Polizeiruf 110 - Tina Blase - E-Book

Polizeiruf 110 E-Book

Tina Blase

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Beschreibung

"Polizeiruf 110" ist längst eine Kultserie, und die Bad-Homburger-Folgen sind für Krimifans ein Muss. Zwei der spannendsten Drehbücher hat Tina Blase in ihrem Buch zu einem Doppel-Roman zusammengefasst, der den Filmen in nichts nachsteht: Die Handlung ist kurzweilig, die Figuren sind sympathisch und Bad Homburg strahlt in düsterem Licht. Im Zentrum der Handlung steht Kommissar Keller, der aus Berlin in seine Heimatstadt Bad Homburg zurückkehrt und irgendwo zwischen Nostalgie und neuer Liebe seinen Platz finden muss. Dass er dabei auch gegen alte Freunde ermitteln muss, macht ihm die Rückkehr nicht leichter.

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Seitenzahl: 236

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Tina Blase
Polizeiruf 110Die Bad Homburg-Folgen
nach den Filmen vonTitus Selge
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2008 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Schutzumschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt am Main
Satz: Nicole Proba, Societäts-Verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-129-8

Prolog

Der magere schwarze Kater hatte Hunger. In dem niedrigen alten Fachwerkhaus am Rand der Bad Homburger Altstadt hatte er stets Futter vorgefunden. Seit zehn Tagen aber blieb sein Napf leer, und es war schwierig, in der unter Schnee und Frost erstarrten Stadt etwas Fressbares aufzutreiben. Er sprang durch das wie immer gekippte Kellerfenster in den Heizungsraum des Hauses und lief die Treppe hoch in den Flur und weiter in die Küche. Zielstrebig steuerte er seinen Napf an, der aber immer noch leer war. Er hob den Kopf und schnupperte. Allmählich verströmte der Körper auf dem Stuhl am Küchentisch einen starken Geruch. Er hatte bereits Fliegen und anderes Getier angezogen. Geschmeidig sprang der schwarze Kater auf den Tisch.
Der alte Mann hing schwer in seinem Stuhl, mit dem Kopf auf der Brust, so dass die weit geöffneten Augen auf seinen Schoß herab starrten. Ein Arm lag vor ihm auf der grau melierten Resopalplatte, direkt neben einem tiefen Teller mit verkrusteten Essensresten. Der Esslöffel war zu Boden gefallen.
Interessiert schnupperte der Kater an dem Teller, der ihm aber nichts Genießbares zu bieten hatte. Er wandte sich der Hand zu. Seit er dem Alten vor zwei Jahren zugelaufen war, hatte er nicht solchen Hunger leiden müssen.

Der Prinz von Homburg

Kellers Magen rebellierte. Seit Laura ausgezogen war, nahm er zu Hause so gut wie keine Mahlzeiten mehr ein, geschweige denn, dass er kochte. Es machte keinen Spaß für nur eine Person. Also hatte er heute Morgen wieder nicht gefrühstückt, dafür aber während der Besprechung auf dem Revier zwei Becher starken, schwarzen Kaffee getrunken. Dann war der Anruf zu ihm durchgestellt worden, und er hatte sich sofort mit knurrendem Magen und leicht zittrigen Händen auf den Weg gemacht.
Am Ziel angelangt, verdrängte er die Gedanken an Laura und sammelte sich für einen Moment. Als Kommissar Thomas Keller die baufällige Altbauwohnung im Berliner Stadtteil Kreuzberg betrat, zitterten seine Hände nicht mehr, sondern umschlossen fest und sicher den Griff seiner Waffe. Im Flur türmten sich Farbeimer, Leitern und Plastikplanen. Leise bahnte sich Keller einen Weg durch das Gerümpel und betrat die Küche. Als er vorsichtig die Tür der Speisekammer öffnete, löste sich ein Regalbrett und stürzte ihm mitsamt den darauf gelagerten Blecheimern entgegen. Er fluchte unterdrückt. Spätestens jetzt würde man seine Anwesenheit im Haus bemerkt haben.
Wie zur Antwort drang aus einem Zimmer am anderen Ende der Wohnung ein schwaches Geräusch. Schweiß trat Keller auf die Stirn. Dieser verdammte Kaffee. Er durchquerte rasch, aber behutsam den langen Flur und überlegte kurz, mit welchem Raum er beginnen sollte. Mit dem Rücken zur Wand stieß er die ihm am nächsten liegende Tür leicht auf und bewegte sich gerade genug vor, um ein Waschbecken an der linken Seitenwand und einen gesprungenen Spiegel darüber sehen zu können. Im Spiegel bewegte sich etwas. Hinter dem Vorhang der Duschkabine kauerte ein bleicher Jugendlicher mit zitternder Waffe. Als sich ihre Blicke im Spiegel trafen, feuerte der Junge ohne zu zögern los. Er schoss Kugel um Kugel auf die Tür ab, hinter der Keller in Deckung gesprungen war, unkontrolliert und besinnungslos. Fünf Einschläge zählte Keller und sah in der darauf folgenden Stille auf seine Füße herab.
