Inselschatten - Bent Ohle - E-Book + Hörbuch

Inselschatten E-Book und Hörbuch

Bent Ohle

4,9

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Amrum unter Schock: Auf der Insel wurde eine Tote gefunden. Elke, die Frau des Inselpolizisten Nils, entdeckt kurz darauf in einer Hamburger Galerie ein Porträt des Opfers – gemalt vom Täter selbst: Das Bild gibt versteckte Hinweise auf Todestag und Fundort der Leiche. Elke und Nils machen sich auf die Suche nach dem Mörder, der ihre Insel heimsucht, denn Elke hat einen dunklen Verdacht.

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Seitenzahl: 631

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Zeit:15 Std. 56 min

Sprecher:Hans Henrik Wöhler

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Bent Ohle, 1973 in Wolfenbüttel geboren, wuchs in Braunschweig auf und studierte zunächst in Osnabrück, bis er an die Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg wechselte, wo er seinen Abschluss als Film- und Fernsehdramaturg machte. Heute lebt er mit seiner Familie wieder in Braunschweig.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Sabine Lubenow/LOOK-foto Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-983-7 Insel Krimi Originalausgabe

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Die Kunst ist lang,

und kurz ist unser Leben.

Johann Wolfgang von Goethe, »Faust

Prolog

Der Tag begann wolkenlos. Obwohl der Himmel in seinem hellen Blau so leicht schien, lag eine zum Schneiden schwere Schwüle in der Luft. Kein Windhauch ging, zumindest nicht an Land. Auf dem Wasser reichte die leichte Brise gerade aus, um die Segel der kleinen Boote in der Bucht ein wenig aufzublähen und sie behäbig dahinschippern zu lassen.

Sven war ein erfahrener, ehrgeiziger Segler, doch heute würden sie den geringen Wind für einen kleinen Familienausflug auf See ausnutzen. Nur an einem solchen Tag traute sich seine Frau Marga in die Jolle, die in Steenodde im Hafen lag.

Das Boot hatte Sven vor einigen Jahren in Eckernförde gekauft, um damit seinen »Lebensabend«, wie seine Frau es nannte, einzuläuten. Er hasste dieses Wort. Er war ein Sportsegler und hatte an vielen Regatten teilgenommen. Doch nun, da er langsam in die Jahre kam, musste er sich von dem aktiven Sport verabschieden. Auch weil seine Knochen nicht mehr so mitmachten, wie sie sollten. Arthrose hatte seine Ellbogen- und Hüftgelenke zerfressen. An manchen Tagen waren die Schmerzen so stark, dass er sich nur noch mit einer Handvoll Schmerztabletten ins Bett legen konnte. Sein Schreibtischstuhl blieb dann leer, doch das Nötigste konnte er auch vom Bett aus erledigen. Er besaß eine Dachbaufirma auf Amrum. Ein Familienunternehmen, das auf gesunden Beinen stand, denn auf einer dem Wind und heftigen Stürmen ausgesetzten Insel wie Amrum waren Dacharbeiten immer gefragt, erst recht, wenn der Tourismus es verlangte.

Die »Marlene«, wie sie das Boot getauft hatten, war eine Idee seiner Frau gewesen, ein fauler Kompromiss, wie er fand. Sie wollte, dass er langsam »zur Ruhe kam«, wie sie es nannte, daher hatte er sich nach einem »Familienboot« umschauen sollen. Er konnte es nicht leiden, wie seine Frau sich manchmal ausdrückte. Ihr Gerede verursachte bei ihm Kopfschmerzen, und mitunter meinte er, dass seine Arthroseschübe Reaktionen auf Margas dummes Geschwätz waren. Wenn er Schmerzen hatte, ließ sie ihn in Ruhe.

Seine Vorfreude auf den heutigen Tag hielt sich daher in Grenzen. Es war morgens um zehn Uhr schon an die siebenundzwanzig Grad heiß, und er war bereits durchgeschwitzt, als er die paar Minuten mit dem Rad bis nach Steenodde zurückgelegt hatte. Er sollte hier alles vorbereiten, obwohl es nichts vorzubereiten gab. Aber so hatte er ein wenig Zeit für sich allein, bevor Marga mit Essen für acht Personen und Klamotten, die für drei Tage reichen würden, nachkam.

Marga war im Keller und suchte verzweifelt nach den Friesennerzen, die eigentlich in einem der Kleiderschränke hier unten hätten hängen müssen. Ratlos blieb sie in der Mitte des niedrigen Raumes stehen und wischte sich mit dem Ärmel eine Haarsträhne aus der verschwitzten Stirn. Im Keller war es angenehm kühl, und sie hoffte, dass es später auf dem Meer auch eine kühlende Brise geben würde, denn die seit Tagen andauernde Hitze war einfach niederschmetternd. Jeden Abend fiel sie wie tot ins Bett, und in der Nacht wachte sie wieder auf, weil es immer noch zu warm war im Schlafzimmer. Wurde Zeit, dass das aufhörte. Irgendwann, so schnell wie möglich, wenn es nach ihr ginge, musste ein Gewitter kommen, auf das endlich ein Wetterwechsel folgte.

Sie schlug sich auf den Oberschenkel, als ihr wieder einfiel, dass die Regenjacken noch im Rucksack waren. Der stand oben in ihrem Schlafzimmer.

Sie stieg die Treppe hinauf, und mit jeder Stufe schien es ein Grad wärmer zu werden. In der Küche stand bereits die Sonne und spiegelte sich grell auf dem Fliesenboden und dem Herd. Die geschmierten Brote, etwas Obst und ein Rest kalter Braten von gestern Abend waren sorgfältig in Tüten und Tupperdosen verpackt. Drei Flaschen Wasser standen bereit. Sie bezweifelte beim Anblick der Lebensmittel, dass sie alles in einem Rucksack unterkriegen würde, und konnte Sven jetzt schon deswegen fluchen und spitze Bemerkungen machen hören. Er war so oft so schrecklich genervt von ihr.

Eine drückende Angst lastete auf ihren Schultern, dass ihr Mann sie nicht mehr liebte, dass er nur aus reinem Pragmatismus oder vielleicht auch aus reiner Faulheit bei ihr blieb. Sie spürte nichts mehr zwischen ihnen. Keine Nähe, keine… keine… Sie suchte nach dem richtigen Wort und biss sich dabei mit den oberen Schneidezähnen auf die Lippe.

Keine Verbindung. Das war es. Es gab nichts mehr, das sie verband. Aber so ein Familientag wie heute konnte daran vielleicht etwas ändern und ihm ins Gedächtnis rufen, wie es früher einmal gewesen war.

Ist es jemals anders gewesen? Sie hörte in ihrem Innersten ihre eigene Stimme diese Frage stellen. Doch, sicher, antwortete sie sich selbst. Sie stopfte das Essen in eine große Tragetasche. Sie würden es sich gut gehen lassen heute. Es würde ein wunderbarer Tag werden, trotz der Hitze und allem anderen. Sie waren schließlich eine Familie.

Die heiße Luft drückte wie ein Gewicht auf das Land, und Sven fühlte sich schon ein wenig duselig im Kopf, so als hätte er zwei, drei Bier getrunken, als die beiden endlich auf der Mole erschienen. Kopfschüttelnd nahm er die zwei Taschen und den Rucksack zur Kenntnis, die Marga bei sich trug. Der Junge sah wie immer völlig abwesend aus, so als interessierte ihn gar nichts auf dieser Welt.

»Hallo, du!«, rief seine Frau vom Steg aus. Auch so ein Begrüßungssatz, den er nicht mehr hören konnte.

»Kommt schon, es wird sonst zu spät«, maulte er und löste das Tau. Das Boot begann zu schwanken, als die beiden einstiegen, doch Sven tarierte sich geübt aus und stieß das Boot ab. In der Bucht waren noch sieben oder acht weitere Jollen unterwegs. Unerträglich langsam, wie Sven fand. Er wollte weit rausfahren, um etwas Wind zu bekommen, doch das Wasser, dem das nahtlose Blau des Himmels seine satte Farbe verlieh, lag da wie ein flüssiger Spiegel, und die schwach rollenden Bugwellen der »Marlene« glitten ölig zur Seite fort.

Der Junge hatte sich an den Bug gesetzt, während Marga steuerbords saß, mit all den Taschen zwischen ihren Füßen, und irgendwie verklärt in die hoch stehende Sonne blickte.

»Es ist wunderschön«, sagte Marga mit einer leisen, aber klaren Stimme.

Die Augen ihres Sohnes drehten sich zu ihr, ohne dass er ihr seinen Kopf zuwandte. Sie wartete auf so etwas wie eine Antwort von Sven, doch der schob nur das Ruder weit nach Backbord und kreuzte den Weg der Segler, die hier in einer Linie zwischen Wittdün-Hafen und der Mole in Steenodde herumschipperten. Er steuerte weiter hinaus, wenn auch langsam, in die Fahrrinne, die zunächst südöstlich verlief und dann eine Kehre in Richtung Nordwesten auf Sylt zu machte.

»Hast du was zu trinken dabei?«, fragte Sven.

»Sicher.« Marga öffnete die Tasche und zog eine der Flaschen heraus.

Sven trank sie fast zur Hälfte leer und gab sie zurück.

