurzem irgendwo auf dem Festland gelebt. Dass Emily wieder in ihr altes Elternhaus gezogen war, hatte Mama erstaunt, aber auch spürbar erleichtert. Sie schien Emily sehr zu schätzen. Trotzdem hatten auch die beiden wenig Kontakt gehalten. Es war schon seltsam, Emily und Ethan waren meine einzigen lebenden Verwandten und doch mehr oder weniger wie Fremde für mich.

Auch von der Insel wusste ich wenig, dafür, dass meine Familie von hier stammte. Mama sprach nicht gerne darüber, als ob sie diesen Teil von sich lieber vergessen wollte. Lediglich eine Warnung hatte sie mir vor der Überfahrt mitgegeben. Ich solle vorsichtig sein, unbedingt auf Ethan und Emily hören und nichts auf eigene Faust unternehmen. Was auffällig war, denn sonst verließ sie sich seit Jahren darauf, dass ich mich allein zurechtfand. Und genau das hatte ich auch diesmal vor.

»Wo ist Emily, treffen wir sie im Haus?«, fragte ich Ethan.

»Im Haus? Nein, sie arbeitet. Jemand muss ja im Laden die Stellung halten.«

»Ach so. Klar.«

Ich kam mir dumm vor, als hätte ich ein Begrüßungskomitee erwartet.

Während der restlichen Fahrt schwiegen wir. Ethan kurvte langsam durch den hübschen kleinen Ort und folgte dann einer Straße bergauf, an der die Häuser bald weiter auseinanderrückten. Nach ein paar Minuten bogen wir in eine kiesbedeckte Auffahrt ein. Vor uns lag das Cottage, in dem Mama aufgewachsen war. Und Ethan und seine Schwester. Und wer weiß, wie viele Lamars vor ihnen. Früher war mir das zweistöckige weiße Steinhaus vorgekommen wie ein kleines Schloss, das über dem Ort thronte. Dabei waren es keine Türmchen, sondern Schornsteine, die an jedem Ende des Hauses in den Himmel ragten. Richtig weiß war es auch nicht mehr, die Mauern konnten einen neuen Anstrich vertragen.

Innen schien alles unverändert, seit ich zuletzt hier gewesen war. Im Wohnzimmer schwere Möbel aus dunklem Holz, dicke, verblichene Teppiche, ein paar Bücherregale und der gemütliche Ohrensessel am Kamin. Gegenüber die Küche mit dem wurmstichigen Esstisch, der Platz genug für einen ganzen Clan bot. An einem Ende stand noch das Frühstücksgeschirr von Ethan und Emily, zwei verloren wirkende Teller und Tassen aus Porzellan.

Ethan räusperte sich. »Möchtest du einen Tee?«

Ich schüttelte den Kopf. »Vielleicht später. Ich geh erst mal hoch. Soll ich wieder Mamas altes Zimmer nehmen?«

Ethan nickte. »Ja, tu das. Hör zu, wenn du keinen Tee möchtest, fahre ich zurück in den Laden. Ich erwarte noch eine Lieferung. Bis du diesen Sack da ausgepackt hast, bin ich bestimmt wieder da.«

»Klar, kein Problem.«

Ich schleifte meine Tasche die Treppe hoch in das Zimmer ganz am Ende des Flurs. An der Tür hing ein herzförmiges Schild. Moira stand in Kinderschrift darauf. Ich schloss die Tür hinter mir. Draußen knirschte Ethans Kombi die Auffahrt runter.

Das Zimmer war nicht besonders groß, hatte aber einen Ausblick über den Ort bis auf das Meer. Irgendwo dahinten war das Festland. Dort war Mama heute Morgen in ein Flugzeug gestiegen, nachdem sie mich zur Fähre gebracht hatte.

»Du kannst es dir jederzeit anders überlegen, das weißt du, oder?« Ihre Stimme hatte wacklig geklungen, wie kurz vorm Lachen oder Weinen. Aber wenn ich mich einmal entschieden hatte, dann zog ich es auch durch. Mama selbst hatte mir das beigebracht. Immer nach vorne schauen, Sky!

Vierzehn Jahre lang war sie die einzige Konstante in meinem Leben gewesen, vierzehn Jahre lang mein wichtigster, liebster Mensch – und ich ihrer. Aber irgendwann reichte das für mich nicht mehr. Also hatte ich bloß geantwortet: »Warum überlegst du es dir nicht anders?«

Und dann war die Fähre abgefahren und Mama verschwunden.

Ich nahm das Kopfkissen vom Bett und presste es an meine Brust. Die Tränen, die ich heute Morgen nicht geweint hatte, jetzt liefen sie und tropften auf das Kissen.

Eine Stunde später hatte ich mich leer geweint und den Großteil meiner Sachen in Mamas altem Schrank verstaut. Damit war der Umzug erledigt.

Das war immerhin ein Vorteil eines Lebens, in dem alle Besitztümer in einen Seesack passten. Möbel gab es bei uns immer nur auf Zeit. Spielsachen wurden sowieso alle paar Jahre durchgetauscht, und Bücher verschenkten wir jedes Mal, bevor Mama ein neues Hotel übernahm, um es wieder auf Vordermann zu bringen. Nur eine Box mit ein paar ausgewählten Andenken schleppte ich von Ort zu Ort mit. Sie war mittlerweile ziemlich voll, aber ab sofort würde ja nichts mehr dazukommen. Souvenirs waren etwas für Touristen, wer sammelte schon welche von seinem eigenen Heimatort? Nach kurzem Nachdenken schob ich die Box unters Bett.