Auf den rechten seiner gepflegten schwarzen Schuhe tropfte leuchtend rotes Blut herab und hinterließ dünne Schlieren auf dem Leder. Instinktiv fasste Keller hoch an sein Ohr und spürte warme Nässe zwischen den Fingern. Einen Augenblick stand er bewegungslos, dann wischte er sich die Schuhspitze an seinem Hosenbein ab und drehte sich mit einem schnellen, energischen Ruck zurück in den Raum, die Waffe zielsicher auf den Jugendlichen in der Duschkabine gerichtet. Der Junge steckte sich die Pistole in den Mund und drückte ab.
Wie durch Watte nahm Keller das Klingeln seines Handys war. Er holte tief Luft und fuhr sich mit beiden Händen durch die mittelblonden Haare. Er hatte schon einiges gesehen während seiner 20-jährigen Karriere bei der Kripo und gelernt, sich davor zu verschließen. Wegen seiner barschen, zuweilen fast mürrischen Art fürchteten ihn viele Kollegen, vor allem die jüngeren, unsicheren und die inkompetenten. Smalltalk war ihm zuwider, und er war auch nicht der Typ, der gerne über Gefühle redete – Laura hatte ihm das immer wieder vorgeworfen. Aber er war nicht kaltherzig. Er bedauerte den Tod des Jungen, und es setzte ihm zu, wie leichtfertig er sich das Leben genommen hatte.
Keller rieb sich den Hinterkopf, die Wunde an seinem Ohr hatte er vollkommen vergessen. Als er den Arm wieder fallen ließ, war der Ärmel seines braunen Cordjacketts blutverschmiert. Keller fluchte lauthals und suchte hastig die Taschen seiner ausgebeulten Jeans nach einem Tuch ab. Sein Handy meldete sich erneut und jetzt sehr laut und drängend. Keller griff in die Innentasche seines Jacketts, fand dort das Telefon und zugleich eine Papierserviette und zog beides heraus. Erschöpft presste er die Serviette an sein rechtes Ohr und nahm mit der anderen Seite das Gespräch an. Wider Erwarten meldete sich nicht der Staatsanwalt, sondern Wilhelm Meister. Er war ein alter Freund der Familie und Kommissar bei der Kriminalpolizei in Bad Homburg, Kellers Heimatstadt. Das Gespräch war kurz und einseitig und hinterließ ein Gefühl der Taubheit bei Keller. Mit der Serviette am Ohr setzte er sich im Flur auf einen noch geschlossenen Farbeimer. Sein Vater war gestorben.
„Junge!“ Wilhelm Meister winkte und kam quer durch die Bahnhofshalle auf ihn zu. Keller ging dem hochgewachsenen älteren Herrn im langen Wintermantel lächelnd entgegen und stellte vor ihm seinen alten Lederkoffer ab.
„Chef!“, erwiderte er die herzliche Begrüßung und ließ sich in eine kräftige Umarmung ziehen. Hauptkommissar Wilhelm Meister stand kurz vor der Pensionierung, war aber noch immer in einer erstaunlich guten körperlichen Verfassung. Er würde seinen Ruhestand in vollen Zügen genießen können. Wie Keller etwas neidisch zugeben musste, wirkte sein 25 Jahre älterer Freund schlanker als er selbst. Keller war schwerer und breitschultriger gebaut. Graue Haare hatten sie beide, wenn sie sich bei Keller auch auf einzelne feine Strähnen beschränkten. Meister legte ihm die Hand auf die Schulter. „Es war das Herz. Die Ärzte sagen, er hatte einen leichten Tod.“
Keller wandte den Blick ab. Die Bahnhofshalle war mittlerweile fast menschenleer. Nur der Mann vom Imbissstand und eine alte, verwirrt oder enttäuscht wirkende Frau waren noch zu sehen. Er betrachtete sie einen Augenblick. „Danke, dass du gekommen bist“, sagte er schließlich leise.
