Internationale Migrationspolitik - Uwe Hunger - E-Book

Internationale Migrationspolitik E-Book

Uwe Hunger

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Beschreibung

Migration geht alle an: Migration ist ein globales Phänomen, Migrationspolitik wird aber oft nur im nationalen Kontext gedacht und gemacht. Dr. Uwe Hunger und Dr. Stefan Rother beleuchten die aktuellen Migrationsbewegungen, erklären die Ursachen von Arbeitsmigration und Flucht und zeigen, wie auf nationalstaatlicher und supranationaler Ebene mit Migration umgegangen wird. • Kompakte und zugleich umfassende Einführung für Studierende und alle, die sich für Migration und Migrationspolitik interessieren. • Mit vielen Beispielen aus dem eigenen Alltag oder den Medien • Mit Infoboxen, Grafiken und Lernkontrollfragen

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Seitenzahl: 474

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Inhalt

VorwortAbkürzungsverzeichnis1 Grundbegriffe und aktuelle Trends1.1 Definition internationaler Migration1.2 Umfang der globalen Migration heute1.3 Migration in und zwischen einzelnen Weltregionen1.4 Migration auf nationalstaatlicher Ebene1.5 Urbanisierung von Migration1.6 Ausblick: Migration und DemografieWeiterführende Fragen und Literatur2 Migrationstheorien2.1 Sozialwissenschaftliche Migrationstheorie2.1.1 Theorien auf der Mikroebene2.1.1 Theorien auf der Makroebene2.1.2 Theorien auf der Mesoebene2.2 Politikwissenschaftliche Theorien und Migration2.2.1 Klassischer Realismus und Neorealismus2.2.2 Der neoliberale Institutionalismus2.2.3 Liberaler Intergouvernementalismus2.2.4 Der Konstruktivismus2.2.5 Weitere politikwissenschaftliche Ansätze2.3 Eine interdisziplinäre Perspektive auf MigrationspolitikWeiterführende Fragen und Literatur3 Flucht und Asyl3.1 Historische Entwicklung3.2 Genfer Flüchtlingskonvention und UNHCR3.3 Aufnahmeländer3.4 Nationale Flucht- und Asylpolitik3.5 Lösungsansätze3.5.1 Rückkehr3.5.2 Integration3.5.3 Resettlement3.6 Fazit und AusblickWeiterführende Fragen und Literatur4 Migration und Arbeit4.1 Begriff und Arten der Arbeitsmigration4.2 Geschichte und Umfang der Arbeitsmigration4.3 Motive und Erscheinungsformen der Arbeitsmigration4.4 Soziale Rechte von Wanderarbeiter*innenWeiterführende Fragen und Literatur5 Migration von Hochqualifizierten5.1 Die USA als Modell5.2 Staatliche Politiken zur Anwerbung von Hochqualifizierten5.2.1 Punktesysteme5.2.2 Arbeitsvertragsgebundene Systeme5.2.3 Hybridsysteme5.3 Unternehmensinterne Arbeitsmärkte5.4 Studierendenmigration5.5 Brain DrainWeiterführende Fragen und Literatur6 Migration und Gender6.1 Die Feminisierung der Migration?6.2 Frauen, Gender und Migrationsforschung6.3 Migration und Gender im Herkunftsland6.4 Migration und Gender im Migrationsprozess6.5 Migration und Gender im Zielland6.6 Familie und Migration6.7 Die Globalisierung der Hausarbeit6.8 Sexualität, Trafficking und Sex Work6.9 Flucht und Gender6.10 Gender als Herausforderung für globale MigrationspolitikWeiterführende Fragen und Literatur7 Migration und Demokratie7.1 Einleitung: Wer gehört zum demos?7.2 Staatsbürger*innenschaft7.3 Nicht-Staatsbürger*innenschaft und Wohnbürger*innenschaft7.4 Wahlrecht von Migrant*innen7.5 Demokratisierung und Migration7.6 Migrant*innen und individuelle demokratische Einstellungen7.7 Migrant*innen als politische Akteure7.8 FazitWeiterführende Fragen und Literatur8 Migration und Sicherheit: Die Versicherheitlichung (securitization) von Migration8.1 Die Versicherheitlichung (securitization) von Migration8.2 Migration und Sicherheit8.3 Die Kopenhagener Schule8.4 Versicherheitlichung8.5 Die Versicherheitlichung von Migration8.6 Die Sicherheit vor Migrant*innen8.7 Die Sicherheit von Migrant*innenWeiterführende Fragen und Literatur9 Migration und Integration9.1 Assimilation oder Integration?9.2 Von Integration auf Inklusion umstellen?9.3 Integration im transnationalen Raum9.4 Der Streit über die Rolle von Migrant*innenselbstorganisationen9.5 Jenseits von IntegrationWeiterführende Fragen und Literatur10 Migration und Entwicklung10.1 Brain Drain10.2 Das Beispiel Indien10.3 Weitere Brain Gain-Beispiele10.4 Die Rolle von Rücküberweisungen und Investitionen10.5 Politische Diasporaaktivitäten10.6 Soziokulturelle Diasporaaktivitäten10.7 Politische Maßnahmen zur Förderung eines ‚Brain Gain‘10.7.1 Durch die Herkunftsländer10.7.2 Durch internationale Organisationen und Zielländer10.8 ZusammenfassungWeiterführende Fragen und Literatur11 Einwanderungspolitik im internationalen Vergleich11.1 „Nations of immigrants“11.1.1 Die Vereinigten Staaten von Amerika – USA11.1.2 Kanada11.1.3 Australien11.2 „Countries of immigration“11.2.1 Deutschland11.2.2 Schweiz11.2.3 Österreich11.2.4 Frankreich11.2.5 Großbritannien11.2.6 Niederlande11.2.7 Schweden11.3 „Latecomer of immigration“11.3.1 Italien11.3.2 Japan11.4 FazitWeiterführende Fragen und Literatur12 Migrationspolitik der Europäischen Union12.1 Migrationspolitik nach innen – Binnenmigration12.1.1 Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit12.1.2 Dienstleistungsfreiheit12.1.3 Niederlassungsfreiheit12.1.4 EU-Staatsbürger*innenschaft bzw. Unionsbürger*innenschaft12.2 Migration von außen bzw. Migration aus Drittstaaten12.2.1 Asyl12.2.2 Familienmigration12.2.3 Arbeitsmigration – „Blue Card“12.2.4 Integrationspolitik12.2.5 Migration und Entwicklung12.2.6 Grenzkontrollen und irreguläre Migration12.3 Fazit und AusblickWeiterführende Fragen und Literatur13 Global Migration Governance13.1 Global Governance und die Schwierigkeiten der Kooperation13.1.1 Schwierigkeiten der Kooperation13.1.2 Angebot und Nachfrage13.1.3 Migration – lange kein Thema auf der internationalen Ebene13.2 Regional Migration Governance?13.3 Globale Institutionen13.4 Konventionen13.5 Konferenzen13.5.1 Das Global Forum on Migration and Development13.5.2 Thematische Schwerpunkte des GFMD13.5.3 Die Parallelveranstaltung: Die PGA13.5.4 Die Gegenveranstaltung: Die IAMR13.6 Die Global Compacts13.7 Chancen für die Governance von Migration – Global oder „von unten“?Weiterführende Fragen und Literatur14 Ausblick: Migration ohne Grenzen. Eine Utopie?14.1 Immanuel Kant als Vordenker der „No Border“-Bewegung?14.2 Die Argumente für Grenzkontrollen und geschlossene Grenzen14.3 Rechtebasierte Gegenargumente14.4 Pragmatische Argumente14.5 Ökonomische Argumente für offene Grenzen14.6 Kritische Gegenpositionen14.7 Transnational labor citizenship14.8 FazitWeiterführende Fragen und LiteraturLiteratur