»Du auch?«, fragte sie und hielt ihrem Sohn die Flasche hin.

Lars schüttelte aber nur den Kopf und blickte hinaus aufs Meer.

»Gut, dass wir das gemacht haben. Das Beste an so einem Tag«, sagte sie.

Auch dieser Satz blieb unbeantwortet. Nur der Wind wurde etwas stärker und blähte das Segel wie zur Bestätigung auf. Sven blickte nach oben in das weiße Tuch.

Lars, der den Blick weiterhin fest auf den Horizont gerichtet hatte, konnte bereits sehen, was den Luftzug verursacht hatte. Im Rücken seines Vaters, an der Westseite von Föhr, zogen schiefergraue Wolken auf. Es war ein sich schnell vorwärtsbewegendes, scheibenförmiges Gebilde, das sich wie ein Dach über den Horizont spannte. Das eisglatte Meer hatte seine Farbe urplötzlich gewechselt, ein gefährliches Braun breitete sich aus, und die Oberfläche kräuselte sich im aufkommenden Wind.

»Endlich«, sagte Sven, und eine freudige Spannung straffte seinen Körper. Marga konnte die Wolkenwand nicht sehen. Das Großsegel versperrte ihr die Sicht.

Sie glitten immer schneller dahin, weg von der Mole. Die anderen Segelboote waren wieder im Hafen oder steuerten darauf zu. Lars hörte das Wasser gegen den Rumpf plätschern. Nur noch wenige Minuten, und die riesige Wolkenformation würde die Sonne erreichen.

Mit einem Mal kam ein kräftiger Windstoß. Die Segel strafften sich mit einem tiefen Geräusch, das fast wie eine Explosion klang, und die Stagreiter an der Fock klirrten. Das Boot machte einen Satz nach vorn, und Marga ließ einen hohen Schrei hören. Sie klammerte sich an die Bootswand. Sven drehte sich um und sah das Gewitter, das über Föhrs Westseite walzte. Dann wurde es dunkel, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Die Sonne war verdeckt, und wieder schrie Marga.

»Sven, was ist los?«, rief sie und lief schwankend, fast auf allen vieren, zu ihrem Mann an das Heck. Sie blieb wie eingefroren stehen, als sie hinter dem Großsegel das Unwetter erkannte. Ihr Mund öffnete sich, doch bevor sie ein Wort herausbringen konnte, löste sich ein Donnern aus dem schiefergrauen Monster. Erst ein Krachen wie brechendes Eis, gefolgt von einem Reißen, und dann zwei tiefe, alles erbeben lassende Paukenschläge. Marga verlor das Gleichgewicht und fiel auf ihren Hintern.

Sven brachte mit ein paar schnellen Handgriffen das Boot zum Kehren. Der Baum schwang gefährlich nah über Margas Kopf hinweg. Ächzend fuhr die alte Jolle eine Rechtskurve, und der Wind, der immer lauter wurde, drückte die Segel zur Seite, sodass das Boot zu kippen drohte. Margas prall gefüllte Taschen fielen um, Äpfel und Brötchen kullerten über das Deck.

»An den Mast!«, befahl Sven und blickte zu den Wolken hinauf, aus denen nun ein prasselnder Regen auf sie niederstürzte. Marga schrie erneut, und diesmal konnte man ein Lächeln auf Svens Gesicht erkennen. Der plötzliche Wetterwechsel und das Manöver im aufkommenden Sturm schienen ihm Freude zu bereiten.

Mutter und Sohn klammerten sich an den Mast. Um nicht nach Backbord wegzurutschen, stemmte Lars die Füße gegen die Bordwand. Seine Mutter hing liegend am Fuße des Mastbaums. Die Krängung wurde immer heftiger, und die kleine Jolle nahm noch mehr Fahrt auf.

»Nach Steuerbord!«, schrie Sven die beiden an. »Sonst kentern wir. Nach Steuerbord!«

Er stand wie Kapitän Ahab am kleinen Ruder der »Marlene«, die dem Unwetter jetzt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Wieder erschütterte ein Donner die Luft, und kurze Zeit später zischte ein Blitz aus dem schwarzen Ungetüm. Er erhellte alles um sie herum.

»Bewegt euch!«, schrie Sven, und sein Lächeln war verschwunden. Der Blitz war irgendwo auf Föhr niedergegangen. Das war nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt.

Lars kämpfte sich mühsam zur Steuerbordseite hoch. Seine Mutter rutschte mit ihren Schuhen immer wieder hilflos auf dem nassen Deck ab. Er blickte zur Mole zurück, um die Entfernung abzuschätzen, doch in dem Regen, der wie ein grauer Vorhang vom Himmel fiel, konnte er Amrum nur noch schemenhaft erkennen.

»Haaa!«, hörte er seinen Vater schreien. Es klang wie eine Kampfansage an den Sturm oder an seine eigene Angst.

Lars schaffte es, sich mit beiden Händen an der schmalen Reling festzuklammern. Er hievte sich nach oben und lag jetzt mit der Brust auf der Bordwand. Er konnte das Wasser unter sich vorbeischießen sehen. Sie waren zur Spitze der Flut im Hafen gewesen, und das nun wieder ablaufende Wasser ließ ihre Fahrt umso schneller erscheinen. Dann brach ein erneuter Donner über sie herein, und nur eine Sekunde später zuckte ein Blitz über den Himmel. Lars konnte ihn spüren und riechen. Schmerz breitete sich in seinem Kopf aus, und als er aufblicken wollte, blies ihm eine Bö entgegen, die selbst wie ein Donnern klang. Er fühlte, wie er nach oben katapultiert wurde. Die Bö hob das Boot an und stellte es senkrecht, dann baumelten seine Beine in der Luft, und im nächsten Moment stürzte das Boot auf ihn nieder.

Sie kenterten etwa zweihundert Meter von der Mole entfernt. Der Mast samt Segeln krachte aufs Wasser. Marga und Sven schrien, dann versanken sie im gurgelnden Wasser. Unter der Oberfläche lief alles wie in Zeitlupe ab. Der Mast mit den Segeln sank herab und beschrieb einen Halbkreis, bis er senkrecht nach unten in die Tiefe zeigte. Marga und Sven tauchten dicht nebeneinander unter der Backbordseite der Jolle hindurch, die nun verkehrt herum über ihnen im Wasser lag. Marga strampelte panisch mit den Beinen. Ihre mit Wasser vollgesogenen Kleider zogen sie nach unten in die Tiefe. Ihr Haar waberte wie eine braune Wolke um ihr weiß schimmerndes Gesicht, aus dem die Augen Sven wie Eiskristalle anblickten. Sie streckte ihre Arme nach ihm aus, und er packte sie am Ärmel. Mit aller Kraft arbeitete er sich nach oben und zog seine Frau hinter sich her. Unendlich lange brauchten sie für dieses kleine Stück bis zur Wasseroberfläche.

Endlich bekam Sven etwas zu fassen und zog sich an die rettende Luft. Sofort schlug eine Welle in sein Gesicht, und er schluckte Wasser. Mit letzter Kraft riss er am Ärmel seiner Frau, und da tauchte auch schon ihr Kopf aus dem schäumenden Wasser auf. Sie sog Luft in ihre Lungen und ging gleich wieder unter. Nur ihre Hände blieben suchend an der Oberfläche, bis sie den Rumpf des Bootes gepackt hatten.

Sven legte seine Hände ebenfalls auf den Unterboden der Jolle. Die Strömung zog an seinen Beinen, während die Wellen seitlich gegen ihn schlugen. Jetzt hatte es auch Marga geschafft. Und als sie sich weiter nach oben ziehen wollten, blickten sie in das Gesicht ihres Sohnes. Wie seine Eltern war er den Fluten entkommen und hatte sich auf das Boot gekämpft. Sie waren gerettet. Alle drei.

Marga, die unter Wasser bereits damit gerechnet hatte, zu sterben, und ihr ganzes Leben als eine einzige Reihe verpasster Chancen sah, die nun ein für alle Mal vertan waren, schöpfte wieder Hoffnung. All ihre Fragen, was sie in ihrer Ehe hätte besser machen können, wie sie an manchen Stellen auf Sven hätte zugehen können, waren nun wie weggespült. Sven hatte sie gerettet. Er liebte sie doch noch. Da war noch immer eine Verbindung zwischen ihnen, an der sie beide bis zum letzten Atemzug hatten festhalten wollen. Das war ihr nun klar, und das Unglück kam ihr vor wie ein Segen. So nah wie jetzt, da sie sich im tosenden Gewitter an das gekenterte Boot klammerten, so nah waren sie sich noch nie gewesen. Und wenn sie in Svens Gesicht sah, wusste sie, dass auch er so fühlte.

Jetzt wird alles besser werden, dachte sie und blickte hoch zu ihrem Sohn.

Teil 1 Motivsuche

It’s the wake of all evil

A universal mess

I’ve always found trouble

Even at my best

No hopes to get better

’till they put me down to rest

I am a troubled man

John Mellencamp, »Troubled Man«

1

2014

Nils kam mit zwei Tassen Kaffee vom Tresen zurück. Elke saß am Fenster und schaute hinaus. Ihr Blick hatte etwas Trauriges, Sehnsüchtiges, und Nils ahnte, worüber sie nachdachte. Dieses Thema hatte für etwas Zündstoff in den letzten Wochen gesorgt, doch heute würden beziehungsweise wollten sie es klären, wenn sie bei Dr.Mantell waren.

