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England zum Jahreswechsel 1896/97 – Frederick Greenland und Louisa Balshaw haben zum Hochzeitsempfang nach Upwey House ins idyllisch verschneite Dorset geladen. Doch bereits während der Vorbereitungen kommt es zu merkwürdigen Vorfällen: Gegenstände verschwinden, nur um später an den unmöglichsten Orten wieder aufzutauchen. Nachts sind draußen schreckliche Schreie zu hören. Und ein Gast verlässt das Haus, ohne Spuren im Schnee zu hinterlassen. Spätestens als im Brunnen im Dorf eine Leiche gefunden wird, ist Donald Swanson, dem frisch gebackenen Superintendent von Scotland Yard, klar, dass er nicht zum Feiern aufs Land hinausgefahren ist.
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Seitenzahl: 289
Veröffentlichungsjahr: 2025
Robert C. Marley
Inspector Swanson und das Rätsel von Upwey House
Robert C. Marley, Inspector Swanson und das Rätsel von Upway House
Ein Kriminalroman aus dem Jahr 1896. Dryas Verlag 2025
1. Auflage
E-Book ISBN 978-3-98672-094-0
Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
ISBN 978-3-98672-087-2
Herstellung: Dryas Verlag, Hamburg
Lektorat: Andreas Barth, Oldenburg
Korrektorat: Joachim Schwend, Leipzig
Umschlaggestaltung: © Sabine Dunst | Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von Mauritius Images und iStock / Getty Images Plus
Umschlagabbildungen: © mauritius images / The Francis Frith Collection / Alamy / Alamy Stock Photos, © AndyRoland / iStock / Getty Images Plus
Zwischenseite Foto: Unknown Unnamed, Unsplash
Pläne Haus: Robert C. Marley
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© Dryas Verlag, Hamburg 2025
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Vorbemerkung
PROLOG
Juli 1893
Upwey House, Upwey, Dorset
Erster Teil Wo die Liebe hinfällt
KAPITEL 1
Upwey House, Dezember 1896, fünf Tage vor Silvester
KAPITEL 2
Sonntag, der 27. Dezember 49 Gordon Square, Bloomsbury, London
New Scotland Yard, Whitehall, London
KAPITEL 3
Upwey House, Upwey, Dorset
5 Camden Villas, Kennington, London
KAPITEL 4
Montag, der 28. Dezember Upwey, Dorset
KAPITEL 5
KAPITEL 6
Zweiter Teil Gute und böse Geister
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
Dritter Teil Die Ankunft der Suffragette
KAPITEL 11
KAPITEL 12
Vierter Teil Spuren im Schnee
KAPITEL 13
Dienstag, der 29. Dezember
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
Fünfter Teil Unter Verdacht
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
Sechster Teil Das Versteck
KAPITEL 20
KAPITEL 21
Mittwoch, der 30. Dezember
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
Siebter Teil Hochzeit kommt vor dem Fall
KAPITEL 25
Donnerstag, der 31. Dezember.
EPILOG
Upwey House, Upwey, Dorset
49 Gordon Square, Bloomsbury, London
New Scotland Yard, Whitehall, London
Personen & Begriffe
Danksagung
Für Shankari, die mit mir dort war
»Wünsche sind nie klug. Das ist sogar das Beste an ihnen.«
Charles Dickens (1812–1870)
»Der Mensch ist das einzige Tier, das so lange freundlich zu seinen Opfern sein kann, bis es sie frisst.«
Samuel Butler (1835–1902)
Upwey House – und auch die Umgebung, in der der vorliegende Roman spielt – gibt es wirklich. Sie können es sogar mieten. Für die eigene Hochzeit vielleicht, oder einfach, um dort mit einer Handvoll guter Freunde ein gemütliches Krimirätsel nachzuspielen. Falls Sie das tun, wundern Sie sich nicht, dass die beschriebenen Räume nicht in allen Einzelheiten mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Das hat drei gute Gründe: Zum einen hat das Herrenhaus aus dem 17. Jahrhundert über die Jahre zahlreiche Umbauten erlebt. Zum anderen ist es mit der Fantasie eines Krimiautors so eine Sache – wir haben nicht gänzlich Einfluss darauf, welche Bilder da in unseren grauen Zellen entstehen. Und drittens pfeifen wir manchmal auch ganz einfach darauf, wie es dort in Wirklichkeit aussieht. Nichtsdestotrotz werden Sie das allermeiste wiedererkennen. Lediglich in einem Fall habe ich einen Hügel eingeebnet und an anderer Stelle einen Raum angebaut, den es nicht gab. Doch selbst wenn Sie das alles nicht akribisch überprüfen wollen, sollten Sie auf alle Fälle die Upwey Wishing Well Tearooms & Water Gardens besuchen. Dort finden Sie auch den Wunschbrunnen, den Sie auf dem Buchcover sehen. Ignorieren Sie das moderne Health & Safety Schild, wünschen Sie sich was und genehmigen Sie sich einen kräftigen Schluck Wasser. Es ist völlig ungefährlich. Vertrauen Sie mir. Ich bin schließlich Krimiautor …
R. C. M.
»Wer damit anfängt, dass er allen traut, wird damit enden, dass er jeden für einen Schurken hält.«
Friedrich Hebbel (1813–1863)
Eine Karte von Upwey House befindet sich am Ende des Buches.