Vorwort

Das Buch will eine Einführung in zentrale Bereiche der internationalen Migrationspolitik bieten. Es fußt auf den Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten Lehrtätigkeit im Bereich der internationalen Migrationsforschung. Es fasst viele Diskussionen zusammen, die wir in unseren Seminaren mit interessierten und engagierten Studierenden geführt haben. Bei der Erstellung haben uns viele ehemalige Studierende geholfen. Besonderer Dank gilt dabei Dr. Stefan Metzger, Dr. Sascha Krannich, Jennifer Grunwald M.A., Manuel Erdmeier M.A., Clara Schick, Julia Seidel, Laura Ettinger, Annalena Kößer, Cara Hamann und Luisa Muhammad, die uns beim Schreiben vieler Kapitel unterstützt haben und ohne deren Hilfe dieses Buch nicht hätte fertiggestellt werden können. Prof. Dr. Dietrich Thränhardt, Dr. Elias Steinhilber, Dr. Mirjam Lücking und Hannah Riede, M.A. haben einzelne Kapitel gelesen und uns auf viele wichtige Punkte hingewiesen. Ihnen allen gilt unser Dank ebenso wie den vielen Studierenden in unseren Seminaren.

 

Freiburg und Münster im Juli 2020

 

Uwe Hunger und Stefan Rother

Hinweise zum Buch

Das Buch ist so aufgebaut, dass es innerhalb eines Semesters gut durchgearbeitet werden kann. So kann jede Woche ein Kapitel behandelt werden. Studierende finden am Ende des Kapitels weiterführende Literatur, die sie für die Vor- oder Nachbereitung eines Themas heranziehen können. Ebenfalls angefügte Fragen sollen Seminardiskussionen anregen.

Abkürzungsverzeichnis

AEMR

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

AfD

Alternative für Deutschland

AMCB

Asian Migrants Coordinating Body

AMIF

Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds

ASEAN

Association of Southeast Asian Nations

AU

Afrikanische Union

BAMF

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

BIP

Bruttoinlandsprodukt

BRD

Bundesrepublik Deutschland

CDU

Christlich Demokratische Union (Deutschlands)

CEDAW

Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women

COVID-19

Corona Virus Disease 2019

CSU

Christlich-Soziale Union

DDR

Deutsche Demokratische Republik

DIAC

Department of Immigration and Citizenship

ECOWAS

Economic Community of West African States

EG

Europäische Gemeinschaft

EGKS

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

EP

Europäisches Parlament

ERRIN

European Return and Reintegration Network

EU

Europäische Union/European Union

EUROSUR

European Border Surveillance System

FIFA

Fédération Internationale de Football Association

FPÖ

Freiheitliche Partei Österreichs

FRONTEX

Frontières extérieures/Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union

GAATW

Global Alliance Against Traffic in Women

GCIM

Global Commission on International Migration

GFK

Genfer Flüchtlingskonvention

GFMD

Global Forum on Migration and Development

GG

Grundgesetz

GIZ

Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit

GMG

Global Migration Group

GRF

Global Refugee Forum

HLD

High-Level Dialogue

HTA

Home Town Associations

IAMR

International Assembly of Migrants and Refugees

ICEM

Intergovernmental Committee for European Migration

ICPD

International Conference on Population and Development

IDP

Internally displaced persons

IDWF

International Domestic Workers Federation

ILO

International Labour Organization

IMA

International Migrants’ Alliance

IME

Instituto de los Mexicanos en el Exterior/Institut für die Mexikaner im Ausland

IMF

International Monetary Fund

IMRF

International Migration Review Forum

IOM

International Organization for Migration

IRC

International Rescue Committee

IRO

International Refugee Organization

IRPA

Immigration and Refugee Protection Act

IS

Islamischer Staat

KPCS

Kimberley Process Certification Scheme

LGBTIQ

Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersex, Queer

MFA

Migrant Forum in Asia

MHub

North Africa Mixed Migration Hub

MINT

Mathematik, Ingenieurwissenschaft, Naturwissenschaften und Technik

MOIA

Ministry of Overseas Indian Affairs

MRI

Migrants Rights International

NAFTA

North American Free Trade Agreement

NATO

North Atlantic Treaty Organization

NEA

New American Economy

NGO

Nichtregierungsorganisation

NNIRR

National Network for Immigrant and Refugee Rights

NPD

Nationaldemokratische Partei Deutschland

OECD

Organization for Economic Co-operation and Development

OFW

Overseas Filipino Workers

OHCHR

United Nations High Commissioner for Human Rights

ÖVP

Österreichische Volkspartei

OXFAM

Oxford Committee for Famine Relief

PANiDMR

Pan African Network in Defense of Migrants' Rights

PCME

Programa para las Comunidades Mexicanas en el Exterior/Programm für die mexikanischen Gemeinschaften im Ausland

PGA

People’s Global Action on Migration, Development and Human Rights

PIO

Person of Indian Origin

PNAE

Partnership New American Economy

PRI

Partido Revolucionario Institucional

PSR

Private Sponsorship of Refugees (PSR) program

RCP

Regional Consultative Processes for Migration

SACM

South American Conference on Migration

SAR

(International Convention on Maritime) Search and Rescue

SDGs

Sustainable Development Goals

SEDESOL

Secretaria de Desarrollo Social

SOLAS

(International Convention for the) Safety of Life at Sea

SOLID

Solidarität und Steuerung der Migrationsströme

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SVR

Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration

TFAMW

Task Force for ASEAN Migrant Workers

UCB

University of California in Berkeley

UN DESA

United Nations Department of Economic and Social Affairs

UN

United Nations

UNCCP

United Nations Conciliation Commission for Palestine

UNCLOS

United Nations Convention on the Law of the Sea / UN-Seerechtsübereinkommen

UNDP

United Nations Development Programme

UNESCO

United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization

UNHCR

United Nations High Commissioner for Refugees

UNICEF

United Nations Children’s Fund

UNRWA

United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East

US

United States

USA

United States of America

VOICE

Victims of Immigration Crime Engagement

WFP

World Food Programme

WHO

World Health Organisation

WIMN

Women in Migration Network

WM

Weltmeisterschaft

WSA

World Service Authority

WTO

World Trade Organization

ZAV

Zentrale Auslands- und Fachvermittlung

1

1.1Definition internationaler Migration

Migration bedeutet, wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt, wandern, von einem Ort zum andern; internationale Migration, von einem Land zum andern. Während Migration so alt ist wie die Menschheit selbst, gibt es internationale Migration seit der Zeit, in der es Länder bzw. Nationalstaaten gibt. Die Herausbildung von Nationalstaaten beginnt mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges im Jahr 1648, als in Europa die „Westfälische Staatenordnung“ etabliert wurde, die für die Entstehung von Nationalstaaten grundlegend war. Die Regulierung von Migration gehört seither zu den ureigensten Domänen des Nationalstaates. Wer auf das Territorium eines Staates kommen darf und wer nicht, liegt vor allem in seiner Hand. Nur in einigen Aspekten gibt es internationale Regelungen, die versuchen, festzulegen, unter welchen Voraussetzungen Nationalstaaten möglicherweise auch gegen ihren Willen Menschen aufnehmen müssen und wie sie mit den Menschen, die zu ihnen kommen, umgehen müssen bzw. sollen. Diese Vergemeinschaftung bzw. Internationalisierung von Migrationspolitik ist besonders innerhalb der Europäischen Union weit fortgeschritten. Aber auch hier versuchen einzelne Nationalstaaten möglichst wenig von ihrer Souveränität abzugeben, wie auch der jüngste Streit in der Asylpolitik zeigt. Alle Vereinbarungen, die international gelten und Migration, die mindestens zwei Länder bzw. Nationalstaaten betrifft, regeln sollen, nennt man internationale Migrationspolitik.

