Inside KSK - Philipp Schaaf - E-Book

Inside KSK E-Book

Philipp Schaaf

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Beschreibung

Fast 20 Jahre diente Philipp Schaaf beim Kommando Spezialkräfte, kurz KSK, das als bestausgebildete Truppe der Bundeswehr gilt. Ursprünglich aufgestellt, um deutsche Geiseln im Ausland zu befreien sowie den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, dringt über das KSK bis heute wenig nach außen. Ausbildung und Einsätze werden streng geheim gehalten, das Headquarter in der Graf-Zeppelin-Kaserne in Calw ist von der Öffentlichkeit abgeschottet. In diesem autobiografischen Buch erzählt der ehemalige Oberstabsfeldwebel die Geschichte seiner außergewöhnlichen Karriere. Eindringlich beschreibt er die physisch und psychisch extrem fordernden Auswahlverfahren, zum Beispiel die sogenannte Höllenwoche, sowie die mehrjährige Spezialausbildung, die hierzulande einzigartig ist. Schaaf galt als Vorzeigesoldat. Er absolvierte mehrere Auslandseinsätze, stieg ins Führungsteam seiner Kompanie auf und wurde als Verbindungsoffizier beim Einsatzführungskommando der Bundeswehr eingesetzt. In einer ehrlichen und selbstkritischen Rückschau auf seine Dienstzeit gibt er Einblicke in das verborgene Innenleben der Elitetruppe, berichtet von geheimen Einsätzen, bei denen deutsche Soldaten starben, und deckt Hintergründe des bisher größten Skandals beim KSK auf, in dessen Folge er selbst vor Gericht und im Gefängnis landete.

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Philipp Schaaf mit Fred Sellin

INSIDE KSK

Philipp Schaaf mit Fred Sellin

INSIDE KSK

Ein Ex-Kommandosoldat über das verborgene Innenleben der Eliteeinheit und ihre Skandale

Originalausgabe

1. Auflage 2023

© 2023 by Yes Publishing – Pascale Breitenstein & Oliver Kuhn GbR

Türkenstraße 89, 80799 München

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Ivan Kurylenko (hortasar covers)

Umschlagabbildung: Thomas Malik

Layout und Satz: Daniel Förster

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-96905-274-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96905-276-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96905-275-4

Inhalt

Brandbrief des Kommandeurs

Teil 1 Game over

Konsequenzen

Altrömische Rituale

Schwere Vorwürfe

»Macht Unmögliches möglich«

Missstände bei der Elitetruppe

Verschärfte Einzelhaft

Schuldig und unschuldig

Aus dem Urteil

Teil 2 Der wille entscheidet

Die Höllenwoche

Noch mehr Prüfungen

Überleben im Gelände

Kommandoanwärter

Der Stresstest

Taktiken, Übungsplätze, Sanitätsausbildung

In der Kommandokompanie

Mythos KSK

Teil 3 Im einsatz

»Anweisungen für den Fall meines Todes«

Rustaq

Planung vs. Realität

In memoriam

Mythos KSK, Part II

Nachtrag und Dank

Das Buch basiert auf wahren Begebenheiten, wie ich sie erlebte. Ich schildere die Ereignisse aus meiner Sicht, die zwangsläufig eine subjektive sein muss. Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen, um ihre Identität zu schützen und um dem Geheimnisschutz gerecht zu werden, wurden die Namen aller Personen anonymisiert, manche Handlungen an andere Orte verlegt und bestimmte Details verändert.

Ich war mit Leib und Seele und aus tiefster Überzeugung Soldat. Mit der Entscheidung für diesen Beruf habe ich geschworen, meinem Vaterland, der Bundesrepublik Deutschland, treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Verfassungstreue, Pflichtbewusstsein, Kameradschaft und die Werte unserer freiheitlichen Grundordnung waren stets Basis meines Tuns. Und doch habe ich Fehler begangen, von denen der schlimmste eine Straftat, ein Verbrechen darstellt – was ich zutiefst bereue.

Brandbrief des Kommandeurs

Kommando Spezialkräfte

KSK

Kommandeur

Postfach 1363

75353 Calw

Calw, 18.05.2020

Soldatinnen und Soldaten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseres Kommandos Spezialkräfte,

ich wende mich heute auf diesem Weg in schriftlicher Form an Sie. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie verbieten es, derzeit eine weitere der Ihnen wohlbekannten Informations- und Weiterbildungsveranstaltungen mit großer Teilnehmerzahl einzuberufen. Doch die Dringlichkeit und Bedeutung meiner Botschaft an Sie alle erlaubt keinen Aufschub.

Unser Verband und seine Menschen, also Sie alle, sind wahrlich erfahren im Umgang mit Krisen, Konflikten und besonderen Lagen unterschiedlichster Art, bis hin zum Umgang mit Tod und Verwundung. Doch die derzeitige Krise unseres Verbands hat einen deutlich anderen Charakter und eine für uns alle neue Dimension erreicht. Ich meine nicht zu übertreiben mit der Feststellung, dass unser Verband derzeit die schwierigste Phase seiner Geschichte erlebt.

Inmitten unserer Gemeinschaft befanden und befinden sich offensichtlich noch immer Individuen, die dem sogenannten rechten Spektrum zuzuordnen sind. Ob durch ihre fehlende Verfassungstreue, ihre Nähe zur Bewegung der Reichsbürger oder ihre rechtsextremistische Gesinnung und Unterstützung rechtsextremistischer Ideologien, sie alle haben dem Ansehen des Kommandos Spezialkräfte und der Bundeswehr als Ganzes, aber auch jeder und jedem Einzelnen von uns ganz persönlich, massiven Schaden zugefügt.

Einen schockierenden Höhepunkt setzt nun der aktuelle Fall vom 13. Mai 2020. Der Betroffene wurde nach Befragungen durch Ermittler des Bundesamts für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD) und des Landeskriminalamts Sachsen sowie Durchsuchungen an seinem Wohnsitz und am Standort Calw vorläufig festgenommen. Seit 14. Mai befindet er sich in Untersuchungshaft. Zudem habe ich gegen ihn ein Verbot zur Ausübung des Dienstes, verbunden mit einem Uniformtrageverbot, verhängt.