Es war später Nachmittag, die Sonne stand noch hoch am blauen Himmel und kein Lüftchen regte sich. Eine drückende Hitze lastete seit Tagen auf dem Land, doch hier, hinter den dicken Mauern des alten Hauses, war es angenehm kühl.
Major Arthur Farnsworth saß allein in der Stille seines Schlafzimmers, das er seit dem Tod seiner Frau auch als Arbeitszimmer benutzte, am Schreibtisch und blickte zum Fenster hinaus.
Unten sah er Jim Harris, der auf der Weide die Pferde versorgte, und das Heu machte. Guter alter Harris. Er hatte jung geheiratet und war jung Witwer geworden. Manchmal nahm der Major einen Whisky auf der Terrasse mit ihm, wenn spät am Abend die Arbeit getan war und die Dämmerung hereinbrach, und die einzigen Geräusche das Rauschen des Windes in den Ulmen und das träge Zirpen der Grillen in den Wiesen waren. Auf Harris war Verlass. Er vertraute dem Mann, wie keinem zweiten.
Doch es gab andere, weniger vertrauenswürdige Menschen.
Schwungvoll unterzeichnete er den Brief, den er geschrieben hatte, steckte ihn in den Umschlag und schrieb einen Namen darauf.
Behutsam, beinahe zärtlich, nahm er Isabells Kamee in die Hand. Den Haarkamm aus Bernstein, den sie von ihrer Großmutter geerbt, und als ihren wertvollsten Besitz angesehen hatte. Er betrachtete das Gesicht, das in den oberen ovalen Teil geschnitzt war. Das schöne, ebenmäßige Gesicht einer jungen Frau mit langem Haar. In erstarrten Wellen ergoss es sich wie der dunkle Honig wilder Bienen über beide Seiten und verschmolz dort mit den Zinken des Kamms. Sachte strich Major Farnsworth mit den Fingerkuppen darüber, fuhr die zarten Konturen des Gesichts entlang, das ihn so sehr an seine Frau erinnerte. Allein der Gedanke, jemand könne ihm das Wichtigste nehmen, das ihm von Isabell geblieben war, machte ihn krank. Ihn tatsächlich dort zu finden, wo er ihn schließlich gefunden hatte, war der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Über die kleineren Diebstähle hätte er vermutlich hinwegsehen können.
Es ging ihm nicht darum, alte, über lange Zeit gewachsene Verbindungen zu zerstören. Ihm ging es um Einsicht und Gerechtigkeit. Er hätte zur Polizei gehen können, doch er hatte es nicht getan. Aus Rücksicht und reiner Menschenliebe. Jede Art von Gewalt war ihm zuwider – selbst die der Gerichte.
Zu genau erinnerte er sich an die Schrecken des Krieges, die Standgerichte, wenn die Soldaten seiner Einheit versucht hatten, auf eigene Faust die Gefechte zu beenden, indem sie mit dem Feind kooperiert, oder sich auch nur heimlich an den streng rationierten Vorräten vergriffen hatten. Er hatte sie gesehen, in den letzten Minuten ihres Lebens – die bleichen, verängstigten Gesichter, Sekunden bevor die Gewehrsalven ihre jungen Leiber zerfetzten.
Nein, Gewalt war seine Sache nicht. Er würde die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen, sie auf seine Weise regeln. Würde der Person, von der er wusste, dass sie sich auf seine Kosten bereichert hatte, die Möglichkeit geben, einen halbwegs ehrenhaften Weg zu beschreiten, um den entstandenen Schaden wieder in Ordnung zu bringen. Und dann würde er einen radikalen Schlussstrich ziehen müssen, soviel stand fest – alte Bande hin oder her. Er würde diese Person unter keinen Umständen mehr im engsten Kreis seiner Familie dulden.
Er nahm den Umschlag und steckte ihn ein. Von unten hörte er die alte Standuhr die volle Stunde schlagen. Sonst war es still.
Gregory und Elenor waren ausgeritten. Zusammen oder getrennt, das wusste er nicht, auch wenn er insgeheim annahm, dass die beiden auf weit vertrauterem Fuß miteinander standen, als sie es den anderen gegenüber zugaben. Ihn ging das nichts an. Es war ihm auch schlichtweg einerlei. Hauptsache, er hatte sie aus dem Haus.
Was ihn dagegen etwas anging, war diese andere Sache. Er hatte gestern mit Gregory darüber geredet, doch der hatte abgewiegelt. Mit seinen Finanzen sei alles in Ordnung, hatte er versichert. Doch das stimmte nicht, wie Major Farnsworth wusste. Zufällig hatte er den Brief der Bank unter Gregorys Korrespondenz gefunden. Schecks waren nicht eingelöst worden, weil die Deckung auf seinem Bankkonto fehlte. Schecks, die er in London aufgrund von Spielschulden ausgestellt hatte. Die Gläubiger drängten. Er fragte sich, ob Cecilia davon wusste, nahm jedoch an, das sei nicht der Fall. Er würde sie morgen einmal darauf ansprechen. Augenblicklich war sie mit Hazel und Oliver unterwegs. Sie hatten vorgehabt, über die Felder zum Wunschbrunnen zu wandern und zu schauen, ob den Kaulquappen schon Arme und Beine gewachsen waren. Cecilia liebte Frösche – genau wie die Kinder.