Nils stellte die Tassen auf dem Tisch ab und setzte sich auf die Bank ihr gegenüber. Es war eine frühe Fähre an einem Mittwochmorgen, sodass nicht viele Sommergäste an Bord waren. Einige der Passagiere kannte Nils, Amrumer, die zur Arbeit aufs Festland fuhren. Genau darum drehte es sich nun auch zwischen ihnen. Seit drei Jahren lebten sie wieder zusammen, seit Elke zu ihm zurückgekehrt war, nachdem sie ihn verlassen hatte und zu seinem besten Freund gezogen war. Das hatte tiefe Wunden bei Nils hinterlassen, doch die Dinge hatten sich zum Guten gewendet. Während der Trennung war er in das Haus seiner Kindheit umgezogen, und heute lebten sie dort wieder als Familie mit ihrer Tochter, alle unter einem Dach. Das heißt, Anna ging inzwischen auf Föhr zur Schule, wo sie unter der Woche auch wohnte. Wenn sie wie heute einen Termin bei Mantell hatten, verbanden sie das immer mit einem Besuch bei Anna, die bei einer Freundin untergekommen war. Eigentlich lief alles perfekt. Es war nicht mehr wie früher, es war besser als früher. Die Liebe war ungebrochen bei beiden, während Nils’ Erlebnisse in den letzten Jahren ihn verändert hatten, positiv verändert. Er war ein anderer Mensch geworden, und das tat gut.

Elke hatte in letzter Zeit den Wunsch geäußert, wieder arbeiten zu wollen, und zwar nicht auf der Insel, wo sie mehrere Möglichkeiten gehabt hätte. Sie wollte nicht im Tourismusgeschäft arbeiten, wie die meisten Amrumer es taten, sie wollte in ihrem erlernten Beruf wieder Fuß fassen– oder überhaupt Fuß fassen, denn nach ihrem Studium der Kunstgeschichte hatte sie sich auf der Insel ganz ihrer Familie gewidmet. Nils fand die Idee großartig, denn er sah das Leuchten in den Augen seiner Frau, wenn sie davon sprach, und er fand es gut, dass sie etwas Neues anfing. Nur bei der Organisation dieser beruflichen Umstellung waren sie sich nicht ganz einig.

Seit zwei Jahren besuchten sie auf Föhr eine Eheberatung. Ihre Therapeutin war vor Kurzem verstorben, sodass sie nun bei Dr.Mantell in der Sprechstunde waren, der sie aber noch nicht so gut kannte. Und Nils konnte sich nicht recht entscheiden, ob er ihn sympathisch fand oder nicht. Mantell war eigen, das auf jeden Fall, interessant auch, aber Sympathien kamen nur in bestimmten Momenten auf, die einfach noch zu selten waren.

»Wir könnten uns später Räder mieten und nach Nieblum fahren«, sagte Elke, während sie nach Föhr hinüberschaute. »Ich glaub, ich hab Lust, Rad zu fahren.«

»Ist gut«, erwiderte Nils und nahm einen Schluck Kaffee. »Anna wird’s nicht gefallen, aber wenn wir sie mit einem schönen Stück Kuchen locken…«

Elke schmunzelte, richtete ihren Blick auf Nils und griff nach seiner Hand. »Gott, ich vermisse sie so«, flüsterte sie.

»Das tue ich auch«, versicherte Nils.

Sie sahen sich in die Augen, und Nils dachte daran, dass er auch Elke vermissen würde, wenn sie zum Arbeiten die Insel verließ. Anscheinend las sie seine Gedanken und zog ihre Hand zurück, um sich Zucker in den Kaffee zu schütten.

Nils blickte hinunter ins Wasser, das vor dem Fenster an ihnen vorbeiglitt.

Dr.Mantells Praxis lag in einem Wohngebiet in Wyk im Starklef. An das Wohnhaus war ein Flachdachanbau angefügt worden, in dem sich ein kleiner Warteraum und das eigentliche Sprechstundenzimmer mit Blick durch eine große Glasfront in den Garten befanden. Hohe Bäume umgrenzten das Grundstück, und in der Mitte der Rasenfläche stand ein brusthoher Brunnen, aus dessen Spitze in einem kreisförmigen Fächer das Wasser in das Becken fiel. Einige Vögel nutzten den Brunnen zum Waschen, und Nils schaute oft hinaus während der Sprechstunden und beobachtete das rege Treiben am Wasserbad.

Das Wartezimmer war ein schmaler Flur mit einer Couch, von der man durch das einzige Fenster nach vorn in den Vorgarten schaute. Da merkwürdigerweise keine Zeitschriften auslagen, starrte Nils die meiste Zeit über auf die abstrakten Bilder an den Wänden. Elke kannte sicherlich den Künstler, für Nils war das jedoch nichts weiter als »wilde Malerei«, und jedes Mal sah er etwas Neues darin, was vielleicht ja auch die Intention des Künstlers gewesen sein mochte.

Lange warten brauchte man nie, und eine weitere Merkwürdigkeit war, dass nie ein Patient vor ihnen aus der Praxis kam. Immer wenn Dr.Mantell seine Tür öffnete, war er allein. Nils hatte schon vermutet, dass er seine anderen Patienten durch die Terrassentür entließ. Bei ihnen war das allerdings noch nie der Fall gewesen. Und auch wenn sie fertig waren, saß nie jemand im Wartezimmer. Wir sind bestimmt seine einzigen Patienten, dachte Nils, der einer rot-schwarzen Linie auf dem Bild links neben dem Fenster folgte und den Kopf dabei schief legte.

Die Tür öffnete sich, und Mantell erschien. Er hatte fast schulterlanges schwarzes Haar, das von einem Mittelscheitel geteilt wurde und locker über seine Ohren fiel. Wie immer trug er ein weißes Leinenhemd zu schwarzen Leinenhosen und an den Füßen schwarze Clogs.

»Bitte«, sagte er nur, verschwand wieder und ließ die Tür offen stehen.

Nils und Elke wechselten einen belustigten Blick und folgten ihm ins Sprechzimmer.

Die linke Ecke des Raumes war mit einem Bücherregal versehen, in dem neben einer Reihe von Büchern auch kleinere Statuen und Gefäße standen. Mantells Schreibtisch war geformt wie eine Nierenschale und aus einem Nils nicht bekannten Holz gefertigt. Der helle Parkettboden, ebenfalls Echtholz, machte einen sehr teuren Eindruck.

Mantell nahm mit dem Rücken zum Schreibtisch auf einem rollbaren Hocker Platz, setzte seine Brille auf und blickte die beiden durch das dicke schwarze Gestell freundlich an.

»Guten Morgen, habt ihr eine gute Überfahrt gehabt?«, fragte er. Er sprach ohne friesischen Akzent, hatte die beiden aber von Anfang an geduzt, wie es hier üblich war.

»Alles wunderbar«, meinte Nils und setzte sich gleichzeitig mit seiner Frau auf die zwei Holzsessel vor dem Schreibtisch. Die Rückenlehnen waren leicht nach hinten gekippt, sodass Nils immer das Gefühl bekam, auf einem Liegestuhl zu sitzen. Die weißen Auflagen verstärkten den Eindruck noch. Wahrscheinlich sollte diese Sitzposition die Patienten entspannen.

Mantell saß kerzengerade mit akkurat angewinkelten, leicht gespreizten Beinen da und legte seine Hände auf den Knien ab. Er lächelte und blinzelte ganz entspannt, während er tief ausatmete. Nils ertappte sich dabei, wie er es ihm gleichtat.

»Elke und Nils«, sagte Dr.Mantell.

Die beiden sahen sich irritiert an. Der Beginn jeder Sprechstunde verlief für sie recht ungewohnt. Frau Klages, ihre alte Therapeutin, war eine lustige, aufgeschlossene und redefreudige Person gewesen. Mantell hingegen verlor nie ein Wort zu viel. Er wartete darauf, dass sie den Anfang machten, ohne das jemals geäußert zu haben.

»Also…«, begann Elke, »wir sind gerade dabei, über unsere Zukunft nachzudenken.«

Mantell sagte nichts, er starrte sie nur unverändert an und wartete.

»Ich habe seit Längerem den Wunsch, wieder arbeiten zu gehen«, erklärte Elke. »In einer Kunstgalerie oder einem Museum.«

»Kunst?«, fragte er, und seine dichten Augenbrauen hoben sich über den Rand seiner Brille.

»Ja, ich habe Kunstgeschichte studiert, aber nie angefangen, in dem Beruf zu arbeiten. Anna ist jetzt aus dem Haus, sie geht hier zu Schule, und ich bin allein, wenn Nils arbeitet.«

Mantell blickte zu Nils.

»Ich unterstütze das«, sagte Nils. »Ich finde die Idee großartig.«

»Na ja, großartig ist wohl etwas zu hoch gegriffen«, meinte Elke.

»Doch. Großartig«, beharrte Nils.