Die Ermittlungen zu diesem Fall laufen in enger Zusammenarbeit von zivilen Strafverfolgungsbehörden, dem BAMAD und unserem Verband auf Hochtouren. Insbesondere die Zuordnung der gefundenen Waffe, Munition und Sprengmittel, sein Motiv und seine mögliche Vernetzung mit Gleichgesinnten stehen hierbei im Mittelpunkt. Doch eines ist schon jetzt klar, dieser Fall stellt eine neue alarmierende Qualität dar.

Wir müssen uns der Realität stellen, denn unser aller Ruf, die Reputation unseres Verbands und das Ansehen der Bundeswehr stehen auf dem Spiel. Gerade an uns, als dem Kern der Spezialkräfte der Bundeswehr, müssen die höchsten Ansprüche in Haltung, Pflichterfüllung und treuem Dienen gestellt werden. Ein tadelloser Charakter, eine gereifte und stabile Persönlichkeit sowie ein unerschütterliches Wertefundament, basierend auf den Werten unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung, müssen der Anspruch an uns selbst, also an jede und jeden in unserem Team sein. Denn die Werte unseres Grundgesetzes verleihen unserem Dienen erst Sinn, Wirkung und damit Wert.

Das Vertrauen unserer Gesellschaft, unseres Parlaments sowie unserer politischen Leitung und militärischen Führung in unser vorbildliches Wertefundament ist somit Voraussetzung und Basis für unseren Dienst und unsere militärische Aufgabenerfüllung.

Wir alle haben geschworen, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Das heißt, Verfassungstreue ist unsere Pflicht und Mäßigungsgebot sowie Wohlverhaltenspflicht gehören untrennbar dazu. So haben wir unsere Verfassung nicht nur anzuerkennen, sondern müssen aus innerer Überzeugung und Pflichtbewusstsein innerhalb und außerhalb des Dienstes, ob in oder ohne Uniform, aktiv für sie eintreten und sie verteidigen. Der Präsident des BAMAD bringt es in seinem Vorwort zum MAD-Report 2019 auf den Punkt:

»Verfassungspatriotismus ist unser Beruf.«

Damit rufe ich all denjenigen, die sich möglicherweise noch in unseren Reihen befinden und genau wissen, dass sie diesen verbindlichen Ansprüchen und Anforderungen nicht gerecht werden oder gar mit dem rechten Spektrum sympathisieren, klar, unmissverständlich und entschlossen zu:

Sie verdienen unsere Kameradschaft nicht!

Sie gehören nicht zu uns!

Sie sollten aus eigenem Antrieb unseren Verband und die Bundeswehr verlassen!

Tun Sie es nicht, werden Sie feststellen, dass wir Sie finden und entfernen werden!

Unsere Bundesministerin der Verteidigung hat bereits mehrfach klargestellt: »Niemand, der in radikaler Art und Weise in unseren Streitkräften auffällt, hat in der Bundeswehr Platz.«

Und somit rufe ich all den Verfassungspatrioten des Kommandos Spezialkräfte zu:

Wir werden gemeinsam diese eingeschlagene und konsequente »Null-Toleranz-Linie« entschlossen weiter umsetzen.

Wir werden die vollständige und umfassende Aufklärung aller Fälle mit all unserer Kraft und unseren Möglichkeiten vorantreiben und unterstützen. Das liegt in unserem ureigenen Interesse.

Ich darf Ihnen aber auch versichern, dass bei der Aufklärung der Vorhaltungen in jedem einzelnen Verdachtsfall die rechtsstaatlichen Grundsätze und Regelungen der Wehrdisziplinarordnung gewahrt bleiben werden. So müssen auch Vorverurteilungen oder Verallgemeinerungen auf alle Angehörigen unseres Verbands unterbleiben.

Und seien Sie sich gewiss, bei diesem umfassend angelegten Aufklärungs- und Veränderungsprozess wird nicht übersehen werden, dass die weit überwiegende Mehrheit von Ihnen tadellos, vorbildlich verfassungstreu und hochmotiviert unserer Bundesrepublik treu dient und unser aller Recht und Freiheit unter Einsatz ihres Lebens tapfer verteidigt.

So verstehe und teile ich auch Ihren Wunsch und den Ihrer Familien nach einer sachlichen, auf Fakten beruhenden und fairen Berichterstattung sowie insbesondere nicht unter Generalverdacht gestellt zu werden. Doch um dieser berechtigten Forderung Nachdruck zu verleihen, müssen wir als Gemeinschaft auch unseren Beitrag zur Veränderung entschlossen und wahrhaftig leisten!

Somit rufe ich Ihnen, den Verfassungspatrioten des Kommandos Spezialkräfte, erneut zu:

SIE sind der Schlüssel zur Veränderung unseres Verbands!

SIE machen mit Ihrer Wahrhaftigkeit und mit Ihrer richtig verstandenen Kameradschaft den entscheidenden Unterschied!

SIE sind das Kommando Spezialkräfte!

Gemeinsam werden wir das Kommando Spezialkräfte der Zukunft gestalten:

Professionell, modern und einsatzbereit mit strategischer Relevanz für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und seiner Bürgerinnen und Bürger und auf Basis eines verdienten Vertrauens von Parlament und Gesellschaft.

Um dieses Ziel zu erreichen, wird wie so oft in unserer Geschichte gelten:

Der Wille entscheidet!

Ich danke Ihnen für Ihren treuen Dienst, Ihr entschlossenes und richtungsweisendes Handeln und Wirken für unser Kommando Spezialkräfte der Zukunft.

Mit kameradschaftlichen Grüßen,

Ihr

(Unterschrift)

Brigadegeneral

Teil 1

Game over

Konsequenzen

Mittwoch, der 13. Mai 2020. An diesem Tag sollte mein Leben an die Wand fahren. Ein Vollcrash, und zwar der übelsten Art, den ich mir allerdings selbst eingebrockt hatte. Nichts würde danach sein wie vorher, aber das wusste ich noch nicht, ahnte es nicht einmal, als ich an dem Morgen zwischen Aufstehen und Hausverlassen die gewohnte Routine ablaufen ließ, mit den Gedanken voraus, konzentriert und zügig, um keine Zeit zu verplempern – wie es nach all den Jahren des Soldatseins in mir drinsteckte.