Meister räusperte sich. „Willkommen zu Hause, du warst lange nicht hier!“
„Vor zwei Wochen haben wir noch telefoniert. Weihnachten wollte ich ihn besuchen.“ Keller zögerte. „Wo ist er jetzt?“
„Die Kollegen haben ihn zu Teske gebracht“, erklärte Meister und zog ihn in Richtung Ausgang. Plötzlich musste Keller grinsen. „Und hat die liebe Seele Ruh’, klappt Teske schnell den Deckel zu.“
„Genau, die alte Assel gibt es auch immer noch“, stimmte Meister ihm zu, „aber schau ihn dir lieber nicht an, Tommi.“ Sie hatten den Parkplatz erreicht, wo Meister seinen alten Mercedes abgestellt hatte.
„Komm, ich fahre dich nach Hause.“
Keller blieb stehen. Er wollte noch nicht gleich sein altes Elternhaus aufsuchen, das leer und kalt sein würde. Er musste sich langsam wieder an diesen ganzen Ort gewöhnen. Außerdem lief er gern zu Fuß. So konnte er seine Gedanken besser ordnen – oder auch gar nicht denken, je nachdem. Er seufzte. „Sei mir nicht böse, Chef, aber ich gehe lieber zu Fuß.“
„Stimmt ja, Tom, der Flaneur.“ Meister stieg in den Wagen. „Aber du musst versprechen, mich zu besuchen, solange du hier bist. Und tu mir den Gefallen und nenne mich Wilhelm, dein Chef bin ich schon lange nicht mehr!“
Keller lief die Straße hinunter, vorbei an der Bäckerei Jean Sünder und der alten, etwas baufällig wirkenden Turnhalle, bis er plötzlich vor dem Friedhof stand. Hier war der vor Kurzem gefallene Schnee noch blütenweiß und nur von wenigen Fußspuren durchzogen. Er fand den Weg ohne Schwierigkeiten.
Henriette Keller war nur 58 Jahre alt geworden. Auf der Schneehaube, die ihr Grab bedeckte, lagen frische Blumen. Gelbe Rosen.
„Hallo Mama“, flüsterte Keller.
Sein Elternhaus lag in der Rind’schen Stiftstraße. Die Vorderfront des zweistöckigen Fachwerkgebäudes nahm der Juwelier- und Uhrmacherladen seines Vaters ein:
Heinrich Keller – Uhren und Schmuck
Fast erwartete Keller, dass sich die Tür öffnen und sein Vater heraustreten würde. Er seufzte und wandte sich der anderen Straßenseite zu. Direkt gegenüber lag Teskes Bestattungsunternehmen. Im Schaufenster prangte ein Schild mit dem geschmacklosen Reim:
Und hat die liebe Seele Ruh’, gibt Teske Rat und Trost dazu.
Keller wollte eben hinübergehen, als sich tatsächlich die Tür seines Elternhauses öffnete und ein Kammerjäger mit Desinfektionsgerät herauskam.
„Moment mal, wer sind denn Sie?“
„Ach, gehöre Se hier ins Haus?“ Der Kammerjäger sprach breitesten hessischen Dialekt und ließ sich nicht im Geringsten von dem grimmig dreinschauenden Keller beeindrucken. „Dann könne Se ja abschließe“, befand er und drückte ihm den Schlüssel in die Hand. „Isch hab nix angefasst, nur desinfiziert. Wenn die Viescher wiederkomme, rufen Se misch an.“ Er grinste breit. „Müffelt e bisselsche. Verzieht sich aber gleisch. So wie isch.“
„Witzisch“, brummte Keller und betrat nun automatisch doch noch den Laden seines Vaters.
Hier sah alles aus wie schon vor 20 Jahren. Nur die Uhren und der Schmuck in den staubigen Vitrinen waren ein klein wenig modischer geworden. In der Ecke stand der alte Bodentresor. Keller erinnerte sich lächelnd daran, dass die Zahlenkombination nach dem Hochzeitstag seiner Eltern eingestellt worden war.
Durch die Tür hinter dem Tresen betrat er die Werkstatt, das Heiligtum seines Vaters, und von dort durch eine weitere Verbindungstür die Küche. Keller erstarrte. ‚Müffeln‘ war stark untertrieben gewesen. Es stank penetrant. Zu dem typischen, süßlich moderigen Verwesungsgeruch kam eine beißende Wolke Desinfektionsmittel. Dabei sah alles so aus, als ob jemand gerade noch hier gewirtschaftet und nur eben für eine Besorgung den Raum verlassen hätte. Auf der Anrichte neben der Spüle lagen ein Kanten hart gewordenes Brot und ein grobes Messer. Krümel hatten sich über Arbeitsfläche und Boden verteilt. Auf der Herdplatte stand ein kleiner Topf mit angeklebtem, verschimmeltem Bodensatz, daneben eine leere Büchse. Sein Vater hatte sich nach dem Tod seiner Frau hauptsächlich von Fertiggerichten ernährt. Er hatte behauptet, nichts anderes kochen zu können, aber Keller wusste, dass er zu geizig gewesen war, sich frische Lebensmittel zu kaufen.