»Aber du hast doch einige Bedenken, vielleicht erwähnst du die auch mal.«

Nils wollte sich aufrichten, doch in dem Stuhl ging das einfach nicht. Also entspannte er sich wieder. »Es geht doch nur darum, was wir uns finanziell und zeitlich leisten können. Mehr nicht.«

»Was bedeutet, dass ich auf der Insel bleiben soll.«

»Nein, das habe ich nie gesagt«, sagte Nils fröhlich. Früher hätte ihn diese Art der Unterhaltung bereits nach kürzester Zeit zur Weißglut gebracht, jetzt war das anders.

Mantell richtete seinen Blick nun wieder auf Elke. Sein Lächeln blieb wie eingemeißelt auf seinen Lippen.

»Als Neueinsteigerin und in meinem Alter kann ich nicht gleich irgendwelche Anforderungen stellen, was meine Arbeitszeit betrifft. Dann stellt mich niemand ein.« Elke machte eine Pause und rieb sich über einen Daumennagel.

Nils sah den Therapeuten an und musste grinsen. Vielleicht ist er nur ein Betrüger, dachte er, irgendein Kerl, der keine Ahnung hatte, was er mit seinem Leben anfangen sollte, sich ein Zimmer baute, eine Verkleidung kaufte und sich ein Schild mit der Aufschrift »Lebensberatung« in den Garten stellte. Wenn Nils sich hier umsah, konnte er auch keine Urkunden, Abschlüsse oder Zertifikate erkennen.

»Ich hab doch schon Bewerbungen geschrieben und mit einigen Leuten gesprochen«, fuhr Elke fort. »Halbtags oder nur für eine halbe Woche, so wie Nils sich das vorstellt, funktioniert es einfach nicht. Da ruft keiner zurück, die streichen mich sofort von der Liste.«

»Was ist dein Wunsch?«, fragte Mantell und sah Elke eindringlich an.

»Ich…« Auch sie wollte sich vorbeugen oder zumindest nach vorn rutschen, ließ sich aber wieder gegen die Lehne fallen. »Ich möchte am liebsten im Museum auf Föhr arbeiten. Da kann ich jeden Morgen hinfahren und bin nah bei Anna und bei Nils. Aber ich weiß, dass dort momentan keine Stellen frei sind, und ich will nicht ewig darauf warten. Andere Möglichkeiten wären in Flensburg oder Hamburg in einer Galerie oder einem Museum. Aber die Anfahrt ist einfach mörderisch.«

Mantell sah Nils an, die Erteilung einer Redeerlaubnis.

»Die einzige Alternative wäre eine zweite Wohnung. Aber das können wir uns nicht leisten, schon gar nicht in Hamburg«, sagte Nils und hob entschuldigend die Hände.

»Ich könnte in einerWG unterkommen, nur ein Zimmer, mehr bräuchte ich nicht«, hielt Elke dagegen.

Mantell pochte mit dem Zeigefinger zweimal auf sein Knie. »Gesetzt den Fall, du bekämst eine Stelle in Hamburg. Wäre es denkbar, dass ihr alle dorthin zieht?«

Elke und Nils sahen sich mit großen Augen an. Diese Möglichkeit hatten sie noch nie in Betracht gezogen. Nicht weil es für Nils nicht denkbar war, seiner Frau aus beruflichen Gründen zu folgen, sondern weil es für beide undenkbar war, nicht auf Amrum zu leben. Elke schluckte.

»Nein, von der Insel wollen wir nicht weg«, sagte sie matt. »Oder?« Sie sah Nils forschend an.

»Nein.«

»Gut, das wäre geklärt«, meinte Mantell und wandte sich wieder Nils zu. »Und für dich, Nils, liegt es nur am Finanziellen?«

Nils fühlte sich ertappt. Wenn er ehrlich war, gab es auch noch einen zweiten Grund. Er spürte Elkes Blick auf seiner rechten Seite. »Ich… wir haben uns gerade wieder zusammengerauft und beginnen unser Leben neu. Ich möchte Elke so oft wie möglich um mich haben. Die Trennung war schrecklich. Wenn wir jetzt eine Wochenendbeziehung führen würden… das könnte ich sicherlich aushalten, aber eben nur aushalten.«

Er fühlte, wie Hitze in ihm hochstieg.

»Aber Elkes Verwirklichungswunsch verstehst du?«, hakte Mantell nach.

»Sicher, ich weiß auch, dass das so sein muss.«

»Hast du Angst, allein zu sein? Meinst du, das würde dich in eine Krise stürzen? Ihr habt erwähnt, dass du Alkoholiker warst.«

Ein Lächeln umspielte Nils’ Mundwinkel. »Nein, das ist zum Glück vorbei«, antwortete er.

»Warst du in Therapie?«

»Nein, ich hatte eine Nahtoderfahrung und bin seitdem trocken«, sagte er freiheraus. Er sah keinen Sinn darin, lange um den heißen Brei herumzureden.

Mantell stutzte und blinzelte hinter seiner Brille. »Das hab ich nun aber auch noch nie gehört.«

»Ist eine lange Geschichte.« Nils überlegte, wie viel er Mantell davon erzählen musste, um mit dieser Eheberatung Erfolg zu haben. »Ich fand heraus«, begann er, »dass mein Vater nicht mein leiblicher Vater war und dass eine vermisste Touristin, nach der ich suchte, eigentlich mich gesucht hatte. Mein nicht leiblicher Vater wollte sich umbringen und sprang ins Meer. Ich sprang hinterher und wäre fast ertrunken. In dem Moment hatte ich eine Nahtoderfahrung, die mein komplettes Leben verändert hat.«

Mantells verwunderter Blick wanderte zu Elke.

»Ja, er ist zwar immer noch derselbe, aber unglaublich positiv seitdem. Ich glaube, er hat seinen Frieden gefunden.« Sie lachte auf. »Oh Gott, das klingt, als sei er tot. Aber nein, er ist sehr lebendig.« Sie streckte ihre Hand nach Nils aus und legte sie auf seinen Arm.

»Also wärst auch du nicht glücklich, wenn ihr die Woche über getrennt lebtet?«

»Nein«, sagte Elke, »natürlich nicht. Aber ich bin allein zu Hause, wenn Nils arbeitet. Anna kommt nur an den Wochenenden, und ich habe nichts zu tun. Ich brauche etwas zu tun.«

»Was wäre demnach die beste Lösung?«, fragte Mantell.

Elke überlegte etwas irritiert. »Ich… ich…« Sie blickte hilfesuchend in Mantells Gesicht. Der hob zum ersten Mal seinen Arm und deutete auf Nils. Elke wandte sich ihrem Mann zu. »Ich… wir könnten… keine Ahnung.« Sie lachte verunsichert.

»Doch, du weißt es«, meinte Mantell.

»Ich suche etwas, was näher dran ist, oder ich gehe nur für drei Tage…«

»Oder du eröffnest selbst eine Galerie«, schlug Nils vor. »Vielleicht sogar eine Online-Galerie«, fügte er hinzu.

»Ich würde sagen, wir beenden die Sitzung für heute.« Mantell stand zufrieden auf.

Nils blickte auf die Uhr. Sie hatten noch gut zwanzig Minuten.

»Es ist die perfekte Zeit zum Aufhören«, erklärte Mantell, der anscheinend Nils’ Gedanken gelesen hatte. »So einen Punkt darf man nicht aufgeben.«

»Okay«, sagte Nils, nicht vollständig überzeugt, aber durchaus mit einem positiven Gefühl im Bauch. Er verspürte den Drang, noch weitere Ideen mit Elke zu sammeln. Das war bereits ein Fortschritt, denn in den letzten Tagen hatten sie das Thema mit Absicht unter den Teppich gekehrt.

Hand in Hand verließen sie das Sprechzimmer.

»Dann bis nächste Woche. Diesmal am Montag«, sagte Mantell, der an der Tür stehen blieb.

»Darf ich noch eine Frage stellen?«, bat Nils.

»Sicher.«

»Warum begegnen wir hier nie anderen Patienten?«

»Weil ich zwischen den Terminen immer eine halbe Stunde Leerlauf lasse, damit genau das nicht passiert. Diskretion, Nils.« Er nahm seine Brille ab und zwinkerte humorlos.

»Alles klar«, erwiderte Nils.

Elke schmunzelte und zog Nils am Arm aus der Praxis.

»Ich werd aus dem Kerl nicht schlau«, sagte Nils auf dem Weg zu den Borgens, bei denen Anna unter der Woche lebte. Stine und Peer Borgen waren ungefähr im selben Alter wie sie und hatten auch eine Tochter. Als Anna damals auf das Gymnasium wechselte, hatten die beiden von sich aus bei ihnen angerufen und den Vorschlag gemacht, Anna aufzunehmen. Nils und Elke bezahlten den Borgens monatlich einen kleinen Betrag für Kost und Logis, obwohl Stine das sofort abgelehnt hatte. Sie meinte, es würde keinen Unterschied machen, ob sie nun für ein oder zwei Kinder kochte, und im Haus sei genug Platz, sie müssten nichts verändern, alles sei vorhanden und Anna immer willkommen. Peer sah das genauso wie seine Frau, doch in einem Gespräch unter Männern hatten er und Nils sich auf einen kleinen Obolus geeinigt und das Ganze mit einem Bier besiegelt. Die Borgens wohnten kaum fünf Minuten von Dr.Mantells Praxis entfernt, und Nils und Elke schlenderten Arm in Arm durch das Wohngebiet.

