Inselgeister - Bent Ohle - E-Book

Inselgeister E-Book

Bent Ohle

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Beschreibung

Ein eiskalter Mord und eine brutale Entführung unter der Sonne Amrums. Die erste Fähre des Tages erreicht Amrum – mit einem Toten an Bord. Der Mann ist Opfer eines Giftanschlags geworden. Kurze Zeit später dreht ein treu sorgender Ehemann durch und entführt jemanden, den er aus der Vergangenheit zu kennen glaubt. Gibt es eine Verbindung zwischen den Taten? Auf der Suche nach Antworten deckt Inselpolizist Nils Petersen ein längst vergessen geglaubtes Verbrechen auf und bringt eine Lawine von gefährlichen Ereignissen ins Rollen.

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Bent Ohle, 1973 in Wolfenbüttel geboren, wuchs in Braunschweig auf und studierte zunächst in Osnabrück, bis er an die Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg wechselte, wo er als Film- und Fernsehdramaturg seinen Abschluss machte. Heute lebt er mit seiner Familie wieder in Braunschweig.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen – bis auf Personen der Zeitgeschichte – sind frei erfunden. Darüber hinaus sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: photocase.de/hoffi99

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-014-3

Insel Krimi

Originalausgabe

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Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.

Christa Wolf, »Kindheitsmuster«

Verbrechen der Vergangenheit zu rechtfertigen, bedeutet, den Samen für zukünftige Verbrechen zu legen.

Eric Hoffer, »The Passionate State of Mind«

Es ist schrecklich schwer, gerecht zu sein zu seiner eigenen Vergangenheit.

Marlen Haushofer, »Die Wand«

EINS

Es war ein in vielerlei Hinsicht besonderer Moment, als das Schiff von Dagebüll nach Amrum aus dem Hafen fuhr, denn es war das erste Mal, dass die Fähre nach dem zweiten Lockdown in der Coronapandemie wieder für Urlauber geöffnet war. Nach Monaten in häuslicher Isolation und mit stark reduzierten Kontakten zu anderen Menschen konnten die Leute nun wieder in die Ferien fahren, ihre Häuser, ihre Städte, ihre Umgebung verlassen und zusammen mit anderen Orte bereisen. Natürlich gab es überall noch Einschränkungen und Schutzmaßnahmen, doch das war zweitrangig. Ein Stück Freiheit wartete auf all diejenigen, die die Fähre betreten hatten und nun ungeduldig der Insel entgegenstrebten.

Der Himmel spannte sich in einem nahtlosen Blau über das spiegelglatte Wasser. Weiße Kondensstreifen, die Flugzeuge hinterlassen hatten, kreuzten sich am Firmament und wurden von einem kaum merklichen Wind verwaschen. Die Möwen am Heck des Schiffes segelten neben dem Aussichtdeck auf und ab, in der Hoffnung, einen kleinen Happen von den Snacks der Touristen abgreifen zu können.

Die »MS Uthlande« glitt, immer mehr Fahrt aufnehmend, durch das seichte Wasser und folgte unter tiefem Motorenbrummen den Kurven der Fahrrinne. Das Sonnendeck, auf dem keine Atemschutzmasken getragen werden mussten, war bei diesem Wetter natürlich voll besetzt, jedoch schien der Geräuschpegel leiser zu sein als zu früheren Zeiten. Die Menschen blickten hinaus aufs Wasser, hielten Ausschau nach den Küstenstreifen, nach Föhr und Amrum, den Seehundsbänken oder den winzigen, sich am Horizont drehenden Rädern der Windkraftanlagen. Vielleicht war ein wenig mehr Staunen und bewusstes Aufnehmen aller Eindrücke gegenwärtig als sonst, als das meiste davon scheinbar selbstverständlich gewesen war.

Holger Degemann saß zusammen mit seiner Frau unter Deck im Bordrestaurant, das ebenfalls gut gefüllt war, und blickte hinaus auf die rollenden Wellen, die das Schiff an den Längsseiten aufwarf. Vor ihm stand eine Tasse Kaffee, seine Frau trank Wasser. Eine leere Tablettenpackung Almotriptan lag neben ihrem Glas. Seit einer Gehirnoperation 2001, in der ihr ein Tumor entfernt worden war, litt sie an Migräne und war dann oft tagelang nicht in der Lage, ihr abgedunkeltes Zimmer zu verlassen. Deshalb saßen sie jetzt auch unter Deck, und sie trug zusätzlich ihre Sonnenbrille. Es war eine schreckliche Ironie, dass ihr ausgerechnet dieses wunderbare Wetter mit klarer Sicht und strahlendem Sonnenschein die größten Schmerzen bereitete.

»Geht es?«, fragte Holger nach.

Emmi nickte nur, doch ihre zusammengepressten Lippen verrieten sie.

»Es wird bestimmt bald besser«, sagte er aufmunternd und nahm über den Tisch hinweg ihre Hand. »Wir haben das tollste Haus und sind ganz für uns allein. Wir können tun und lassen, was wir wollen.«

Sie nickte erneut und drückte dabei dankbar seine Hand.

Holger setzte sein zuversichtliches Lächeln auf, das im Laufe der Jahre schon zu einem Reflex geworden war. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er seine Frau das letzte Mal ohne Schmerzen und einfach nur glücklich gesehen hatte.

Für diesen Urlaub hatten sie lange sparen müssen, ihre beiden Renten boten keine Möglichkeit für luxuriöse Reisen. Emmi arbeitete aus gesundheitlichen Gründen schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Während sie körperlich geplagt war, war Holger ein sportlicher, kräftiger Mann, der noch in der Altherrenmannschaft Fußball spielte, im Garten und am Haus viele handwerkliche Dinge erledigte und baute. Im Oktober würde er fünfundsiebzig werden, und diese Amrum-Reise war so etwas wie ein vorweggenommenes Geburtstagsgeschenk für sich und seine Frau.

»Wenn wir angekommen sind, geh ich schnell was einkaufen. Und wenn du magst, können wir dann später noch zum Strand runtergehen«, schlug er vor.

»Vielleicht, ja.« Sie blickte aus dem Fenster, so als könnte das Wetter ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Das Meerwasser glitt seidig glänzend an der Seite des Schiffsrumpfs vorüber.

Wenn wir doch nur so leicht durchs Leben gekommen wären wie diese Fähre durch das Wasser, dachte Holger. Er fuhr sich durch seine fast vollständig weiß gewordenen Haare; nicht um sie zu richten, sondern um diese Gedanken aus seinem Kopf zu bekommen. Er wollte so nicht mehr denken. Er wollte nicht mehr in der Vergangenheit leben, sondern in die Zukunft schauen. Und die Zukunft war ein wundervoller Urlaub in einem schönen Haus auf einer pittoresken Insel. Die kommenden zwei Wochen sollten sie glücklich machen. Keine Verpflichtungen, keine Einschränkungen. Einfach nur in den Tag hineinleben und tun und lassen, was man wollte.