Weitere Büchsen mit Katzenfutter stapelten sich unter der Spüle. Auf dem Esstisch lagen ein einsamer Suppenteller und ein Löffel. Keller blinzelte. Tischplatte, Stuhl und Küchenboden waren von unzähligen toten Fliegen bedeckt. Sein Vater war bereits zwei Wochen tot gewesen, bevor sie ihn endlich gefunden hatten. Er war einfach unbemerkt in seiner eigenen Küche verrottet. Keller wandte sich ab, Ekel und Schuldgefühle krochen in ihm hoch. Er hatte kein besonders inniges Verhältnis zu seinem Vater gehabt, schon damals nicht, als er noch zu Hause gelebt hatte. Ab und zu hatte er aus Berlin angerufen, Besuche beschränkten sich, wenn überhaupt, auf die Feiertage. Keller lehnte sich an die Spüle und drückte die Handballen auf seine brennenden Augen. Als er sie wieder öffnete, konnte er nicht gleich wieder klar sehen, nahm aber eine Bewegung im Raum war. Keller stockte und fühlte, wie sich die Härchen überall an seinem Körper aufrichteten. An dem Tisch saß sein Vater und aß mit Fliegen gespickte Suppe aus dem vor ihm stehenden Teller.
Einen Moment konnte er sich nicht bewegen, doch dann stürzte Keller sich auf Teller und Löffel, warf beides in die Spüle und drehte den Wasserhahn voll auf. Er riss das Küchenfenster auf, schnappte sich einen Putzlappen und wischte die Fliegenleichen von Tisch und Boden auf. Nachdem er den Lappen in den Müll geschmissen und das Wasser abgestellt hatte, richtete er sich schwer atmend wieder auf. Sein Vater war verschwunden.
Keller schwitzte. Er versuchte, sich zu beruhigen und atmete tief durch, als allmählich frischere Luft den Raum füllte. Es war eine lächerliche Einbildung gewesen, Laura würde sagen, sein schlechtes Gewissen habe ihm einen Streich gespielt. Gleich darauf schrak er heftig zusammen, als er eine Bewegung im Flur wahrnahm. Aber es war nur Godzilla, ein schwarzer Kater aus Fleisch und Blut, der eines Abends einfach in der Werkstatt aufgetaucht war und seitdem regelmäßig bei seinem Vater hereingeschaut hatte. Seinen Namen verdankte er den schrägen gelben Augen und seinem ungeheuren Appetit.
„Hallo Godzilla, hast du was gefangen?“ Keller bückte sich zu dem Tier hinunter, um ihm über den Rücken zu streicheln und seinen Fang genauer in Augenschein zu nehmen. Es war aber keine Maus, was Godzilla da wie eine Trophäe im Maul trug, sondern ein Finger, halb abgenagt und eindeutig menschlich.
Keller packte den Kater am Genick und nahm ihm mit einem Taschentuch seine Beute ab. Abgestoßen fragte er sich, wie und wo das Tier den Finger wohl her hatte, den er schleunigst einwickelte und nach kurzem Zögern vorerst in die Gefriertruhe legte.
Dann öffnete er eine Dose mit Katzenfutter, Sorte Thunfisch, leerte den Inhalt in einen Napf und stellte ihn auf den Boden. Godzilla, der bei dem Geräusch des Dosenöffners laut zu schnurren begonnen hatte, stürzte sich gierig auf das Futter.
Im Flur klingelte das Telefon. Keller nahm ab.
„Heinrich?“ Es war die Stimme einer alten Frau. „Heinrich, ich bin es!“
„Hier ist Thomas Keller, der Sohn.“
„Oh, entschuldigen Sie bitte, Sie haben so ähnliche Stimmen. Ihr Vater wollte mich vom Bahnhof abholen, aber vielleicht hat er das Datum oder die Zeit verwechselt. Würden Sie ihm bitte sagen, dass ich schon im Hotel bin?“
Keller hatte plötzlich einen trockenen Mund, die Zunge klebte ihm am Gaumen. „Das geht leider nicht“, hörte er sich sagen, „mein Vater lebt nicht mehr.“
Die Frau schwieg.
„Hallo? Mit wem spreche ich denn überhaupt?“
Aber jetzt klackte es in der Leitung, und die Verbindung wurde unterbrochen. Dafür meldete sich die kleine Glocke an der Ladentür. „Hallo? Ist jemand zu Hause?“
Keller ging durch Küche und Werkstatt zurück in den Laden. Ein Mann in weißer Koch-Uniform sah ihm nervös entgegen. „Sind Sie Heinrich Kellers Sohn?“
Keller hatte langsam genug von diesem Tag. „Wer will denn das wissen?“, knurrte er.
