Inside Intelligence - Der BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste - Harald Gröhler - E-Book

Inside Intelligence - Der BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste E-Book

Harald Gröhler

4,8

Beschreibung

Der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) wird in diesem Buch durch eine hervorragende Recherche und persönliche Gespräche des Autors gehörig auseinandergenommen. Vor allem die zentrale Person von Reinhard Gehlen, dem Weichensteller und ersten Leiter des BND, dessen Vergangenheit im II. Weltkrieg als Leiter der Feindaufklärung "Fremde Heere Ost" die ersten Jahre des BND prägte. Diese Zeit wird beißend ironisch erzählt, die spätere Zeit und die heutige Gegenwart journalistisch gerafft. Die beiden Linien wechseln miteinander ab und geben dem spannenden Buch Dynamik und Farbe. Es ist brandaktuell, leistet es doch einen wichtigen Beitrag, um hinter die Fassaden des BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste zu blicken.

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Harald Gröhler

Inside Intelligence –

Der BND und das Netz der großen

westlichen Geheimdienste

Dezember 2015

Harald GröhlerInside Intelligence –Der BND und das Netz der großenwestlichen Geheimdienste

© Verlag Neuer Wegin der Mediengruppe Neuer Weg GmbHAlte Bottroper Straße 42, 45356 EssenTelefon +49-(0)-201-25915Fax +49-(0)[email protected]

Layout und Umschlaggestaltung:Mediengruppe Neuer Weg GmbH© Titelfoto: Original by Bernd Kasper© Foto Harald Gröhler: Brigitte Friedrich

ISBN: 978-3-88021-409-5eISBN: 978-3-88021-417-0

Harald Gröhler

Inside

Intelligence

Der BND und das Netz der großenwestlichen Geheimdienste

Verlag Neuer Weg

Zum vorliegenden Buch

Die Kapitel

Einleitung: Herrn Gehlens Tempo

Schweizer Gegebenheiten. Schweizer Vergangenheiten aus dem zweiten Weltkrieg, Schweizer Geheimdienste. Die Wikinglinie. Mr. Allen W. Dulles in Bern. Das auf Gehlen ausgesetzte Kopfgeld. Gehlen von Fremde Heere Ost, einer Zivilistin Lazarettzüge empfehlend

1. Die effektive Schlagkraft der Sowjets

Gehlen arbeitet an der Erhaltung seiner Stahlkoffer. Bad-Elster-Treff (Gehlen, Wessel, Baun) 1945 als entscheidende Weichenstellung. Baun: Agentennetz im Gepäck. Gehlen mit dem Amerikaner Sibert. Gehlen in USA 1945/46. In Fort Hunt bereits Fäden spinnend. Baun funkt ab März 1946 nach Osteuropa hinein. Baun und Gehlen stimmen sich ab. Die Atmosphäre in der Organisation Gehlen

2. Die Blue Houses im Taunus

Kuriere. Kennkarten und Amerikaner. Ein Koordinierungsbüro der Central Intelligence Group von Dulles. Dulles und dessen Schweizer OSS-Vorlauf. Covert Action. Bauns Funkanstrengungen durchkreuzt der englische KGB-Spion Philby. Ein Psychogramm

3. Das Pullacher Compound

3,1 Millionen Kriegsgefangene abschöpfen. Sowjetzonenflüchtlinge im Rasterverfahren. »Tote Briefkästen« 1946 und wieder im 21. Jahrhundert. Die Pullacher Umfassungsmauer, und das Leben dahinter. Der Berliner Neubau an der Chausseestraße. Org-Unterabteilung ›Sicherheit‹, alles überwuchernd. Disziplinierungen; hingegen die Ehefrauen. Vertrauenskrisen

4. Adenauer erfindet

Ein später immer verleugnetes häusliches Gespräch. Jahresetats. Filialen für die Organisation Gehlen. Neurosen und Informationsgewinn. Sperrkreise in Pullach. Decknamen, definitiv. Globke, dazu tretend. Die Bestechung der Globke-Vorzimmerdame