Aber ab wann ist ein Mensch ein*e internationale*r Migrant*in? Sollen z.B. auch Tourist*innen oder Studierende, die ein Semester im Ausland verbringen, schon als internationale Migrant*innen gelten? Es ist nicht ganz leicht, hierfür eine allgemein gültige Definition zu finden, da auch die Ursachen und Umstände der Migration immer wieder ganz unterschiedlich sein können. Um mit diesen komplexen Fragen pragmatisch umzugehen, haben die Vereinten Nationen (United Nations, UN) 1998 eine einfache Definition vorgeschlagen, an der sich große Teile der Migrationsforschung (Koser 2007; Castles et al. 2014; Martin 2014) sowie internationale Organisationen wie etwa die International Organization for Migration (IOM) orientieren. Danach werden diejenigen Menschen zu internationalen Migrant*innen gezählt, die sich für mindestens ein Jahr außerhalb ihres gewöhnlichen Aufenthaltslandes aufhalten, unabhängig von den Wanderungsgründen (UN 1998, S.10). Nach dieser Definition sind Binnenmigrant*innen, also Migrant*innen, die innerhalb eines Landes wandern, und temporäre Migrant*innen, die nur für eine kürzere Zeit als zwölf Monate migrieren, ausgeschlossen.

Nationalstaaten und der Westfälische Frieden von 1648

Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges im Jahr 1648 entstand in Europa die „Westfälische Staatenordnung“, die für die Entstehung von Nationalstaaten grundlegend war. Der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 ist eine Sammelbezeichnung mehrerer Kriege, die überwiegend auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation ausgetragen wurden und die sowohl Religionskriege als auch ein Konflikt um die Vormachtstellung in Europa waren (für mehr Informationen siehe Wedgwood 2011). Dabei standen sich sowohl habsburgische und französische Truppen als auch Katholiken und Protestanten gegenüber. Gemeinsam mit ihren jeweiligen Verbündeten und Schutzmächten trugen die habsburgischen Mächte Österreich und Spanien ihre Interessenkonflikte mit Frankreich, den Niederlanden, Dänemark und Schweden aus. Im Westfälischen Frieden von 1648, der in Münster und Osnabrück ausgehandelt wurde und der das Ende des Dreißigjährigen Krieges bedeutete, wurde zum ersten Mal eine Staatenordnung etabliert, die auf dem Prinzip der inneren und äußeren Souveränität territorial abgegrenzter, untereinander formal gleichberechtigter Staaten beruht. Der Territorialstaat war grundlegend für die spätere Herausbildung von Nationalstaaten.

Mit der Herausbildung von modernen Territorialstaaten gewinnt die Beziehung zwischen Staat und Staatsangehörigen an Bedeutung. Während der Staat sich zu unterschiedlichen Leistungen wie Sicherheit, Rechtsfrieden oder Wohlfahrt verpflichtet, erwartet er von seinen Staatsbürger*innen Loyalität. Wer in den Genuss dieser Leistungen kommt, wurde letztendlich über die Unterscheidung in Staatsangehörige und Ausländer*innen reguliert (Bommes 1999, S.122-140).

Allerdings halten sich viele Nationalstaaten nicht an diese Empfehlung und definieren internationale Migrant*innen in ihren Ländern unterschiedlich. So setzen einige Länder die Aufenthaltsdauer deutlich unter einem Jahr an, teilweise werden (wie in den USA) sich irregulär aufhaltende Menschen ohne Aufenthaltstitel offiziell als Migrant*innen erfasst, während dies in den meisten Ländern Europas nicht der Fall ist (Münz 2009). Deutschland führt ein Einwohnermelderegister, was es woanders nicht gibt. Ein weiteres Problem bei der systematischen Erfassung globaler Migration ist, dass nicht alle Staaten ihre Einwanderungsdaten veröffentlichen oder internationalen Organisationen zur Verfügung stellen. Zum Beispiel geben mehrere Staaten am Persischen Golf, wie Katar, keine Daten über die Herkunft ihrer Einwanderer*innen frei, obwohl diese durch ein Visasystem gesammelt werden (Pew Research Center 2013). Andere Staaten wiederum haben aufgrund bürokratischer Überforderung grundsätzliche Defizite bei der Erfassung ihrer Einwanderungszahlen. So basieren viele Zahlen zur internationalen Migration nur auf Schätzungen, weil die Ermittlung registrierter Grenzübertritte teilweise schwierig ist. Auch die unten dargestellten Zahlen und Fakten zur internationalen Migration präsentieren zudem immer nur eine Momentaufnahme.

Probleme der Datenerhebung zur internationalen Migration

Grundsätzlich verschafft die Kategorisierung in einzelne Migrationsformen einen besseren Überblick über die weltweiten Migrationsgeschehnisse. Jedoch wird von den internationalen Organisationen, die die Daten zu den verschiedenen Migrationsformen erfassen (UN, OECD, Weltbank, IOM, ILO etc.), angemerkt, wie schwer es ist, Migrationsbewegungen realitätsnah abzubilden. Die IOM (2015) fordert deswegen, dass Daten zur internationalen Migration noch umfangreicher, systematischer, komparativer und über einen längeren Zeitraum erfasst werden. Bisher gibt es noch keine regelmäßige Datenerfassung von ein und derselben Organisation oder Institution zu allen Migrationsformen weltweit.

Die UN selbst ist dazu übergegangen, als internationale Migrant*innen von nun an alle Menschen zu zählen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem anderen Land als ihrem Geburtsland bzw. dem Land, von dem sie die Staatsbürgerschaft besitzen, leben.

1.2

1.3Migration in und zwischen einzelnen Weltregionen

Blickt man auf die regionale Verteilung des internationalen Migrationsgeschehens, so sieht man, dass die meisten internationalen Migrant*innen in Europa leben (rund 30 %), gefolgt von Nordamerika (21,6 %) und Nordafrika und Westasien (17,9 %). In absoluten Zahlen ausgedrückt wohnten im Jahr 2019 82 Millionen Migran*innten in Europa, rund 59 Millionen in Nordamerika und rund 49 Millionen in Nordafrika und Westasien (UN 2019). Die nächstmeisten Migrant*innen entfielen auf Subsahara-Afrika (8,7 %, rd. 24 Millionen), Zentralasien und Südasien (7,2 %, rd. 20 Millionen) sowie auf Ost- und Südostasien (6,7 %, rd. 18 Millionen). Lateinamerika und die Karibik (4,3 %, rd. 12 Million) sowie Ozeanien (3,3 %, rd. 9 Millionen) bildeten das Schlusslicht. Dabei ist auffallend, dass in allen Regionen die internationale Migration in den letzten 15 Jahren noch einmal stark zugenommen hat, wobei nur in Nordamerika der Zuwachs geringer ausfiel als im Vergleich zu den Jahren 1990 bis 2005.

Abbildung 6:

Regionale Verteilung der internationalen Migrant*innen 2019

Quelle: UN, International Migration Report 2019.

Abbildung 7:

Veränderung des Anteils internationaler Migrant*innen in den verschiedenen Weltregionen (in %)

Quelle: UN, International Migration Report 2019.

Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist demgegenüber die Migration in Ozeanien, insbesondere Australien, am höchsten. Hier beträgt der Migrant*innenanteil über 21,2 Prozent. Danach folgt Nordamerika mit 16 Prozent. Europa weist 11 Prozent und Nordafrika und Westasien weisen 9,4 Prozent auf. In allen anderen Regionen liegt der Anteil an internationalen Migrant*innen seit den 1990er Jahren unter drei Prozent.