Ich wohnte in Schwarzenberg, Landkreis Calw, Baden-Württemberg, in einer Wohnung zur Miete, war also Heimschläfer, wie es bei der Bundeswehr heißt. Der Ort gehört zur Gemeinde Schömberg, die sich auf einem Höhenzug südlich von Pforzheim erstreckt, etwa 650 Meter über dem Meeresspiegel. Nur um es grob zu verorten – es gibt ungefähr ein Dutzend Schwarzenbergs in Deutschland.

Die Wohnung teilte ich mit Anna. Sie war damals meine Freundin, mittlerweile sind wir verheiratet. Anna diente wie ich beim Kommando Spezialkräfte, dem KSK. Dort hatten wir uns auch kennengelernt. Sie gehörte dem Spezialhundezug an, ich der 2. Kommandokompanie. Jener Kompanie, die seit geraumer Zeit öffentlich am Pranger stand, unter Beschuss von Journalisten, Bundeswehrgegnern aller Lager und nicht zuletzt von Politikern – bis hin zur obersten Chefin aller Soldaten, der Verteidigungsministerin. Das war zu der Zeit Annegret Kramp-Karrenbauer, bei uns hieß sie nur AKK. Wie es im Politikgeschäft gern gemacht wird, hatte sie mit dem markigen Spruch vom »eisernen Besen« medienwirksam verkündet, bei unserer Truppe durchkehren zu wollen.

Zurück ging das Ganze auf eine Geschichte, die in den Medien als »Schweinekopfparty« eine gewisse Berühmtheit erlangte, auf die niemand stolz sein konnte – nicht so, wie es in fast allen Medien dargestellt wurde. Wobei wir, die dabei waren, den Abend durchaus als gelungen empfanden. Gemeint war die Abschiedsfeier für unseren damaligen Kompaniechef im Frühjahr 2017, die im Nachgang zum größten Skandal in der Geschichte des KSK deklariert wurde – von Presse und Politik gleichermaßen, da waren sie sich ausnahmsweise mal einig.

Auch der zuständige Wehrdisziplinaranwalt (WDA), zu dem komme ich gleich, und die Kollegen vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) nahmen sich der Sache an und quetschten alle aus, die an dem Abend dabei waren, jeden einzeln. Insgesamt an die 70 Mann. Und eine Frau, um korrekt zu sein, unseren Versorgungsdienstfeldwebel, damals die einzige Soldatin der Kompanie.

Mich hatten sie zwei oder drei Mal vernommen. Der letzte Termin lag eine ganze Weile zurück. Nun war wieder einer dieser roten Zettel in mein Postfach im Geschäftszimmer geflattert, das früher die Schreibstube war, wo der gesamte Schriftverkehr abgewickelt wurde. Schön altmodisch: Knallroter Zettel, schwarze Schrift – da wusste man sofort, die »Zweier« wollen wieder was von einem. Viel stand auf den Zetteln meistens nicht drauf, hauptsächlich wann und wo man erwartet wurde.

Die Zweier, so nannten wir die vom Führungsgrundgebiet 2. Militärisches Nachrichtenwesen. Eine der Stabsabteilungen. Beim KSK gibt es – wie generell bei der Bundeswehr – sechs solcher Führungsgrundgebiete (FGG), von der Personalverwaltung über Ausbildung, Planung, Materialversorgung und Logistik bis zum Fernmeldewesen, also sämtliche Bereiche, die notwendig sind, um das Funktionieren der Truppe zu organisieren.

Einer der Aufgabenbereiche, um die sich die Zweier zu kümmern hatten, umfasste alles, was mit innerer Sicherheit zu tun hatte: Schutz vor Spionage, Zersetzung der Truppe, Sabotage, Extremismus und Terrorismus. Dabei arbeiteten sie eng mit dem MAD zusammen. Ein solcher roter Zettel konnte also auch bedeuten, dass man am Ende jemandem von denen gegenübersaß. Oder dem Wehrdisziplinaranwalt. Den kann man mit einem Staatsanwalt vergleichen, nur dass er nicht gegen Zivilisten ermittelt, sondern gegen Soldaten, die verdächtigt werden, ein schwerwiegendes Dienstvergehen begangen zu haben. Er nimmt Verstöße gegen das Soldatengesetz oder die Wehrdisziplinarordnung ins Visier. Ist an den Vorwürfen etwas dran, landet derjenige vor einem Truppendienstgericht, wo der Wehrdisziplinaranwalt praktisch als Ankläger auftritt. Außer es handelt sich um Straftaten, dafür sind dann ordentliche Gerichte zuständig, die zivilen – Amtsgerichte, Landgerichte … bis zum Bundesgerichtshof.

Normalerweise hätte Anna die ganze Woche freigehabt. Sie war am Wochenende zu ihren Eltern gefahren und wäre noch ein paar Tage geblieben, hätte man sie nicht kurzfristig in die Kaserne befohlen. Es hieß, sie müsse irgendwelche Formulare zur Materialrückgabe unterschreiben. Die Sache sei dringend.

Uns kam diese Anweisung etwas seltsam vor. Weder stand für ihren Zug ein Auslandseinsatz bevor noch hätte sie zu einer Übung weggemusst oder zu einem Lehrgang. Warum, fragten wir uns, war es dann so wichtig, dass sie den Kram unbedingt an diesem Tag unterschrieb und nicht in der nächsten Woche, nach ihrer freien Zeit? Andererseits waren wir beide lange genug bei der Truppe, um zu wissen, dass man nicht immer alles verstehen musste, was angeordnet wurde. Damit will ich sagen, dass wir uns nicht ewig die Köpfe zermarterten. Schon gar nicht kam mir in den Sinn, dass es etwas mit meinem Termin auf dem roten Zettel zu tun haben könnte.