5. Der Vatikan

Eine Org-Außenstelle mit im Palais Schaumburg. Spion Felfe wird eingeführt. Wien. Die Neuverwendung der »rat line«; die Rolle von zwei Päpsten und des US-Dienstes CIC. Globke-Bestechung seitens Gehlens. Journalisten, um eine gute Presse zu bekommen. Zaisser, Wollweber, Wolf, MfS. CIA, Org und die übrig gebliebenen Displaced Persons. CIA-Guerilla-Kader, Afghanistan. Der pakistanische ISI. Osama bin Laden. Gehlen bekommt Kenntnis von der NSA. BND arbeitet mit dem Iraqi Intelligence Service zusammen. BND, Mossad

6. Umwandlung in den BND

Geldsummen. Der Treff Strauß, Eberhard Blum, Gehlen. Gesetzwidrige Inlandsaufklärung. NSA und NRO, Edward Snowden. Echelon. Das Geheimste des BNDs. Mira4 und Veras des BNDs. Verwandte einsetzen im BND. Die BNDFiliale in der Bergensgade, Kopenhagen. Die Herkünfte aller BND-Infos. Die Bedeutung von Auslandsagenten. Für mehrere Geheimdienste arbeiten?

7. Der französische SDECE

Die geheime Telefonnummer von Gehlen. Abwehrchef Canaris – Gehlens gefühlte Nähe, Irrtum. Kopenhagener Auslandsfilialen SDECE und CIA, Beziehungen untereinander. Gegenspionage-Phänomene

8. Entsorgungsprobleme

Geheimdienstvernetzung und Animositäten. PCVerbindungen im BND. Gehlens intransigenter Hass auf de Gaulle. SDECE, DGSE, CIA. Homebasing des CIA seit 1996 und die bin-Laden-Einsatzgruppe. Nie ausgezahltes Gehlen-Kopfgeld; das bin-Laden-Kopfgeld. Das Thema Sicherheit bei Geheimdiensten. Das deutsche BSI-Amt. Wirtschaftsspionage, William Binney und die NSA. Snowden, Helfer Snowdens. Medienbewegungen. Schindlers BND-Beteuerung. »Abwerbung« einst in der DDR, der lange Arm des KGBs. BND-Papierabfall

9. »Ehrungen«

Die Zeit einer Sekretärinnenherrschaft. Der unbekannte KGB. Eine Verhaftung; und Warnungen schleunig jetzt zerreißen. Humint, Sigint, Techint. Das Fichtelgebirge contra Satellitenkommunikation. Der BND und das HiROS-6-Satelliten-Projekt. BND-Schindler widerspricht 2014 einem EU-Untersuchungsausschuss

10. Antifolter

Die Gladio-Einheit. Umgang mit ihr unter den verschiedenen BND-Präsidenten. Herbert Wehner töten. Waffen ausschalten; Waffenelektronik heute. »RMA«. Das Veralten der geheimen Informationen. Westliche Geheimdienste und doch Mord-Erlaubnis. BND plus Augstein contra Strauß. Eine Sause Augstein, Strauß

11. Tochter Gehlen spuckt

Die größte Pleite des BNDs? Bei Professor Erhard im Palais Schaumburg: Gehlen. Der BND, die SS. Die Crome-Untersuchung, von Gehlen selber wieder unterlaufen. Zahlen-Belege. Eine Linksverdächtigen-Kartei in Pullach. Paul Thümmel und die SS

12. Geld waschen und Ausspähung

Neue Aufgaben. Lockresidenturen. Vagabundierendes Plutonium. Waffen, BND-Verkäufe aus Bundeswehrbestand und Kanzler Erhards diesbezügliche Interessen. Biologische Waffen und BND. Die gigantischen Informationsmengen. Die NSA findet Uschi. Schlüsselwörter gebrauchen. Ein Handy herumliegen lassen. Sein Handy dabeihaben und sterben. Eine neue Bewusstseinslage. Assange, WikiLeaks. Wieder Snowden-Helfer. Müller-Maguhn vom Chaos Computer Club. Gesetzgebung vom Transatlantik her ausstrahlend. Angela Merkel

Literatur

Personenverzeichnis

Zum vorliegenden Buch

Das Buch »Inside Intelligence – Der BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste« geht von den Anfängen des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND) aus. Daraus leiten sich bis heute das Image, die Präsenz des BNDs sowie die jetzigen Beziehungen des BNDs zu anderen dominierenden westlichen Geheimdiensten ab.