Auffallend ist zudem, dass der Großteil der internationalen Migration überwiegend nicht zwischen, sondern innerhalb der einzelnen Weltregionen stattfindet. So wandert in den allermeisten Regionen jeweils die Mehrheit der internationalen Migrant*innen innerhalb der eigenen Region. In Ost- und Südostasien sowie in Subsahara-Afrika trifft dies auf fast 80 Prozent der Fälle zu. In absoluten Zahlen stellte Europa mit rund 30 Millionen Menschen den größten Wanderungskorridor weltweit dar, (noch vor der Migration aus Lateinamerika und der Karibik nach Nordamerika im Umfang von 26,6 Millionen Menschen). Ausnahmen bilden nur Ozeanien und Nordamerika, wo nur 11,9 (Ozeanien) bzw. 2,3 Prozent (Nordamerika) der Migrant*innen innerhalb ihrer eigenen Region verbleiben. Während Menschen aus Ozeanien vor allem nach Europa wandern, gehen Migrant*innen aus Nordamerika in den meisten Fällen nach Lateinamerika bzw. die Karibik. Hierbei handelt es sich vielfach auch um Rückwanderer*innen.

Betrachtet man wieder die Nettomigration, zeigt sich entsprechend der Darstellung zu den Entwicklungsregionen (Globaler Norden vs. Globaler Süden), dass vor allem Europa, Nordamerika, Ozeanien und seit 2000 auch die Region Nordafrika und Westasien Einwanderungsregionen, während Zentral- und Südasien, Lateinamerika und die Karibik sowie Ost- und Südostasien ebenso wie Subsahara-Afrika Auswanderungsregionen sind, wobei Zentral- und Südasien die größte Auswanderungsregion der Welt darstellen. Hier sind seit 2000 im Jahresdurchschnitt etwa 1,5 Millionen Menschen mehr aus- als eingewandert. Demgegenüber stieg in Europa die Zahl der internationalen Migrant*innen jährlich um etwa eine Million Menschen, wobei allerdings viele der Migrant*innen innerhalb Europas gewandert sind. Interessant ist dabei auch, dass Europa noch bis weit in das 20. Jahrhundert zu den Auswanderungsregionen der Welt gehörte.

Abbildung 8:

Anteile der Migrationen innerhalb der eigenen Region (in %)

Quelle: UN, International Migration Report 2019.

Abbildung 9:

Ausgangs- und Zielregionen internationaler Migration

Quelle: UN, International Migration Report 2019.

Abbildung 10:

Bevölkerungsabnahmen und -zuwächse infolge internationaler Migration in verschiedenen Weltregionen seit 1950 (in Millionen)

Quelle: UN, International Migration Report 2019.

1.4Migration auf nationalstaatlicher Ebene

Darüber hinaus gibt es auch große Unterschiede innerhalb der Regionen. So gibt es in den meisten Regionen Länder, in denen mehr Menschen ein- als abwandern und umgekehrt. In Europa hatten 2019 z.B. 25 Länder einen positiven Wanderungssaldo und 15 einen negativen. Die größten Empfängerländer waren Russland und Deutschland, während Rumänien und Polen zu den größten Herkunftsländern gehörten (UN 2019). Auch in Nordafrika und Westasien gibt es etwa gleich viel Auswanderungs- und Einwanderungsländer, wie etwa Syrien und der Sudan als Auswanderungs- und die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien als Einwanderungsländer, die beide erst nach dem Steigen der Ölpreise zu extremen Zuwanderungsländern wurden. In Subsahara-Afrika gehörten Südafrika, Angola und Sierra Leone zu den Einwanderungs- und Simbabwe und Ghana zu den Auswanderungsländern.

Interessanterweise konzentriert sich die internationale Migration zudem auf wenige Länder. So stammen ein Drittel aller internationalen Migrant*innen aus insgesamt nur zehn Ländern. Umgekehrt beherbergen auch nur zehn Länder mehr als die Hälfte aller Migrant*innen. Zu den größten Auswanderungsländern weltweit gehören aktuell neben Syrien auf Platz 1 die bevölkerungsreichen asiatischen Länder Indien, Bangladesch und China sowie Pakistan, Myanmar, Nepal und die Philippinen. Weitere Hauptherkunftsländer sind die krisengeschüttelten Länder Venezuela und Simbabwe (UN 2019). Auf Seite der Einwanderungsländer stehen in absoluten Zahlen die USA unangefochten auf Platz 1. Allein in den letzten zehn Jahren wanderten netto pro Jahr knapp eine Million Menschen in das Land ein, gefolgt von Deutschland mit 466.000 Nettozuwanderer*innen pro Jahr und der Türkei mit 318.000. Weitere große Zuwanderungsländer sind Russland, Großbritannien, Kanada, Saudi-Arabien, Italien, Südafrika und Australien.

Abbildung 11:

Größte Auswanderungsländer 2010-2020 (Nettomigration in Tausend pro Jahr)

Quelle: UN, International Migration Report 2019.

Abbildung 12:

Größte Einwanderungsländer 2010-2020 (Nettomigration in Tausend pro Jahr)

Quelle: UN, International Migration Report 2019.

Die größte Migration zwischen zwei Ländern fand dabei in den letzten Jahren zwischen Syrien und der Türkei statt. In dieser Zeit flüchteten im Durchschnitt knapp 500.000 Menschen pro Jahr von Syrien in die Türkei, die meisten von ihnen in den letzten fünf Jahren. Durchschnittlich etwa 125.000 Menschen pro Jahr flüchteten in den letzten zehn Jahren zudem aus Syrien in den Libanon. Weitere bedeutende Migrationskorridore bestanden vom Südsudan nach Uganda, von Venezuela nach Kolumbien und Peru sowie von China und Indien in die USA. Aus Indien wanderten viele Migrant*innen nach Saudi-Arabien und in den Oman. Zudem bestand ein wichtiger Fluchtkorridor zwischen Myanmar und Bangladesch. Interessant ist, dass sich die Migrationskorridore in den letzten dreißig Jahren deutlich verschoben haben. In den zwei vorhergehenden Dekaden war jeweils die Migration von Mexiko in die USA weltweit am bedeutendsten. Inzwischen ist Mexiko selbst zu einem wichtigen Einwanderungsland für Migrant*innen aus dem Süden Lateinamerikas geworden.

Abbildung 13:

Größte Migrationskorridore zwischen zwei Ländern in den Jahren 1990-2000, 2000-2010 und 2010-2019 (durchschnittlicher jährlicher Zuwachs in Tausend)

Quelle: UN, International Migration Report 2019.

1.5Urbanisierung von Migration

Ein weiterer wichtiger Trend der internationalen Migration besteht in der zunehmenden sog. Urbanisierung von Migration, d.h. dass immer mehr internationale Migration in Städte erfolgt und deshalb vor allem Städte anwachsen und immer mehr zum Dreh- und Angelpunkt der Verarbeitung von Migrationsprozessen werden. So hat die Soziologin Saskia Sassen (1991) die sog. Global-City-Hypothese entwickelt, die besagt, dass die Migrationsbewegungen aus ärmeren Ländern in reiche Länder eng mit der Entstehung globaler Städte verbunden sind. Diese hätten eine große Sogwirkung auf internationale Migrant*innen, die umgekehrt auch die Entwicklung der Städte stark beeinflussten. Globale Städte sind häufig von ihrem direkten regionalen Umfeld losgelöst und nur mit anderen globalen Städten wirklich vergleichbar, etwa in Bezug auf Mietpreise. Beispiele für Global Cities sind London, New York und Los Angeles, aber auch Frankfurt am Main mit seinem global agierenden Finanzsektor (Samers 2010, S.74, 76).