Da Anna erst später auf ihrer Dienststelle zu erscheinen hatte, machte ich mich allein auf den Weg. Wie üblich verließ ich um Viertel nach sechs die Wohnung, stieg in meinen schwarzen Golf, der vor dem Haus parkte, und düste los. Blauer Himmel, die Sonne schien, aber es war kühl – das Thermometer zeigte fünf Grad an. Obwohl die Eisheiligen vorüber waren, ließ der Frühling weiter auf sich warten. Bis Mittag, verkündete der Wetterbericht im Radio, würden Wolken aufziehen, die Regenschauer brächten. Eine geradezu sinnbildliche Prophezeiung, wenn ich heute daran denke.

Die Strecke hätte ich mit geschlossenen Augen fahren können: zuerst ein Stück nach Süden, bis der Ort hinter mir verschwand, dann nach links, Richtung Osten, auf die Landstraße, die den Wald durchschnitt – anfangs gerade, dann wurde es kurviger – und nach Bad Liebenzell führte. Dort ein kurzer Stopp an einer Bäckerei, die direkt an der Straße lag. Auch das ein morgendliches Ritual. Eine Semmel mit Käse, eine mit Wurst – to go, für später. Manchmal nahm ich einen Becher Kaffee dazu, an dem Morgen nicht.

Wahrscheinlich würde ich mich gar nicht so genau daran erinnern, wäre es beim Rausgehen nicht zu einer merkwürdigen Begegnung gekommen. Ich sah, wie eine Frau, die neben mir bedient worden war, ebenfalls der Tür zustrebte. Also ging ich einen Schritt voraus, um ihr die Tür aufzuhalten. Keine große Sache, für mich eher eine Selbstverständlichkeit, wie ein natürlicher Reflex. Doch die Gute, die Mund und Nase hinter einer FFP2-Maske verbarg und deren Hände in Handschuhen steckten, schien das anders zu sehen. Ich trug ebenfalls eine Maske. Wer sich erinnert: Zu der Zeit war die erste Coronawelle gerade überstanden. In den meisten Geschäften galten jedoch weiterhin die üblichen Abstandsregeln und Schutzmaßnahmen. Jedenfalls, als der Frau klarwurde, dass meine nett gemeinte Geste ihr galt, blieb sie augenblicklich wie vom Donner gerührt stehen und fauchte mich an: »Aus dem Weg, los, verschwinden Sie!!! Stecken Sie mich bloß nicht an!«

Auch das hätte man als ungutes Vorzeichen auslegen können – wenn ein Tag schon so begann … Doch in dem Moment war ich höchstens verdutzt. Ich hätte mit einem »Danke!« gerechnet oder wenigstens mit einem wortlosen, aber freundlichen Nicken.

Ansonsten ging mir nur durch den Kopf, wie viel Angst und Schrecken dieses verfluchte Virus unter den Menschen verbreitete.

Apropos Virus: Vor Covid-19 knickte selbst eine Truppe wie das KSK ein. Das Virus machte alle gleich. Wie in vielen Betrieben, wo dies möglich war, hatten sie auch bei uns den Großteil der Kameraden, die nicht zwingend gebraucht wurden, vorsorglich nach Hause geschickt. Damit sich niemand unnötig infizierte.

Neben dem Kompaniechef, dem Kompanietruppführer, unserem Versorgungsdienstfeldwebel und – temporär – dem Spieß, der »Mutter der Kompanie«, gehörte ich zu den wenigen, die ihren Dienst in der Kaserne regulär fortsetzten. Soweit man es unter den Umständen als regulär bezeichnen konnte. Spätestens im Speisesaal wurde man jedes Mal daran erinnert, was für eine verrückte Zeit wir durchmachten. Vor der Pandemie waren die Tische zu langen Tafeln aneinandergereiht, man saß dicht an dicht, es ging ziemlich wuselig her, entsprechend hoch war der Geräuschpegel. Kam man jetzt in den Saal, herrschte Totenstille. Die Tische standen einzeln, weit auseinandergerückt, und an jedem gab es nur einen Stuhl.

Ich hatte ein eigenes Büro, im Erdgeschoss unseres Kompaniegebäudes, wo sich auch die der anderen befanden, war Teil des PLEX-Teams, das mit mir aus vier Mann bestand. PLEX stand für Planning and Exercise. Ganz korrekt nannte sich der Posten: Führer der Planungs- und Führungszelle der Kommandokompanie. Das heißt, ich plante und organisierte Ausbildungs- und Übungsmaßnahmen, führte einige auch selbst durch. Taktik, Raumkampf, klassische Infanterie, quasi alles, was den eigentlichen Kampf eines Soldaten betraf. Der Kompaniechef gab die Rahmenparameter vor, welche Inhalte, wie sie abgehandelt werden sollten und so weiter. Dementsprechend entwarf ich am Rechner Pläne, telefonierte herum, suchte nach geeigneten Übungsplätzen und schrieb Anforderungen, um all die Dinge zu regeln, die für die Umsetzung der Vorhaben erforderlich waren.

Wobei man sich das nicht so vorstellen darf, dass ich in der einen Woche etwas plante, was dann in der darauffolgenden stattfand. Oder im darauffolgenden Monat. So läuft das bei der Bundeswehr generell nicht, beim KSK ebenso wenig. Das meiste wurde ein Jahr im Voraus geplant. Jede Kompanie – zu meiner Zeit gab es vier Kommandokompanien – machte das für sich, reichte die Vorhaben anschließend beim Stab ein, wo die »Dreier«, also die vom Führungsgrundgebiet 3, die unter anderem für das Thema Planung zuständig waren, einen Gesamtplan erstellten. Der nannte sich Jahresvorhabenübersicht – JVÜ – und war quartalsweise aufgegliedert.

Durch die Pandemie geriet vieles durcheinander, und noch mehr fiel aus. Trotzdem sollte weiter geplant werden, praktisch ins Blaue hinein. Irgendwann würde Corona vorüber sein. Dann mussten die Ausbildungs- und Übungsvorhaben stehen, um sie ohne weitere Verzögerung angehen zu können. Deswegen fuhr ich jeden Tag in die Kaserne und erledigte meinen Job.