Den Dienstboten hatte Major Farnsworth den Tag über frei gegeben. Wenn sie auf Mrs Dempsey gehört hatten, waren sie nach Weymouth gefahren, um den Strand zu besuchen und sich in den Wellen ein wenig Abkühlung von der Hitze des Sommers zu verschaffen. Und Elli hatte er unter dem Vorwand, seine Gallentinktur ginge zur Neige, und er käme nicht ohne sie über die nächste Woche, zur Apotheke ins Dorf geschickt. Thomas, der junge Gentleman aus Dorchester, der ihr den Hof machte, würde erst morgen im Laufe des Tages eintreffen. Blieb genug Zeit für ihn, sich der Angelegenheit anzunehmen, wegen der er das Haus für sich hatte haben wollen.
Jetzt war er noch immer ganz allein.
Major Farnsworth strich mit beiden Händen über seinen Backenbart. Der Gang, den er nun zu gehen hatte, fiel ihm außerordentlich schwer. Er steckte die Kamee in die Innentasche seines Jacketts, direkt über seinem Herzen. Dann nahm er einen tiefen Atemzug und stand entschlossen auf. Er verließ sein Schlafzimmer, schloss es ab und ließ den Schlüssel in seine Hosentasche gleiten.
Auf dem Gang war es noch etwas kühler. Der vertraute Geruch von Holzpolitur und Bohnerwachs stieg ihm in die Nase, als er den Flur durchquerte und zur Treppe hinüber ging. Die alten Dielenbretter knarzten in der Stille überdeutlich unter seinen Schritten.
Auf dem Absatz stehend, sah er einen Lederkoffer in der Halle. Konnte es sein, dass Thomas überraschend früher eingetroffen war?
Hinter sich hörte er ein Geräusch. Es klang, als habe sich eine Tür geöffnet Er sah sich um. Es war niemand dort.
Als Major Farnsworth den ersten Schritt die Treppe hinunter machte, hörte er das Geräusch abermals. Diesmal allerdings hatte er nicht mehr die Zeit sich umzudrehen. Ein heftiger Schlag traf ihn in den Nacken und raubte ihm beinahe die Sinne. Dann spürte er, wie ihm jemand mit ungeheurer Wucht in den Rücken trat, und er haltlos kopfüber nach vorne die Treppe hinunterstürzte.
Das letzte, was er spürte, war das scharfe Krick, als er auf die Kante einer Stufe schlug und sein Genick brach. Das letzte, was er sah, war die abgewetzte Stelle des Teppichläufers, auf dem sein Kopf ruhte und das unkontrollierte Zucken seines rechten Zeigefingers. Und das letzte, was er hörte, waren die eiligen Schritte der Person, die ihm das angetan hatte.
Zu erleben, wie diese Person ihm noch einmal gegen den Kopf trat, um sicher zu gehen, dass er tatsächlich tot war, blieb ihm gnädigerweise erspart.
Mit offenen, allmählich trüber werdenden Augen lag Major Arthur Farnsworth am Fuß der vorderen Treppe, während jemand kaltblütig seine Taschen durchsuchte und den Brief und Isabells Kamee an sich nahm.
»Mit der wahren Liebe verhält es sich wie mit Geistererscheinungen: alle Welt redet davon, aber nur wenige haben sie gesehen.«
Francois de La Rochefoucauld (1613–1680)
Jeder in der Küche hörte den Schrei.
Die Köchin, Mrs Dempsey, saß am Tisch und aß gerade eine Scheibe Brot mit Butter, als der Schrei sie zusammenfahren ließ. Und Molly Whittle, eines der beiden Hausmädchen, ließ vor Schreck sogar die leere Wasserkaraffe fallen, die auf dem uralten Steinfußboden in tausend Stücke zersprang, und stieß dann selbst einen kurzen Schrei aus. Die graue Katze, die in der Nähe des Herds zusammengerollt auf dem Boden gelegen hatte, sprang auf und versteckte sich unter dem Tisch. Ihre Ohren zuckten nervös.
Nur Harris, der Gärtner, der zu dieser Jahreszeit als Hausmeister, Stallbursche, Kutscher, Postlieferant und Mädchen für alles fungierte – wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, die Wege rund um das Haus vom Schnee zu befreien –, und gerade die quietschenden Angeln der Küchentür ölte, ließ sich sein Entsetzen nicht anmerken. Obgleich der Schrei ihn zutiefst erschüttert hatte. Nach außen hin ruhig, stellte er das kleine Ölkännchen auf die Anrichte, ging langsam zum Fenster hinüber und öffnete es.
Eisige Luft wehte in die warme Küche.
»Feg die Scherben zusammen, wenn du dich wieder beruhigt hat, Molly«, sagte Mrs Dempsey, die als erste ihre Stimme wiedergefunden zu haben schien. Dann sah sie zu Harris. »Sehen Sie etwas, Jim?«
Er schloss das Fenster wieder und legte den Riegel vor. »Nichts. Es ist zum verrückt werden.« Mit der rechten Hand wischte er sich über Mund und Kinn. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu.«
Molly kniete derweil am Boden und sammelte die größeren Bruchstücke in einen Blecheimer. Harris kam ihr zu Hilfe.
»Lass nur. Ich mach das schon. Setz dich an den Tisch zu Mrs Dempsey.« Rasch holte er Handfeger und Kehrblech aus einem Schrank unter der Spüle und fegte die traurigen Überreste der Karaffe auf.
»Denken Sie das war … ein Geist?«, fragte Molly mit leiser Stimme.