Nach Daten des internationalen Migrationsdatenportals1 lebten 2019 bereits 55 Prozent aller internationalen Migrant*innen in Städten, während es 1950 nur etwa 30 Prozent waren. Es wird geschätzt, dass bis 2030 bis zu 60 Prozent der Migrant*innen in Städten leben werden, insbesondere in sog. Megacities, die heute 13 Prozent der gesamten Weltbevölkerung beherbergen (UN 2018). Besonders rasant verläuft dieser Prozess in Asien und Afrika. Hier wird sich der Verstädterungsprozess bis 2050 in Asien um gut 60 Prozent erhöhen und sich in Afrika sogar verdreifachen (Migrationsdatenportal 2020). Insgesamt wird geschätzt, dass rund 20 Prozent der internationalen Migrant*innen in 20 Städten leben: „Peking, Berlin, Brüssel, Buenos Aires, Chicago, Hongkong, London, Los Angeles, Madrid, Moskau, New York, Paris, Seoul, Shanghai, Singapur, Sydney, Tokio, Toronto, Wien und Washington DC“ (IOM 2015). Gemessen an dem Gesamtanteil von 3,5 Prozent internationaler Migrant*innen an der Gesamtbevölkerung sind dies sehr hohe Werte. Insbesondere Dubai (83 %), Brüssel (62 %) und Toronto (46 %) stechen weltweit heraus.

Hinzu kommt in fast allen Städten noch die Binnenmigration, die ebenfalls zumeist vom Land in die Städte erfolgt. Dies sorgt für eine weitere Verstädterung der Besiedlungsstrukturen. Dies ist insbesondere, aber nicht nur, in Ländern des Globalen Südens zu beobachten, wo Binnenwanderung die Verstädterung stark beschleunigt. Die am stärksten urbanisierte Region der Welt ist jedoch nach wie vor Nordamerika, wo 82 Prozent der Bevölkerung in Städten leben (ebd.).

Abbildung 14:

Städte mit den größten Anteilen im Ausland geborener Bürger*innen 2019 (in %)

Quelle: Migrationsdatenportal.

1.6Ausblick: Migration und Demografie

Es wird von der UN angenommen, dass internationale Migration auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weltweit zunehmen wird. Ein Grund dafür ist die weltweite demografische Entwicklung. So wird geschätzt, dass die Bevölkerungszahlen in den hochentwickelten Ländern des Globalen Nordens stagnieren und teilweise zurückgehen, während sie in den weniger entwickelten Länder des Globalen Südens steigen werden. Allein in Afrika und Asien, wo heute bereits die höchsten Geburtenraten verzeichnet werden, ist abzusehen, dass die Bevölkerung bis 2050 auf fast acht Milliarden Menschen ansteigen wird (UN 2013, S.16). Dabei werden in den zwei bevölkerungsreichsten Ländern der Welt, China und Indien, jeweils ca. eineinhalb Milliarden Menschen leben, wobei Indien China als bevölkerungsreichstes Land der Welt überholen wird. Nigerias Bevölkerung könnte bis zum Jahr 2050 auf fast eine halbe Milliarde Menschen ansteigen und damit die USA (rund 400 Millionen Einwohner*innen bis 2050) als drittbevölkerungsreichstes Land überholen (UN 2019). Nach der „World Population Clock“ der UN, die die Weltbevölkerung sekündlich zählt, leben gegenwärtig fast 7,8 Milliarden Menschen auf der Welt.1 Im Jahr 1989 waren es noch 5,2 Milliarden. Die UN prognostiziert, dass es im Jahr 2050 rund 9,7 Milliarden Menschen geben wird (UN 2020).

Aufgrund dieser stark wachsenden Bevölkerungszahlen im Globalen Süden und den gleichzeitig stagnierenden Einwohner*innenzahlen – und der damit einhergehenden Verknappung an Arbeitskräften für die alternden Gesellschaften der Länder des Globalen Nordens – wäre es eine logische Folge, wenn die Süd-Nord-Migration in Zukunft weiter zunehmen würde. Sollte dies nicht geschehen, oder die Migration im Globalen Norden sogar zurückgehen, so würde dies unweigerlich in einen Bevölkerungsrückgang in diesen Regionen münden. Die nachfolgende Abbildung verdeutlicht dies am Beispiel eines Null-Nettozuwanderungsszenarios in den verschiedenen Weltregionen. Während die Regionen Ozeanien, Nordamerika und Europa zum Teil deutlich an Bevölkerung verlieren würden, wüchse die Bevölkerung bei ausbleibender Auswanderung in den bisherigen Auswanderungsregionen. Auch das Durchschnittsalter der Bevölkerung würde bei geringer oder ausbleibender Zuwanderung in den Regionen des Globalen Norden deutlich steigen.

Aber auch die Migration in sog. Schwellenländer, die sich weiter entwickeln werden, wird aller Voraussicht nach weiter zunehmen. Hier werden zunehmend hochqualifizierte Arbeitskräfte gesucht, die bereits in hochentwickelten Ländern knapp sind, so dass es um diese Migrant*innengruppe in Zukunft einen großen Wettbewerb geben wird (IOM 2014). Zudem ist von einem Anstieg der Geflüchtetenzahlen auszugehen, der von Konfliktherden und Kriegen, wie im Nahen und Mittleren Osten oder in Teilen Afrikas, noch zusätzlich beschleunigt werden kann. Internationale Organisationen gehen deshalb davon aus, dass die weltweite Migration bis zum Jahr 2050 auf über 400 Millionen ansteigen wird, was dann einem Anteil von über vier Prozent der Gesamtbevölkerung entsprechen würde (IOM 2018).

Abbildung 15:

Prognostizierte Bevölkerungszuwächse und -abnahmen bis 2070 bei einem Null-Nettozuwanderungsszenario in den verschiedenen Weltregionen (in %)

Quelle: UN, International Migration Report 2019.

Abbildung 16:

Prognostizierte Entwicklung des Durchschnittsalters bis 2070 bei einem durchschnittlichen Nettozuwanderungsszenario der letzten 20 Jahre und einem Null-Nettozuwanderungsszenario in den verschiedenen Weltregionen (in Jahren)

Quelle: UN, International Migration Report 2019.

Weiterführende Fragen und Literatur

Drei Fragen zum Weiterdenken

Wie könnten sich die weltweiten Migrationsbewegungen in den nächsten Jahren verändern? Wird sich z.B. Asien von einem überwiegenden Auswanderungskontinent zu einem Einwanderungskontinent entwickeln?

Welche Folgen hat die zunehmende Urbanisierung der Migration? Sollten Städte mehr Mitbestimmungsrecht in der internationalen Migrationspolitik erhalten?

Welche Rolle spielt der demografische Wandel für das weltweite Migrationsgeschehen in den nächsten Jahrzehnten?

Drei Bücher zum Weiterlesen

 

UN (2019): International Migration Report 2019. New York.

Zentraler Bericht zum weltweiten Migrationsgeschehen, auf dem dieses Kapitel weitgehend fußt. Diese Quelle eignet sich für eine differenziertere Auseinandersetzung mit Daten zu internationaler Migration. Er umfasst auch Angaben zur aktuellen Migrationspolitik. Der Bericht erscheint jedes Jahr, so dass hier die aktuellsten Daten zu finden sind.

 

IOM (2019): World Migration Report 2019. New York.

Der Bericht der Internationalen Organisation für Migration der UN bietet noch differenziertere Daten zum weltweiten Migrationsgeschehen. Er wird wie der UN-Bericht jedes Jahr neu aufgelegt.

 

Jochen Oltmer (2016): Globale Migration. Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck.

Kompakte Darstellung der globalen Migration in Geschichte und Gegenwart.

 

Online-Quellen:

 

https://migrationdataportal.org.

Hier finden sich alle Daten aus den Berichten zum Download und zur weiteren Vertiefung. Es gibt auch Analysen zu einzelnen Aspekten von Migration und Migrationsarten.