»Er sieht aus wie ein Guru«, sagte Elke lachend, »und eigentlich macht er nichts, aber trotzdem kommen wir irgendwie weiter.«

»Ja, er ist entweder ein großer Könner oder ein ebenso großer Betrüger.« Nils überlegte, ob er das Thema noch mal auf Elkes Arbeitssuche lenken sollte.

»Meintest du das ernst vorhin mit der Online-Galerie?«, kam Elke ihm zuvor.

»Schon, ja. Ich weiß zwar nicht, wie das funktionieren könnte, aber das geht bestimmt. Anstatt eines Ausstellungsraums müsstest du alles virtuell machen.«

»Ich hab nur keine Ahnung davon.«

»Ich bin sicher, dass du es lernst.«

»Trotzdem würde ich gern noch den Vorstellungstermin in Hamburg wahrnehmen«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Natürlich machst du das. Und auf Föhr kannst du ja einfach mal anfragen.«

»Wirklich?«

Sie waren am Grundstück der Borgens angekommen und standen vor dem kleinen Gartentor. Nils sah seiner Frau in die Augen. »Wirklich.«

»Du hast mir nie gesagt, dass du mich vermissen wirst.«

»Ich dachte, du wüsstest das.«

Sie lächelte. »Aber es ist schön, das zu hören.«

»Es ist auch schön, dich nicht vermissen zu müssen«, sagte Nils und küsste sie.

»Du willst mich bestechen«, murmelte sie, während ihre Lippen noch aufeinandergepresst waren.

»Mit allem, was ich hab.«

Sie schlangen die Arme umeinander.

»He, ihr beiden Turteltäubchen, macht das gefälligst zu Hause«, hörten sie jemanden rufen und sahen Peer in der Haustür stehen. Ihm gehörten ein Fahrradverleih und zwei Häuser, die er vermietete. Mittags war er so gut wie immer zu Hause. Stine kümmerte sich um die Vermietung der Häuser, er um den Fahrradladen.

»Kinder machen einem nur die Beziehung kaputt«, rief Nils ihm entgegen. »Jetzt, wo ihr unsere Tochter habt, kommt das Feuer wieder.«

Sie umarmten sich und gingen ins Haus, wo es verlockend duftete.

»Sind die Mädels schon zu Haus?«, fragte Elke.

»Nee, die lassen sich wieder Zeit. Aber es klingelt auch erst in zehn Minuten«, sagte Peer mit einem Blick auf seine Armbanduhr.

»Stimmt, wir wurden heute früher entlassen.«

»Essen dauert auch noch«, meinte Peer, als seine Frau aus der Küche kam und die beiden begrüßte.

»Ja, holt sie doch ab«, schlug Stine vor.

»Ihr könnt unsere Räder nehmen«, ergänzte Peer und band sich eine Schürze um.

Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen und radelten den kurzen Weg zur Schule der Insel. Die lag, mit etwas Abstand zur Straße, versteckt hinter mannshohen Büschen und einigen Bäumen. Man konnte leicht daran vorbeifahren. Lediglich zwei Einfahrten führten vor das weiße bunkerartige Betongebäude, wo sich die »Abholzone« für Busse und Eltern und ein Parkplatz befanden. Die Klingel, die das Ende der sechsten Stunde ankündigte, hatte bereits geschellt, als Nils und Elke auf den Vorplatz rollten. Die Eingangstür flog auf, und die Masse der Kinder ergoss sich aus dem Eingang.

»Da sind sie«, sagte Elke und winkte den beiden Mädchen zu.

Anna erblickte sie, und man sah sofort, dass sie nicht sehr glücklich war, ihre Eltern hier anzutreffen.

»Na, hätten wir nicht kommen sollen?«, rief Elke, als die beiden zögerlich auf sie zukamen. »Sind wir dir peinlich?«

»Nein, nein, schon gut.« Anna warf einen verstohlenen Blick über die Schulter zurück.

»Hallo erst mal«, sagte Nils und umarmte sie und auch Lina.

Als Elke ihre Tochter in den Arm nahm, erkannte sie hinter den Mädchen den Schulleiter, der sich ihnen mit ernster Miene näherte.

»Frau Petersen, gut, dass ich Sie hier treffe.«

Nils sah die beiden Mädchen einen ängstlichen Blick tauschen, während ihre Schultern kraftlos nach unten sanken.

»Herr Petersen«, grüßte der Schulleiter und reichte Nils die Hand.

»Moin, Herr Senkbiel. Was gibt’s denn?«

Herr Senkbiel war von großer Gestalt und hatte schlohweißes Haar, obwohl er die fünfzig gerade erst überschritten hatte. Sein kurz geschorener Vollbart und seine Augenbrauen jedoch waren vollkommen schwarz, sodass sich Nils immer fragte, ob er ausgerechnet diese Haarpracht färbte. Mit einem kühlen Blick auf die beiden Mädchen sagte er: »Hätten Sie fünf Minuten Zeit? Dann erklär ich es Ihnen. In meinem Büro.«

»Ja, natürlich«, entgegnete Nils leicht verunsichert.

»Können wir schon nach Hause fahren?«, wollte Lina kleinlaut wissen. Anna stierte nur auf den Boden.

»Macht mal. Wir kommen gleich nach«, sagte Elke mit einer gewissen Strenge in der Stimme, denn dass dies kein angenehmes Gespräch werden würde, war mehr als offensichtlich.

Sie folgten dem Schulleiter in das Gebäude und bis in sein kleines Büro. Er bot ihnen einen Platz vor seinem Schreibtisch an und ließ sich in seinen Sessel fallen, schnellte aber sogleich wieder vor und rückte energisch an die Tischkante, stellte seine Ellbogen ab und faltete die Hände, während er mit einem unheilvollen Zischen einatmete. Sein dunkelblauer Anzug wölbte sich an den Schulterpolstern bis zu seinen großen Ohren auf. »Nun, es geht, wie Sie sich denken können, um Ihre Tochter Anna«, läutete er das Problemgespräch ein. »Es gab leider einen Zwischenfall, dessentwegen ich Sie ohnehin kontaktiert hätte, aber da Sie nun schon mal hier sind…«

Elkes Fuß wippte nervös auf und ab.

»Ihre Tochter hat heute im Kunstunterricht von Frau Schreiber beziehungsweise kurz vor Beginn der Stunde die ungute Idee gehabt, sich aus dem Unterricht zu entfernen. Sie stieg aus dem Fenster und entfernte sich vom Schulgelände.«

Nils und Elke sahen sich erstaunt an, und Nils musste sich ein leichtes Schmunzeln verkneifen.

»Als Frau Schreiber den Klassenraum betrat und das Fehlen Ihrer Tochter bemerkte, sprach sie Lina an, die vorgab, Anna sei schlecht geworden, und sie habe daher die Schule verlassen. Die Übelkeit sei so schnell gekommen, dass sie nicht mehr selbst Bescheid geben konnte.«

Senkbiel ließ seine Hände sinken und blickte ernstlich besorgt zu Nils und Elke.

»Zum Glück«, fuhr er etwas lauter fort, »wurde der Hausmeister Zeuge des Entwischens Ihrer Tochter und meldete mir den Vorfall.« Beinahe vorwurfsvoll presste er die Lippen zusammen, sodass sich unter seinem Bart zwei tiefe Falten bildeten. »Ich habe bereits mit Frau Schreiber gesprochen, die sehr enttäuscht ist und auch etwas entsetzt über die Dreistigkeit. Ihre Tochter hat gleich gegen mehrere Punkte der Schulordnung verstoßen, und ich sehe mich gezwungen, eine schriftliche Verwarnung auszustellen.« Er pausierte, zuckte mit dem Mundwinkel und lehnte sich im Stuhl zurück.

»Das äh… tut uns natürlich leid«, begann Elke stockend, »und wir entschuldigen uns für Annas Verhalten.«

»Ich meine außerdem«, sagte Senkbiel, »dass eine Entschuldigung Ihrer Tochter bei Frau Schreiber wohl das Mindeste ist, was sie nach dieser unschönen Angelegenheit tun kann.«

»Natürlich«, erwiderte Elke. »Das macht sie ganz sicher.«

»Ich verstehe, dass Kinder im pubertären Alter, noch dazu getrennt von ihrer Familie, es nicht immer leicht haben. Aber ich möchte Sie doch bitten, an dieser Stelle erzieherisch auf Ihre Tochter einzuwirken, damit sich das nicht wiederholt.«

»Wir werden mit ihr sprechen«, sagte Nils, und es war deutlich zu hören, dass ihm das Gespräch nicht behagte und er es so schnell wie möglich beenden wollte.

»Sollten wir vielleicht auch noch mit Frau Schreiber sprechen?«, fragte Elke.

»Nein, das fände ich eine höchst unpassende Maßnahme.«

»Ach ja?« Elke schaute verwundert.

»Dann bleibt für mich nichts weiter zu sagen, als dass der Brief Sie in den nächsten Tagen erreichen wird«, sagte Senkbiel und stand auf.

»Wir freuen uns immer über Post.« Nils erhob sich ebenfalls und reichte Senkbiel lächelnd die Hand. Der verzog keine Miene und griff nur ungern zu, das spürte Nils.