Entscheidend ist, dass das Buch auf Tatsachen basiert: Es baut auf den Dutzenden Gesprächen auf, die der Autor Harald Gröhler mit Uschi Mauve führen konnte, die 15 Jahre lang zu Reinhard Gehlen persönlich Zugang hatte und die Tochter einer Freundin Gehlens aus den Zwanzigerjahren ist. Die Daten und der Text weisen somit eine konkret-persönliche, authentische Seite auf, wie sie sonst inzwischen gar nicht mehr zu haben ist. Andere Bücher über den BND – und die Autoren dieser Bücher – sind nie so nah an die zentrale Person Gehlen herangekommen.

Dass der BND nach wie vor etwas Geheimnisvolles, ja manchmal Unheimliches hat und nicht einfach als ein Netzwerk wie andere begriffen wird, liegt vor allem an der Herkunft des BNDs. Die Strukturen wurden schon durch die Vorgängerorganisation festgeschrieben. Das war die als ›Organisation Gehlen‹ in den Sprachgebrauch eingegangene, in Wahrheit lange unbenannt gewesene Spionagegruppierung, die Gehlen von 1946 an aufzog.

Gehlen wird in diesem Buch nicht gehätschelt. Er wird vor allem spöttisch behandelt. Wo kam Gehlen her? Er war Generalmajor der Wehrmacht und in der zweiten Hälfte des zweiten Weltkriegs Leiter der militärischen Feindaufklärung Fremde Heere Ost.

Am 4. 4. 1945 entwickelten die drei ›Feindaufklärer‹ Gehlen, Baun und Wessel (der später, ab 1968, BND-Präsident war) ein Aktionskonzept für einen neuen deutschen Geheimdienst in der zu erwartenden Nachkriegszeit. Gehlen wurde zwei Wochen nach Kriegsende in den bayerischen Alpen vom CIC, der Abwehrpolizei der US-Army, gefangen genommen; aber Gehlen verstand es dann, sich ganz an die Amerikaner und ab 1946 an den soeben gegründeten CIA anzulehnen. Mit dem Gründer des CIA, Allen W. Dulles, verband ihn allmählich Freundschaft. Der CIA finanzierte vollständig die Organisation Gehlen, und Gehlen ließ den CIA teilhaben an sämtlichem Material, das die Org (Organisation Gehlen) erstellte. Am 1. 4. 1956 wandelte Gehlen sein Spionagenetz mit Adenauers Zutun in den BND um.

Die Org und der frühe BND haben in der westlichen Welt eine komplette Generation beeinflusst und von daher auch viele von uns heute Lebenden. Org und BND gaben an bundesdeutsche Regierungsmitglieder und an den CIA die Spionage- Auswertungen weiter: Diese Informationen waren immer tendenziell ausgesucht und oft mit kalter Hand überzeichnet. Vor allem auf ihnen fußten lange Zeit die US-Außenpolitik – der Sowjetunion gegenüber – und Adenauers Politik. Der BND wusste darüber hinaus immer die überregionale Presse und die großen Medien zu instrumentalisieren, meist über verdeckt honorierte Journalisten. Org und BND prägten auf die Weise die Wertesysteme des Westens im Kalten Krieg mit, bis in die Mitte der Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts (BND-Präsident Gehlen wurde 1968 pensioniert).

Die Weichenstellungen aus der entscheidenden Anfangszeit werden bis heute weiter verfolgt. Mit eingegangen wird dabei auf Parallelentwicklungen oder konträre Entwicklungen von anderen großen westlichen Diensten, auf die Verzahnung des BNDs mit anderen fremdstaatlichen Geheimdiensten, auf die Überflügelung des BNDs durch die US-Geheimdienste NSA und NRO, die über gigantische finanzielle Ressourcen verfügen. Die neuen Entwicklungen erscheinen in dem Buch in größerem Zusammenhang. Neue Arbeitsfelder des BNDs und die älteren, teilweise schlicht illegalen – wie der BND-Waffenhandel in Spannungsgebiete hinein – werden deutlich gemacht.