2Migrationstheorien1

Warum migrieren Menschen und wie versucht die Politik Migration zu steuern? Während andere sozialwissenschaftliche Disziplinen, wie Soziologie, Geographie und Ethnologie, sich bereits früh mit diesen Fragen beschäftigt haben, kam die Politikwissenschat relativ spät zu diesem Themenfeld. Wie wir sehen werden, bedarf es für eine tiefergehende Analyse von Migration interdisziplinärer Zugänge. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über das weite Feld der Migrationstheorien mit Schwerpunkt auf der politischen Dimension.

2.1Sozialwissenschaftliche Migrationstheorie

Die Anfänge der Migrationstheorien gehen auf den Geografen Ravenstein zurück, der im 19.Jahrhundert erste statistische Untersuchungen zur Binnenmigration in Großbritannien durchführte. Er wertete dafür Daten zu Binnenwanderungen auf Basis der Zensuserhebungen zwischen 1871 und 1881 aus. Dabei kam er zu verschiedenen Ergebnissen, die er in allgemeinen ‚Migrationsgesetzen‘ formulierte. So kam er zu dem Ergebnis, dass Wanderungen zumeist über kürzere Distanzen und in Etappen erfolgten, wobei Frauen kürzere Distanzen zurücklegten als Männer. Weiterhin erkannte er, dass das Wachstum in den Städten primär auf Zuwanderung zurückzuführen sei (und nicht auf natürliches Bevölkerungswachstum). Zudem war Migration damals schon auf wirtschaftliche Zentren ausgerichtet (Ravenstein 1885/89). Ravensteins veröffentlichte ‚Migrationsgesetze‘ sahen also schon damals eine starke ökonomische Bedingtheit von Migration, scheinen aus heutiger Sicht aber viel zu eindimensional und deterministisch.

Dennoch können viele von ihm untersuchte Prozesse und Verhaltensmuster auch in der heutigen Migration beobachtet werden. Insbesondere die Beobachtungen, dass Arbeitsmigration (immer noch) zu den wesentlichen internationalen Migrationsformen zählt und sich Migrationen zunächst regional vollziehen, zeigen eine verblüffende Parallele zu den damaligen Erkenntnissen (Samers 2010, S.54ff.). Auch in der späteren Migrationsforschung werden Ideen von Ravensteins Forschung aufgegriffen und weitergeführt. So unterschied Ravenstein bereits verschiedene Arten der Migration, die in der heutigen Migrationsforschung verwendet werden. Die ‚stage migration‘ wird zum Beispiel von späteren Theorien aufgegriffen. Auch seine Thesen zu Wanderungsbewegungen finden sich in der gegenwärtigen Migrationsforschung wieder, so zum Beispiel die große Bedeutung urbaner Zentren für internationale Migrant*innen, die von Frey (1998) mit dem Begriff „Immigrant gateway cities“ und von Sassen (1991) mit der „Global City-Hypothese“ → 1 Grundbegriffe und aktuelle Trends) aufgegriffen wurden.

Die gleich noch zu diskutierenden Push- und Pull-Faktoren gehen ebenfalls auf Ravensteins Analyse zurück und sind seitdem durch mehrere ökonomisch geprägte Migrationstheorien weiterentwickelt worden (insbesondere durch Lee 1966). Der Grundgedanke dabei ist, dass bestimmte Faktoren, wie ein hohes Bevölkerungswachstum, Armut oder bewaffnete Konflikte Migrant*innen aus einem Land ‚wegdrücken‘, während sie von Jobmöglichkeiten, höherem Lebensstandard oder Schutz vor politischer Verfolgung in einem anderen Land ‚angezogen‘ werden (Samers 2010, S.56ff.). Bei aller Kritik an Ravensteins wissenschaftlicher Methode bilden seine Forschungsergebnisse daher die Basis der modernen Migrationstheorien und beeinflussen die Migrationsforschung nachhaltig. Gerade auch der von Ravenstein geprägte methodologische Individualismus in der Migrationsforschung, mit dem das Individuum als zentrale Untersuchungseinheit etabliert wurde, beeinflusst moderne Ansätze, auf die wir als nächstes eingehen, noch heute.

2.1.1Theorien auf der Mikroebene

Nach der Geografie haben sich vor allem Ökonom*innen der Erforschung von Migrationsprozessen angenommen. Dies geschah sowohl auf Makro- als auch auf der Mikro-Ebene. Auf der Mikro-Ebene wurde das Individuum vor allem als ökonomisch nutzenmaximierend betrachtet, das sich für die Migration entscheidet, wenn es im Aufnahmeland bessere Beschäftigungschancen und höhere Löhne (Lohndifferentialhypothese) erwarten kann (Todaro 1976). Entscheidend sind hierbei sog. ökonomische Push- und Pull-Faktoren: Die schlechte Wirtschaftslage im Heimatland gibt den Anstoß zur Migration (push), während die Auswahl des Ziellandes aufgrund der als am günstigsten wahrgenommenen Bedingungen (pull) erfolgt.

Everest Lee unterscheidet vier Kategorien von Wirkungsfaktoren, die eine individuelle Migrationsentscheidung hervorrufen bzw. die Ursache von Migration erklären sollen: Faktoren in Verbindung mit dem Herkunftsgebiet, Faktoren in Verbindung mit dem Zielgebiet, sogenannte intervenierende Hindernisse („intervening obstacles“) sowie persönliche Faktoren (Lee 1966). Die maßgebliche Hypothese des neoklassischen Push/Pull-Modells lässt sich darin nach Haug (2000) zusammenfassen, als „[…] dass je mehr offene Stellen an einem Zielort im Vergleich zum Herkunftsort sind, je größer die Einkommensdifferenz ist und je mehr Migranten bereits an diesen Zielort gewandert sind, desto stärker wird die Tendenz zur Migration sein“ (Haug 2000, S.3). Unter den Push-Faktoren werden alle Faktoren des Herkunftsortes verstanden, die Migrant*innen ‚wegdrücken‘. Beispiele hierfür liegen in der Arbeitsmarktlage des Herkunftslandes, aber auch in der Diskriminierung oder Verfolgung ethnischer Minderheiten, in Naturkatastrophen oder kriegerischen Konflikten. Die (Migrant*innen ‚anziehenden‘) Pull-Faktoren werden nach Lee in den Merkmalen des Zielortes gesehen, die zur Immigration in ein Land bzw. eine Region motivieren. Klassische Beispiele hierfür liegen in besseren Arbeitsbedingungen, der Achtung von Menschen- und Bürgerrechten (u.a. Glaubensfreiheit) und politischer Stabilität (Lee 1966).

In der soziologisch gewendeten Theorie der rationalen Entscheidung (rational choice) werden die ökonomischen Anreize um soziale und psychologische Aspekte erweitert. Der Behaviorismus legte dabei ein spezielles Augenmerk auf Kognitionsprozesse in der Entscheidungsfindung. Forschende wie Mueller (1981) und Clark (1986) haben die psychologischen Hintergründe von Migrationsentscheidungen untersucht, um herauszufinden, warum Migrant*innen an bestimmte Orte auswandern bzw. warum sie überhaupt emigrieren. Im Gegensatz zu neo-klassischen Vertreter*innen sind Behaviorist*innen, wie Wolpert (1965), auch an ‚irrationalen‘ Aspekten im Entscheidungsprozess interessiert, die Migrant*innen beeinflussen. Soziale und emotionale Faktoren, etwa im Zielland lebende Verwandte, können sich ebenso auf die Auswahl des Migrationsziels auswirken wie ökonomische Faktoren (Samers 2010, S.62f.). Entscheidend für die Migration ist demnach die Produktsumme aus ökonomischem, sozialem und psychischem Nutzen für den homo oeconomicus (Massey et al. 1993; Faist 1995).