Der Mann fing an zu stottern. „Bei der Polizei hat man mir gesagt... ich soll mich an die Angehörigen wenden, weil... Es sind noch Sachen von mir im Tresor.“
„Was für Sachen? Wer sind Sie denn überhaupt?“
„Ja richtig, Entschuldigung. Also ich..., ich bin..., ich meine, ich habe Ihren Vater gefunden.“
Keller starrte den Mann an. Er war etwa so groß wie er selbst, aber schmaler gebaut. Keller schätzte ihn auf Anfang 40, nicht viel älter als sich selbst. Wortlos wandte er sich um und ging zum Tresor.
„Kennen Sie denn die Kombination?“
Keller holte seine alte Taschenuhr hervor und stellte die Zahlenkombination nach dem darin eingravierten Datum ein. Er war schon immer schlecht darin gewesen, sich Geburtstage oder sonstige gesellschaftliche Daten zu merken.
„Schöne Uhr.“ Der Fremde sah ihm über die Schulter. „Ein Erbstück?“
Als der Tresor aufsprang, drehte Keller sich wieder zu ihm um. „Wie war das mit meinem Vater, wie genau haben Sie ihn gefunden?“
Sein Gegenüber antwortete nach kurzem Zögern. „Ich bin hier hereingekommen, der Laden war leer, also habe ich gewartet...“
„Wann war das?“
„Vorgestern Nachmittag, so um drei Uhr, in meiner Pause.“
„War die Tür auf?“
„Wie bitte? Wie meinen Sie das?“ Einen Augenblick wirkte der Mann verunsichert, dann klärten sich seine Gesichtszüge. „Ach so, nein, die Ladentür war zu, aber es war nicht abgeschlossen.“
„Und dann?“
„Als niemand kam, habe ich gerufen. Aber es kam keine Antwort, also habe ich in der Küche nachgesehen. Mir fiel gleich der merkwürdige Geruch auf. Wie umgekippte Milch. Und dann habe ich ihn da sitzen sehen.“ Er verstummte.
„Zeigen Sie es mir. Bitte!“
Widerwillig folgte der Mann ihm in die Küche und setzte sich auf den Stuhl am Tisch.
Kellers Blick fiel auf die linke Hand, die auf der Resopalplatte ruhte. Ein paar lange, blutige Kratzer zogen sich über die Finger.
„Haben Sie eine Katze?“
„Nein, wieso?“ Er folgte Kellers Blick. „Ach so, das. Nein, das ist bei der Arbeit passiert, ich bin Koch.“
Sie gingen zurück in den Laden, wo Keller den Inhalt des Tresors untersuchte.
„Was waren das für Sachen, die Sie meinem Vater zur Aufbewahrung gegeben haben?“
„Wertsachen“, antwortete der Mann schnell, „in einem schwarzen Etui, eine Art Tabakbeutel.“
Keller runzelte die Stirn. „Er ist leer, schauen Sie selbst.“
Ungläubig beugte der Andere sich vor, bis er fast mit dem Oberkörper im Tresor verschwand.
Als er sich wieder aufrichtete, hatte sein Gesicht alle Farbe verloren, Schweiß stand ihm auf der Stirn.
„Das kann nicht sein“, rief er aus, „ich war selbst dabei, als er sie eingeschlossen hat!“
„Sie?“
„Scheiße! Was mache ich denn jetzt?“ Der Mann nahm ihn nicht mehr zur Kenntnis. Stolpernd verließ er den Laden.
Keller rief ihm hinterher: „Sie sollten Anzeige erstatten!“ Dann fiel sein Blick auf das Bestattungsunternehmen gegenüber, und er murmelte. „Immer im Dienst.“
Bestattungsunternehmer Teske betrat den gekachelten Kellerraum. Er hatte eine Serviette um den Hals und schluckte hastig und schlecht gelaunt einen letzten Bissen herunter.
„In dieser Branche hat man wirklich keinen Moment Ruhe.“
„Ärger dich nicht Teske.“
Der Bestattungsunternehmer schnaubte. „Ach komm, Keller, du hast mich doch als Dreikäsehoch schon geärgert!“
Mit geübtem Griff öffnete er den Kühlschrank und zog einen der Rollschragen heraus. Darauf lag ein abgedeckter Körper.