»Nun red keinen Unsinn, Kind«, gab die Köchin zurück, doch ihre Stimmlage und ihr Gesichtsausdruck straften ihre Worte lügen. »Es wird ein Tier gewesen sein, wie Hertford sagt.«
»Hertford redet viel, wenn der Tag lang ist«, meinte Harris mürrisch. Er hatte den Handfeger und das Kehrblech wieder verstaut und stand, den Eimer in der Hand, an der Tür zum Gang, der zu einem der hinteren Nebeneingänge führte. »Ich werde nachsehen gehen.«
»Seien Sie vorsichtig.« Molly legte die Hände an die Wangen.
»Keine Bange, Mädchen. Ich pass schon auf mich auf.«
Sie schien nicht überzeugt. »Wenn es wirklich ein Tier ist, ist es bestimmt gefährlich.«
»Harris weiß schon, was er tut«, sagte Mrs Dempsey und quälte sich ein aufmunterndes Lächeln aufs Gesicht. »Nicht wahr, Jim?«
Harris grummelte. »Alles, was ich weiß, ist, dass das niemals ein Tier war. Hertford hat bloß Sorge, wir könnten stiften gehen. Dann stünden die Herrschaften allein da, mit ihren Gästen und der verdammten Hochzeitsfeier. Das ist der Grund, weshalb alle so tun, als wär's was ganz Normales, jede Nacht diese Schreie. Aber ich sage Ihnen, das ist es nicht. Das ist es ganz bestimmt nicht.«
Hertford war nur der Butler von Upwey House. Von Tieren hatte er nicht die geringste Ahnung. Und das hatte Harris ihm auch verschiedentlich gesagt und dabei kein Blatt vor den Mund genommen.
Hertford mochte vielleicht etwas von Tafelsilber und schönen Manieren verstehen, von welcher Seite man das Gedeck auf- und wieder abtrug, und wie man hochtrabend redete und mit den Gästen umzugehen hatte. Doch er, Harris, kannte die Ländereien rings um das Herrenhaus wie seine eigene Westentasche. Er hatte zwar keine Ahnung von schicken Abendkleidern oder guten Manieren, aber er kannte das Wild. Er kannte die Hasen und Rebhühner. Er wusste, welche Geräusche diese Tiere machten und welche ganz sicher nicht.
»Ich habe Angst«, sagte Molly kleinlaut. »Was, wenn es hier tatsächlich umgeht.«
»Ich hab gesagt, du sollst nicht solch einen Unfug daherreden«, sagte Mrs Dempsey und schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Gespenster. Wir haben eine Hochzeitsfeier vorzubereiten. Da brauchen wir alle einen klaren Kopf.«
Molly nickte geflissentlich. »Tut mir leid. Ich werde versuchen, nicht mehr daran zu denken.« Sie blickte die Köchin vorsichtig an, als sie sagte: »Sarah hat gestern Nacht etwas auf der Treppe vor der Bibliothek gesehen. Ganz weiß sei es gewesen.«
»Ich werde ein ernstes Wort mit ihr reden«, gab Mrs Dempsey zurück. Sarah Corby war das zweite Hausmädchen und in der Regel nicht sonderlich schreckhaft. »So weit kommt es noch, dass ihr Mädchen euch gegenseitig verrückt macht.«
Harris hatte die Tür geöffnet und war schon halb draußen auf dem Gang, als Mrs Dempsey ihm ängstlich hinterherrief, er solle, um Himmels willen, nicht länger als ein paar Minuten wegbleiben. Ihre Stimme zitterte leicht.
Die graue Katze ergriff ihre Chance und huschte vor Harris hinaus.
»Bin gleich wieder da!«, rief er zurück. Dann schloss er die Tür hinter sich und ging den schmalen Gang bis zur Hintertür hinunter.
Er machte kein Licht. Er ging diesen Weg jeden Tag dutzende Male. Er wusste, wo jeder Gegenstand zu finden war. Außerdem fiel genügend Licht von den oberen Fenstern aus auf den Hof, den er durch die beiden rechteckigen Scheiben in der Tür deutlich erkennen konnte. Er stellte den Eimer ab, zog seine Schuhe aus und schlüpfte in die groben Arbeitsstiefel, die er jedes Mal anzog, wenn er draußen zu tun hatte.
In einem Schränkchen nahe der Tür verstaute er kleine Arbeitswerkzeuge, wie Harken, Messer und die Rosenscheren. An der Schmalseite hing, von zwei kräftigen Nägeln gehalten, sein schwerer Zimmermannshammer, den er normalerweise in der Sattelkammer verwahrte. Neben dem Schränkchen standen noch zwei Paar Stiefel. Er zog eine der Schubladen auf und nahm ein kräftiges Rundholz heraus. Falls lichtscheues Gesindel ums Haus schlich, was dort nichts zu suchen hatte, hätte er etwas in der Hand, um sie zum Gehen zu überreden.
Die Katze strich ihm ein paar Mal schnurrend um die Beine.
»Du tust keinen was zu Leide, stimmts, Poppy?« Harris schloss die Tür auf und trat nach draußen. Poppy folgte ihm ein Stück, dann stakste sie majestätisch durch den hohen Schnee davon.
Soweit Harris sah, war der Schnee, der noch immer in dicken Flocken fiel, in letzter Zeit nicht betreten worden. Vor gut zwei Stunden hatte er einen Großteil des Platzes frei geschaufelt und die Wege rund um das Herrenhaus gefegt. Neue oder fremde Stiefelabdrücke waren nicht zu sehen. Dort, wo er zuletzt gearbeitet hatte, waren mindestens fünf Zentimeter Neuschnee gefallen und bedeckten jungfräulich den Boden. Die Wege nahe der Hauswand waren auf der windabgewandten Seite immer noch frei.