Es dauerte etwa 25 Minuten, inklusive des Zwischenstopps, bis ich in Calw ankam. Die Graf-Zeppelin-Kaserne, seit ihrer Gründung 1996 Standort des KSK, liegt etwas außerhalb auf einem Hügel, während sich der Ort im Tal an der Nagold entlangschlängelt – die Altstadt mit ihren Fachwerkbauten und dem Geburtshaus von Hermann Hesse auf der westlichen Seite des Flusses. Das Kasernengelände ist eingezäunt und der Zaun alle paar Meter mit Warnschildern versehen: »Militärischer Sicherheitsbereich … Betreten verboten! Vorsicht Schusswaffengebrauch!« So auch der sich ostwärts anschließende Standortübungsplatz. Er liegt noch ein Stück höher auf dem Muckberg, wo sich Wiesenflächen, Hochwald mit dichtem Unterholz und versprenkelte Kusselgruppen (so werden bei der militärischen Geländetaufe Kombinationen aus niedrigen Bäumen, Büschen und Sträuchern bezeichnet) abwechseln. Außerdem befinden sich auf dem hügeligen Areal ein kleiner Sportflugplatz, den wir unter anderem für Teile der Freifallsprungausbildung nutzten, ein Handgranaten-Wurfstand, ein Sprengplatz und ein kleines Übungsdorf.

Am Kaserneneingang zog ich meine Zutrittsberechtigungskarte durch den Leser, woraufhin sich die Schranke öffnete. Der Wachmann grüßte freundlich, ich grüßte zurück. Alles war wie immer.

Die Chipkarte, sie hatte die Größe einer Kreditkarte, war mit einem Passfoto und einem blauen Dreieck versehen. Dass ich zum Kommando Spezialkräfte gehörte, konnte man anhand der Karte nicht erkennen. Dasselbe beim Truppenausweis. Darauf stand, neben der Personenkennzahl, lediglich »BMVg« – für Bundesministerium der Verteidigung, aber keine Angabe zur Truppenzugehörigkeit.

Die Kaserne wurde von einer privaten Sicherheitsfirma bewacht. Mittlerweile ist das überall gängige Praxis bei der Bundeswehr. In Calw war es schon so, als ich das erste Mal dorthin kam, 2001, zum Eignungsfeststellungsverfahren, wie das damals hieß. Angeblich eine Kostenfrage, also das mit dem zivilen Wachdienst. Bestimmt auch eine Frage des Personals. Das KSK hat seit jeher Schwierigkeiten, genügend Bewerber zu finden, die den charakterlichen Anforderungen gerecht werden und die entsprechende körperliche Leistungsfähigkeit mitbringen. Laut einem internen Dienstschreiben des Bundesverteidigungsministeriums waren im Mai 2022 lediglich 83 Prozent der militärischen Dienstposten in Calw besetzt. Bei den dienstpostengerecht ausgebildeten Kommandofeldwebeln lag die Quote mit 67 Prozent sogar noch deutlich darunter. Die Anforderungen, physisch wie psychisch, sind allerdings auch nirgends so hoch wie beim KSK, mit Ausnahme der Kampfschwimmer vielleicht.

Zusätzlich zum zivilen Wachschutz wurde eine militärische Wache eingesetzt, die ebenfalls den Eingangsbereich im Blick hatte. Der äußere Kasernenzaun war mit Bewegungssensoren ausgestattet, wie man sich denken kann bei einem solch sensiblen Objekt. Sobald auch nur ein Tier gegen den Zaun sprang, wurde Alarm ausgelöst und sofort griffen die verschiedenen Sicherungsmaßnahmen. Details verrate ich nicht. Nur so viel: Obwohl ich lange dort diente, fast 20 Jahre, und die Gegebenheiten bestens gekannt haben dürfte, wäre ich niemals der Idee verfallen, unbefugt auf das Gelände zu gelangen. Unbeobachtet war man dort nie und nirgends. Dafür sorgten neben dem Wachpersonal etliche Überwachungskameras, die 24/7, also rund um die Uhr, in jedem Winkel sämtliche Bewegungen registrierten. Die Monitore dazu flimmerten im Wachgebäude am Eingang.

Ich fuhr direkt bis zum Kompaniegebäude, wie sonst auch. Ein beigefarbener Block, Erdgeschoss und zwei Stockwerke, rotes Dach mit versetzter Schräge. Davor Parkplätze für die, die zur Kompanieführung gehörten. Und wieder liefen Automatismen ab: Raus aus dem Golf und rein ins Gebäude, die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo sich meine Stube befand. Dort zog ich meine Uniform an und verließ das Zimmer gleich darauf, stieg die Stufen wieder hinunter, um pünktlich zur Morgenrunde im Besprechungsraum zu erscheinen, der lag im Erdgeschoss – militärisch pünktlich, also fünf Minuten früher. Bis sieben Uhr fanden sich auch die anderen ein, Kompaniechef, Kompanietruppführer und so weiter, die Tagesbesprechung begann.

Falls sich einer der Anwesenden ungewöhnlich verhielt, so muss mir das entgangen sein. Ich glaube aber, keiner benahm sich anders als sonst. Ich erinnere mich auch nicht, dass ein Thema auf den Tisch kam, das irgendwie aus der Reihe fiel, womöglich einen versteckten Hinweis darauf enthielt, was mir bevorstand. Niemand im Raum schien eine Ahnung zu haben, was sich zur selben Zeit nur wenige Schritte entfernt zusammenbraute. Obwohl, zusammengebraut hatte es sich schon vor diesem Tag.

Um 8:30 Uhr stand mein nächster Termin an. Zumindest hatte ich es so gespeichert – der rote Zettel, die Zweier. »Zeugenvernehmung« hatten sie draufgeschrieben. Im Stabsgebäude, genauer gesagt im Kleinen Stab. Dort saß nicht der KSK-Kommandeur, sondern der Kommandeur der Einsatzkräfte, in der Hierarchie eine Stufe darunter.

Punkt 8 Uhr klingelte mein Telefon. Ein Feldwebel aus dem Stab. Er meinte, ich sollte eigentlich dort sein, der Termin wäre genau jetzt.