Die Reaktion einer breiten Öffentlichkeit auf die geheimdienstlichen Mega-Ausspähungen ist von den Geheimdiensten so nicht erwartet worden. Vor allem seit Edward Snowden (Juni 2013) ist die Allgemeinheit aufgeschreckt, sie fängt ernsthafter an sich zu wehren. Der BND geriet ein weiteres Mal in den Fokus der Medien. Ausgespäht zu werden, das lässt die Bürger nicht mehr gleichgültig.

Der Autor Harald Gröhler hat den dubiosen, schillernden Mann Gehlen mehrere Male auf dessen Privatgrundstück und in dessen Haus in der Waldstraße in Berg treffen können (unter geheimsten Vorkehrungen Gehlens). Mehrmals sprach er mit einem der entscheidenden Gegner Gehlens, mit Markus (›Mischa‹) Wolf vom Staatssicherheitsdienst der DDR. Insgesamt 5 400 Stunden Recherche stellte der Autor an für dieses Buch – und doch nicht zu viel über die mehr denn je uns alle tangierende Geheimdienstwelt.

Einleitung Herrn Gehlens Tempo

»Kemmeriboden-Bad!« ruft der Postbusfahrer nach hinten, ohne seinen Kopf zu wenden.

Kemmeriboden-Bad, das ist ein kleiner, ja winziger Badeort in der deutschsprachigen Schweiz. Südöstlich von Bern, nördlich von Interlaken. Die Badeabteilungen alle in Stein aufzuführen, dazu hat es in Kemmeriboden nicht gereicht. Das Bad ist von der »Krankenversicherung«, den schweizerischen Krankenkassen, vergessen. Und wenn ein Heilbad so sehr vergessen ist, dann vermutet in den holzgebauten Bade-Anlagen auch kein Mensch geheimdienstliche Aktivitäten. Nicht einmal der einheimische schweizerische Armeenachrichtendienst AND wird sich hier betätigen, nicht einmal der schweizerische Strategische Nachrichtendienst SND; der Dienst für Analyse und Prävention DAP argwöhnt hier nichts und nicht das Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces, das mit Unterstützung der Schweizer Regierung arbeitet. Und sonst? Die Herren etwa des Referats Schweiz / Liechtenstein des Amts VI B 3 vom Reichssicherheitshauptamt sind seit 1945 ausgeräuchert. Durch die hatte Herr Gehlen aber noch von Kemmeriboden-Bad Kenntnis erlangt. War deshalb die Vermutung, Kemmeriboden-Bad sei geheimdienstlich belanglos, doch etwas vorschnell? Ein Dutzend Badegäste tummeln sich schon allemal hier.

Bezahlt und gesponsert von Reinhard Gehlen spannen in Kemmeriboden-Bad Helene und deren knapp erwachsene Tochter aus, ein paar Tage lang.

Von Reinhard sprechen sie. Reinhard, dem Geheimdienst-As, dem berühmten und gleichzeitig unbekannten Mann, den Helene Mauve eben doch noch besser kennt als Tochter Uschi. »Das Tempo« – sagt Helene zu ihrer Tochter – »das gibt Reinhard an, das bestimmt der.«

Helene gesteht ihrer Tochter noch anderes; Uschi nimmt sie ins Kreuzverhör, und Uschi wird von Frage zu Frage klüger. Niemals etwa hatte sich Helene Koketterie geleistet. Dabei war, kokett zu sein, flott zu sein, nach dem ersten Weltkrieg schwer in Mode gekommen, besonders bei Großstädterinnen. Überall um Helene herum flirteten Gleichaltrige damals; neben Helene beispielsweise deren eigene Schwester. Ob Helene nicht gewusst hatte, wie das anstellen – zu flirten –, oder ob sie das nur verabscheut hatte, darüber schweigt sich Helene aus, auch vor Uschi. Oder gar dass Helene einen Flirt bis zu der Gegend ihrer Oberschenkel hin verlängert hätte, auf keinen Fall.