„Weit hatte er es jedenfalls nicht, dein Herr Papa. Aber mich hat er ja nicht mit dem Arsch angeguckt. Die Leute mögen keinen Bestatter als Nachbarn. Aber irgendwann liegen sie alle bei mir im Kühlschrank.“ Teske wurde ernst.
„Willst du dir das wirklich antun? Warum behältst du ihn nicht so in Erinnerung, wie du ihn gekannt hast?“
„Gekannt“, wiederholte Keller nachdenklich. Er würde nicht behaupten, dass er seinen Vater wirklich gut gekannt hatte. Heinrich hatte stets einen gewissen Abstand zu seinem Sohn gewahrt und nach dessen Entscheidung, zur Polizei zu gehen, auch nicht mehr viel Interesse für seinen Alltag bekundet. Die Berufswahl seines Sohnes war eine Enttäuschung für ihn gewesen, bis heute verstand Keller nicht recht, warum.
„Wie du willst“, antwortete Teske und schlug das Laken zurück. „Ich warte oben im Laden.“
Der Verwesungsprozess des Körpers war wie angekündigt bereits weit fortgeschritten. Keller hatte Mühe, die Züge seines Vaters in dem sich auflösenden Gewebe wiederzuerkennen. Der Gestank, der von der Leiche aufstieg, war trotz der Kühlung intensiv. Trotzdem zwang Keller sich, näher heranzutreten und genau hinzusehen. Er schmeckte bittere Galle in seinem Mund.
Nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, deckte er seinen Vater wieder zu, als sein Blick auf dessen linke Hand fiel. Der Zeigefinger fehlte.
Teske polierte einen mächtigen Eichensarg, als Keller den Laden wieder betrat.
„Beileid übrigens“, brummte er.
„Er hat nur neun Finger!“
„Hatte er denn mal mehr?“ Teske fuhr ungerührt mit seiner Arbeit fort.
„Steht das im Totenschein?“, fragte Keller scharf.
Der Bestatter wühlte in den Papieren auf seinem Schreibtisch und las dann vor: „Exitus. Besondere Bemerkungen: keine.“ Er zuckte die Achseln. „Das ist standardmäßig bei alten Leuten, du glaubst ja gar nicht, wie schlampig die Ärzte manchmal arbeiten.“
Keller rauschten die Ohren. „Und was passiert dann jetzt mit ihm – standardmäßig?“
Teske grinste und entblößte eine Reihe gelber Zähne. „Das musst du entscheiden. Feuer oder teuer.“
Keller starrte ihn an. „Ich will, dass er obduziert wird.“
Meister war nicht im Präsidium, aber die Kollegen sagten ihm, dass der Hauptkommissar zum Mittagessen gerne ins Restaurant Stein ging. In Gedanken versunken schritt Keller durch die schmalen Altstadt-Gassen. Er war irgendwie der festen Überzeugung, dass sein Vater keines natürlichen Todes gestorben war. Etwas an der Sache stank zum Himmel.
Als er in Sichtweite des Restaurants kam, wurde plötzlich die Tür zum Kücheneingang aufgestoßen. Herausgestolpert kam der Mann, der Heinrich gefunden hatte. Er trug Kochmütze, Kittel und Schürze, die er sich jetzt wutentbrannt vom Leib riss. „Die hat sie doch nicht mehr alle!“, schrie er und lief die Straße herunter.
Gleich darauf flog die Tür erneut auf und eine junge Frau stürmte heraus. „Dann hau’ doch ab, du Arschloch!“, rief sie dem Koch hinterher. „Und glaube bloß nicht, du kannst dich nachher wieder entschuldigen!“
Die drahtige junge Frau bückte sich, um die Schürze aufzuheben. Als sie sich wieder aufrichtete, sah Keller, dass sie mit den Tränen kämpfte. Dann sah sie ihn.
„Entschuldigen Sie, aber...“ Sie mühte sich, die Fassung wiederzuerlangen.
Keller empfand eine spontane Sympathie für sie. Das mochte daran liegen, dass er sie ausgesprochen attraktiv fand, trotz der roten Flecken auf ihren Wangen und den verschwitzten Haarsträhnen, die ihr im Gesicht klebten. Sie hatte schön geformte braune Augen über ausgeprägten Wangenknochen und ein energisches Kinn, das sie zornig hervorreckte.
„Worum ging es denn überhaupt?“, fragte er ruhig.
„Der Kerl macht mich wahnsinnig!“, brach es aus ihr hervor, „ein genialer Koch, aber total unzuverlässig. Er schafft es immer wieder...“ Sie brach ab und seufzte. Dann lächelte sie ihn an. „Ach, vergessen wir das. Wollen Sie etwas essen?“
„Das scheint ja jetzt etwas schwierig zu sein, oder?“
„Quatsch. Kommen Sie herein. Worauf haben Sie Lust? Pasta und danach Fisch?“
Sie gingen hinein. Er betrachtete ihr Profil. Sie hatte eine ziemlich direkte Art und ihre Stimme klang wie ein Reibeisen. Ihrer Bemerkung über den Koch zufolge war sie wahrscheinlich die Chefin des Restaurants, Sophie Stein.