So schnell war ich vermutlich noch nie zum Stab runtergeflitzt, das Gebäude lag etwas tiefer. Dass mir das passierte! Pünktlichkeit ist für mich kein Würfelspiel, im Dienst sowieso nicht, aber auch sonst. Vielleicht hatten sich die Zweier auf dem Zettel mit der Uhrzeit vertan, aber jetzt blieb keine Zeit, um das zu ergründen.

Fürs Stabsgebäude besaß ich eine Zutrittsberechtigung, die Chipkarte, die ich am Kaserneneingang benutzt hatte, öffnete mir auch dort die Tür. Aber nicht die ein Stockwerk darüber, dem Zugang zum Kleinen Stab, dort musste ich klingeln, damit mich jemand reinließ. Es ging ruckzuck – und schon fand ich mich in einem Raum wieder, den ich bereits kannte.

Dort hatte ich schon einmal gesessen – vor demselben Mann, der mich jetzt mit einem »Guten Morgen« empfing, weder freundlich noch unfreundlich, neutral könnte man sagen. Ich erwiderte den Gruß ebenso dienstlich-förmlich.

Es war der für uns zuständige Wehrdisziplinaranwalt. In Zivil. Er trug einen Anzug – grau, wenn ich mich recht entsinne. Unsere dritte Begegnung. Die erste fand in Stadtallendorf statt, 2017, in jenem Sommer, als es mit den Ermittlungen wegen der Schweinekopfparty anfing. Damals musste ich in der Herrenwald-Kaserne erscheinen, seinem Dienstsitz. Dort befindet sich auch der Führungsstab der Division Schnelle Kräfte, eines Großverbands aus leichten und schnellen Kräften des Heeres mit insgesamt rund 20 000 Soldaten, die unter dem Motto »einsatzbereit – jederzeit – weltweit« als hochbewegliche Infanterie im Verbund mit Hubschraubern und Flugzeugen der Luftwaffe agieren können. Im Grunde ist diese Division so etwas wie eine schnelle Eingreiftruppe. Das KSK ist ein selbstständiger Truppenteil davon. Außerdem gehören eine Gebirgsjägerbrigade, eine Luftlandebrigade, einschließlich zweier Fallschirmjägerregimente, das Kommando Hubschrauber und eine luftbewegliche Brigade der niederländischen Streitkräfte dazu.

Die zweite Begegnung mit dem WDA – beim Militär wird so ziemlich alles abgekürzt – fand in Calw statt, in genau dem Raum, in dem wir jetzt saßen. Auch da war es um besagte Abschiedsparty gegangen. Diesmal ging es nicht darum.

Stattdessen stellte er mir Fragen zu einem Kameraden, vom Dienstgrad Oberstabsfeldwebel wie ich, der lange in unserer Kompanie gedient und zu den Besten gehört hatte, nun aber nicht mehr dabei war – unfreiwillig. Der Kommandeur des KSK hatte ihm Dienstausübungs- und Uniformtrageverbot erteilt, nachdem der MAD ihn als sogenannte Verdachtsperson ausgemacht und gemeldet hatte. Der Fall war erstaunlich schnell in die Medien gelangt – und das, obwohl Geheimhaltung bei uns nicht groß genug geschrieben werden konnte. Die Anschuldigungen gegen ihn: Er sei Rechtsextremist, sympathisiere mit der AfD und stünde den Reichsbürgern nahe, sei vermutlich selbst einer. Im Kern resultierten die Vorwürfe daraus, dass er verschiedene Symbole aus der nordisch-germanischen Mythologie auf Facebook und Telegram gepostet und als Profilbild bei WhatsApp verwendet hatte. Einige solcher Symbole trug er auch als Tattoo auf der Haut. Für den MAD der Beweis für eine rechtsextremistische Haltung, die in seinem Inneren tief verwurzelt sei. Obwohl der Kamerad genau das bestritt, uns gegenüber auch niemals so aufgetreten war, hatte der Kommandeur in dieselbe Kerbe geschlagen. Für ihn war es ein Zeichen fehlender Verfassungstreue und ein Verrat an den Werten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Ich konnte zu der Befragung nicht viel beisteuern. Zum einen, weil ich nicht auf Facebook oder Telegram unterwegs war. Zum anderen hatte ich mir seine Tattoos nie so genau angesehen, er trug sie nicht offen zur Schau. Das Tattoo, um das es sich hauptsächlich drehte, sollte vom linken Oberarm bis über die Schulter reichen und unter anderem eine sogenannte Odal-Rune zeigen. Die ist zugegebenermaßen geschichtlich nicht unbelastet, wurde aber auch auf unseren Dienstgradabzeichen verwendet, vom Hauptfeldwebel bis rauf zum Oberstabsfeldwebel. Nur dass sie in der Verwendung nicht als Rune bezeichnet wurde, sondern als »Kopfwinkel mit der Spitze nach oben«. Die frappierende Ähnlichkeit dürfte aber niemand bestreiten wollen.

Es gab noch einen dritten Grund, warum ich eher wortkarg reagierte. Der Kamerad war früher mein Truppführer gewesen. Wir haben uns gut verstanden. Ich erlebte ihn immer als vorbildlichen Soldaten, akribisch und dienstbeflissen. Zig Mal war er bei Auslandsoperationen im Einsatz, er hätte sein Leben für unser Land gegeben. Taten zählen mehr als Worte. Oder Tattoos. Außerdem wusste ich, dass er großer Norwegen-Fan war und ihn die nordische Mythologie seit Jahren faszinierte.

Aber so weit in die Tiefe ging die Befragung gar nicht. Sie blieb ungewöhnlich oberflächlich, was nicht nur an mir lag. Üblicherweise dauerte ein solcher Termin mehrere Stunden. Und danach musste man das Protokoll lesen und abzeichnen, dass alles korrekt wiedergegeben wurde, was zusätzlich Zeit in Anspruch nahm. An dem Tag war ich bereits nach 30 Minuten – wenn es hoch kam – mit allem fertig, sodass ich mich fragte, was das überhaupt sollte.