»Ist das schon Amrum?«, fragte Emmi und blickte auf den schmalen Landstreifen rechts von ihnen.

»Nein, das muss Föhr sein.« Er reckte seinen Hals und schaute zur anderen Seite hinaus. »Da drüben sind die Halligen.«

»Sie sind hübsch anzusehen, aber aushalten würdest du es da nicht«, sagte sie.

Er lachte. »Stimmt, das wäre nichts für mich. Zu wenig Freiraum.«

»Ich würde mich arrangieren.«

»Wir können einen Ausflug dorthin machen, aber mehr nicht.«

Er griff zu seiner Kaffeetasse und stutzte.

»Wo ist mein Keks?«

»Mmh?«

»Da war ein Keks dabei, hier auf der Untertasse.«

»Hab ich nicht gesehen.«

Er sah sie an, doch seine Frau verzog keine Miene.

»Du hast ihn geklaut«, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf sie.

»Nein, wirklich nicht. Du hast einfach keinen bekommen.«

»Du hast ihn, ich kenne dich doch. Her damit!« Er streckte seine Hand aus.

»Schatz, ehrlich«, beharrte sie.

Holger beugte sich schmunzelnd zu ihr hinüber. »Ich ruf die Polizei«, flüsterte er drohend.

»Das würdest du tun?«

»Und ob.«

»Na gut.« Sie griff in ihre Jackentasche und legte die Kekspackung in seine Hand.

Sein Schmunzeln wurde breiter. »Du bist ein ganz schlimmer Finger«, sagte er und riss die Verpackung auf.

Am Nachbartisch sprang auf einmal ein Mann auf und eilte mit einer Hand vor dem Mund zum Treppenabgang, der zu den Toiletten führte.

»Der hatte wohl zu viele Kekse«, scherzte Holger und biss in das Karamellgebäck.

***

Auf der Insel war die Ankunft dieser ersten Fähre nach dem Lockdown etwas so Besonderes, dass viele Insulaner im Hafen von Wittdün waren, um dem Anlegen des Schiffes zuzusehen. Auch Nils Petersen, der Inselpolizist, hätte nicht notwendigerweise vor Ort sein müssen. Er stand, an seinen Dienstwagen gelehnt, mit zwei Mitarbeitern der Reederei zusammen und sah die »Uthlande« immer größer und größer werden, bis sie sich schließlich mit der sich langsam öffnenden Ladeluke bis an die Brücke schob. Die beiden Angestellten gingen an ihre Arbeit und ließen Nils am Wagen zurück, während unter den Zuschauern am Kai Applaus und Jubel ausbrachen. Die ersten Gäste verließen auf Fahrrädern das Deck und winkten den Spalier stehenden Leuten zu. Oben aus der Fußgängergangway strömten weitere Gäste die Rampe herunter, bis am Ende die Autos die Fähre verließen.

»Hat man doch irgendwie vermisst«, sagte Nils lächelnd und stieg wieder in sein Auto ein.

Die Ruhe und Einsamkeit, die während des Lockdowns auf Amrum geherrscht hatten, könnten nicht drastischer gewesen sein. Eine Insel, die nur auf Touristen ausgelegt war, von einem Tag auf den anderen ohne einen einzigen Gast zu erleben, war, wie in einer Zeitmaschine zu sitzen und sich zwei Jahrhunderte zurückwerfen zu lassen, in eine Zeit, in der ausschließlich Einheimische die Insel bevölkert hatten. Der große Unterschied war nur, dass hier heute jeder vom Tourismus lebte und durch den Lockdown von jetzt auf gleich um seine Arbeit und seinen Lohn beraubt worden war. Natürlich konnte man nun Dinge erledigen, die man zuvor immer aufgeschoben hatte, Reparaturen ausführen, die schon lange auf der To-do-Liste standen, doch dann fehlte es oft an den Ersatzteilen und Rohstoffen, die nicht geliefert werden konnten. Im Grunde hatten sie alle im absoluten Ausnahmezustand gelebt.

Nils war mit seinem Beruf als Polizist eine der wenigen Ausnahmen, die zumindest finanziell unabhängig von der Anwesenheit von Gästen waren. Er hatte sich dem Haus und dem Garten gewidmet, die Organisation der Coronamaßnahmen geleitet und nach vielen sehr harten beruflichen und privaten Jahren endlich einmal seine kleine Familie ganz für sich allein gehabt. Seine Frau Elke und er hatten ihre Tochter Anna zu sich geholt, die drüben auf Föhr zur Schule ging und sich im viel diskutierten Corona-Abiturjahrgang befand. Nach dem Absolvieren aller Klausuren unter Homeschooling-Bedingungen hatte sie das Abi nun so gut wie geschafft.

Es war ein wenig, als hätte jemand die Uhr angehalten, und ab heute drehten sich die Zeiger wieder weiter.

Nils folgte der Kolonne von Urlaubsgästen und sah im Heckfenster eines älteren Ford Focus »Turnier« einen Hundekopf auftauchen. Es musste ein Schäferhundmischling sein, der sich kurz orientierte und dann zu ihm blickte.

»Moin, Großer«, sagte Nils und wunderte sich, wie klar und bewusst dieser Hund ihn ansah. Während des letzten Jahres hatte er oft darüber nachgedacht, ob sie ihre Familie nicht auch durch einen Hund erweitern sollten. Anna würde bald studieren, und Elke und er würden allein im Haus wohnen, wie die letzten Jahre eigentlich auch schon, weil Anna nur an den Wochenenden und in den Schulferien bei ihnen war.

Der Hund im Wagen vor ihm schien das alles in seinen Augen zu lesen, so wie er Nils anstarrte. Er zog hechelnd die Lefzen zur Seite.

»Okay, ich denk drüber nach«, antwortete Nils dem Hund.

Der Mischling bellte einmal kurz.

»Das gibt’s doch nicht«, flüsterte Nils.

Sie hatten Nebel erreicht und passierten den Sportplatz auf der linken und die Mühle auf der rechten Seite. Er musste nur noch um die enge Kurve fahren, dann war er auch schon fast an der Polizeistation. Auf Höhe der Post klingelte sein Diensthandy, und Marvin, einer der Mitarbeiter der Fähre, rief ihn an.

»Moin, Nils. Marvin hier. Ich bin noch aufm Schiff, und es gibt ein Problem.«

»Marvin, was ist los?«

»Wir haben einen Toten an Bord.«

»Was?«

»Ja, wir … also, äh … Ich hab in der Herrentoilette einen Toten gefunden und weiß nicht, was ich tun soll …«

Jetzt erst bemerkte Nils die Aufregung in Marvins Stimme.