Anschließend drehte ich mich einmal langsam im Kreis. Das war also jetzt mein Zimmer. Nicht auf Zeit, sondern für immer. Oder jedenfalls so lange, bis ich selbst entschied, woanders hinzugehen.

Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Schrank, mehr brauchte ich nicht. Alles nicht mehr neu, aber noch völlig in Ordnung. Nur dieses altmodische Gemälde über dem Bett fiel irgendwie aus dem Rahmen. Es zeigte ein prächtiges Haus inmitten blühender Rosen, für meinen Geschmack viel zu kitschig. Ich überlegte einen Moment, ob ich es abnehmen sollte, entschied mich aber dagegen. Mama hatte es offensichtlich gemocht. Und die Tatsache, dass ich jetzt in ihrem alten Zimmer wohnte, spendete wenigstens ein kleines bisschen Trost.

Ethan war noch nicht zurück, also machte ich mir in der Küche selbst einen Becher Tee. Eine Dose mit Beuteln stand praktischerweise direkt neben dem Wasserkocher. Ethan und Emily schienen allerdings nur schwarzen Tee zu trinken. Es gab Earl Grey, Scottish Breakfast und Darjeeling zur Auswahl. Falls man da von Auswahl sprechen wollte. Ich musste mir dringend eine Packung Rooibos organisieren. Mama und ich tranken ihn fast jeden Abend.

Ich spürte die dummen Tränen schon wieder aufsteigen und schüttelte unwillig den Kopf. Jetzt bist du hier, Sky, mach gefälligst das Beste daraus!

Nachdem ich den Tee getrunken hatte, spülte ich meinen Becher und das Frühstücksgeschirr gleich mit. Anschließend wischte ich ein paar Krümel vom Tisch und goss die Kräutertöpfe auf der Fensterbank. Danach fiel mir nichts ein, was noch zu erledigen wäre. Unschlüssig ging ich rüber ins Wohnzimmer.

Der Kamin schien jetzt im Sommer nicht genutzt zu werden. Er war sauber gekehrt und auf dem Sims stapelten sich Zeitschriften. Ich warf einen kurzen Blick darauf. Eine medizinisch-pharmazeutische Fachzeitschrift, die an Emily adressiert war, lag obenauf, darunter kamen einige bunte Klatschblätter zum Vorschein und eine steinalte Ausgabe von einer Anglerzeitschrift.

Das Bücherregal war nicht besonders groß und ziemlich eingestaubt. Ich strich mit dem Finger über die Einbände. In der Hauptsache Klassiker, wie es schien. Das letzte Drittel war weniger staubig und die Bücher sahen neuer aus. Ein paar der Titel kannte ich. Es waren Bestseller, vor allem Krimis.

Blieb noch der antike Schreibtisch an der Wand. Auf der Platte lag ein Notizbuch, oder nein, ein Jahresplaner in einem teuer aussehenden Einband. Ich hob den Deckel an und entdeckte Ethans Namen darin. Wie wohl sein Alltag aussah, hier auf dieser abgeschiedenen Insel? Womit verbrachte er seine Zeit außer mit der Arbeit im Laden? Und mit wem?

Wie von selbst blätterte meine Hand durch die Seiten. Die meisten waren leer, doch alle paar Wochen hatte Ethan das Kürzel »WR« eingetragen und daneben eine Art Übersicht. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. In der ersten Spalte schienen hauptsächlich Ortsnamen zu stehen, wobei einige Ausdrücke gälisch waren, was ich nicht verstand. Dahinter folgte fast immer »letzte Veränderungen am« mit einem Datum. Ich stutzte. Die Daten lagen weit in der Vergangenheit, zum Teil mehr als 100 Jahre! In einigen Fällen war der Eintrag durch ein »Sicherung intakt« ergänzt worden. Am Ende jeder Zeile stand jeweils einer von drei Begriffen: Magadh, Caoineadh, Talmhainn.

Ein feiner Schauer lief über meinen Nacken. Was bedeutete das?

Ich blätterte weiter, doch der Kalender enthielt keine weiteren Informationen. Ethan hatte sonst nichts eingetragen, nicht einmal Geburtstage. Ich erreichte das heutige Datum. Auch meine Ankunft auf Sidh stand nicht darin.

Was waren das für seltsame Listen und warum verschwendete er einen ganzen Planer darauf?

Sorgfältig legte ich ihn an seinen Platz zurück und warf einen kurzen Blick in die Schubladen. Schreibutensilien, Briefumschläge, ein Taschenrechner, aber nichts Persönliches. Die unterste Schublade war abgeschlossen. Langsam ging ich in den Flur zurück und stieg die Treppe hinauf.

An der Tür zu Ethans Zimmer zögerte ich. Ich kam mir vor wie eine Einbrecherin. Aber das war doch albern! Mama war hier aufgewachsen und als Kind war ich auch überall herumgelaufen und hatte nicht um Erlaubnis gefragt.

Ich wusste nicht, was genau ich mir erhofft hatte, aber jedenfalls kein so leeres, aufgeräumtes Zimmer. Keine Spur von Hobbys, keine Golfschläger oder Angelruten, und auch keine offen herumliegenden Tagebücher. Sogar das Bett war gemacht. Es war noch immer für zwei bezogen, obwohl meine Großmutter Abbie seit mehr als zwanzig Jahren tot war.