Wie schon bei Ravenstein liegt der Fokus dieser Ansätze auf dem Individuum. Die Neue Ökonomie der Arbeitsmigration weist diesen engen Begründungszusammenhänge als zu einseitig und lückenhaft zurück und betont vielmehr, dass die Agierenden in der Migration nicht allein entscheidend seien, sondern auch Beziehungsnetzwerke eine Rolle spielen. Dabei werden Familien als wesentliche, kollektive Akteure der Migration betrachtet, weshalb der maßgebliche Bestimmungsgrund der Arbeitsmigration sich vor allem in der Diversifizierung des Familieneinkommens finden lässt (Stark 1984). Während klassische Theoreme wie das Push/Pull und andere neoklassische Theorien (u.a. Stadt-Land-Migration nach: Todaro 1969; Borjas 1989) stets die Lohndisparitäten und die individuelle Nutzenmaximierung als zentrale Motivatoren einer Migrationsentscheidung herausstellten, findet hier eine Einbindung der gesamten Familiensituation Eingang in die Gesamtbetrachtung (Stark 1984; 1991).

Gemäß dieser Überlegung wird z.B. in dem sog. „Household“-Ansatz die Entscheidung zur Migration nicht isoliert, sondern innerhalb eines Haushalts oder einer Familie betrachtet. Migration ist demnach eine kollektiv beschlossene, rationale Strategie, welche die innerhalb einer Familie vorhandenen Ressourcen zum Zwecke der Einkommenssteigerung einsetzt (Massey 1990). Auch kann die Migration zur Risikodiversifizierung eingesetzt werden, um das Risiko eines Einkommensausfalls in einem Haushalt zu senken. Migration ist demnach kein individueller Prozess, sondern das Resultat komplexer Gruppen- und Netzwerksstrukturen. Die Strategien können sich dabei im Laufe der Jahre durchaus wandeln: Wurden beispielsweise auf den Philippinen zunächst vorwiegend männliche Arbeiter ins Ausland gesandt, setzen zahlreiche Haushalte mittlerweile bevorzugt auf die Migration von weiblichen Angehörigen. Diese gelten als zuverlässiger und senden regelmäßigere und höhere Anteile ihres Einkommens an die Familien im Heimatland (Semyonov und Gorodzeisky 2004). Auch ist es möglich, dass durch die Migration anderer der eigene Wunsch ebenfalls zu migrieren, erst geweckt bzw. vergrößert wird. Da Migration oftmals mit einem Einkommenszuwachs verbunden ist, wächst auch bei anderen Familien der Wunsch, in den Genuss höherer Einkommen zu kommen, insbesondere dann, wenn sich die Menschen „im Verhältnis zur sozialen Referenzgruppe in ihrer Herkunftsregion“ (Pries 2010, S.15) benachteiligt sehen (relative Deprivation).

2.1.1Theorien auf der Makroebene

So wichtig der Fokus auf die individuelle Ebene ist, so lässt sich auch argumentieren, dass diese Entscheidungen letztlich durch die Makroebene beeinflusst sind, etwa durch das kapitalistische Weltsystem, das den Druck zur Migration erst hervorruft. Strukturelle Ansätze haben in der Migrationsforschung daher ebenfalls eine große Tradition und großes Gewicht. Sie gehen zumeist auf (neo-)marxistische oder historisch-soziologische Theorien zurück. Dieses Bündel von Ansätzen lässt sich nicht eindeutig (nur) den Migrationstheorien zuordnen, so gibt es starke inhaltliche Überschneidungen mit den Bereichen Kapitalismus, Kolonialismus, Imperialismus und Neoliberalismus. Die Entstehung der strukturellen Theorien ist eng mit der in den 1970er und 1980er Jahren stattfindenden Arbeitsmigration aus ehemaligen Kolonien nach Nordamerika, Europa und Südafrika verbunden.

Politisch-ökonomische Ungleichheiten zwischen diesen Ländern bilden daher einen Analyseschwerpunkt in Bezug auf Migration. Im Gegensatz zu den Ansätzen der Mikroebene fokussieren strukturelle Ansätze, wie die Weltsystemtheorie oder Dependenztheorie, auf die Makroebene und beschäftigen sich mit den Rahmenbedingungen und Kontextfaktoren von Migration, wobei das Wirtschaftssystem eine zentrale Rolle einnimmt (Samers 2010, S.67; Smoliner et al. 2013, S.14). Im Folgenden werden einige strukturelle Ansätze vorgestellt, um ihre Unterschiede und Vielfalt herauszustellen.

Die Theorie der ‚Articulation of modes of production‘ geht auf das Konzept der Produktionsweise nach Marx zurück und beschreibt die unterschiedlich starke Einbindung in das kapitalistische System zwischen einzelnen Regionen bzw. Ländern. Die Entwicklung des Kapitalismus in Regionen mit vorkapitalistischen Strukturen hat einen zerstörerischen Effekt auf landwirtschaftliche und soziale Netzwerke gehabt (Portes und Walton 1981), sodass die Menschen in kapitalistische (Arbeits-)Strukturen gezwungen werden und schließlich in reichere Länder (zumeist in den Globalen Norden) emigrieren (Samers 2010, S.68f.).

Auf dieser Grundprämisse bauen auch neomarxistische Ansätze wie die sog. Weltsystemtheorie auf, zu deren Begründern Immanuel Wallerstein gehört. Diese Theorie geht von einem komplexen weltweiten System internationaler Arbeitsteilung und Machtstrukturen innerhalb des kapitalistischen Weltsystems aus (Wallerstein 2004). In diesem Weltsystem (das nicht zwangsläufig die gesamte Welt umfassen muss, aber in sich geschlossen ist) findet eine Umverteilung von Ressourcen von der Peripherie ins Zentrum statt. Während die früheren „Weltreiche“ nur ein Zentrum hatten, finden sich in der heutigen „Weltökonomie“ mehrere Machtzentren, die miteinander konkurrieren. Diese Machtzentren werden durch das zwischenstaatliche System in Balance gehalten, wobei Staaten zeitweise durchaus hegemoniale Führungsrollen einnehmen können. Zwischen Zentrum und Peripherie finden sich zudem oft autoritär regierte Staaten der „Semi-Peripherie“, die das System weiter stabilisieren.

Diesen Gedanken hatten bereits die sog. Dependenztheorien in den 1960er Jahren entwickelt und in vielen Studien aufgezeigt, wie sich die Abhängigkeiten (Dependenzen) der Länder in der sogenannten „Dritten Welt“ – heute spricht man eher vom „Globalen Süden“ – von den Industriestaaten des Nordens negativ auf ihre Entwicklung auswirken (für die deutsche Debatte siehe: Senghaas 1974). Wichtig im Kontext der Migrationsforschung ist, dass das Zentrum neben Rohstoffen und Profit aus Investitionen auch von billigen Arbeitskräften aus der Peripherie profitiert. Migrationsbewegungen ergeben sich demnach aus der Funktion der jeweiligen Länder im modernen kapitalistischen Weltsystem. Der „Brain Drain“ (→ 10 Migration und Entwicklung) aus Ländern der Peripherie und Semi-Peripherie ließe sich ebenso mit der Weltsystemtheorie erklären wie etwa die Nachfrage nach philippinischen Hausangestellten in Dubai oder Hongkong (→ 6 Migration und Gender). Kritisiert wird an diesen Theorieansätzen aber vor allem, dass sie dem Individuum kaum Entscheidungsfreiheit zugestehen.