Langsam ging Harris nach links zum Haupteingang. Hier hatte der Wind den Schnee bis auf die Haupttreppe getrieben, und er verfluchte sich selbst, dass er nicht gleich daran gedacht hatte, einen Besen mitzunehmen. Doch auch dort konnte er keinerlei Spuren entdecken.
In der Ferne lag die Landstraße hinter den Bäumen und Mauern. Er hatte wahrlich keine große Lust, auch dorthin zu gehen, obwohl er sicher war, dass die Schreie meist von dort kamen. Mrs Elstree und auch Sarah, das zweite Hausmädchen behaupteten steif und fest, einige Schreie seien sogar aus Zimmern im Haus selbst gekommen. Doch das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Dass jemand hier draußen in der Nacht herumlief und Schreie ausstieß, war schon schlimm genug.
Anfangs hatte er vermutet, Mrs Elstree oder ihr arroganter Neffe hätten etwas mit den Schreien zu tun. Immerhin waren sie am Abend ihrer Ankunft zum ersten Mal zu hören gewesen. Das war nun vier Tage her. Davor hatte es so etwas auf diesem Anwesen nicht gegeben. Und auch die komische Sache mit den Dingen, die überall im Haus verschwanden, hatte erst mit dem Eintreffen von Mrs Elstree und ihrem Neffen angefangen.
Mal war es ein dreiarmiger Leuchter aus Silber gewesen, der in der Bibliothek fehlte. Mal der Hocker vor dem Klavier. Dann wieder waren die Queues aus ihrer Halterung im Billardzimmer verschwunden, tags darauf die Kugeln. Seltsamerweise war nichts davon gestohlen worden. Nach und nach waren sämtliche Gegenstände wieder aufgetaucht. Die Billardkugeln auf der schneebedeckten Wiese hinter dem Haus, der Klavierhocker auf dem großen Holztisch in der Küche, die Queues in Mrs Elstrees Badewanne, und den Leuchter hatte Molly beim Bettenmachen unter Miss Farnsworths Kopfkissen gefunden. Das war umso seltsamer, da sie die Herrin von Upwey House war. Harris ließ nichts auf sie kommen. Nach dem Tod des alten Farnsworth vor drei Jahren hatte sie die verantwortungsvolle Aufgabe übernommen, das Anwesen zu führen.
Das Brautpaar war mit ihr verwandt, wie er gehört hatte. Ebenso wie die beiden Elstrees. Trotzdem fragte Harris sich, wieso Gäste, die zu einer Hochzeit an Silvester erschienen, bereits zu Weihnachten anreisten. Nach den beiden Elstrees war gestern noch ein dritter Gast eingetroffen. Ein Mann namens James. Harris hielt ihn für halbwegs vernünftig. Doch letzten Endes ging ihn das alles nichts an. Die merkwürdigen Vorgänge im Haus und diese unheimlichen Schreie hingegen schon.
Er stapfte quer über den Vorplatz, bis er den Anfang des Zufahrtsweges erreicht hatte. Am Rande des zugefrorenen Teiches blieb er stehen und lauschte.
Nichts.
Nur der Wind, der durch die kahlen, zum Teil schneebedeckten Bäume und Büsche fuhr. Selbst wenn sich jemand auf dem weitläufigen Gelände versteckt hielte, musste er immerhin seine Spuren im Schnee hinterlassen haben. Er überlegte kurz, ob er doch noch zur Straße hinunter marschieren und dort nach Fußspuren suchen sollte, doch er entschied sich dagegen. Zum einen war es ihm zu weit und zum anderen klangen ihm noch Mollys düstere Worte in den Ohren, auch wenn er sich einzureden versuchte, dass sie ausgemachter Unsinn waren.
Denken Sie, es war … ein Geist?
Harris begann zu frösteln. Doch es war nicht bloß die Kälte, die ihm in die Kleider kroch.
Was, wenn es hier tatsächlich umgeht?
So sehr er diese Gedanken auch abzuschütteln versuchte, so hartnäckig blieben sie bei ihm. Als er den Bäumen den Rücken zuwandte, um zum Haus zurückzukehren, fühlte er eine beklemmende, unbestimmte Furcht nach seinem Nacken greifen. Es war, als könne er die Blicke eines unbekannten Beobachters ganz deutlich in seinem Rücken spüren. Er schloss die Finger ein bisschen fester um das Stück Rundholz in seiner Hand, richtete seinen Blick auf die erhellten Fenster. Sie im Auge zu haben, gab ihm ein vages Gefühl von Sicherheit, mochte es auch noch so trügerisch sein.
Aus dem Augenwinkel glaubte Harris, eine plötzliche Bewegung links von sich wahrgenommen zu haben. Er blieb wieder stehen und fuhr herum, das Holzstück wie einen Schlagstock vorgestreckt.
Verflucht! Nichts.
Allmählich stieg Furcht in ihm auf. Er hätte es leichter gefunden, wenn jemand oder etwas zu sehen gewesen wäre, wenn er jemanden hätte zur Rede stellen können. Doch keine Menschenseele war hier außer ihm. Er beschleunigte seine Schritte und ging zügig an der Hauswand entlang zurück zu der Hintertür, durch die er gekommen war.
Als er um die Hausecke bog, sah er bereits Mrs Dempsey in der offenen Tür stehen, eine Laterne in der Hand. Hinter ihr Molly.