Ethans Seite des Betts war nur am Inhalt des Nachtschranks zu erkennen. Neben einer Packung Taschentücher und einem Wecker standen zwei gerahmte Fotos darauf. Eins von Abbie als junger Frau und eins von Ethan, ihr und Mama zusammen. Ich ging in die Hocke, um die Bilder besser anschauen zu können. Mama war darauf noch ein kleines Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Sie und ihre Mutter trugen beide ein helles Kleid und dieselbe Frisur: einen geflochtenen Zopf, der ihnen seitlich über die Schulter fiel. Ethan stand hinter ihnen, mit einer Hand um Mamas Schulter und einer auf Abbies. Das Familienfoto war draußen vor diesem Cottage aufgenommen worden, während das Porträt von Abbie vermutlich aus einem Studio stammte. Sie trug darauf ein auffälliges Medaillon um den Hals und sah Mama so ähnlich, dass es mir einen Stich versetzte.

Mama und ihre Mutter hatten denselben hellen Teint und dieselben rotblonden Haare. Meine Haut dagegen war deutlich dunkler, meine Haare fast schwarz und meine braunen Augen saßen leicht schräg über ausgeprägten Wangenknochen.

Ich seufzte und strich mir ein paar Haarsträhnen aus den Augen. Sie waren zu kurz für einen geflochtenen Zopf und die untere Hälfte war außerdem noch blau gefärbt, ich ließ die Farbe gerade rauswachsen. Na ja, Äußerlichkeiten würden kaum reichen, um an eine Familientradition anzuknüpfen, und deswegen war ich auch nicht hier. Ich war hier, weil es der einzige Ort war, an den ich gehen konnte, um selbst über mein Leben zu bestimmen. Ich hatte gar keine andere Wahl.

Langsam stand ich auf. Wo blieben Ethan und Emily nur? Hatten sie im Laden so viel zu tun? Ich hatte keine Lust, noch länger zu warten, allein in diesem zu großen Haus. Aber warum sollte ich überhaupt hier sitzen und warten? Wenn Ethan und Emily nicht zu mir kamen, würde ich eben zu ihnen gehen.

Augenblicklich fühlte ich mich besser. Mit wenigen Sätzen war ich drüben in Mamas Zimmer, um meine Jacke zu holen. Vor dem Spiegel am Schrank hielt ich kurz inne. Sah ich auch nicht verheult aus? Das konnte ich auf meinem allerersten Ausflug ins Dorf wirklich nicht brauchen. Doch ich wirkte nur etwas müde und zerknittert, passend zu der langen Reise, die ich hinter mir hatte.

An der Haustür zögerte ich einen Moment. Ich hatte keinen Schlüssel, zumindest noch nicht, und wenn ich den Laden nicht fand, würde ich vielleicht nicht wieder reinkommen. Aber warum sollte ich ihn nicht finden? So groß war der Ort schließlich nicht.

Ich spazierte die Straße zurück, über die ich vorhin mit Ethan gekommen war. Ein dünner Kater tauchte neben mir auf und lief ein Stück mit mir. Er drehte sich immer wieder um und wartete auf mich. Dabei zuckte er nervös mit dem Schwanz und drehte unablässig die Ohren in alle Richtungen.

»Was ist los, Tiger, erwartest du Ärger?«

Ich bückte mich und versuchte, ihn zu streicheln, doch er tauchte unter meiner Hand durch und verschwand in einer Brombeerhecke neben der Straße. Kurz darauf ertönte entrüstetes Zwitschern aus den Büschen und ein paar Vögel flogen auf.

Ich versuchte zu erkennen, was hinter der Hecke lag, und ging daran entlang bis zu einem schmiedeeisernen Tor. Es war halb von den Ranken überwuchert, ließ aber ein Sichtfenster frei. Offensichtlich stand ich vor einem parkähnlichen, aber völlig verwilderten Garten. Das Haus dazu lag ein ganzes Stück von der Straße entfernt auf einem Hügel. Es war deutlich größer als Ethans und musste einmal sehr prächtig gewesen sein. Jetzt allerdings waren die Türen und Fenster mit Brettern vernagelt und das Gebäude erstickte fast unter holzigen Dornenranken und Efeu. Es wirkte alt und verwunschen, wie ein richtiges Geisterhaus.

Ich kniff die Augen zusammen. An irgendetwas erinnerte mich der Anblick. Dann fiel es mir ein: Das war das Haus auf dem Bild in Mamas Zimmer! Nur dass es darauf von einem blühenden Rosengarten umgeben war und auch sonst sehr gepflegt aussah. Jetzt entdeckte ich keine einzige Rosenblüte mehr. Was wohl damit passiert war? Warum war das Anwesen nicht mehr bewohnt?

Ich blickte die Straße hinunter in Richtung Hafen. Da irgendwo lag Ethans Laden. Aber er und Emily warteten ja nicht auf mich, niemand wartete auf mich.

Behutsam stieß ich das rostige Tor auf. Unter meinen Füßen knirschte noch der Kies, doch nach wenigen Metern über die ehemalige Auffahrt rückten die Brombeerbüsche enger zusammen. Bald konnte ich den stachligen Ranken nicht mehr ausweichen und blieb bei jedem Schritt hängen. Es war mühsam. Plötzlich spürte ich, wie erschöpft ich war, und ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus. Als mir ein kräftiger Luftzug die Kapuze vom Kopf blies, erschauerte ich. Was zum Teufel tat ich hier eigentlich?

Abrupt drehte ich mich um – und schrie auf. Eine besonders kräftige Ranke hatte mir ein Loch in die Leggins gerissen. Und einen ordentlichen Kratzer ins Bein dazu, wie es schien.

»So ein Mist!«

Ich versetzte der Ranke einen wütenden Tritt und bahnte mir den Weg zurück zur Straße.