Der Fall landete später vor dem Truppendienstgericht. Allerdings nicht, weil der Kamerad zu einer Strafe verdonnert werden sollte. Genau das Gegenteil: Er hatte über einen Anwalt Beschwerde gegen das Dienstausübungs- und Uniformtrageverbot eingelegt. Und bekam recht, auf der ganzen Linie. Für das Gericht war die Maßnahme des Kommandeurs rechtswidrig – und zwar von Anfang an. Die verwendeten Symbole würden keine Rückschlüsse auf eine rechtsextremistische Gesinnung zulassen. Zu der Erkenntnis waren vorher schon Experten des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr gekommen, aber das wurde anscheinend ignoriert. Im Laufe der Ermittlungen, so hieß es, hätten sich auch keine anderen Beweise ergeben, die den Anfangsverdacht untermauerten. Insbesondere nicht bei der Durchsuchung seiner persönlichen Sachen, seines Dienstzimmers samt Computer, seines Autos und seines Mobiltelefons. Genauso wenig durch die Befragung von Kameraden, ziviler Mitarbeiter und des Tätowierers, der ihm die Symbole gestochen hatte. Niemand von denen habe jemals gehört, dass er die Nazizeit verherrlichte oder faschistoide Äußerungen hinausposaunte – was meine Erfahrungen mit ihm bestätigte. Abgesehen davon war er, wie alle beim KSK, vom MAD regelmäßig einer Sicherheitsprüfung unterzogen worden. Dabei wurde in einem mehrstufigen Verfahren überprüft, wie vertrauenswürdig der Kandidat war und ob bei Behörden wie dem Verfassungsschutz, dem Bundeskriminalamt (BKA), der Polizei oder der Staatsanwaltschaft etwas gegen ihn vorlag. Je nach Stufe der Sicherheitsüberprüfung wurden zusätzlich Personen aus dem Umfeld befragt und diese gegebenenfalls auch überprüft. Bei ihm hatten sie wohl sogar die Ü3 durchgeführt, die höchste und somit umfassendste und gründlichste Stufe zu der Zeit. Sie wurde bei Personen angewandt, die Zugang zu geheimen und streng geheimen Verschlusssachen hatten. Bei der Ü3 musste man drei Leute angeben, die einen wirklich gut kannten. Und die wurden dann ausgiebig befragt: zum sozialen Umfeld desjenigen, um den es ging, zu seiner politischen Einstellung, ob er irgendwelchen Vereinen angehörte, wofür er sich in seiner Freizeit engagierte und so weiter. Sie hakten jeden denkbaren Bereich ab, der Rückschlüsse darauf zuließ, wie jemand tickte und wofür sein Herz schlug. Als ich mich beim KSK bewarb, wurde das noch nicht so intensiv zelebriert. Bei mir ging es damit erst los, nachdem ich dorthin versetzt worden war. Heute machen sie das, soviel ich weiß, schon vorher, zumindest parallel zu den Eignungstests.

Bei dem Kommandeur, der besagten Kameraden vom Dienst suspendierte, noch ehe die Beschuldigungen seriös überprüft worden waren, handelte es sich übrigens um denselben, der in seinem Brandbrief an die Truppe versprach, bei jedem Verdachtsfall würden die rechtsstaatlichen Grundsätze gewahrt und Vorverurteilungen nicht zugelassen (siehe Seite 9). Dass man so einem Vorgesetzten nicht unbedingt das größte Vertrauen entgegenbrachte, kann man vielleicht verstehen.

Die Medien berichteten über den Ausgang der Geschichte so gut wie gar nicht. Ich erinnere mich an einen einzigen Artikel. Ein Muster, das nicht neu war – und ist, auch im Allgemeinen, wenn es nicht um Angehörige des KSK oder der Bundeswehr geht: Verdacht oder Anklage werden groß aufgebauscht. Fallen die Vorwürfe in sich zusammen, vor Gericht oder bereits vorher, sodass es gar nicht erst zu einem Prozess kommt, ist das meist nicht mal mehr eine Meldung wert. Ein Einzelfall wäre kaum von Bedeutung, in der Masse jedoch entsteht auf diese Weise ein verzerrtes Bild. Damit will ich nicht bestreiten, dass es Verfehlungen, auch strafrechtlich relevante, in der Truppe gibt. In dieser Hinsicht sind KSK im Kleinen und Bundeswehr im Großen nach meiner Erfahrung nichts anderes als Abbilder der Gesellschaft. Mit dem Unterschied, dass die Fälle, die dort bekannt werden, stärker in den öffentlichen Fokus rücken – was nur verständlich ist, da sich gerade Soldaten mit ihrem Eid der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verpflichten, gegen die sie dann verstoßen würden.

Aber weiter mit dem 13. Mai: Ich höre noch, wie ich mich vom Wehrdisziplinaranwalt verabschiedete, ihm einen schönen Tag wünschte. Dann verließ ich den Raum, wollte zurück in die Kompanie. Doch kaum dass ich durch die Tür auf den Flur kam, traten mir zwei Herren entgegen, die dort gewartet haben mussten. Unbekannte Gesichter, ernste Gesichter. Auch diese beiden trugen Zivil. Ohne ein Wort zu viel zu sagen, stellten sie sich als MAD-Mitarbeiter vor und meinten, sie hätten ein paar Fragen an mich.

»Haben Sie Ihr Handy dabei?«, war dann ihre erste Frage, an Ort und Stelle, noch bevor mein Gehirn anfangen konnte, sich einen Reim darauf zu machen, was das Ganze zu bedeuten haben könnte. Ein zweiter roter Zettel hatte definitiv nicht in meinem Postfach gelegen.

»Das liegt auf meiner Stube«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Vermutlich wirkte ich etwas verstört. Warum war ihnen mein Telefon so wichtig?

»Dann müssen wir es holen – jetzt!«

So wie der Satz ausgesprochen wurde, blieb kein Zweifel daran, dass mit dem Wort »jetzt« sofort gemeint war.