»Auf Wiedersehen.«

Sie verließen das Büro, verabschiedeten sich von der Sekretärin im Vorzimmer und schlossen die Tür hinter sich. Draußen fuhr Nils sich fassungslos durch die Haare. »Was war das denn?«, flüsterte er seiner Frau zu.

Elke versteckte ein Lächeln hinter ihrer Hand und schob Nils den Flur hinunter.

»Ich dachte schon, sie hätte eine automatische Pistole mit in die Schule gebracht oder so was«, platzte es in der Pausenhalle aus Nils heraus.

»Er ist halt ein sehr besorgter Schulleiter«, raunte Elke ihm ins Ohr und blieb plötzlich stehen. Aus einer Tür am anderen Ende der Halle kam Frau Schreiber auf sie zu. »Scheiße, und jetzt?«, flüsterte Elke tonlos.

»Er kann uns ja nicht verbieten, mit ihr zu reden«, sagte Nils in normaler Lautstärke und ging auf die Lehrerin zu. Sie war eine groß gewachsene, sportliche Frau Anfang fünfzig. In ihren hohen Schuhen überragte sie Nils um ein paar Zentimeter. Sie trug ein Baumwollkleid über blauen Jeans.

»Die Petersens, hallo«, begrüßte sie die beiden. »Kommen Sie gerade aus der Höhle des Löwen?«

Nils und Elke lachten, als sie sich die Hände schüttelten.

»Ja, wir haben von dem Vorfall gehört, und es ist uns auch sehr peinlich…«

»Ach«, wiegelte Frau Schreiber ab und senkte konspirativ ihre Stimme, »der Direx nimmt das viel zu ernst. Sie kennen ihn ja. Kinder machen so was, da ist Anna nicht die Erste. Nur blöd, dass sie sich von Herrn Bracke hat erwischen lassen.«

Nils und Elke fiel ein Stein vom Herzen, dass Frau Schreiber die Sache so unberührt aufnahm.

»Trotzdem wird sie sich bei Ihnen entschuldigen«, sagte Nils.

»Ich lege da keinen Wert drauf. Ich bin nicht persönlich beleidigt, wenn eine Schülerin schwänzt. Herrje, haben wir das nicht alle mal gemacht?«

Elke warf Nils einen scharfen Blick von der Seite zu. »Ja, ich weiß schon, von wem sie das hat.«

»So, so.« Frau Schreiber lächelte und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Na ja, jedenfalls ist die Sache für mich erledigt. Natürlich muss ich einen Eintrag ins Klassenbuch machen, aber damit hat es sich dann auch schon. Anna ist ein liebes Mädchen. Wissen Sie, bei den meisten Kindern weiß man gleich von Anfang an, wie sie so ticken. Und Ihre Anna ist schwer in Ordnung.«

»Vielen Dank«, sagte Elke dankbar.

Sie verabschiedeten sich, und Frau Schreiber stieg draußen in ihr Auto, während Nils und Elke sich auf die Räder schwangen und zurück zu den Borgens fuhren.

»Sie sieht echt toll aus«, sagte Elke bewundernd.

»Wer?«

»Frau Schreiber. Sie ist immer sehr gepflegt und gut angezogen. Eine feine Frau.«

»Sie ist ’ne bodenständige Type und überhaupt nicht eingebildet, das mag ich.«

»Aber Senkbiel… gut, dass Anna ihn nicht im Unterricht hat«, meinte Elke erleichtert.

»Noch nicht…«, gab Nils zu bedenken und machte bedrohlich große Augen.

»Hör auf!« Sie lachte und schlug ihn auf den Arm.

Am Mittagessenstisch saß Anna wie ein Häufchen Elend auf ihrem Platz, den Kopf gesenkt und sich ganz vorsichtig bewegend. Nils und Elke ließen sie und auch Lina bewusst ein bisschen leiden und schwiegen, bis alle etwas zu essen auf dem Teller hatten.

»Guten Appetit«, wünschte Stine und merkte, dass die Stimmung irgendwie getrübt war. »Ist was?«, fragte sie.

»Die Mädchen hatten heute einen sehr… aufregenden Tag in der Schule«, erklärte Nils heiter.

»Ach ja?«, fragte Peer.

Beide Mädchen ließen die Köpfe hängen, sodass man nur ihre Scheitel sehen konnte.

»Anna?« Elke wartete, bis ihre Tochter sie anschaute. »Das war ziemlich dämlich von dir. Herr Senkbiel wird uns einen Brief schicken, und du sollst dich bei Frau Schreiber entschuldigen, die dir das übrigens nicht im Geringsten krummnimmt. Wir haben sie vorhin zufällig getroffen.«

»Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte Stine ungeduldig. Elke gab das Wort mit einer auffordernden Geste an Anna weiter.

»Wir haben… ich hatte heute keine Lust auf Kunst, weil wir da so’n blödes Druckverfahren machen, was ich nicht kann, und da bin ich aus dem Fenster geklettert, kurz bevor Frau Schreiber in die Klasse kam.«

Stines und Peers Augenbrauen hüpften nach oben.

»Und ich hab gesagt, dass Anna schlecht geworden und sie nach Hause gefahren ist«, gab Lina kleinlaut an.

»Aha«, meinte Peer nur.

»Hat Frau Schreiber dir das denn nicht geglaubt?«, fragte Stine.

»Doch, aber der Hausmeister hat Anna gesehen.«

Peer lachte laut auf. »Tja, so kann’s laufen.«

Peer musste so lachen, dass die anderen am Tisch nicht mehr an sich halten konnten und mit einstimmten. Sogar Anna und Lina lachten vorsichtig und mit verschämten Blicken, die sie sich verstohlen zuwarfen.

»Aber Frau Schreiber muss noch eine Entschuldigung bekommen«, erinnerte Nils seine Tochter.

»Oh Gott, wie soll ich der nur jemals wieder unter die Augen treten?«

»Das ist ganz allein dein Problem«, stellte Nils fest. »Die Suppe musst du selbst auslöffeln.«

»Guten Appetit«, sagte Stine erneut.

Nach dem Essen fuhren Nils, Elke und Anna mit dem Fahrrad nach Nieblum. Nils hatte die Reaktion seiner Tochter auf den Vorschlag ganz richtig eingeschätzt, doch heute nahm sie die Entscheidung einfach in Kauf, weil sie durch ihre Unterrichtsflucht in keiner guten Position war, gegen ihre Eltern aufzubegehren. Stumm und missmutig radelte sie hinter ihnen her, bis sie sich in dem Café müde auf einen Stuhl plumpsen ließ. Erst als der Erdbeerkuchen mit einer riesigen Sahnehaube vor ihr stand, besserte sich ihre Laune.

»Wie läuft’s denn so in der Schule?«, fragte Elke versöhnlich. »Ich meine, so ganz allgemein.«

»Gut«, antwortete Anna und steckte sich einen großen Bissen Kuchen in den Mund.

»Und Mathe? Kommst du mit? Letztes Mal warst du so unglücklich. Wir können uns ja auch um eine Nachhilfe bemühen.«

Anna ließ die Gabel auf den Teller fallen. »Oh Mama, ich… ich komme klar, okay? Ich will keine Nachhilfe«, sagte sie genervt. »Ich will in einem Stück mitspielen.«

»Einem Stück?«, fragte Nils interessiert.

»Ja, Theater«, erklärte sie. »›Was ihr wollt‹. Ich bin die Viola.«

»Was will ich denn?«

»Nein, ›Was ihr wollt‹ von Shakespeare. Ich bin eine Frau, die sich als Mann verkleidet und in einen Mann verliebt.«

»Aha«, sagte Nils erstaunt.

»Das ist lustig, Papa. Eine Komödie! Melissa ist die Olivia.«

»Klingt witzig«, meinte Elke und schmunzelte amüsiert.

»Ja, und ich brauch ein Kostüm, Mama. Kannst du eins nähen?«

»Nähen?«, fragte Elke entsetzt.

»Machst du das bitte?« Anna setzte ihren Hundeblick auf.

»Schatz, ich hab im Moment keine Zeit dafür.«

»Mama will doch wieder arbeiten«, sagte Nils. »Sie hat jetzt bald ein paar Gespräche und muss Bewerbungen schreiben.«

Anna sank enttäuscht in ihren Stuhl zurück.

»Aber wir können doch eins kaufen«, schlug Elke vor, um sie aufzumuntern.

»Na schön«, murmelte sie.

»Wann ist das Stück denn zu sehen?«, wollte Nils wissen.

»Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien. Da machen wir einen Basar, und unsere Klasse führt das Stück auf. In Kunst machen wir auch die Bühnenbilder dazu.«

»Das klingt spannend.«

»Und ihr spielt das ganze Stück?«, fragte Nils.

»Nein, wir haben es gekürzt«, sagte Anna lächelnd.

»Sehr gut«, lobte Nils. »Wer hat es denn umgeschrieben?«

»Wir mit Herrn Kieslow zusammen. Jeder durfte Vorschläge machen, und Herr Kieslow hat’s dann notiert.«

Sie saßen noch eine halbe Stunde in dem Café, bis eine Windbö einen Wetterwechsel ankündigte und sie den Rückweg antraten.