Bald rückten die Häuser dichter zusammen und ich kam an den ersten Läden vorbei. Eine Metzgerei, ein Schuhladen und ein Spirituosenhandel, gefolgt von einer winzigen Postfiliale und einem Bäcker. Das war gut, sehr gut sogar, denn es bedeutete, dass es auf der Insel nicht bloß Supermarktbrot gab und wahrscheinlich auch meine heiß geliebten Scones.

Am Ende der Straße sah ich bereits den Hafen. Etliche Fischerboote ankerten dort in sicherer Entfernung neben dem Fähranleger. Je dichter ich kam, desto lauter wurde das Klatschen der Wellen gegen die Kaimauer und das Ächzen der Boote, die sich im Takt der Wellen gegen ihre Leinen stemmten.

In der Häuserzeile direkt am Hafen gab es ein Fischgeschäft, einen Pub namens »The Unicorn Inn«, das Hotel-Restaurant »Crown’s« und einen Fish ’n’ Chips-Imbiss. Ich versuchte, mich zu erinnern, wo Ethans Laden war. An irgendeinem Weihnachten hatte er mich mal dorthin mitgenommen. Nicht weil er arbeiten musste, sondern weil uns die Schokolade ausgegangen war. Ich wusste noch genau, wie ich vor dem Regal stand und mir aussuchen durfte, was ich wollte. Ich konnte mich aber nicht entscheiden und hatte schließlich vorgeschlagen, eine Tafel von jeder Sorte zu nehmen. Man konnte es ja mal probieren, oder? Ethan hatte nur gegrinst und einfach alles eingepackt. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Jedenfalls erinnerte ich mich zwar genau an das Süßigkeitenregal, aber leider nicht an die Lage von Ethans Laden. Ich würde jemanden fragen müssen.

Vor dem Imbiss hing eine Gruppe Jugendlicher herum. Es waren die, die ich schon bei meiner Ankunft gesehen hatte. Die zwei Mädchen saßen auf der Kaimauer und ließen die nackten Beine baumeln. Neben ihnen lehnte der große Junge mit den auffälligen Haaren und vernichtete in Rekordgeschwindigkeit eine Tüte Pommes. Ich schaute mich um. Weit und breit war niemand sonst auf der Straße. Okay, das war Schicksal. Und die Gelegenheit, gleich ein paar Leute kennenzulernen. Mit einem leichten Flattern im Bauch ging ich auf sie zu.

»Hey, hallo, ich bin Sky und wohne jetzt auch hier. Bei meinem Großvater da oben auf dem Berg.« Ich deutete vage über meine Schulter nach hinten und lächelte breit in die Runde. »Könnt ihr mir sagen, wo ich seinen Laden finde? Lamar’s General Store.«

Die beiden Mädchen hörten auf, mit den Beinen zu baumeln. Eine hatte bis eben hingebungsvoll Kaugummi gekaut. Jetzt stoppten ihre Kiefer mitten in der Bewegung.

»Lamar?«, wiederholte ihre Freundin und schaute von mir zu dem Jungen. Der knüllte die inzwischen leere Pommestüte zusammen, stieß sich lässig von der Wand ab und baute sich vor mir auf. Sein dichter, verwuschelter Haarschopf verlieh ihm etwas Verwegenes. Dafür war der Rest umso langweiliger. Poloshirt und braune Lederhalbschuhe zu feinen Leinenshorts? Was sollte das sein, seine Schuluniform?

Er schien sich jedenfalls sehr wohl in seiner Haut zu fühlen. Selbstbewusst musterte er mich von oben bis unten.

»Du siehst nicht aus wie eine von denen.«

Ich seufzte und wartete auf die Frage, die als Nächstes kommen musste.

»Was ist dein Vater?«

»Was?« Kurz verlor ich die Fassung. Ich hatte ein »Woher kommt dein Vater?« erwartet, denn die Frage war mir schon oft gestellt worden, zusammen mit einem »Was ist mit deinem Vater?«. Ich mochte diese Fragen nicht besonders, zumal ich die Antworten selbst nicht kannte.

Aber der Junge dachte offensichtlich, ich hätte ihn nicht verstanden. Er wiederholte seine Frage. »Was dein Vater –«

»Ich habe dich gehört!«, fiel ich ihm ins Wort. »Und er ist ziemlich sicher ein Mensch. Oder meintest du seinen Beruf? Tut mir leid, aber das weiß ich nicht. Ich kenne meinen Vater nicht besonders gut.«

Der Junge sah mich an, als hätte ich ihn gerade ins Wasser geschubst. Ich seufzte zum zweiten Mal und versuchte es mit einem Themenwechsel.

»Und wie heißt ihr?«

Das half. Der Junge nahm wieder Haltung an. »Das sind Tess und Bonnie. Ich bin Rory Connor MacLeod.«

»Connor MacLeod, ernsthaft?« Ich unterdrückte ein Kichern. Den alten Film über einen unsterblichen Schotten namens Connor MacLeod hatte ich zufällig entdeckt. Mama fand ihn furchtbar, aber ich liebte die Bilder und die sehnsuchtsvolle Stimmung darin. Ich hatte jedes Mal Heimweh nach Sidh davon bekommen.

Rorys Mine verdunkelte sich, aber ich konnte mich einfach nicht zurückhalten.

»Wie ist es denn so, unsterblich zu sein? Und wo ist überhaupt dein Schwert?« Jetzt lachte ich doch laut los. Ich wieherte geradezu, obwohl niemand mitlachte. All meine Anspannung schien sich plötzlich in diesem dummen Lachanfall zu entladen, es war unmöglich aufzuhören.