»Großer Gott, Jim!«, rief Mrs Dempsey. »Sie waren eine Ewigkeit fort. Wir dachten schon, Ihnen sei da draußen in der Kälte sonst was geschehen.«
Molly starrte ihn nur schweigend und mit weit aufgerissenen Augen an.
»Es ist niemand da draußen«, sagte Harris, der das Rundholz auf dem Schränkchen ablegte, schob die beiden Frauen vor sich her in den dunklen Gang und schloss die Tür. »Nicht ein einziger Fußabdruck. Das geht nicht mit rechten Dingen zu, sage ich Ihnen.« Er klopfte sich den Schnee von den Schultern, dann zog er den Mantel aus.
»Kommen Sie bloß rein ins Warme. Sie zittern ja wie Espenlaub. Ich habe frischen Tee aufgebrüht, der wird Ihnen guttun.« Sie nahm ihm den Mantel ab.
Jetzt erst bemerkte Harris, dass seine Hände und Knie tatsächlich zitterten. Er sagte den beiden Frauen nicht, dass der Grund dafür nicht die Kälte war. Beileibe nicht. Er hatte Angst. Kalte, nackte Angst. Was immer da draußen in der Finsternis diese Schreie ausstieß, ohne sich zu zeigen, was immer da in der Nacht lauerte, es jagte ihm eisige Schauer über den Rücken.
Morgen würde es im ganzen Haus vor lauter Gästen nur so wimmeln. Er würde bis zum neuen Jahr dafür zu sorgen haben, dass sämtliche Wege und Türen frei von Schnee und Eis blieben. Und dafür musste er wieder im Dunkeln vor die Tür. Wieder raus in die Nacht, ohne zu wissen, was dort in den Schatten auf ihn warten mochte, während er ganz allein den Schnee schaufelte.
»Häng den Mantel über den Stuhl beim Ofen, Molly«, sagte Mrs Dempsey, als Harris sich gesetzt und sie ihm eine Tasse Tee eingeschenkt hatte. »Ich helfe ihm mit den Stiefeln.«
»Lassen Sie nur«, sagte Harris. »Ich schaff das schon ganz gut allein.« In Wahrheit wollte er nur nicht, dass Mrs Dempsey bemerkte, wie stark seine Beine noch immer zitterten. Er blies über den heißen Tee und nahm einen kräftigen Schluck. »Das tut gut. Haben Sie vielen Dank.«
»Gleich Mitternacht«, bemerkte Molly. »Ich wünschte, ich müsste nicht alleine da oben in meiner Kammer schlafen.«
Mrs Dempsey nahm ihre Hand »Reiß dich zusammen, Kind.«
Harris leerte die Tasse. Dann fiel sein Blick auf die Anrichte, auf der er vorhin das Ölkännchen abgestellt hatte. Es war nicht mehr dort. »Ich brauche das Öl später noch«, sagte er. »Wohin haben Sie es gebracht?«
»Ich habe es nicht angerührt«, beeilte Molly sich zu versichern.
Mrs Dempsey deutete ein Kopfschütteln an. »Ich auch nicht, Jim. Ich auch nicht.«
»Dann muss es jemand anders genommen haben«, sagte er.
»Es war niemand hier«, meinte Molly. »Wir haben die Küche nur ganz kurz verlassen, um nach Ihnen zu sehen.«
In dem Augenblick erklang wieder ein Schrei.
Draußen vor den hohen Sprossenfenstern fiel sanft der Schnee. Frederick Greenland saß im Salon seines Hauses im gemütlichen Schein einer Stehlampe am Sekretär und ging, ein Glas Brandy neben sich, noch einmal die Namen auf der Gästeliste durch.
Es waren nicht viele, das hatten Louisa und er von Anfang an vereinbart. Auf seiner Seite standen all jene, die ihm neben seiner Verlobten und seinem Ziehsohn Badger wichtig waren.
Wenn er die letzten Monate Revue passieren ließ, kam es Frederick vor, als habe er sie in einer Art traumwandlerischem Trancezustand verbracht. Am deutlichsten in Erinnerung war ihm noch der Tag nach der Gerichtsverhandlung, bei der ihm die Vormundschaft für Badger zugesprochen worden war. Sehr spät an jenem Abend hatte Louisa sich neben ihn auf die Couch gesetzt, seine Hand genommen und ihren Kopf an seine Schulter gelehnt.