Kaum waren sie im Hause der Borgens angekommen, begann es wie aus Kübeln zu schütten.

»Bleibt ihr noch zum Abendessen?«, fragte Peer.

»Nein, nein, wir haben noch was zu tun«, lehnte Nils die Einladung ab.

Als Anna zu Lina nach oben ging, nahm Elke Stine einen Moment beiseite. Sie zogen sich in die Küche zurück, und Elke lehnte die Tür an. Stine blickte sie besorgt an.

»Was ist?«

»Ich wollte mal mit dir über Anna reden«, sagte Elke mit gesenkter Stimme. »Sie und Lina kommen doch jetzt in die Pubertät. Und Anna hat sich in den letzten Wochen ziemlich entwickelt. Sie hat schon so Ansätze hier bekommen.« Elke griff sich unter ihre Brüste. Stine musste grinsen.

»Ach so, ja. Stimmt.«

»Wir haben zwar über alles geredet, was so auf sie zukommt, aber jetzt ist sie bei euch die Woche über, und ich denke, dass ich eigentlich bei ihr sein müsste.«

»Mach dir mal keine Sorgen«, beruhigte Stine sie. »Sie sind ja zu zweit, und ich bin auch noch da.«

»Hat sie schon ihre Tage gehabt?«, flüsterte Elke und kam noch näher.

Stine nickte.

Elke legte die Hand vor den Mund. »Das hat sie gar nicht erzählt.«

»Während ihr Kuchen esst?«, fragte Stine.

Elke kamen die Tränen, und Stine streichelte ihr tröstend über die Schultern.

»Ich bin eine schlechte Mutter.«

»Red keinen Quatsch.«

»Ich bin nicht da für meine Tochter, sie ist ganz allein.«

»Willst du mich jetzt beleidigen?«

»Nein, aber ich kann das nicht alles dir überlassen.«

»Am Wochenende kommt sie zu euch, dann könnt ihr ein wunderbares Gespräch unter Frauen miteinander führen. Elke, es ist alles bestens. Sie und Lina machen das gemeinsam durch. Und sie werden beide unausstehlich, wenn sie ihre Tage haben. Da willst du nicht in der Nähe sein. Gott, hoffentlich bin ich nicht auch so. Armer Peer.«

Elke lachte.

»Was macht ihr beide da?«, kam die Stimme von Peer aus dem Flur.

»Wir trinken schnell noch ’ne Flasche Sekt!«, rief Stine lauthals zurück.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, brachte Peer die beiden mit dem Wagen zum Hafen. Elke verspürte einen Druck auf dem Herzen, als das Schiff von der Mole ablegte. Sie hatte das Gefühl, ihre Tochter alleinzulassen, und gab sich alle Mühe, die Tränen zurückzuhalten.

2

2014, eine Woche zuvor

Christina Wagner fuhr mit ihrem kleinen roten Fiat500 die Hamburger Straße hinunter in Richtung Innenstadt. Sie passierte das Stadion zu ihrer Linken und fuhr langsam auf eine rote Ampel zu. Im Radio des Fiat steckte ein blinkender USB-Stick mit Musik, und »Sugar« von Robin Schulz schallte aus den Lautsprechern. Den Wagen hatte sie sich vor knapp elf Monaten geleistet, nachdem sie ein paar Jahre dafür hatte sparen müssen. Wenn sie sich ihr Wunschauto kaufte, wollte sie den vollen Betrag bezahlen können, keine Raten, kein Leasing, keine Anzahlung und dergleichen. Vielleicht war diese Einstellung ein wenig paradox, wo sie doch in einer Bank arbeitete und ihren Kunden Kredite verkaufte, aber sie machte eben nicht gern Schulden.

Sie war ein praktisches Mädchen, so hatte sie sich jedenfalls immer selbst gesehen, jemand, der die Dinge realistisch sah und jedes Problem anpacken konnte. Sie war keine Tussi, die ihr Leben nur nach Handtäschchen, Schminktipps und Klamotten ausrichtete. Als Frau fühlte sie sich dennoch nicht. Noch nicht. Frau klang in ihren Ohren nicht zu reif, aber zu alt für sie. Mit ihren vierundzwanzig Jahren war sie noch jung. Nach der Schule hatte sie mit achtzehn ihre Bankausbildung begonnen und zügig durchgezogen.

Wenn sie so an diese Zeit zurückdachte, fiel ihr auf, dass Männer eigentlich nie eine wichtige Rolle gespielt hatten in ihrem Leben. In der Schule hatte sie einen Freund gehabt. Während der Ausbildung hatte ihr keiner der Mitstreiter gefallen, sie hatte sich nur hin und wieder mal mit Männern aus Zufallsbekanntschaften oder von Partys ihrer Freundinnen getroffen. Inzwischen waren alle ihre Freundinnen aus Braunschweig weggezogen. Sie war die Einzige, die geblieben war, soweit sie wusste, und der Kontakt war allmählich eingeschlafen. Wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, war sie oft für sich allein, las, ging spazieren oder laufen, eine Leidenschaft, die sie erst in den letzten zwei Jahren für sich entdeckt hatte.

Auch die Männer in ihrer Filiale sagten ihr wenig zu. Jeder schien sich sehr für sich selbst zu interessieren, es ging in den Gesprächen, die man so in den Frühstücks- oder Mittagspausen führte, stets um Oberflächlichkeiten, um Handys, Computer, Autos. Dinge, die man sich kaufte und die zeigten, dass man jemand war und sich etwas leisten konnte. Das langweilte sie fürchterlich. Aber schlimmer noch waren diejenigen, die sich über die Verluste ihrer Kunden lustig machten, die von diesen Leuten sprachen, als wären sie Geldmaschinen, denen man Dinge aufschwatzen konnte, die sie nicht brauchten, Wertpapiere, von denen sie keine Ahnung hatten.

Wenn sie ehrlich war, fuhr sie schon seit fast einem Jahr jeden Morgen mit Magenschmerzen in die Filiale, was aber nicht allein an den sie langweilenden und teilweise abstoßenden Kollegen lag, sondern vielmehr an dem Leiter der Filiale, Sören König. Sören war ein Mann in den Vierzigern mit sich langsam lichtenden und bereits stark ergrauten Haaren, einem ovalen, spitz zulaufenden Gesicht und einer schlanken, recht sportlichen Figur. Zunächst hatte Christina ihn für den einzigen erträglichen Kerl in der Filiale gehalten, doch mit der Zeit hatte sich immer mehr herauskristallisiert, dass gerade er der schlimmste war. Er hatte so eine unschuldige, freundlich-gutlaunige Fassade und schien jeden um sich herum verstehen zu können oder zumindest verstehen zu wollen. Ein Chef, wie man ihn sich gewünscht hätte. Christina hatte wie keine andere Mitarbeiterin der Bank jedoch auch seine andere Seite kennengelernt. Sören war verheiratet, hatte zwei Kinder, spielte Tennis und Golf, er hatte einen großen Freundeskreis und war überall beliebt. Doch wenn sie allein waren, hatte er so eine unangenehm stille, schleichende Art an sich, die ihr Schauer über den Rücken jagte.

Sie hatte schnell bemerkt, dass er Interesse an ihr hatte, dass er sie attraktiv fand, was anfänglich auch ein wenig schmeichelhaft gewesen war. Seine Versuche, allein mit ihr im Raum zu sein, Dinge für sie zu tun, die kein anderer Chef für eine Mitarbeiterin getan hätte, hatten allerdings bald einen eher gegenteiligen Effekt. Eines Morgens hatte er ihren Schreibtisch aufgeräumt und gewischt. Eine Aktion, die Christina verwirrt hatte, und noch während sie sich über diese Säuberungsaktion wunderte, hatte er ihren Mülleimer geleert. Zu dem Zeitpunkt, es war ganz früh am Morgen, waren sie allein in der Filiale gewesen, und Christina hätte schwören können, dass er das alles nur gemacht hatte, um einmal, beim Zurückstellen des Mülleimers, ihr Bein zu berühren. Sie war erschrocken zurückgesprungen. Sören hatte sich tausendmal entschuldigt und seine Stimme gesenkt, damit die ankommenden Kollegen nichts bemerkten. Seither hatte er mehrmals versucht, Christina nach Hause zu fahren, was sie jedes Mal mit dem Hinweis auf ihren eigenen Wagen ablehnte.

Zu ihrem Geburtstag und zu Weihnachten machte er ihr kleine Geschenke, und er bot ihr ständig an, freie Tage für sie einräumen zu können, wenn sie mal etwas Ruhe und Erholung brauchte. Christina wusste, dass sie mit ihrer Art, Kunden zu betreuen, nicht die erfolgreichste Mitarbeiterin war, ihre Boni waren immer die kleinsten. Doch Sören übte in den Mitarbeitergesprächen, die er regelmäßig führte, nie Kritik an ihr. Ganz im Gegenteil. Es hagelte Komplimente, wenn er von ihr sprach.