»Entschuldigung«, japste ich schließlich, »aber kennt ihr nicht den Film ›Highlander‹? Es ist einfach unglaublich, dass du genauso heißt wie er.«

»Du hast überhaupt keine Ahnung, oder?« Rorys Stimme klang schneidend kalt. »Weder von Sidh noch von Schottland allgemein. Mein Name hat hier eine Geschichte. Genauso wie deiner. Die zwei gehen übrigens nicht gut zusammen.« Er streckte den Finger aus und tippte mir auf die Schulter. »Ich empfehle dir dringend ein paar Stunden Heimatkunde, Sky Lamar. Es lohnt sich, auch wenn du hier nur Urlaub machst.«

Damit drehte er sich um und ging. Die beiden Mädchen sprangen von der Mauer und folgten ihm ohne Zögern, wobei Tess wieder heftig ihren Kaugummi bearbeitete.

Ich stemmte die Arme in die Hüften. »Hey, Highlander! Ich mache hier keinen Urlaub, ich lebe hier jetzt!«

Rory reagierte nicht darauf, sondern pfefferte nur das Pommestütenknäuel in den nächsten Abfalleimer. Erst als die drei um die Ecke verschwanden, fiel mir auf, dass sie meine Frage nicht beantwortet hatten.

Na toll, das ging ja gut los. Ich schaute auf den Riss in meiner Leggins. Der Kratzer brannte unangenehm.

Zehn Minuten später stand ich dann doch vor Ethans Laden. Eine ältere Frau mit Gummistiefeln und Zigarette hatte mir den Weg verraten, nachdem ich sie beim Aufschließen des »Unicorn« überfallen hatte.

»Ethans Enkeltochter, wie?«, hatte sie gekrächzt und mir ihren Rauch ins Gesicht geblasen. »Sag ihm Grüße von Suzy. Er kann ruhig mal wieder auf ein Pint vorbeikommen.«

Fast hätte ich geantwortet, dass er lieber mal nach Hause zu seiner Enkeltochter kommen sollte, die gerade erst auf dieser Insel gestrandet war und nun heulend in dem alten Kinderzimmer ihrer Mutter saß. Doch Suzy schien mir nicht der Typ zu sein, mit dem man derartige Probleme besprach.

Immerhin hatte sie mir erklärt, wo ich den Laden finden würde. Er lag in der Nähe des Hafens in einer schmalen Einbahnstraße. Die Häuser hier wirkten besonders alt. Krumm und schief drängten sie sich aneinander, doch offensichtlich wurden sie gut gepflegt. Die Fassaden waren frisch gestrichen und in den verwitterten Holzrahmen blitzten sorgfältig geputzte Fenster. Kurz hinter einem Buchladen mit einladend geöffneter Tür entdeckte ich endlich das Lamar’s. Schwungvoll trat ich ein – und blieb erst mal stehen, während meine Augen sich an das schwache Licht gewöhnten.

In dem Laden war es nicht besonders hell, was daran liegen mochte, dass er sich schlauchartig in die Länge zog und es nur an der schmalen Vorderseite Fenster gab. Dunkle, dicht gefüllte Holzregale reichten bis unter die Decke. Die engen Gänge zwischen den Regalen standen voller Kartons, einige davon halb geleert. Die Lieferung, von der Ethan gesprochen hatte, war wohl etwas größer gewesen.

Ich bahnte mir einen Weg in den rückwärtigen Teil des Ladens und entdeckte eine kräftige Frau mit grauem Kurzhaarschnitt und weißem Apothekerkittel hinter einem Tresen. Das musste Emily sein. Der Bereich hinter ihr war im Unterschied zum Rest des Ladens weiß gestrichen und mit Medikamentenpackungen, Fläschchen und Dosen gefüllt. Emily sprach gerade mit einer Kundin. Ich fand sie ziemlich streng dabei, fast schon unfreundlich.

»Probier es damit, Marybell, aber du solltest dich wirklich mal durchchecken lassen. Mach einen Termin beim Facharzt, auch wenn du dafür aufs Festland musst«, sagte Emily mit einem ernsten Blick über den Rand ihrer Brille.

Marybell? Eine Erinnerung durchzuckte mich. Auf einem unserer Besuche hatten Ethan und Mama furchtbar gestritten. Ich hatte damals nicht verstanden, worum es ging, aber dieser Name war dabei mehrfach gefallen, ganz sicher.

Neugierig musterte ich die kleine Frau. Sie war ungefähr in Emilys Alter, sonst aber das genaue Gegenteil von ihr. Schmal, mit langen weißen Haaren, die sie zu einem perfekten Dutt hochgesteckt hatte. Eine Perlenkette glänzte an ihrem Hals, und während unter Emilys Kittel Jeans und Turnschuhe hervorlugten, trug Marybell einen wadenlangen Karorock, eine altmodische weiße Bluse und dazu schwarze Pumps, in denen man sich hätte spiegeln können, wenn sie nicht so winzig gewesen wären.

Emilys Meinung zu ihrem medizinischen Problem schien Marybell nicht besonders zu interessieren. Hoheitsvoll nahm sie ihre Medikamente entgegen und zückte ihr Portemonnaie. »Danke, Emily. Das wäre dann alles«, sagte sie eisig.