»Du hast alles richtig gemacht, ich komme sofort. Bis gleich.«

Nils überlegte, ob er die Sirene anschalten sollte, entschied sich jedoch dagegen. Er wendete an der Bushaltestelle und fuhr so schnell es ging zurück zum Hafen.

ZWEI

Da die ersten Gäste gerade erst auf die Insel gefahren waren, gab es auf dem Rückweg nach Dagebüll keinen großen Andrang am Hafen. Es warteten nur Liefer- und Güterfahrzeuge in einer der Spuren darauf, auf das Deck fahren zu dürfen. Nils rollte an der kleinen Schlange vorbei und parkte seinen Wagen ganz rechts an der Bushaltestelle, um dann über die Gangway das Schiff zu betreten. An den Gesichtern der Crew erkannte er sofort, wie geschockt alle waren. Auch Hansen, der Kapitän, wartete mit bitterernster Miene auf dem unteren Deck auf ihn.

»Ich hab schon den Arzt gerufen«, informierte Nils die Männer. »Kann man denn erkennen, woran er gestorben ist?«

»Nein, er kniet quasi vor der Schüssel«, sagte Hansen und führte Nils die Treppe hoch zu den Toilettenräumen, wo Marvin kalkweiß und mit Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe an der Wand lehnte.

Sie gaben sich die Hand, und Marvin deutete stumm auf die Kabine, deren Tür lose im Schloss lag. Durch den Spalt zwischen Tür und Boden konnte man die Schuhsohlen des Toten sehen.

Nils betrat den Raum allein. Es war absolut still. Entsprechend leise ging er zu der Kabinentür, streckte seine Hand aus und zog sie auf. Der Mann kniete vor der geschlossenen Toilettenschüssel, sein Oberkörper ruhte auf dem Deckel, die Arme hingen schlaff an den Seiten herab. Er trug Jeans, einen blauen Hoodie und weiße Sportschuhe. Sein Kopf ragte über den hinteren Rand der Toilette, sodass Nils zu wenig von dem Gesicht des Mannes erkennen konnte, um sein Alter zu schätzen. Er suchte an der Halsschlagader den Puls, spürte aber schon bei der ersten Berührung die erkaltete Haut.

»Marvin?«, rief Nils und erschrak über die Lautstärke seiner eigenen Stimme.

»Ja?«

Marvin kam näher und blieb hinter Nils stehen.

»Wie hast du festgestellt, dass er tot ist?«

»Ich hab ihn erst angesprochen und dann leicht auf seinen Rücken geklopft. Als er sich nicht regte, wollte ich seinen Puls fühlen, da war er aber schon ganz kalt.«

»Hast du ihn bewegt?«

»Nein. Nur am Handgelenk berührt. Es hat außerdem nach Kotze gerochen.«

»Tut es immer noch. Danke, Marvin. Kannst du den Arzt gleich zu mir reinschicken?«

»Klar.«

Marvin verließ den Raum. Nils ging in die Hocke, um zu prüfen, ob sich noch etwas anderes in der Kabine befand, wie zum Beispiel eine Jacke oder eine Tasche. Aber sie war leer. Auch in der Gesäßtasche des Mannes steckte kein Portemonnaie oder Handy.

»Marvin?«, fragte Nils erneut und trat aus der Kabine heraus.

»Ja?« Marvin erschien im Türrahmen und wischte sich über die Stirn.

»Hast du hier drin irgendwas gefunden? Tasche, Handy, Jacke oder so?«

»Nein.«

»Ist oben was liegen geblieben?«

»Auch nicht, wir hatten die Decks bereits abgesucht.«

»Also hatte er nicht mal Gepäck dabei?«

»Scheint so.«

»Und was war mit der Tür? War sie abgeschlossen?«

»Nein, sie war zugezogen, aber nicht abgeschlossen.«

»Das kommt mir irgendwie komisch vor«, sagte Nils. Er nahm sein Handy und fotografierte den Raum und anschließend die Kabine mit der Leiche aus verschiedenen Blickwinkeln.

»Denkst du, das war ein Verbrechen?«, sagte da plötzlich Dr. Knut Brenner hinter ihm, der mit einer Notarzttasche in der Hand im Türrahmen stand.

»Für einen natürlichen Tod kommt er mir ein wenig jung vor. Mitte dreißig, schätze ich. Und diese Umstände …«

»Darf ich?«, fragte Dr. Brenner, und Nils ließ ihn seine Arbeit verrichten.

»Ich kontaktiere inzwischen die Kollegen in Niebüll, nur zur Sicherheit.«

»Mach das.«

Nils tätigte den Anruf und äußerte den vagen Verdacht, dass es sich um eine nicht natürliche Todesursache handeln könne. Er wurde mit einem ihm bislang unbekannten Oberkommissar Hagen verbunden, der sich alles anhörte und am Ende des Gesprächs um die Zusendung der Fotos bat, die Nils gemacht hatte.

Die Crew des Schiffes wartete ebenfalls auf eine Ansage von Nils, der ihnen mitteilte, dass die Fähre nicht ablegen durfte, ehe der Arzt und die Polizei die Todesumstände aufgeklärt hatten.

»Aber heute ist alles ausgebucht. Wir fahren in voller Besetzung«, hielt Hansen dagegen.

»Tut mir leid, aber das hier hat Vorrang. Das Schiff wird vorerst stillgelegt. Ihr müsst eine Ersatzfähre organisieren.«

»Scheiße, und das gleich am ersten Tag.«

»Was soll ich denn sagen? Bis jetzt können wir den Mann noch nicht mal identifizieren. Und keiner der Gäste vermisst ihn?«

»Niemand.«

»Könnt ihr bitte dafür sorgen, dass das Videomaterial von den Überwachungskameras zur Verfügung steht?«

»Machen wir.«

Oberkommissar Hagen rief Nils zurück und informierte ihn, dass er persönlich zur Überprüfung des Falles auf die Insel kommen werde.

Die Fähre wurde mit dem Hinweis auf technische Probleme stillgelegt und die alte »MS Nordfriesland« als Ersatzschiff eingesetzt. Nils organisierte über das Bestattungsinstitut einen Leichenwagen, der als einziges Fahrzeug das Deck befahren durfte. Dann begab er sich, während er auf die Ankunft der Kriminalpolizei wartete, in das Restaurant und ließ sich von einem der Kellner den Sitzplatz des Opfers zeigen.

»Hier war’s, hier hat er gesessen«, sagte Juri Pesic, den alle nur »Pesi« nannten. »Laut deiner Beschreibung kann es eigentlich nur dieser Gast gewesen sein.«

Nils nahm den Sitzplatz, den Tisch und auch den Bereich unter dem Tisch in Augenschein, um vielleicht irgendeinen Hinweis, einen verlorenen Gegenstand oder ein heruntergefallenes Kleidungsstück zu finden und dadurch Rückschlüsse auf die Identität des Mannes ziehen zu können.