Aber irgend etwas, wenn schon nicht süßes verheißungsvolles Petting, musste Helene doch treiben. Sie kletterte; dies anfänglich als kleines Mädchen und versuchsweise, an der Scheibe der Wohnzimmertür, später nicht ganz so steil mehr in den Hirschberger schlesischen Falkenbergen und am Eiger (Nordwand). Hier im Berner Oberland hatte sie sich auch für das Gehen einige Male einen Bergführer genommen, sie war nicht hundertprozentig schwindelfrei, und weil sie immer schnell an das Wohl ihrer Mitmenschen dachte, missbilligte sie Schludrigkeit sogar in der Schweizer Bergwelt, sie hatte an einem Abgrund zu dem Bergführer neben sich gesagt: »So ein gefährlicher Abschnitt hier? Da gehört doch wirklich ein Geländer her!«

»Halten zugute, das gnädige Fräulein: Hatten wir ja früher auch. Aber auf die Dauer ist das einfach dem Kanton zu teuer geworden …«

»Zu teuer. Zu teuer!«

»… die Touristen haben die Geländer immer mit sich in die Tiefe gerissen.«

Uschi will eigentlich nur von den Flirts noch mehr wissen; Helene zögert schon wieder mit Antworten. Helene zögert nicht nur wegen Uschis indiskret werdenden Fragen, sondern sie kommt sich in dieser gottverlassenen Holzwändebadeanstalt unbehaglich vor. Sie denkt auch daran, was für ein Kopfgeld auf ihren Jugendfreund Reinhard ausgesetzt ist. Eine Million. Und ihr dämmert es, dass sie unter dem Schutz dieses so gefährdeten Mannes ungeschützt ist; sie und ihre Tochter. Die Tochter ist vielleicht noch mehr gefährdet, denn die arbeitet jetzt bei Reinhard mit. Helene stellt sich mehrfach vor, eine dieser quietschenden Holztüren geht auf. Öffne sich, von allein. Oder eben nicht von allein, und jemand Unerwartetes erscheint auf der Bildfläche. Sie deutet nun auch vor Uschi an, im zweiten Weltkrieg habe es seltsame Verbindungen gegeben vom deutschen Oberkommando der Wehrmacht (OKW) zu schweizerischen höchsten Dienststellen, und über die immer schon dunkel gewesene so genannte Wiking-Linie des deutschen OKWs zum Schweizer Generalstab sei bis heute noch nicht das letzte Wort gesprochen. Helene merkt dabei, dass ihrer Uschi die Wiking-Linie überhaupt unbekannt ist. Das beunruhigt Helene erneut. Genauso die Beziehungen führender SS-Chargen zu Mr. Dulles, sagt Helene nach einer Stunde nervösen Wasserplätscherns und Badens, lägen noch verflixt im Dunkeln. Dulles war im Herbst 1942 als Sonderbeauftragter des Präsidenten Franklin Delano Roosevelt in Bern eingetroffen, hier nahebei. Allen W. Dulles war, genauer gesagt, der Büroleiter des amerikanischen Geheimdiensts OSS in Europa und Dulles hatte von Bern aus mit seinen Spionen telefoniert. Die Kontakte von Dulles zu leitenden SS-Angehörigen waren auch noch sehr ungeklärt. Kontakte seit 1944. Walter Schellenberg, saarländischer Fabrikantensohn, sehr gewandter Chef des politischen Auslands-Nachrichtendiensts im Reichssicherheitshauptamt, musste da eine Rolle gespielt haben. Diesem noch jungen Schellenberg ging es zurzeit miserabel schlecht; der SS-Mann war krank.

Den Mr. Dulles hatte Uschi von Reinhard Gehlen schon einmal nennen hören. »Indem du mich dauernd hier beruhigst …«, fing Helene vor Uschi wieder an.

Die Antwort, die jugendliche, die ihr zuteil wurde: »SS, Krieg, das ist doch schon Jahre her!«

»… indem du mich egal beschwichtigst, machst du mir erst recht Angst. Um so mehr. Tu mich doch nicht so beruhigen.«

»Ach, aber Mama.«

Um 1943 hatte Reinhard Gehlen vor Helene durchblicken lassen, dass er bei den langmanteligen, eng ledergegürteten Wehrmachtsoffizieren in einer Abteilung »Fremde Heere Ost« sein Wesen treibe. Mehr sagte er ihr nicht und mehr wusste sie damals von dieser Abteilung nicht. Es war schon viel – und knapp am Rande des Erlaubten –, dass Gehlen der Zivilistin die bloße Bezeichnung nannte.