Emilys Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst, während sie kassierte. Marybell ging ohne ein weiteres Wort. Als sie an mir vorbeirauschte, roch ich ihr Parfüm. Es lag schwer in der Luft und erinnerte mich an Mottenkugeln. Emilys Blick schien Messer nach ihrem Rücken zu werfen. Beste Freundinnen waren die beiden bestimmt nicht.

Langsam ging ich auf den Tresen zu. »Hallo, Emily.«

Meine Großtante schaute mich an und für einen kurzen Moment erkannte sie mich nicht. Kein Wunder, ich hatte mich vermutlich ziemlich verändert, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Ich bemerkte die Veränderung in ihrem Gesicht, als sie verstand.

»Sky? Du meine Güte, was machst du denn hier?« Emily räusperte sich. »Also, ich meine, wie kommst du in den Laden? Ach, du hast dich bestimmt gefragt, wo wir bleiben.«

Sie kam um den Tresen herum und nach einem peinlichen Moment der Unentschlossenheit umarmte sie mich kurz, aber fest.

»Cooler Laden«, sagte ich und zeigte auf die Kartons. »Macht bestimmt viel Arbeit.«

Emily nickte. »Mit der Lieferung ist etwas schiefgegangen. Ethan ist im Büro und versucht, das zu klären. Die Kartons packen sich nicht von allein aus und ich hatte plötzlich einen Kunden nach dem anderen. Immer wenn man es am wenigsten braucht.« Sie lächelte entschuldigend. »Aber jetzt sperre ich zu, damit wir endlich nach Hause kommen. Ethan! Sky ist hier!«

Ich folgte ihr nach vorne zur Tür, die sie rasch verriegelte. »Ich kann gern helfen, die Kartons auszupacken. Dann geht es schneller.«

»Nein, Schluss für heute. Du brauchst etwas zu essen«, sagte Ethan, der wie aus dem Nichts neben mir aufgetaucht war. Ich entdeckte eine Tür hinter dem Keksregal. Dort musste das Büro sein.

»Und ich auch«, ergänzte Emily. »Ich bin am Verhungern. Marybell hat mir die letzte Energie geraubt.«

»Die Frau eben? Wer ist sie? So was wie die Königin der Insel?«, fragte ich.

Emily schnaubte. »Ja, das kommt in etwa hin. Jedenfalls halten die MacLeods sich für etwas Besseres.«

Ich horchte auf. »MacLeod? Hat sie einen Enkel, der Rory heißt?«

»Woher weißt du das?«

»Ich bin ihm eben begegnet, am Hafen.« Ich schnitt eine Grimasse. »Ein Prinz also, das passt.«

Emily grinste, doch Ethans Stirnfalte vertiefte sich. Er schob Emily und mich Richtung Ausgang. »Schluss mit den MacLeods. Wir haben andere, wichtigere Dinge zu besprechen. Nicht wahr, Sky? Ich weiß noch immer nicht, was genau zwischen dir und deiner Mutter passiert ist.«

Ich stöhnte. Den ganzen Streit mit Mama noch einmal durchzukauen, war das Letzte, worauf ich Lust hatte. Aber wenn ich hierbleiben wollte, hatte ich wohl keine andere Wahl. Missmutig stieg ich hinter Ethan und Emily in den Kombi, für den hinter dem Laden ein Parkplatz reserviert war.

»Warte mal, haben wir zu Hause überhaupt noch was zu essen?«, fragte Emily.

Ethan startete den Motor. »Ich dachte, wir machen Spaghetti. Die mag Sky, stimmt’s?«

Ich begegnete seinem Blick im Rückspiegel und hob den Daumen. Alle Kinder mögen Nudeln. Vielleicht hatte Ethan noch nicht richtig realisiert, dass ich keins mehr war und höchstwahrscheinlich auch andere Dinge aß. Egal, Nudeln gingen immer.

Als Ethan losfuhr, fiel mir der Tee wieder ein. Aber ich wollte ihn nicht bitten, noch einmal umzudrehen. Es war nicht so wichtig. Mama war nicht da, um den Tee mit mir zu trinken. Sie saß heute Abend irgendwo in Südafrika und bekam ihren Rooibos vermutlich frisch vom Feld.

2

Ich wachte um vier Uhr früh vom Zwitschern der Spatzen vor meinem Fenster auf. Nach einem Blick auf die Uhr drehte ich mich zur Wand und versuchte, wieder einzuschlafen. Aber es war zwecklos, mein Kopf hatte bereits das Gedankenkarussell angeworfen.

Was tat ich hier bloß? Wollte ich wirklich lieber allein auf dieser zugigen Insel sitzen, als mit Mama Abenteuer im afrikanischen Busch zu erleben? Genau das hatte Ethan mich gestern Abend gefragt. Wenn auch nicht so direkt. Und ich hatte geantwortet, dass ich nichts gegen Abenteuer hatte, im Gegenteil. Doch ich war es einfach leid, ständig umzuziehen. Und meistens wechselten wir ja nicht nur die Straße oder die Stadt, nein, Mama und ich wechselten Länder und Kontinente wie andere Leute ihre Unterwäsche.

Bewusste Erinnerungen hatte ich an Singapur, Nizza, Whistler und Auckland. Wobei sich manche Erinnerungen miteinander vermischten. In Neuseeland, wo wir zuletzt gelebt hatten, wäre ich wirklich gerne geblieben. Ich mochte einfach alles: die Stadt, das Wetter, die Natur und die Leute. Und ich hatte dort Freunde gehabt.

»Du kannst ja Kontakt halten«, hatte Mama gesagt.