„Das klingt gut. Aber eigentlich bin ich auf der Suche nach einem Kollegen, Kommissar Meister. Ist er hier?“
Sophie Stein lachte heiser.
„Soll das ein Witz sein? Der ist jeden Tag hier, da vorne sitzt er.“
Keller folgte ihrem ausgestreckten Arm und entdeckte Meister an einem kleinen Tisch an der Seitenwand, vor sich einen Teller Pasta und ein aufgeschlagenes Buch. Sonst waren kaum Gäste im Raum. Sophie steuerte zielstrebig auf ihn zu, Keller im Schlepptau.
„Schmeckt es Ihnen, Herr Kommissar?“
„Fantastisch!“ Meister sah auf und entdeckte Keller.
„Hallo Junge, was machst du denn hier?“
Keller lächelte. „Darf ich mich setzen?“
„Selbstverständlich, nimm Platz!“
Sophie Stein verschwand in Richtung Küche. Keller blickte ihr unwillkürlich nach. Sie war fast so groß wie er selbst und sehr schlank, eigentlich fast zu dünn für seinen Geschmack. Aber sie hatte eine unglaubliche Ausstrahlung. Als ihm bewusst wurde, dass er noch immer in den leeren Raum starrte, wo sie eben langgelaufen war, wandte er sich schnell Meister zu.
„Was liest du da?“
Sein Freund zitierte:
„Sei allem Abschied voran,
als wäre er hinter dir,
wie der Winter, der eben geht,
denn unter Wintern ist einer
so endlos Winter, dass überwinternd
dein Herz überhaupt übersteht.
Rilke. Woher weißt du, dass ich hier bin?“
„In einer Kleinstadt bleiben Gewohnheiten nicht lange verborgen. Hast du doch immer gesagt.“
Meister lachte. „Ja, stimmt. Ich bin süchtig nach diesem Lokal. Die hausgemachten Panzerotti sind einfach zum Reinlegen. Mit Ricotta-Walnuss-Füllung – so etwas Herrliches findest du nur in der Provinz.“
Ein gut aussehender Kellner, offensichtlich Italiener, legte ein zweites Gedeck auf den Tisch.
Meister bat ihn, auch noch ein zweites Glas Wein von seiner Flasche zu bringen.
„Ich habe gerade so einen schönen Pauillac aufgemacht“, erklärte er Keller, der fragend die Brauen hob.
„Ein Glas zum Essen muss ja wohl drin sein, immerhin gehe ich bald in Rente. In Frankreich macht das jeder – Savoir- vivre heißt das!“
„Rilke und Rotwein, so kenne ich dich ja gar nicht, Wilhelm.“
„Du musst ja auch nicht alles wissen“, gab er zurück und schob sich eine weitere Gabel in den Mund. Dann wechselte er das Thema. „Warst du schon zu Hause?“
Keller brummte zustimmend und legte eine Plastiktüte auf den Tisch. Darin lag der Finger, den er in der Küche gefunden hatte und der offensichtlich seinem Vater gehörte.
Meister sprach mit vollem Mund: „Was ist das?“
„Heinrichs Zeigefinger. Es ist niemandem aufgefallen, dass er fehlte.“
„Das ist ja geschmacklos, Junge.“
„Und aus dem Tresor sind Wertsachen verschwunden.“
„Doch? Die Kollegen haben keine Einbruchspuren entdeckt.“
„Ich habe eine Autopsie beantragt.“
Meister schluckte und legte die Gabel zur Seite.
„Ich will sichergehen, das verstehst du doch!“, bat Keller ihn.
Der alte Kommissar sah ihn einen Augenblick forschend an, steckte dann aber das Päckchen samt Finger ein. „Und jetzt lass uns bitte von etwas anderem reden, mir kommen gleich die Nudeln wieder hoch.“
Wie auf ein Stichwort erschien in diesem Augenblick Sophie Stein und stellte einen Teller voll dampfender, duftender Pasta vor Keller ab.
„Einmal Panzerotti mit Ricotta-Walnuss-Füllung.“ Sie lächelte Keller an.
„Bekommen das hier alle Kommissare?“, fragte Meister mit gespielter Empörung.