Reinhard Gehlen war in kurzer Zeit hoch aufgestiegen in der Militärhierarchie. Und zielstrebig arbeitete Gehlen weiter an seinem Ruf, er könne besser als jede andere Person westlich der sowjetisch-deutschen Hauptkampflinie voraussagen, was die Sowjets jeweils vorhatten. Der Ruf war auch Hitler zu Ohren gekommen, vor allem hatte Gehlen aber den Ruf bei Heinz Guderian, dem charismatisch trotzigen, dem von Hitler schließlich wieder eingesetzten Panzertruppenorganisator, der so kleinwüchsig war wie Gehlen, nur noch dazu gedrungen.

Als die Rotarmisten stetig westlich vordrangen, monatelang, wusste Reinhard Gehlen in den letzten Januartagen 1945: am zehnten Zweiten etwa würden sie in Breslau sein. Bei dem langen Weg, den die Roten bereits zurückgelegt hatten, konnte einer dieses Datum zum Schluss gut ausrechnen. Sogar Breslauer Muttchen konnten das.

Reinhard Gehlen trug schwer an seinem Wissen. Deshalb telefonierte er der verheirateten Helene durch, der Freundin: »Flieh jetzt schon mal! Ich hätte hier einen Lazarettzug für dich«, und die in Hirschberg lebende Strohwitwe Helene wollte nicht. Gehlen nervte sie mit mehreren fast gleich lautenden Kurzgesprächen, jeweils einen Tag Abstand schaltete er dazwischen ein, und schließlich wandelte er etwas ab: »Das ist jetzt der letzte Lazarettzug, der durch euer Gebiet ins Westreich weiterfährt. Danach geht keiner mehr.«

Er sagte das Helene alles telefonisch, ließ sich selber nicht anrufen und machte auf die Weise Helene ziemlich Angst. Letzter Lazarettzug? Sie packte ein, ihr Mann war weg und stand beim Volkssturm – einer für sie völlig abstrakten Formation, einer Ansammlung von Menschen –, und sie wurde von ihren Schwiegereltern zum Hirschberger Güterbahnhof gebracht. Dort und nicht auf dem Personenbahnhof wartete, im Dunkeln, in der Schwärze, der absonderliche Zug voller Verwundeter. Die Verbundenen würden gleich noch etwas mehr zusammenzurücken haben; die wenigstens, die saßen und nicht lagen. Der Lazarettzug zog sich unwahrscheinlich lang hin. Die Lampen an den Lichtmasten über den Gleisen brannten nicht.

Helene wollte nach Oberfranken hingelangen, dort war Uschi. Ihre große Tochter war nach Tschirn, Oberfranken, als Pflichtjahrmädchen gekommen und in Tschirn in dieser Endphase des Krieges hängen geblieben; die Laune der quertreiberischen, eigensinnigen Erstgeborenen erwies sich nun als zukunftsträchtig.

Hier im Lazarettzug war die Welt anders. Um Helene und ihre zwei Söhnchen waren ausschließlich weiß bandagierte Soldaten; der gesamte Zug war mit denen voll. Sie wurde von den Bandagierten angesprochen und war freundlich von ihnen umgeben, ihre Söhne wurden hochgehoben und herumgereicht. Nur wollte Helene gern einmal einen einzigen nicht irgendwo weiß verbundenen Soldaten sehen.

Gehlen überblickte wohl besser russische Offiziersabsichten als deutsche. Er wusste nicht, dass dieser surreale Mullsoldatenzug in Prag neue Order empfing und seine Route ändern musste: der Zug rangierte auf ein Gleis in den Balkan, damit weitere Verwundete dann dort aufgenommen würden, und rollte auf diesem Gleis immerhin noch bis Ungarn, wo ihn, vom Lokführer bis zum letzten Bandagierten, sein Schicksal ereilte. Der Zug flog in die Luft. In Prag-Hauptbahnhof zuvor stiegen die zwei Kinder mit Helene aus, und Helene schlug sich in überfüllten Flüchtlingszügen, die derzeit voller Slowakinnen waren und in denen sie ihr zweieinhalbjähriges Kind verlor, bis an die Saale durch. Mit dem Kinderwagen kam sie an einer Abteiltür nicht vorbei; so büßte sie außerdem den Kinderwagen ein. Nichts hatte Reinhard vorausgesehen. Wahrscheinlich deshalb gestand Helene noch nach zwölf Jahren: »Ich bereu’ nicht – nein, nein –, den Kurt geheiratet zu haben.« Sie sagte das immer, wenn die Rede auf Reinhard kam.