Ich schnaubte. Welchen Sinn hatte das, wenn man eine Million Flugstunden voneinander entfernt lebte? Und wegen der Zeitverschiebung konnte man nicht mal spontan telefonieren! Immer dasselbe Spiel, immer wieder von vorne. Mama war als Hotelmanagerin so erfolgreich, dass sie sich die Jobs aussuchen konnte. Besonders die schwierigen Fälle reizten sie. Doch sobald alles lief, zog es sie weiter. Und mich mit ihr.

Aber jetzt nicht mehr. Ich würde endlich richtig Wurzeln schlagen und der einzige Ort, wo das ging, war Sidh. Das wiederum hatte ich Ethan nicht so direkt auf die Nase gebunden.

Außerdem hatte ich verschwiegen, dass wir wieder über meinen Vater gestritten hatten. Mama wollte mir einfach nicht verraten, wer er war. Sie versuchte immer noch, mich mit ihrem »Ich sag’s dir, wenn du so weit bist« hinzuhalten, aber, du meine Güte, wie lange wollte sie noch warten – bis ich selbst Mutter war? Ich war es so leid, mich mit ihren Ausreden abzufinden, genauso wie mit den ständigen Ortswechseln. Doch von meinem Vater hatte ich gestern nichts erzählt, denn das war ein Thema, das niemanden etwas anging außer Mama und mich.

Emily hatte die ganze Zeit über kaum etwas gesagt, uns aber fürsorglich mit Tee und Keksen versorgt. Was war wohl ihre Geschichte, wo war sie gewesen, mit wem und warum war sie nach Sidh zurückgekehrt? Ich wusste überhaupt nichts von ihr.

Plötzlich hielt ich es im Bett nicht länger aus. Ich stand auf und schlüpfte in Jeans und Pulli. Dabei spürte ich den Kratzer wieder. Er hatte sich über Nacht leicht entzündet und juckte.

Das Bad lag direkt neben Emilys Zimmer. So leise wie möglich putzte ich mir die Zähne, was natürlich Quatsch war, weil die Klospülung sowieso ohrenbetäubend laut gurgelte und rauschte.

Einen Moment stand ich im Flur und lauschte, doch im Haus blieb alles still. Meine Boots standen neben der Haustür, die nicht abgeschlossen war. Als ich Ethan gestern nach einem Schlüssel gefragt hatte, wollte er erstaunt wissen, wofür. Anscheinend schloss hier niemand ab, man kannte sowieso jeden. Ich grinste in mich hinein. Die offenen Türen gefielen mir, aber Sidh war wirklich ein Nest.

Auf dem Weg zum Bäcker wurde es immer heller. Hoffentlich lag ich richtig damit, dass er schon geöffnet hatte. Bei dem Gedanken an warme Scones mit Rahm und Marmelade lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich wollte Ethan und Emily damit zum Frühstück überraschen.

Ich roch die Bäckerei, noch bevor ich sie sehen konnte. Allerdings roch es nicht besonders gut, sondern irgendwie angebrannt. Ich rieb mir die kribbelnde Nase und eilte voll Sorge um meine Scones weiter.

Neben dem Laden stand ein Junge in Arbeitskleidung und kippte mehrere Eimer Brot und Brötchen in die Mülltonne. Alles war schwarz verkohlt. Ein scharfer Brandgeruch stieg mir in die Nase, doch den Jungen schien das nicht weiter zu stören.

»Was ist denn passiert?«, fragte ich und musste niesen.

Der Junge sah mich neugierig an. »Neu hier?«

»TSCHI! Ja.« Ich nieste noch drei Mal, meine Nase lief. War ich plötzlich allergisch auf angebrannte Brötchen? »Gestern angekommen, bin zu meinem Großvater gezogen. War aber schon öfter hier«, ergänzte ich schnell. Nicht dass ich mir gleich wieder einen Vortrag in Sachen Heimatkunde anhören musste.

»Wirklich? Hab dich noch nie gesehen. Hätte mich sonst bestimmt daran erinnert.« Der Junge grinste und holte irgendwo aus den Tiefen seiner Hose ein zerknittertes Taschentuch. »Hier. Ist unbenutzt, wirklich.«

»Danke.« Ich grinste zurück und bemühte mich, das Taschentuch nicht allzu genau anzusehen, bevor ich mich schnäuzte. »Ist euer Ofen kaputt?«, fragte ich dann mit einem Blick auf den Mülleimer.

»Der Ofen? Ach, der funktioniert eigentlich ganz gut …« Er legte den Kopf schief. »Und du lebst jetzt hier, hast du gesagt?«

»Ja, bei meinem Großvater, Ethan Lamar, du kennst ihn vielleicht. Hast du das Brot verbrennen lassen?«

Der Junge stieß einen leisen Pfiff aus. »Ethans Enkeltochter, wie? Na dann … Also, je nachdem wer fragt, war es entweder der ungeschickte Will oder …« Er beugte sich dichter zu mir heran: »… oder der Howler. Aber du weißt schon: Psst!« Er legte den Finger an die Lippen und zwinkerte mir verschwörerisch zu.

Verwirrt kämpfte ich gegen eine erneute Niesattacke an.

»Der How-TSCHI! Der Howler? Wer oder was ist das?«

»Will! William! Wo steckst du?«, rief jemand von drinnen.

»Sorry, muss los. Pflicht ruft.« Der Junge lächelte breit. »Hat mich gefreut. Kannst das Taschentuch behalten.«

»Warte doch mal! Will?« Ich folgte ihm in den Laden, doch bevor ich ihn weiter ausfragen konnte, verschwand er durch eine Tür in die Backstube. Eine Frau hinter der Theke sah ihm nach. Mit gerunzelter Stirn schaute sie von ihm zu mir.