Als Oberkommissar Hagen kurz darauf die Insel mit einem Boot der Küstenwache erreichte, konnte Nils kaum glauben, dass der Mann schon seine Ausbildung hinter sich hatte, geschweige denn bereits Oberkommissar war. Hagen war ein großer, hagerer Kerl mit schmalem, blassem Gesicht und dunkelbraunen Haaren. Seine Frisur erinnerte ein wenig an die Pilzköpfe der Beatles, und in seinem Gesicht war kein Bartwuchs zu erkennen. Nils hätte ihn auf einundzwanzig geschätzt, wenn er es nicht besser gewusst hätte.

»Moin, ich bin Nils Petersen«, stellte er sich vor und streckte Hagen die Faust entgegen, um ein Händeschütteln zu vermeiden.

»Hagen«, antwortete der Oberkommissar, schloss seine langen Finger ebenfalls zu einer Faust und stieß sie gegen die von Nils. »Wir hatten telefoniert?«

»Genau. Wir müssen auf die Fähre dort drüben.« Nils deutete auf den Anlegeplatz, und sie setzten sich in Bewegung.

»Ich hab schon von Ihnen gehört«, sagte Hagen ernst.

»Ach ja? Inwiefern?«

»Sie haben ja schon einiges auf der Insel erlebt. Erst vorletzten Winter die Geschichte mit der Bande aus Hamburg.«

»Ja, richtig. Ich ziehe das anscheinend an, keine Ahnung.«

»Deswegen bin ich auch sofort gekommen. Sie haben inzwischen Erfahrung mit so etwas, da vertraue ich Ihrem Urteil.«

Nils musste lächeln, weil Hagen klang wie ein alter Polizist, der kurz vor der Pensionierung stand. »Darf ich Sie etwas fragen, ohne dass Sie sich angegriffen fühlen?«

»Ich bin einunddreißig.«

Nils lachte. »Sie hören die Frage öfter, was? Tut mir leid.«

»Schon gut. Ich komm damit klar.«

»Sie müssen sehr gut sein, wenn Sie so schnell aufgestiegen sind«, versuchte Nils, sich zu retten.

»Da müssen Sie meine Vorgesetzten fragen«, antwortete Hagen, ohne seinen ernsten Ausdruck zu verlieren. Er schien ein wirklich sehr nüchterner Charakter zu sein, der, wenn überhaupt, eher selten lächelte.

»Ist das ein Leichenwagen?«, fragte er mit leicht zusammengekniffenen Augen. Im Schatten des Parkdecks war der Wagen kaum zu erkennen.

»Ja, ich dachte, ich bestelle ihn lieber gleich, bevor hier die nächste Ladung Gäste ankommt und wir Aufsehen erregen.«

»Gut«, sagte Hagen nur, und sie passierten das Hinweisschild über die Stilllegung des Schiffes.

»Wir müssen ein Deck höher.« Nils ging voran in den schmalen Gang, der zu den Treppen führte. Die Fährmitarbeiter und der Kapitän hatten sich inzwischen in die Kombüse und auf die Brücke zurückgezogen. Kaum, dass Nils die Tür zur Herrentoilette zu sehen bekam, überlief ihn ein unangenehmer kalter Schauer. Er hörte, wie Hagen hinter ihm Gummihandschuhe anzog.

»Hier, für Sie«, sagte der Kommissar und reichte Nils ebenfalls Handschuhe und Fußstulpen, ehe er ein Paar davon über seine eigenen Schuhe stülpte.

»Wir waren schon ohne so etwas drin, ich hab allerdings versucht, nichts anzufassen.«

»Ist klar. Aber jetzt gehen wir auf Nummer sicher, bitte.«

»Natürlich.«

Also zog sich auch Nils die Schutzkleidung über. Hagen machte zwei vorsichtige Schritte in den Raum hinein und sah sich um.

»Hier ist alles noch so, wie Sie es vorgefunden haben?«, fragte er.

»Ja, ist es.«

»Gut.« Er ging weiter bis vor die Kabinentür, die offen stand. »Und ein Arzt war schon hier?«

»Ja. Soll ich ihn holen?«

»Bitte.«

Nils rief bei Dr. Brenner an und stutzte, als drüben auf der gegenüberliegenden Seite in der Damentoilette ein Telefon zu klingeln begann. Die Tür wurde aufgeschoben.

»Bin schon da, hab nur schnell meine Hände gewaschen«, sagte Dr. Brenner.

Kommissar Hagen blickte etwas irritiert aus der Herrentoilette in den Flur und musterte Brenner von oben bis unten.

»Guten Tag, ich bin Oberkommissar Hagen von der Kripo Niebüll.«

»Brenner. Arzt«, sagte Brenner.

»Ich würde mir den Fundort gern allein anschauen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnten Sie mir unterdessen berichten, was Ihre Untersuchungen ergeben haben?«

»Von hier draußen?«

»Genau.«

»Sicher.«

Oberkommissar Hagen zog sich in den Toilettenraum zurück, und Dr. Brenner stellte sich in den Türrahmen neben Nils.

»Haben Sie die Leiche bewegt?«, fragte Hagen, während er sich den Toten aus der Nähe ansah.

»Nur die Hose runtergezogen, um die Temperatur zu messen. Aber es hilft Ihnen wahrscheinlich nicht viel weiter, wenn ich sage, dass der Todeszeitpunkt erst vor knapp zwei Stunden war. Das ergibt sich ja schon aus der Fahrzeit«, erklärte Brenner. Nun beugte er sich etwas weiter nach vorn. »Ungewöhnlich ist, dass ich bereits eine einsetzende Leichenstarre im Kieferbereich und in den Armen erkennen konnte. Das ist sehr früh.«

Hagen ging in die Knie und berührte den rechten Arm des Toten.

»Sie haben recht. Sehr ungewöhnlich.«

»Wie kommt das?«, fragte Nils.

»Es kann mit äußeren Faktoren zusammenhängen, die hier jedoch nicht gegeben sind.« Hagen tastete den leblosen Körper des Mannes vorsichtig ab. »Es besteht aber die Möglichkeit, dass giftige Substanzen den Rigor mortis beeinflussen.«

Nils sah Brenner alarmiert an.