Reinhard Gehlen war überzeugt davon, sie würde ihm wegen des Lazarettzugs unendlich dankbar sein. Im Vorfeld zu der Kemmeriboden-Erholungsreise, als Gehlen und Helene sich endlich einmal wieder sahen, erschien ihm Helene aber als einigermaßen kühl. Das fuchste den eitlen Mann. Der Geheimdienstboss kannte sich mit dieser Frau nicht richtig aus. Helenes Uschi, die mit dabei war, schüttelte selber über ihre Mutter kurz den Kopf. Reinhard redete dann auch Klartext. »Helene: Also dass ich dich da zu den Lazarettzügen im Januar, im Februar 45 gedrängt hatte und dass ich dich deshalb angeläutet hatte …«

»Ja?«

1. Die effektive Schlagkraft der Sowjets

Gehlen war ein Mann, der gern den geheimen Tätigkeiten anderer nachforschte; wobei er unbedingt geheim bleiben wollte. Sein Wunsch ging in Erfüllung: Reinhard Gehlen ist heute weidlich unbekannt. In den Fünfziger und Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts kannte den Gehlen fast jeder in der westlichen Bundesrepublik. Allerdings kannte man ihn nicht von Angesicht. Von nahem kannte ihn kaum einer. Er trug eine pechschwarze Sonnenbrille, und im Freien trug er, tief ins Gesicht hinein gezogen, manchmal einen Hut.

Mit seiner Ausforscherei brachte er es zu etwas. Zum Generalmajor befördert worden war er am dritten Dezember 1944. Und was mehr wog – denn General wurde ja so mancher –, er diente als Chef der Stabsabteilung Fremde Heere Ost. Das heißt, er überzog die sowjetischen Armeen mit umfassender Spionage. Mit derartiger Spionage beschäftigte er sich schon seit dem 1. April 1942. Da war er noch Oberst gewesen und – empfohlen von General Adolf Heusinger – damit betraut worden, aus der unzulänglich funktionierenden Abteilung Fremde Heere Ost (FHO) eine effiziente Arbeitsgruppe zu formen. Gehlen kam dem nach mit Kriegsgefangenenvernehmungen, Funk- und Luftaufklärung, geheimem Meldedienst. Frontaufklärung, Gegenspionage, Feindlagenanalyse ermöglichten Herrn Gehlen allmählich, die jeweiligen Absichten der sowjetischen Armeeführer oft zutreffend einzuschätzen und damit vorauszusagen. Über all dem vernachlässigte Gehlen fast völlig die Skandinavien- und die Balkangruppe der FHO, die ihm auch noch unterstanden. Dieser weitere Auftrag Gehlens wird heute ständig vergessen.

Ende März 1945 war die Front, die Ostfront, schon arg nach Westen zurückgenommen worden. Bad Elster liegt freilich nicht im Osten, sondern in Südsachsen, und am vierten Vierten fünfundvierzig traf sich Gehlen in Bad Elster mit noch einem großartigen Frontaufklärer: mit Hermann Baun. Der war Oberstleutnant und sprach Deutsch nach Art eines östlichen Auslandsdeutschen, weich und rollend; dunkler als sie im »Reiche« sprachen, und Baun, aus Odessa, sah sich deshalb oft von grinsenden Offizieren umgeben: Baun erheiterte oft genug die hochnäsigen mitteleuropäischen, kerndeutschen Nachrichtenoffiziere. Unfreiwillig bewirkte er das … was anderen weder beabsichtigt noch unabsichtlich gelang. »Köstlich, köstlich«, bekam er völlig sachfremd von früh bis spät immer wieder zu hören.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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