Ich schenkte ihr mein breitestes Lächeln. Damit hatte ich schon so manchen kritischen Blick weggeschmolzen.

»Guten Morgen. Sechs Scones, bitte.« Ich nieste zweimal. »Sie haben doch noch welche, oder?«

»Natürlich! Alles?« Sie drehte sich um und schaufelte in Rekordgeschwindigkeit die Scones in eine Papiertüte. Offenbar war sie immun gegen meinen Charme. Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte ich gezahlt und stand wieder draußen auf der Straße. Inzwischen hatte sich eine kleine Schlange vor dem Tresen gebildet. Es gab eine Menge Frühaufsteher auf Sidh. Und niemanden sonst schienen die verkohlten Backwaren zu interessieren.

Hatte der Junge – Will – sich einen Spaß mit mir erlaubt? Ich konnte ihn schwer einschätzen, vielleicht hatte er nur nicht zugeben wollen, dass ihm öfter mal ein Missgeschick passierte. Das würde auch den mürrischen Blick seiner Chefin erklären.

Ich nieste erneut und ging langsam zurück. Was war mit mir los, hatte ich mir auf der Fähre eine Erkältung geholt? Doch als ich mit der Brötchentüte in die Küche kam, war der Niesanfall vorbei und ich fühlte mich wieder völlig normal, höchstens ein bisschen müde.

Ethan und Emily saßen bereits am Tisch und löffelten Porridge. »Sky! Warum bist du schon wach?«, fragte Ethan überrascht.

Ich zuckte mit den Schultern. »Die Zeitverschiebung vermutlich. Und warum seid ihr schon wach? Ich hab Scones mitgebracht.« Ich wedelte mit der Tüte durch die Luft. »Hoffentlich habt ihr noch ein bisschen Platz im Bauch.«

Emily lächelte warmherzig. »Oh, wie lieb von dir!«

Doch Ethan stand schon auf und räumte sein Geschirr in die Spüle. »Wir müssen leider noch fertig auspacken«, erklärte er. »Aber wir nehmen gern ein paar Scones mit.«

Ich ließ die Tüte auf den Tisch fallen und sank auf einen Stuhl. Mit einem Mal war mir der Appetit vergangen.

»Was hast du heute vor?«, fragte Emily sanft.

»Keine Ahnung«, gab ich leichthin zurück, während ich unter dem Tisch die Fäuste ballte. Wie um Himmels willen sollte ich einen weiteren öden Tag überstehen? Und danach noch einen und noch einen. Ich brauchte dringend eine Beschäftigung.

»Wie wär’s, wenn ich euch im Laden helfe?«, schlug ich vor. »Scheinbar gibt’s da mehr als genug zu tun.«

Ethan und Emily wechselten einen Blick. Emily wirkte positiv überrascht, doch die Falte zwischen Ethans Augen verhieß nichts Gutes. Ich verstand nicht, was das Problem war. Warum sagte er nicht einfach Ja?

»Also, die Scones gibt’s jedenfalls nur mit mir zusammen«, setzte ich mit einem kläglichen Grinsen nach.

»Heute ist Jamie da«, erklärte Ethan. »Sie arbeitet hin und wieder für uns und wir haben sie extra zur Verstärkung angefordert.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Okay, aber irgendwas wird es doch wohl geben, was ich tun kann. Sie kann doch sicher Hilfe gebrauchen und mir außerdem gleich zeigen, wie alles funktioniert. Dann müsst ihr euch nicht damit aufhalten.«

Ethan zögerte und nickte dann endlich. »Gut, abgemacht. Aber wir brechen in zehn Minuten auf. Beeil dich, wenn du noch etwas essen willst.«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Mit frisch erwachtem Appetit fiel ich über mein Frühstück her.

»Jamie, das ist Sky, meine Enkeltocher. Sky, Jamie.« Ethan räusperte sich. »Sky wird dir ein bisschen zur Hand gehen. Du weißt ja Bescheid, Jamie, als Erstes müssen die restlichen Kartons ausgepackt werden. Du erklärst Sky, wie alles geht, ja? Ich bin im Büro, wenn ihr mich braucht.« Damit verschwand Ethan hinter den Keksen.

Überrascht schaute ich Jamie an. Ich hatte eine Erwachsene erwartet, aber Jamie war etwa so alt wie ich.

»Arbeitest du schon lange für meinen Großvater?«, fragte ich.

»Aye.« Jamie fing an, Obstkonserven in die Regale zu räumen. Sie bewegte sich schnell, jeder Handgriff saß. Geschickt stapelte sie die neuen Dosen hinter die vorhandenen, ohne alles umzustoßen. Ich sah zu und wartete, bis mir klar wurde, dass Jamie nichts weiter sagen würde.

»Und wie lange genau? Seit einem Monat, einem Jahr, seit der Grundschule?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Paar Monate. Vielleicht ein Jahr.«

»Dann ist das also nicht bloß ein Ferienjob? Was machst du mit dem ganzen Geld?«

Jamie antwortete nicht, sondern arbeitete konzentriert weiter. Sie hatte ein paar braune Flecken, wie von Farbe oder Lack, an den Fingern, mit denen sie sich hin und wieder eine Strähne hinters Ohr schob. Mein Blick blieb an ihren langen rotblonden Haaren hängen. Selbst in dem dürftigen Ladenlicht schimmerten sie wie lebendig. Und das, obwohl sie heute bestimmt noch keine Bürste gesehen hatten – genauso wenig wie gestern.