Ich wunderte mich, dass die beiden unangemeldet aufgetaucht waren, und noch mehr, dass ihr größtes Interesse meinem Handy zu gelten schien, jedenfalls im Moment. Trotzdem war ich relativ entspannt. Sie und ich, wir standen auf derselben Seite, auch wenn die vom MAD ehrlicherweise bei uns nie gern gesehen waren. Als Soldat hatte ich geschworen, meinem Vaterland treu zu dienen. Das war auch ihr Auftrag, so grundsätzlich. Ob ich in dem Augenblick exakt das dachte, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, dass ich mich nicht unwohl fühlte, nicht im Sinne von: ertappt, jetzt wird’s böse, alles fliegt auf oder so. Anscheinend gab es Informationsbedarf, wozu auch immer, das würden sie mir sicher gleich verraten.

Dieses Gefühl änderte sich, als wir den Kleinen Stab verließen und den Weg zum Kompaniegebäude einschlugen. Bis dorthin waren es etwa 80 Meter, vielleicht hundert Schritte. Man kann nicht sagen, dass sich unterwegs zwischen uns eine Plauderei entwickelte. Wir liefen und schwiegen.

Dann fragte einer der beiden, ob ich an dem Tag noch etwas vorhätte. Es klang fast beiläufig. Anstatt zu antworten, rutschte mir die Frage heraus: »Wieso, wird’s länger dauern?«

Daraufhin wieder Schweigen.

Auch fünf oder zehn Schritte weiter antworteten sie nicht. Ich hatte die Frage nur so dahingeworfen. Das Schweigen der beiden verlieh ihr eine andere Bedeutung, sie schien plötzlich viel schwerer zu wiegen. Was passierte hier gerade?

Meine Stube betraten die beiden Männer nicht. Sie warteten vor der Tür. Ich holte das Handy, es lag auf dem Tisch, und gab es ihnen. Wieder blitzte der Gedanke auf, dass das mit dem Telefon irgendwie seltsam war. Wobei es wohl schon vorgekommen sein musste, dass sich der MAD WhatsApp-Nachrichten oder SMS zeigen ließ. Nicht bei mir, aber von anderen Kameraden hatte ich das gehört.

Wieder zurück im Stab, lotsten mich meine Begleiter in den großen Besprechungsraum, der mir einigermaßen vertraut war. Ich hatte mehrmals an Chefbesprechungen teilgenommen, die dort stattfanden, in Vertretung unseres Kompaniechefs. In der Mitte des Raums bildeten mehrere Tische eine größere Fläche. Rundherum standen Stühle. Zu dritt wirkten wir in diesem Ensemble etwas verloren. Wir setzten uns gegenüber, ich mit dem Rücken zum Fenster, sie hatten die Tür hinter sich, durch die wir hereingekommen waren.

Zunächst richteten sich ihre Fragen auf die Abschiedsfeier 2017. Also rührten sie tatsächlich noch darin herum. Da ich mich dazu bereits geäußert hatte, erfuhren sie nichts Neues. Es schien auch nur als Einleitung gedacht. Ziemlich schnell schwenkten sie über zu meiner Frau, die hatten sie offenbar auch vernommen. Nicht Anna war gemeint, sondern meine Ex-Frau, wir waren seit 2019 geschieden. Soldat ist nicht gerade der familienfreundlichste Beruf, schon gar nicht, wenn man bei den Spezialkräften ist, häufig zu Auslandseinsätzen und Lehrgängen muss. Wir waren schon einige Jahre zusammen gewesen und hatten uns für eine Wochenendbeziehung entschieden, nachdem ich beim KSK aufgenommen wurde. Kurz darauf, 2002, war unser Sohn zur Welt gekommen. Es schien uns die beste Lösung, dass sie mit dem Kleinen in der Nähe ihrer und meiner Eltern blieb, die sie mehr unterstützten, als ich es als frischgebackener Kommandosoldat hätte tun können. Zwischen uns lagen dann 550 Kilometer Autostrecke. Wahrscheinlich war es naiv zu glauben, das könnte funktionieren. Viele meiner Kameraden pendelten, aber bei den meisten ging die Beziehung in die Brüche. Eine Weile denkt man, dass man es besser hinkriegt. Und belügt sich damit nur selbst. An den Wochenenden kurz zu Hause aufkreuzen, schnell den Rasen mähen und sich gegenseitig ein paar Stunden heile Welt vorgaukeln, oft monatelang nicht einmal das – so lässt sich unmöglich ein vernünftiges Familienleben führen. Wahrscheinlich verdrängten wir es beide, doch irgendwann waren wir nur noch eine Scheinfamilie.

Zwei Dinge werde ich wohl bis zu meinem letzten Tag bereuen: dass ich all die Jahre so selten für den Jungen da war. Und dass ich ihn in eine Geschichte verwickelt habe, um die es später noch gehen wird. Wenn ich könnte, würde ich das Erste besser machen und das Zweite am liebsten ungeschehen. Nur leider funktioniert das Leben nicht so.

Der MAD hatte also meine Ex-Frau ausgehorcht. Aber das Familiäre diente wiederum nur als Überleitung zum eigentlichen Thema, auf das die beiden nun ohne weitere Umschweife zusteuerten: »Wir haben Hinweise«, sagte einer von ihnen, »dass Sie auf ihrem Wohngrundstück zu Hause in Sachsen Munition gelagert haben! … Und wir wissen auch, an welchen Stellen.«

Es war, als hätte jemand urplötzlich einen Schalter umgelegt. Eben hatte ich im Stillen noch gedacht: Was auch immer die Herren wollten, sicher würden sie bald wieder abziehen. Und ich würde den Rest der heutigen Dienstzeit meine Arbeit erledigen, anschließend nach Hause fahren, ein bisschen trainieren, vielleicht eine Runde durch den Wald joggen und mich ansonsten auf einen ruhigen Abend mit Anna freuen. Dieser Gedanke war mit einem Mal wie weggeblasen, als wäre er nie in meinem Kopf gewesen. Aber er wurde seltsamerweise nicht durch einen neuen ersetzt, dazu war ich nicht fähig. In meinen Ohren dröhnte es, als würde ich das Blut in den Gefäßen rauschen hören, nur viel lauter.