Die Ampel sprang auf Grün um, und die Autos vor ihr fuhren weiter, am neuen Schwimmbad der Stadt vorbei auf die große Baustelle zu. Baustellen gab es hier eigentlich überall. Christina hatte das Gefühl, die gesamte Stadt sollte ein Facelifting bekommen, und während der Operation hatte man bemerkt, dass man mit ein wenig Straffung hier und ein etwas Botox dort nicht mehr auskam. So wurde das Gesicht schlussendlich einer Komplettoperation unterzogen, und nur der liebe Herrgott wusste, wie es hinterher aussehen und ob sich die Stadt noch selbst erkennen würde. Morgens musste sie inzwischen eine halbe Stunde früher losfahren, um pünktlich bei der Arbeit zu sein.

Als sie es endlich geschafft hatte und mit ihrer Hängetasche über der Schulter den Vorplatz der Bank überquerte, der im Übrigen ebenfalls neu geliftet worden war, stand zu ihrer Erleichterung ein Kollege zusammen mit Sören vor der Tür. Timo Kronenthal unterhielt sich angeregt mit dem Chef. Der schloss derweil die Tür auf und stockte, als er Christina bemerkte.

»Guten Morgen«, rief er ihr entgegen.

»Guten Morgen«, sagte sie und schaute dabei nur Timo an, der fröhlich nickte und noch seine letzten Worte auf den Lippen trug: »…für neunundachtzig Euro zuzüglich Versandkosten.«

Er grinste selig und ergänzte: »Ich hab sofort drei Stück bestellt und zwei davon bei eBay für hundertzehn Tacken weiterverkauft. Es lohnt sich, wenn man da anruft und’n bisschen durchschimmern lässt, dass man genauso viel oder mehr von der Sache versteht als der Verkäufer.«

»Prima, prima«, lobte Sören abwesend. Er ließ Christina mit einer galanten Armbewegung den Vortritt in die Filialräume.

Sie gingen in die Küche auf der rechten Seite eines kurzen dunklen Flures, in dem allerhand Kisten herumstanden, die zumeist mit Druckerpapier gefüllt waren, und von dem zwei weitere Türen zur Toilette und in den Hinterhof abgingen. Das Notausgangsschild über der letzten Tür war defekt, seit der Handwerker, der die Klimaanlage repariert hatte, mit dem Schraubschlüssel dagegengestoßen war. In der Küche deponierten sie ihre Lebensmittel im Kühlschrank. Als Christina den ersten Kaffee des Tages kochte, kamen zwei weitere Kollegen herein. Es war ein heißer, stickiger Tag, und alle waren froh, dass die Klimaanlage wieder funktionierte.

Die Kunden kamen heute recht schleppend in die Bank. Es war ein ruhiger Morgen, die üblichen Gesichter standen an den Tresen oder draußen im Vorraum an den Automaten. Christina hatte ihre Kaffeetasse neben dem Bildschirm abgestellt und bereitete ein Gespräch mit einer älteren Kundin vor, der sie vorgeschlagen hatte, das Konto zu wechseln, um weniger Gebühren zu zahlen. Die Dame kam überpünktlich, wie Christina es erwartet hatte.

Kurz vor der ersten Pause betrat ein Mann in Jeans und Lederblouson die Bank. Er trug eine Sonnenbrille, die er sich auf die sauber gescheitelten Haare schob, und sah sich suchend um. Ihre Kollegen waren alle beschäftigt oder im Gespräch, also stand Christina auf und kümmerte sich um den Kunden.

»Guten Morgen, wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.

Der Mann steckte beide Hände in die Hosentaschen und kam näher an den Tresen heran.

»Tja, also, ich würde gern ein Konto bei Ihnen eröffnen. Geht das?«

»Aber selbstverständlich«, antwortete Christina. Der Mann schaute sie nicht direkt an. Sein Blick glitt über ihre Schulter hinweg nach hinten, wo sich die Uhr und die Datumsanzeige befanden. Und die Überwachungskameras. »Sind Sie bereits Kunde bei uns?«

»Wie? Nein, nein. Ich… war bis jetzt woanders und wollte wechseln«, sagte er zerstreut und legte seine Hände auf den Tresen. Er hatte feingliedrige Finger wie ein Musiker und sehr kurze Daumennägel.

»Dann würde ich sagen, wir gehen an meinen Tisch dort drüben, da können wir alles in Ruhe abwickeln«, schlug Christina vor.

»Gut.«

Sie trafen sich hinter einem Aufsteller wieder, und Christina bot ihm den Stuhl vor ihrem Arbeitsplatz an.

»Möchten Sie etwas trinken, Herr…«

»Äh… Ludwig. Nein, nichts, danke. Oder doch, ein Glas Wasser, bitte.« Er leckte sich über seine trockenen Lippen und ließ sich in den Stuhl fallen.

Christina kam mit einem Glas Wasser zurück und setzte sich zu ihm. Sie glaubte erkennen zu können, dass er eine Perücke trug, während er den ersten Schluck nahm. Die Frisur sah zu exakt und das Haar zu dick und gleichmäßig aus. Vielleicht eine Krebserkrankung, aber dann wären auch seine Augenbrauen betroffen, die jedoch unbeeinträchtigt gewachsen waren.

»Es geht um ein Girokonto für Sie persönlich?«, fragte Christina.

»Genau.«

Er war recht kurz angebunden und dauernd abgelenkt. Wenn sich etwas im Raum bewegte oder ein Drucker ansprang, wanderte sein Blick sofort dorthin.

»Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«

»Ähm, Verkauf. Ich bin im Verkauf in einem Elektrohandel.«

»Was ich Ihnen anbieten könnte, wäre ein Girokonto mit sehr günstigen Kontoführungsgebühren, sofern die Eingänge auf dem Konto mindestens tausend Euro monatlich betragen.«

»Das kommt hin.« Er schielte auf den Bildschirm und setzte sich dazu etwas weiter auf.

Christina erläuterte ihm noch ein paar Details zu den Kosten und der Möglichkeit, eine Kreditkarte zu beantragen, die er aber kaum wahrnahm. Sein Blick folgte Sören, der einer Dame zu Hilfe eilte, die am Geldautomaten ihre Karte nicht zurückbekam.

»Haben Sie einen gültigen Personalausweis dabei?«, fragte Christina.

»Ach, brauche ich den?«

»Ja, ich müsste eine Kopie davon anfertigen.«

»Den kann ich nachreichen.«

»In Ordnung, aber Ihre Personalien können wir ja schon mal ins Formular eintragen«, schlug sie vor. »Ludwig war der Nachname. Wie ist denn Ihr Vorname?«

»Bernd.«

»Wohnhaft in?«

»Ich wohne noch in Wolfenbüttel, aber ich ziehe jetzt nach Braunschweig.«

»Ich brauche die aktuelle Adresse, Ihre neue müssten wir dann ebenfalls nachtragen.«

»Schlosserstraße32.«

»Und die Postleitzahl?«

Er stockte. »38305«, sagte er leise.

»Ihr Geburtsdatum?«

»Entschuldigen Sie, könnte ich hier vielleicht mal auf die Toilette gehen?«, fragte er. Er spähte in den Flur hinter Christina.

»Tut mir leid, das geht aus Sicherheitsgründen nicht«, sagte sie.

»Dann… könnte ich noch mal wiederkommen? Ich muss jetzt gehen.«

Er stand auf. Auch Christina erhob sich. Sie war etwas irritiert ob seines schnellen Aufbruchs.

»Gut, Herr Ludwig. Ich speichere das solange. Wollen wir einen Termin machen?«

»Nein, nein, ich komme einfach so vorbei.«

»Dann müssen Sie aber mit Wartezeit rechnen.«

»Kein Problem. Vielen Dank erst mal.« Er hob kurz die Hand und wandte sich zum Gehen.

»Und denken Sie an den Personalausweis«, rief sie ihm hinterher, und er nickte, ohne sich noch mal umzusehen.

Christina blickte ihm nach und sah ihn an der Fensterfront vorbeigehen. Dann speicherte sie die Datei ab und ging nach vorn an den Schalter, um eine Auszahlung zu machen.

Der weitere Tag verlief ruhig und routinemäßig, doch ständig schwirrte ihr dieser Mann im Kopf herum. Sein Verhalten und sein Aussehen waren ihr nicht nur merkwürdig, sondern geradezu verdächtig vorgekommen. Natürlich traf man in ihrem Beruf immer mal wieder auf recht wundersame, manchmal gar gestörte oder beängstigende Menschen. Aber sie hatte noch nie das Gefühl gehabt, das sie jetzt beschlich, nämlich, dass jemand Theater mit ihr spielte. Dieser Mann hatte überhaupt nicht die Absicht gehabt, ein Konto zu eröffnen. Aber was wollte er dann?

3

1979

Er saß in seinem Apartment in Jackson Heights am offenen Fenster und schaute hinaus auf die sonnenbeschienene Straße, auf die Menschen, die unter ihm vorbeigingen, und die Autos, die vorbeifuhren. Es war Sommer, einer der heißesten, die er je erlebt hatte. Früher hätte er es nie für möglich gehalten, dass es in einer Stadt wie New York so heiß werden konnte.

Sein Apartment, das er erst vor Kurzem bezogen hatte, lag in einem wirklich erträglichen Viertel im Norden von Queens, in dem es viele junge Männer in seinem Alter gab. Die Straßen waren belebt, hier nicht so extrem wie am Hafen oder in Downtown Manhattan, aber es war etwas los, es gab Leben und damit viele Dinge, die sich lohnten, beobachtet zu werden.