„Ihr Kollege ist ein Kenner“, antwortete Sophie und grinste spitzbübisch, „das sieht man sofort!“
„So dick ist er doch gar nicht“, witzelte Meister, und Keller meinte, eine Spur Missgunst in seiner Stimme zu hören. Sophie Stein dachte offensichtlich das gleiche und lächelte. „Eifersüchtig?“
Der Kommissar verzog das Gesicht und wandte sich wieder Keller zu: „Guten Appetit!“
Daraufhin verschwand die Restaurantchefin in der Küche. Wieder sah Keller ihr nach, ohne den Seitenblick zu bemerken, den Meister ihm zuwarf.
Später am Nachmittag schleppte Keller zwei volle Einkaufstüten vom Supermarkt nach Hause. Er richtete sich darauf ein, länger als erwartet in Bad Homburg zu bleiben. Als er in die Rind’sche Stiftstraße einbog, sah er die Nachbarin von schräg gegenüber mit ihrer kleinen Tochter aus dem Auto steigen. Rasch trat er auf sie zu und räusperte sich.
„Entschuldigen Sie, kann ich Sie kurz sprechen?“
Die junge Frau drehte sich zu ihm um, ihre weinerliche Tochter auf dem Arm.
„Aber wirklich nur ganz kurz, es ist höchste Zeit für Neles Mittagsschlaf, was meine Kleine?“
„Ich bin der Sohn von Heinrich Keller. Wir sind uns schon einmal flüchtig begegnet.“
„Ach Gott, Sie Armer! Ich habe mir solche Vorwürfe gemacht. Jetzt wohnen wir schon fast zwei Jahre hier und man weiß so wenig über die Nachbarn. Nele ist ja hier geboren.“
Das kleine Mädchen wurde langsam ungeduldig und zappelte in den Armen seiner Mutter.
„Können Sie mir irgendetwas über meinen Vater erzählen?“
„Nein, tut mir leid, aber wir hatten so gut wie keinen Kontakt.“
„Hatte er denn noch Kunden?“
Die Frau runzelte die Stirn. „Ehrlich gesagt, ich glaube nicht. Ich habe nie jemanden in den Laden gehen oder herauskommen sehen. Wie gesagt, ich habe ihren Vater sowieso kaum gesehen. Im letzten Sommer saß er noch manchmal auf der Bank vor dem Haus. Er hat auch gegrüßt. Aber Kunden?“
Sie hob die Schultern.
„Doch der!“, krähte plötzlich das Kind und zeigte auf Sophie Steins Koch, der gerade um die Ecke bog. Als der Mann Keller bemerkte, machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand.
Keller starrte ihm noch nach, als die Nachbarin schon ihre Tür öffnete und mit Nele auf dem Arm in das Haus trat.
„Vielleicht darf ich Sie irgendwann noch einmal stören, um ein paar Fragen loszuwerden?“
„Kein Problem, klingeln Sie einfach, wann immer Sie wollen.“ Sie lächelte freundlich und schloss dann die Tür. Sie hatte Mitleid mit dem armen Kerl, wie sie auch schon Mitleid mit dem Alten gehabt hatte. Andererseits ging das nicht so weit, als dass sie zuviel ihrer kostbaren Zeit opfern wollte. Keller war klar, dass sie ihn im nächsten Moment wahrscheinlich vergessen haben würde.
Er stand noch immer mit seinen Einkaufstüten auf der Straße und starrte auf sein Elternhaus. Ihm fiel auf, dass die Farbe auf den verputzten Flächen zwischen dem Fachwerk großflächig abblätterte. Das Haus machte einen verwahrlosten Eindruck.
Schließlich riss er sich zusammen und ging hinein. Er verstaute die Einkäufe in der Küche und schnappte sich seinen Koffer, den er am Morgen im Flur abgestellt hatte. Dann stieg er die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. Rechter Hand lag das Schlafzimmer seiner Eltern. Er öffnete die Tür. Der kleine dunkle Raum wurde dominiert von einem schweren Doppelbett mit Eichenrahmen. Eine Hälfte war zerknittert und zerwühlt, während das Bettzeug auf der anderen Seite unberührt schien.
Er ging zurück und betrat das Bad, das in der Mitte des Flurs lag. Armaturen, Waschbecken und Badewanne waren von Kalkflecken bedeckt. Ein Schmutzrand hatte sich auf halber Höhe in der Wanne gebildet, offensichtlich hatte Heinrich Keller auch mit dem Wasser zu sparen gepflegt. Auf der Ablage über dem Waschbecken lagen einige wenige Kosmetik-Utensilien: ein feiner Kamm mit ein paar weißen Haaren zwischen den Zinken, ein ausgefranster Rasierpinsel, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, und ein Wasserglas mit dem Ersatzgebiss.