»Diese Tatsache in Verbindung mit Ihrem Verdacht, dass der Mann sich vor seinem Tod übergeben hat, was ich ebenfalls vermute, legt einen nicht natürlichen Tod nahe«, fügte Hagen an. »Oder haben Sie etwas anderes herausfinden können, Doktor?«

»Nein, keine Anzeichen von Fremdeinwirkung. Keine Verletzungen, ob stumpf oder scharf, keine Einblutungen in den Augen oder Erstickungsflecken, keine Hämatome, soweit ich das erkennen konnte. Aber das kann man natürlich erst durch eine Obduktion hundertprozentig sicher beantworten. Zumal ich kein Rechtsmediziner bin, nur der Inselarzt, also …«

»Ich verstehe schon. Aber Ihre Ergebnisse und die Todesumstände reichen aus, um eine Ermittlung einzuleiten«, konstatierte Hagen und richtete sich auf. Er bewegte die Finger in den Handschuhen. »Ich lasse die Kriminaltechnik kommen.«

»Wir haben auch keinen Ausweis, kein Portemonnaie oder Ähnliches gefunden«, warf Nils ein. »Das kommt mir sehr verdächtig vor. Weder hier bei ihm noch oben an seinem Sitzplatz, nirgends. Ein Mann, der allein, ohne Papiere, ohne Gepäck auf eine Insel fährt und auf der Fahrt auf diese Weise verstirbt?«

»Gut, dass Sie mich angerufen haben. Ich sehe das genauso wie Sie. Als Nächstes würde ich gern mit dem Personal sprechen, das Kontakt mit dem Mann hatte. Und ich möchte, dass Sie dabei sind.«

»Ich kümmer mich drum.«

DREI

Nils und Oberkommissar Hagen saßen mit Juri Pesic, Wolfgang Schramme, der die Gangway für die Fußgänger betreute, und Hanno Gehrich vom Kioskverkauf im Bordrestaurant an einem Tisch. Allen dreien stand der Schock noch ins Gesicht geschrieben, doch ebenso wunderten sie sich wohl, wie ein fast noch jugendlicher Ermittler Oberkommissar bei der Kriminalpolizei sein konnte.

»Vielen Dank, dass Sie sich bereit erklärt haben, uns zu helfen«, begann Hagen das Gespräch.

Schramme, wie Wolfgang von allen gerufen wurde, fragte Nils mit einem Blick, ob der Jungspund auch fähig war, das hier durchzuziehen. Nils machte ein beschwichtigendes Gesicht, und Schramme konzentrierte sich wieder auf den Kommissar.

»Wer von Ihnen stand oben an der Gangway?«

»Das war ich«, erklärte Schramme und verschränkte seine Pranken auf dem Tisch.

»Sie haben den Mann also das Schiff betreten sehen?«

»Jou. Jeder muss ja an mir vorbei.«

»Und da haben Sie sich sein Gesicht gemerkt, obwohl Hunderte Menschen an Ihnen vorbeigehen?«

»Man entwickelt ein ganz gutes Gedächtnis in meinem Beruf. Und er fiel mir auf, weil er ganz allein war und ohne Gepäck.«

»Er hatte also nichts dabei, als er an Bord ging?«

»Na ja, also keinen Koffer oder so was. Aber eine kleine Umhängetasche. Für ’n Fotoapparat, schätze ich. Dachte, er kommt zum Arbeiten auf die Insel.«

»Wie ein typischer Urlauber sah er also nicht aus?« Hagen notierte sich etwas in einem kleinen Vokabelheftchen.

»Nein. Selbst Tagesausflügler sehen anders aus.«

»Inwiefern?«

»Weiß nicht, sie sind halt im Urlaub, und das merkt man ihnen an. Er wirkte nicht sehr entspannt. Ganz im Gegenteil.«

»Aha. Wie sah er denn Ihrer Meinung nach aus?«

»Tja, irgendwie … unentspannt. Gestresst und sehr ernst.«

Wieder notierte Hagen das in seinem Heftchen.

»Haben Sie gesehen, ob er zu irgendjemandem Kontakt aufgenommen hat?«

»Nein, hab ich nicht.«

»Konnten Sie sehen, ob er ein Handy besaß?«

»Ja, ja, das hielt er in der Hand.«

»Und ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«

»Na ja, er schien zu suchen«, sagte Schramme und zuckte mit den Schultern.

»Suchen? Nach was?«

»Nach jemandem. Er guckte so, als suchte er nach einer Person.«

»Verstehe. Sehr gut«, lobte Hagen und schrieb den Hinweis auf.

»Das ist mir auch aufgefallen«, warf Pesi ein. »Er hat sich die ganze Zeit umgeschaut. Gut, er war allein, aber andere Gäste machen das nicht.«

»Sie sind der Kellner?«

»Genau, ich hab ihm einen Kaffee und eine Sprite gebracht.«

»Hat er beides getrunken, oder hatten Sie das Gefühl, dass er eins der Getränke für eine zweite Person bestellt hat?«

»Nee, hat beides getrunken. Nicht ganz leer allerdings. Die Sprite hat er nicht ausgetrunken.«

»Haben sich heute Gäste über den Kaffee beschwert?«

»Übern Kaffee? Nee, warum auch?«

»Das Opfer hat sich ja offenbar übergeben müssen, daher möchte ich ausschließen, dass mit den Getränken etwas nicht in Ordnung war.«

»Unser Kaffee kommt aus einem Automaten, da kann man nicht viel falsch machen«, sagte Hanno Gehrich.

»Wofür sind Sie zuständig?«, fragte Oberkommissar Hagen nach.

»Ich mache den Kioskverkauf.«

»Und wie sind Sie auf den Mann aufmerksam geworden?«

»Er kam zu mir, um noch etwas Milch für den Kaffee nachzuholen. Milch und Zucker gibt’s bei uns in der Selbstbedienung.«

»Aber gekauft hat er nichts bei Ihnen?«

»Nein, ich dachte es zuerst und wollte nachfragen, aber da hatte er die Milch bereits entdeckt.«

»Hatten Sie zu dem Zeitpunkt schon das Gefühl, dass es ihm schlecht ging?«

»Nein, er war ganz normal. Aber sehr ernst, das stimmt.«

»Wann hat er denn den Kaffee bestellt?«, fragte Hagen.

»Da waren wir vielleicht zwanzig Minuten unterwegs. Die Sprite erst später, so nach ’ner knappen Stunde.«

»Saß er die ganze Zeit auf seinem Platz?«, fragte Nils und sah zu Hagen, ob das in Ordnung war.

Der nickte nur und wartete interessiert auf die Antwort.

»Ja, bis er dann aufstand und verschwand«, sagte Pesi.

»Ist ihm jemand gefolgt?«

»Das weiß ich nicht. Hier gehen so viele rein und raus …«

»Habt ihr denn sehen können, als er rausging, ob er sein Handy und seine Tasche mitnahm?«, wollte Nils wissen.

Pesi und Hanno wechselten einen fragenden Blick und schüttelten dann die Köpfe.

»Nein, keine Ahnung«, meinte Hanno.

»Ich auch nicht«, fügte Pesi an. »Aber als ich den Tisch abräumte, war alles weg. Da standen nur die Tasse und die Flasche mit dem Glas, nichts weiter.«

»Gut, meine Herren, das war’s fürs Erste. Haben Sie noch etwas, Herr Petersen?«, erkundigte sich Hagen.