»Wir sollten alles daransetzen, Badger gute Eltern zu sein«, hatte sie mit leiser Stimme gesagt, während sie beide in die allmählich verlöschende Glut des Kamins geblickt hatten, ohne einander anzusehen. »Er braucht jetzt den Rückhalt einer richtigen Familie.«
»Oh, ja«, hatte Frederick etwas verblüfft geantwortet und ihre Hand ein wenig fester gedrückt. »Und ich glaube, das sind wir beide ihm auch. Denkst du nicht auch? Er ist so glücklich, wieder bei uns zu sein. Und ich erst.« Hatte er hinzugesetzt. »Er liest sogar freiwillig seinen Shakespeare.«
»Du weißt, was der Richter gesagt hat.«
»Natürlich weiß ich das. Er hat uns die Vormundschaft zugesprochen. Das ist alles, was es zu wissen gibt.«
»Unter Vorbehalt, Frederick«, hatte sie ihn daran erinnert, dass der Ehrenwerte Richter Abel Broadbent nicht ganz zufrieden gewesen war. In Louisas Stimme hatte sich ein unterschwelliger, ernster Ton geschlichen, der Frederick irritierte. »Er sagte allerdings auch, in einem Haus ohne Anstand und Sitte zu leben, sei einem Kind wie Badger unter normalen Umständen nicht zuzumuten.«
Erst da hatte er sie angesehen. »Worauf willst du hinaus, Louisa? Leben wir etwa in einem Haus ohne Anstand und Sitte?«
»Wir sind nun schon eine kleine Ewigkeit verlobt.«
»Ja.«
Zauberhaft hatte sie ihn angelächelt. »Und es ist ein Schaltjahr.«
»Du könntest recht haben.«
»Ich weiß, dass ich recht habe, Frederick.« Sie hatte ihm spielerisch mit dem Zeigefinger in die Seite geknufft und gesagt: »Aus dem Grund ist es mir wohl gestattet, dich zu fragen, ob du mich nun langsam mal heiraten willst, du wunderlicher, kindsköpfiger Mann. Ich habe nämlich eine unbändige Lust, endlich mit dir in einem Bett zu schlafen.«
Seine Antwort hatte sie mit einem leidenschaftlichen Kuss erstickt. Badger war ganz aus dem Häuschen gewesen, als er am nächsten Morgen beim Frühstück die gute Nachricht hörte. Singend und tanzend war er durchs Haus gehüpft. Und die darauffolgenden Tage, Wochen und Monate verschwammen in Fredericks Erinnerung zu einem diffusen Wirrwarr aus Bergen von Korrespondenz, langen Gesprächen, Terminen bei Blumenhändlern, Schneidern und Fuhrunternehmen. Planungen, in die er – Gott sei's gedankt – nur am Rande mit einbezogen worden war. Dann die Wahl der Kirche in der sie sich das Jawort geben würden, die Gäste, die eingeladen werden müssten und der Ort, an dem sie am Silvesterabend ihre Hochzeit feiern würden – Upwey House in einem kleinen Nest in Dorset. Louisa liebte es. Sie hatte es als Kind wohl häufig und gern besucht, und freute sich unbändig auf das Wiedersehen mit ihrer Cousine, die es in der siebten Generation bewohnte.
Schon morgen in aller Herrgottsfrühe ginge es los.
Frederick nahm einen Schluck Brandy und widmete sich wieder der Gästeliste.
Er hatte die Hillermans eingeladen, seine Nachbarn aus Nummer 42. Seinen Onkel Henry, der nur grummelnd zugesagt hatte, weil ihn die Ahnenforschung angeblich gänzlich in Beschlag nahm. Dann Archibald Horne, den Werkstattleiter seines Juweliergeschäfts am Strand nebst dessen Gattin. Und schließlich den Mann, dem er es mehr als jedem anderen verdankte, Badger wieder bei sich zu haben: Donald Swanson. Er würde seine Frau Annie und die Kinder mitbringen.
Das war es auch schon. Das waren sieben Gäste. Zehn, wenn er die Swanson-Kinder und Morton, seinen Butler, mitzählte. Viel mehr waren ihm auch gar nicht eingefallen.
Louisa dagegen hatte es nicht ganz so einfach gehabt. Sie besaß eine riesige Familie mit unzähligen Tanten, Onkels und Cousinen. Von den Freunden und Bekannten gar nicht erst zu reden. Niemanden davon hatte Frederick bislang kennengelernt. Selbst Louisas Cousine, in deren Haus in Dorset sie ihre Hochzeit feiern würden, war ihm unbekannt. Sie sei äußerst reizend und hätte darauf bestanden, dass sie dort heirateten, hatte Louisa ihm eröffnet.
Hunderte von Namen waren über die letzten Monate aufgeschrieben und zusammengestrichen worden, bis letztlich auch auf Louisas Seite zehn übriggeblieben waren. Über den elften stritten sie noch.
Lionel Dale, genannt Schippen-Dale.
»Er wird sich in der Gesellschaft nicht wohlfühlen«, meinte Frederick, als Louisa zu ihm in den Salon trat und das Thema abermals zur Sprache brachte. Er nahm einen Bleistift vom Sekretär und strich Dales Namen von der Liste.
»Sagt wer?«, fragte Louisa. Sie schnappte sich die Liste und schrieb Dales Namen wieder darunter.
»Sage ich. Dale ist bloß seinesgleichen gewohnt. Der lungert den lieben langen Tag in den Pubs rund um Hatton Garden und am Saffron Hill herum, raucht selbstgedrehte Zigaretten und schnorrt sich ein Bier nach dem anderen.«
»So wie du, als Badger in der Gewalt dieses furchtbaren Diamantenhändlers war.«
»Das war etwas anderes«, gab er zurück, nahm die Liste und strich Dale wieder aus. »Da war ich verzweifelt. Wenn man verzweifelt ist, macht man die komischsten Sachen. Und mein Bier habe ich selbst bezahlt. Seine natürlich auch.« Doch Louisa hatte recht. Dale war ihm eine unschätzbare Hilfe gewesen. Ohne dessen Rat wäre er, Frederick, vermutlich in Teufels Küche gekommen, bei dem Versuch, Badger gewaltsam aus den Klauen seiner Entführer zu befreien. Es war Dale zu verdanken, dass er nicht im Gefängnis oder, schlimmer noch, als Wasserleiche in der Themse geendet hatte. Es war Dale zu verdanken, dass sie überhaupt Beweise gegen den Mann gefunden hatten. Und es war Dale zu verdanken, dass sie damit noch rechtzeitig bei Gericht gewesen waren. »Er hätte überhaupt nichts anzuziehen«, sagte er schließlich lahm. »Ich möchte ihm lediglich Peinlichkeiten ersparen.«
Louisa lachte leise. »Ich glaube nicht, dass Lionel Dale überhaupt irgendetwas peinlich ist. Und die Kleiderfrage lass nur meine Sorge sein, Frederick. Er wird totschick aussehen im Frack.«
»Dale weiß nicht mal, was das ist«, sagte Frederick.