»Nein, hab ich nicht.«

»Dann würde ich Sie bitten, dafür zu sorgen, dass die Kondensmilch an der Selbstbedienungstheke von keinem Mitarbeiter mehr angerührt wird. Die Kriminaltechniker werden sie sicherstellen, um zu sehen, ob dort vielleicht jemand Gift injiziert hat.«

Die Männer nickten fast ein wenig erschrocken und erhoben sich dann.

***

Holger Degemann fuhr im Schritttempo den einsamen Strandweg in Nebel entlang, der mitten durch die Dünenlandschaft und den Kiefernwald führte. Die letzten Wohnhäuser und Grundstücke hatten sie schon hinter sich gelassen.

»Wir sind bestimmt falsch, hier kommt nichts mehr«, meinte Emmi und suchte die Gegend mit hinter der Sonnenbrille versteckten Augen ab.

»Aber es war so beschrieben …«, entgegnete Holger und trat plötzlich auf die Bremse. Links neben sich hatte er zwischen hohem Dünengras eine schmale Treppe entdeckt. »Hier, hier muss es sein.«

Emmi beugte sich zu ihm hinüber und blickte aus dem Fahrerfenster auf das Haus, das hinter den Hügeln zu erahnen war. »Das gibt’s ja nicht.«

»Nur für uns«, sagte Holger. »Gefällt’s dir?«

»Wir wohnen mitten in den Dünen«, sagte sie, und das erste Mal schlich sich ein Lächeln in ihr Gesicht.

»Und wir haben ein Reetdach.«

Ein paar Meter weiter, kurz vor der Waldgrenze, führte eine Auffahrt auf das Grundstück. Holger hielt an und stieg hastig aus, um Emmis Reaktion zu sehen, wenn sie das Haus in Augenschein nahm. Sie strahlte über das ganze Gesicht, als sie ihren Blick über das Gebäude und den Garten wandern ließ.

»Meine Güte, ist das schön«, wisperte sie.

»Eigentlich sind es mehrere Wohnungen, doch die sind noch nicht fertig renoviert. Wir haben auf jeden Fall den Blick nach hinten in die Dünen«, erklärte Holger und betrat den Garten, wo inmitten von Bäumen und Rosenbüschen drei weiße Strandkörbe standen. Emmi kam hinterher, umfasste seinen Arm mit beiden Händen und legte ihren Kopf an seine Schulter.

»Danke.«

Er küsste sie auf das Haar.

»Lass uns reinschauen, ja?«

Sie gingen um die Hausecke herum und betraten das Haus durch die offene Eingangstür. Ihre Wohnung lag im Erdgeschoss mit Zugang zum Garten durch ein kombiniertes Wohn-und-Ess-Zimmer mit offener Küche. Die Decken waren holzgetäfelt und das Mobiliar im skandinavischen Stil gehalten. Das Schlafzimmer blickte zur Vorderseite hinaus.

»Perfekt«, meinte Holger nach der kleinen Besichtigung und beugte sich über den Esstisch, wo eine Informationsmappe auslag. »Wir haben sogar einen Ofen. Wenn es abends kühl wird, können wir Feuer machen.«

»Das fänd ich sehr schön«, sagte Emmi und prüfte den Inhalt der Küchenschränke.

»›Holz ist im Keller gestapelt, der Schlüssel hängt neben der Tür‹«, las Holger vor. »›Im Garten stehen Ihnen auch ein Grill und eine Feuerschale zur Verfügung.‹«

Da Emmi nicht antwortete, blickte er hoch und sah seine Frau mit einer Hand an der Stirn und der anderen auf der Arbeitsplatte leicht gebückt dastehen. Das war ihre typische Haltung, wenn wieder ein neuer Migräneschub kam. Er ging zu ihr und legte vorsichtig eine Hand auf ihren Rücken.

»Leg dich einfach hin, ich lade die Koffer aus«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Sie nickte nur und schlich dann ins Schlafzimmer, wo sie die Gardinen zuzog und sich ins Bett legte.

Holger holte ohne Eile das Gepäck aus dem Wagen, sah sich immer wieder um und freute sich, wie schön dieses kleine Fleckchen Erde war. Dass es seiner Frau auch hier nicht immer gut gehen würde, war klar, aber er glaubte, dass dieser Ort irgendwie heilsam sein könnte.

Als er die Koffer und Taschen und die wenigen Lebensmittel, die sie mitgenommen hatten, verstaut hatte, setzte er sich auf die Terrasse und lauschte zufrieden den Schreien der Möwen, die leuchtend weiß über ihm schwebten. Dann entschloss er sich, im Ort noch schnell ein paar Dinge einzukaufen und sich umzusehen, ob er vielleicht ein Café oder ein Restaurant entdeckte, das sie besuchen konnten. Er wollte vorher nur kurz schauen, ob Emmi noch schlief.

Der Raum war fast vollständig verdunkelt, nur durch einen kleinen Spalt in der Mitte des Vorhangs sickerte grünliches Licht herein. Emmi lag auf dem Rücken, eine Hand über die Augen gelegt. Sie atmete ganz ruhig. Je mehr sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, desto deutlicher nahm er den rechteckigen Schemen auf ihrem Nachttisch wahr. Es gab ihm einen leichten Stich ins Herz, als er erkannte, dass sie das Foto ihres Sohnes aus ihrer Handtasche geholt und neben sich aufgestellt hatte.

***

Draußen vor den großen Panoramafenstern der »MS Uthlande« glitt die neu eingesetzte Fähre »Nordfriesland« in Richtung Dagebüll vorbei, während hier drinnen die Kriminaltechniker in ihren weißen Anzügen Spuren sicherten. Nils hatte sich eine Buchungsliste aller Fährgäste besorgt und war mit dieser nun auf der Suche nach Kommissar Hagen. Er wollte gerade die Treppe zum Restaurantdeck hinaufgehen, als ihm zwei Männer keuchend und ächzend mit einem Zinksarg entgegenkamen. Nils machte ihnen Platz und musste schlucken, als sie den jungen Mann an ihm vorbeitrugen. Er wollte etwas sagen, doch ihm kam einfach kein Wort über die Lippen. Er konnte noch nicht begreifen, wie schnell dieser Tag, der so viel Gutes versprochen hatte, zum Schauplatz einer Tragödie geworden war, die noch lange Wellen schlagen würde.

Kommissar Hagen saß abseits des Untersuchungsgeschehens an einem Tisch im Restaurant vor einem aufgeklappten Laptop und telefonierte. Nils näherte sich und legte ihm den Ausdruck auf den Tisch. Hagen bot ihm daraufhin mit einem Handzeichen den Platz gegenüber an und beendete das Gespräch.

»Einen Moment bitte«, sagte er und tippte noch rasch etwas in den Laptop. »Okay, entschuldigen Sie. Was haben Sie da mitgebracht?«

»Die Buchungsliste«, antwortete Nils. »Namen und Autokennzeichen aller Fahrgäste. Leider müssen wir die Unterkünfte noch in Erfahrung bringen.«

»Sehr gut, doch alle werden wir nicht sprechen können. Wir müssen das restliche Personal fragen, wer Kontakt mit ihm hatte, und das Videomaterial sichten.«

»Mit den Unterkünften kann ich aber helfen«, bot Nils sich an. »Das bringe ich in Erfahrung.«

»Das wäre großartig. Ich würde mich freuen, wenn Sie bei den Ermittlungen auf der Insel eng mit uns zusammenarbeiten würden.«

»Selbstverständlich.«

Hagen lehnte sich zurück und betrachtete Nils mit einem prüfenden Blick. »Was, denken Sie, ist hier passiert?«, wollte er wissen.

»Es ist noch ein bisschen früh, das zu sagen«, entgegnete Nils. »Aber für alle denkbaren Möglichkeiten, die auch Mord einschließen, sind die Umstände immer noch ungewöhnlich.«

»Wie steht’s mit Drogen hier auf der Insel?«, fragte Hagen.

»Ist zu vernachlässigen. Der Handel läuft, wenn überhaupt, auf dem Festland. Soweit ich weiß, gibt es da ein paar Plätze entlang der B 5, in Tönning zum Beispiel. Aber das wissen Sie vermutlich besser als ich.«

»Ja, mich beschäftigt diese Tasche, die er offenbar dabeihatte. Ich dachte gleich an einen Kurier.«

»Vielleicht entdecken wir sie auf einem der Videos«, meinte Nils und schüttelte dann den Kopf. »Aber wer bringt denn einen Drogenkurier mit Gift um? Und warum?«

»Falls es Gift war, das wissen wir noch nicht.«

»Und wenn er kein Kurier war, was wollte der Mann dann auf der Insel? Keine Begleitung, kein Gepäck. Ich hab mich schon mal ein wenig umgehört, ob jemand einen Mitarbeiter oder einen Vertreter vermisst, der nicht erschienen ist. Aber Fehlanzeige bis jetzt.«

»Falls es doch ein Fotoapparat war, könnte er von einer Zeitung sein. Das kann ich prüfen lassen.«

»Und diese Theorie von einem Giftanschlag über die Kondensmilch, die Sie vorhin geäußert haben, halten Sie das für plausibel?«

»So etwas hat es schon relativ oft gegeben, allerdings mehrheitlich in Supermärkten«, erklärte Hagen. »Aber dann wäre es ein Wunder, dass nur eine Person betroffen ist und nicht mehrere.«

»Ich hab auch nicht das Gefühl, dass er ein Zufallsopfer ist«, sagte Nils. »Ausgerechnet derjenige, der kein offensichtlicher Tourist ist, wird zufällig ermordet?«

»Noch wissen wir auch das nicht«, relativierte Hagen Nils’ Aussage.

VIER

Holger hatte sich, nachdem er vor die Tür getreten und zum Strunwai hinuntergegangen war, entschieden, zuerst den Strand zu erkunden. Er war neugierig, wie die Dünen, die Weite des Strandes und das Meer aussehen würden. Vielleicht konnte er ja schon einen Strandkorb für sich und Emmi reservieren, von dem aus sie den schönsten Blick hatten. Sie mochte es gern etwas abseits, nicht mitten im Trubel mit lautem Kindergeschrei und Leuten, die Fußball oder Volleyball spielten. Den Ort konnte er auch noch später erkunden. Wenn es Emmi besser ging, könnte sie ihn begleiten.

Er lenkte seinen Schritt also nach links und trat unter das Schattendach des Kiefernwaldes, der hier begann. Parallel zur Straße verlief ein Fußweg, auf dem ein Teppich aus Licht- und Schattenflecken lag, sodass man meinen konnte, man ginge auf dem Fell eines riesigen schlafenden Leoparden spazieren. Es roch herrlich nach dem kräftigen Aroma von warmem Kiefernharz. Hin und wieder überholten ihn Radfahrer auf dem Weg zum Strand, Familien mit aufgepusteten Schwimmtieren und klappernden Schaufeln im Gepäck. Er lächelte, als er mit festem Schritt dem Meer immer näher kam und es allmählich hören und riechen konnte.

Der Weg endete in einer Parkfläche für Autos und Fahrräder. Rechter Hand gab es ein kleines pavillonartiges Restaurant mit einem Außensitzbereich, der bis auf den letzten Platz gefüllt war. Kurz dahinter begann auch schon der Bohlenweg, der zwischen zwei Dünen hindurchführte und dann abfallend auf das weit entfernte Wasser zulief. Holger blieb kurz stehen und genoss den phantastischen, weitläufigen Blick über die weiße Sandwüste, die von bunten Strandkörben übersät war und ganz weit hinten in Richtung Horizont vom königsblauen Wasser begrenzt wurde. Zwei, drei Personen gingen an ihm vorbei, ehe auch er sich wieder in Bewegung setzte und den Strandkorbvermieter fand, bei dem er sogleich einen Korb bestellte, der am rechten Rand der Strandzone, nahe den Dünen, stehen sollte. Er bezahlte für zwei Wochen und war sich sicher, damit Emmi eine große Freude zu bereiten.

»Es ist die Nummer 214, roter Korb mit weißer Schrift. Steht schon da. Sie haben Glück, ist einer der letzten«, informierte ihn der Vermieter und riss das Quittungsblatt vom Block. »Viel Spaß und einen schönen Aufenthalt hier in Nebel.«

»Werden wir haben. Danke sehr«, sagte Holger und hob die Hand zum Abschied.

Auf dem Weg zum Strandkorb zog er sich die Schuhe aus und stapfte durch den feinen Sand. Ein kühler Wind wehte hier unten und ließ die Sonne weniger heiß erscheinen, als sie war. Er kam an einer Gruppe von älteren Leuten vorbei, die ihre vier Strandkörbe mit ausladenden Wällen und Gräben umzäunt hatten. Eine viel zu mühselige Arbeit, fand Holger, dem dieses Burgenbauen bei Erwachsenen eh nicht ganz geheuer war.

Nach etwa dreißig weiteren Metern hatte er die Nummer 214 erreicht, schloss auf und ließ sich rückwärts hineinplumpsen. Er verschnaufte kurz und drehte den Korb schließlich so, dass er im Schatten saß, aber immer noch aufs Meer schauen konnte.

»Perfekt«, sagte er zufrieden und streckte die Beine aus.

Eine halbe Stunde später schreckte er durch ein Geräusch aus dem Schlaf. Er war eingenickt. Holger sah auf die Uhr und fand, dass es Zeit war, zurück zum Haus zu gehen und zu schauen, wie es Emmi ging. Er rieb sich die müden Augen und beeilte sich dann, wieder nach Hause zu kommen.