»O, ganz gewiss. Er weiß es.« Sie blickte ihn auf eine seltsam siegessichere Weise an.
»Du willst ihn zu meinem Schneider schleppen, habe ich recht?«
»Nein.« Louisa grinste frech. »Ich habe ihn zu meinem Schneider geschleppt, Frederick.«
»Wann, in drei Teufels Namen, war das?«
»Vor Monaten schon«, entgegnete sie, schnappte sich abermals die Gästeliste und trug Dales Namen wieder ein. »Gleich nachdem er mir auf unsere Einladung hin zugesagt hatte.«
Zwei Tage nach Weihnachten stand Donald Swanson am Fenster seines Büros und blickte durch das Schneetreiben auf die träge dahinfließende Themse hinaus. Von hier oben waren die Lampen, die die Westminster Bridge flankierten, nur noch verschwommen als trübe gelbe Lichtkegel zu erkennen.
Ewig und konstant, dachte er oft, wenn er die braunen Fluten von seinem Fenster aus betrachtete. Die Welt mochte sich in rasanter Geschwindigkeit verändern, Menschen mochten kommen und gehen und Gebäude mochten an seinen Ufern abgerissen und neue errichtet werden, doch der Fluss blieb der Fluss. Er änderte sich nicht. In dieser Hinsicht glich er Swansons Leben.
Seit seiner Ernennung zum Superintendenten vor einigen Monaten, hatte sich auch für ihn kaum etwas geändert. Nichts Nennenswertes jedenfalls. Gut, er hatte mehr Verantwortung zu tragen, mehr Formulare auszufüllen und mehr Zeit, als ohnehin schon, am Schreibtisch zu verbringen, doch sein Büro hatte er behalten. Das Verbrechen schlief nicht, und dieselben Kollegen arbeiteten mit ihm daran, es in Schach zu halten.
Clarence Penwood war noch immer zu jeder Tages- und Nachtzeit mit einer Tasse Tee zur Stelle, und Stewart Evans, der mit Argusaugen über das Archiv wachte, tat dies tagaus tagein im Dunst von Räucherkerzen. Peter Phelps und Fred Wensley verband nach wie vor eine respektvolle Hassliebe, obgleich das Gerücht ging, sie hätten sich in letzter Zeit ein paar Mal nach Feierabend auf ein Bier im Pub getroffen. Und Charly Stedman unten in den Katakomben der Forensischen Abteilung – nun, der blieb eben Charly Stedman unten in den Katakomben der Forensischen Abteilung. Alles ging auf die übliche Weise seinen geregelten Gang.
Die größte Veränderung war das neue Schild an Swansons Bürotür.
Der frisch gebackene Superintendent ordnete die Papiere auf seinem Schreibtisch. Dann zog er sich seinen Mantel an, nahm den Bowler vom Garderobenständer und trat in den Flur hinaus. Ein paar Tage Urlaub standen für ihn an. Nachdem er an Weihnachten hatte arbeiten müssen, würde er den Jahreswechsel mit Annie und den Kindern in einem kleinen Nest in Dorset verbringen. Im tiefsten Schnee, wie es aussah. Besonders Ada und Douglas konnten es kaum abwarten, in die Winterferien zu fahren. Sein Sohn war jetzt neun. Ada zwölf Jahre alt.
»Hallo, Sir.« Es war Sergeant Penwood. Mit ehrpusseligem Gesicht stand er im Flur, die Hände hinter dem Rücken. »Sie reisen doch jetzt bald ab, zu Mr Greenlands Hochzeit, nicht wahr?«
Swanson nickte. »Morgen in aller Herrgottsfrühe geht der Zug nach Dorchester.«
»Die Jungs und ich haben uns zusammengetan, Sir.« Penwoods Hände kamen zum Vorschein. Feierlich hielt er Swanson ein in braunes Packpapier eingeschlagenes Päckchen hin.
»Reiseproviant, Clarence?« Er lächelte milde. »Haben Sie Sorge, wir könnten unterwegs verhungern?«
»Oh, nein, Sir. Das tut mir aufrichtig leid. Es ist gar nicht für Sie.« Er machte ein betroffenes Gesicht, und die Röte stieg ihm in die Wangen. Hätte er die Hände frei gehabt, er hätte sicherlich die Gläser seiner runden Brille geputzt. So aber blieb Penwood nichts anderes übrig, als die Peinlichkeit auszuhalten, er habe den Eindruck erweckt, das Geschenk sei für Swanson gewesen. Er hielt das Päckchen noch etwas höher. »Es ist für Miss Balshaw und Mr Greenland. Zur Hochzeit.«
Swanson staunte. »Sie haben zusammengelegt, sagen Sie?«
»Ja, Sir.« Ein Lächeln. Ein Nicken. Die Röte ließ langsam nach. »Alle hier. Sogar Charly Stedman ist extra raufgekommen.« Er drückte Swanson das Päckchen in die Hände.