Oben am Restaurant angekommen, merkte er, dass er immer schwächer wurde. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen, und die Fahrt steckte ihm noch in den Knochen. Daher beschloss er, sich am Kiosk des Restaurants schnell eine Cola oder ein Eis zu holen, um seinen Blutzuckerspeicher wieder aufzufüllen. Er reihte sich in die kleine Schlange vor der Ausgabe ein. Seine Knie fühlten sich an wie Pudding. Hoffentlich beeilen sich die Leute vor mir mit dem Bestellen, dachte er unruhig und lenkte seinen Blick nach rechts zum Strandabgang. Dann sah er ihn, und alle anderen Gedanken waren auf einen Schlag aus seinem Kopf verschwunden. Es war, als hätte er niemals einen anderen Gedanken gehabt als diesen einen, der sein ganzes Bewusstsein in Anspruch nahm: Das ist er!

Holger sah den Mann in Freizeithose und kariertem, kurzärmeligem Hemd vom Bohlenweg auf den Asphalt treten. In einem solchen Aufzug hatte er ihn noch nie gesehen, aber er erkannte ihn sofort. An seiner Körperhaltung, den leicht vorgebeugten, schmalen Schultern, der leicht ausgestellten Handhaltung, wenn er ging, und natürlich an den Augen. Diese Augen würde er nie vergessen. Sie schienen etwas zu groß zu sein für sein schmales Gesicht, und das linke schaute etwas nach außen. Er trug sogar immer noch den Schnäuzer, dessen Haare inzwischen ergraut waren.

»Hallo? Was möchten Sie denn, bitte?«, hörte Holger eine Stimme fragen. Er realisierte, dass er an der Reihe war zu bestellen. Die Dame blickte ihn fragend an und deutete auf die Wartenden hinter ihm. »Sie müssen etwas bestellen.«

»Ich … äh … nein danke. Schon gut.« Er winkte ab und entfernte sich aus der Schlange. Mürrisch rückten die anderen nach, doch er registrierte das nicht. Er hatte nur Augen für den Mann. Anscheinend war er ganz allein und ging zu Fuß nach Hause.

Holger trat auf die Straße. Sein Mund war staubtrocken, er schluckte, doch er bekam keine Spucke zusammen und musste husten.

Er war es. Ganz sicher. Es konnte keinen Zweifel geben. Und er lief ihm hier einfach so über den Weg, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Aber wie hoch war schon die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich hier trafen? Oder dass sie sich überhaupt jemals wiedersahen? Vielleicht in Berlin oder einer anderen Großstadt, aber hier?

Holger blickte ihm hinterher. Inzwischen lagen gut fünfzig Meter zwischen ihnen.

Es war wie ein Wink des Himmels. Als ob Gott ihm ganz plötzlich, nach all den Jahren, ein hässliches, boshaftes Geschenk vor die Füße warf. Was sollte er nun damit anfangen?

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steckten mehrere Schaufeln im Sand, die man für zwei Euro pro Tag ausleihen und das Geld in eine kleine Box einwerfen konnte. Holger nahm eine davon, ohne zu bezahlen, und folgte ihm.

Jetzt, um diese Zeit, waren sie die Einzigen, die auf diesem Weg vom Strand weggingen. Alle anderen kamen ihnen entgegen, lachten, flachsten miteinander und unterhielten sich, wie man es in der normalen Welt tat. Holger war stumm. Den Urknall, unter dessen Eindruck er stand, hatte außer ihm niemand wahrgenommen. Wie ein Unsichtbarer ging er an all diesen unwissenden Urlaubern mit ihren nichtigen Vorhaben vorbei. Er hörte seine Schritte auf dem von vertrockneten Kiefernnadeln übersäten Boden. Er ging schnell und holte immer mehr auf. Als das Waldstück begann, war er bis auf zehn Meter an ihn herangekommen. Der Mann schien ihn nicht zu hören, er ging einfach nur geradeaus den Weg entlang.

Holger hatte keinen Plan, hatte keine Vorstellung von dem, was er im Begriff war zu tun. Er handelte wie von einer fremden Macht gesteuert. Jetzt waren es nur noch fünf, sechs Meter bis zum Ende des Waldstücks. Holger fasste die Schaufel mit beiden Händen, machte zwei schnelle Schritte und holte im Beschleunigen weit aus. Das Schaufelblatt sauste durch die Luft und traf ihn mit einem metallischen Gong! an der oberen Schläfe. Fast lautlos, ohne einen Schrei oder eine andere Reaktion, sackte er in sich zusammen, fiel nach rechts auf die Böschung und blieb regungslos liegen.

Holger stand über ihm und sah ihn an. Er war es. Kein Zweifel. Er warf die Schaufel über die Hecke ihres angrenzenden Grundstücks, ging zurück, packte ihn an beiden Armen und schleifte ihn die Auffahrt hoch bis zu ihrem Haus.

***

1989

Marcel richtete ein letztes Mal seine Haare im Spiegel auf dem Flur, zupfte ein paar honigblonde Strähnen aus seiner Tolle etwas tiefer in die Stirn, setzte seinen James-Dean-Blick auf und schnappte sich die Haustürschlüssel. Er verließ die Wohnung, obwohl er wusste, dass er schon spät dran war, im lockeren Schritt und vor sich hin pfeifend.

Von seiner Wohnung in der Potsdamer Uhlandstraße brauchte er zu Fuß knapp zwanzig Minuten bis zu der Party in der Virchowstraße. Alle Größen würden heute dort sein, und er war sich sicher, dass er nicht nur sehr viel Spaß haben würde, sondern mit etwas Glück vielleicht auch eine neue Rolle. Mit seinem letzten Film hatte er sich endlich einen Namen bei der DEFA gemacht. Nach vier Filmen, in denen er nur kleine Nebenrollen bekommen hatte, war jetzt seine Zeit, um richtig durchzustarten, auch wenn er das Studium an der Filmhochschule noch nicht abgeschlossen hatte. Die alte Riege der DEFA hatte ausgedient, eine neue, frischere Truppe würde bald das Zepter übernehmen und neue Geschichten erzählen, mutige, moderne Geschichten. Er wollte auf jeden Fall ein Teil davon sein.

Als er die Karl-Marx-Straße erreichte, meinte er, in einem der dort parkenden Wartburgs zwei Personen zu erkennen, doch das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich so ungünstig in den Scheiben, dass er es nicht mit Sicherheit sagen konnte. Auf der Straße war er um diese Zeit ganz allein unterwegs. Hier und da brannte noch ein Licht in den großen Villen, doch als er in die Virchowstraße einbog, vernahm er schon die Musik. Kurz bevor er durch die hohe Gartenpforte trat, sah er weiter hinten auf der Straße noch einen Wartburg unter einer Laterne parken, bei dem das Beifahrerfenster heruntergekurbelt war. Er ignorierte das und betrat das Grundstück.