Auf der anderen Seite des Spektrums spielen neo-liberalistische Ansätze im Kontext der Globalisierung eine wichtige Rolle, um die Zusammenhänge zwischen Migration und der Wirtschaftspolitik von Industrieländern, Unternehmen oder internationalen Organisationen (z.B. WTO, IMF) zu erklären. Der Neoliberalismus umspannt dabei verschiedene Politiken, Programme und Diskurse, die sich tendenziell deregulierend auf Arbeitsmärkte auswirken und staatliche Wohlfahrtsprogramme zugunsten einer wettbewerbsorientierten Logik beschränken. In reicheren Ländern werden häufig gezielt hochqualifizierte Immigrant*innen angeworben, um sich auf dem globalen Markt zu behaupten, wobei sich insbesondere die internationale Studierendenmobilität hervorheben lässt. Ärmere Länder erfahren ebenso eine (zum Teil unfreiwillige) strukturelle Anpassung, die durch voranschreitende Liberalisierungen, ausländische Direktinvestitionen und Handel noch verstärkt wird. Durch Rücküberweisungen der Migrant*innen partizipieren auch die Herkunftsorte der Migrant*innen am wirtschaftlichen Fortschritt in den Einwanderungsländern. Auch durch Rückwanderung oder zirkuläre Migration können positive Entwicklungsprozess in den Ausgangsräumen angestoßen werden (sog. Migration-Development-Nexus, Van Hear und Sorensen 2003).

In der Migrationsforschung ist dabei strittig, ob die dargestellte Zunahme der Migration allein durch die Globalisierung hervorgerufen wurde. Während einige Forscher*innen auf die Möglichkeit von Langstreckenreisen und die einfachere Kommunikation mit Personen im Herkunftsland verweisen und uns im Zeitalter der Migration („Age of migration“, Castles et al. 2014) sehen, dessen gewaltiges Ausmaß an internationalen Wanderungsbewegungen ohne die Globalisierung so nicht möglich gewesen wäre (Brettel und Hollifield 2008), bestreiten andere die Neuartigkeit des Phänomens. So verweisen Hirst und Thompson (1996) zum Beispiel auf Parallelen zu Migrationsbewegungen im späten 19.Jahrhundert.

2.1.2Theorien auf der Mesoebene

Neuere Theorieansätze schließen an die Veränderungen infolge der Globalisierung an und konstatieren die Herausbildung einer Meso-Ebene in Form von neuen transnationalen sozialen Feldern oder Räumen, die die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten (Faist 1995). Zum Informationsaustausch, zur Verringerung der Kosten und Risiken und zur Erleichterung der Integration bilden sich sog. Migrationsnetzwerke heraus, die für die Wahl des Ziellandes entscheidend sind. Die kontinuierliche Migration zwischen gleichbleibenden Herkunfts- und Zielländern entwickelt eine Art Eigendynamik (kumulative Verursachung); durch Rücktransfers von Einkommen und Informationen aus dem Zielland werden weitere Migrant*innen angezogen (Shah und Menon 1999). Dadurch kann sich eine „Migrationskultur” herausbilden. In vielen Fällen ist diese längst für junge Männer und Frauen zu einem normalen Bestandteil ihres Lebens geworden (Massey et al. 1994).

Das Konzept der Migrationskultur weist über die weiter oben vorgestellte Lohndifferentialhypothese hinaus und erklärt, warum Migration auch dann noch stattfindet, wenn die Margen der durch Mobilität erzielten Einkommensgewinne schrumpfen. Es ließe sich auch mit konstruktivistischen Ansätzen in Einklang bringen (→ Seite 56): Migration als eine kulturell gegebene Option zur Lebensgestaltung inklusive bestimmter Verhaltensregeln, Wahl der Zielländer etc. Aus historisch gewachsenen Strukturen entstehen informelle internationale Migrationssysteme, die weitgehend unabhängig von der Staatenwelt existieren können.1

Die Migrationsforschung hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten durch diese auf abstrakteren Raumbegriffen basierende Ansätze wesentliche Impulse erfahren. Hierzu zählt zum einen das zu Beginn der 1990er Jahre von amerikanischen Forscherinnen entworfene Konzept der transnationalen sozialen Felder, „transnational social fields“ (Glick Schiller et al. 1992; Basch et al. 1994) und zum anderen das von deutschen Wissenschaftlern maßgeblich geprägte Konzept der „transnationalen sozialen Räume“ (Faist 2004; Pries 2008). Hiernach greift die Vorstellung des Staates als eines sozial und geographisch abgeschlossenen Raumes, im Sinne einer Art „Container-Gesellschaft“, zu kurz. Vielmehr zeige die tatsächliche Migrationserfahrung, dass durch die Migration ganz neue Arten von Verbindungen und auch Institutionen entstehen, die die durch die Migration verbundenen Staaten auf neue Art zusammenführen und überspannen. „Wir nennen diese Prozesse Transnationalismus, um zu unterstreichen, dass viele Migranten heutzutage soziale Felder errichten, die geographische, kulturelle und politische Grenzen überschreiten“ (Basch et al. 1994, S.7, eigene Übersetzung).

Während die Begründer des Begriffs der transnationalen Felder eine „Deterritorialisierung des Nationalstaats“, also eine Entkopplung von politischer und räumlicher Einheit sehen (Glick Schiller et al. 1992) halten die Verfechter*innen des Raum-Begriffes den Staat immer noch als wichtigen Referenzrahmen; schließlich stünden Migrant*innen weiterhin unter dem Einfluss von Politiken und Praktiken von Herkunfts- und Zielstaaten und Staatengemeinschaften, die einem spezifischen Territorium zugeordnet sind (Smith und Guarnizo 1998, S.10). Diese Debatte befasst sich auch mit den mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Rechten; Soysal spricht hier von einer „postnationalen Mitgliedschaft“, bei der in Europa zunehmend Rechte, die zuvor ausschließlich Staatsbürgern vorenthalten gewesen sein, auch an Immigrant*innen gewährt wurden (Soysal 1994).

Mit dem Begriff der „transnationalen Politikräume“ (Rother 2009) soll die explizit politische Dimension dieses Phänomens erfasst werden: Politik von und für Migrant*innen kann sich demnach nicht mehr an den Grenzen des Nationalstaats orientieren. Auch wenn Herkunfts- und Zielstaaten aufgrund diplomatischer Zwänge oder mangelnden Willens Migrationspolitik weiterhin in diesem Rahmen betreiben, schaffen Migrant*innen durch ihr Engagement neue Räume, in denen sie auch Aufgaben übernehmen, die Staaten nicht wahrnehmen können oder wollen; diese reichen von der Rechtsberatung bis hin zur politischen Partizipation (→ 7 Migration und Demokratie).

2.2Politikwissenschaftliche Theorien und Migration

Wie eingangs erwähnt, war die Politikwissenschaft eine „Spätstarterin“ in der Migrationsforschung, was sicher auch darauf zurückzuführen ist, dass das Themenfeld den sogenannten „low politics“ zugerechnet wurde. Damit werden all jene Politikfelder bezeichnet, die nicht unbedingt notwendig für das Überleben des Staates und seiner wirtschaftlichen und sozialen Ordnung sind. Im Laufe der Zeit wurde aber immer deutlicher, welche zentrale Rolle Migration für moderne Nationalstaaten spielt. Der amerikanische Migrationsforscher James F. Hollifield spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Staaten, so wie sie zunächst die Sicherheit ihrer Bürger*innen garantiert haben und später durch Handel zu wirtschaftlichem Wohlstand gekommen sind, auch lernen müssen, mit Migration umzugehen, weil sie ohne Migration ihren wirtschaftlichen Wohlstand nicht halten können, was angesichts der oben dargestellten demografischen Entwicklung in den Ländern des Globalen Nordens außer Frage zu stehen scheint. Zentrales Anliegen der seit den 1980er Jahren dann doch verstärkt einsetzenden politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Migration war daher die Frage, wie der Staat in Theorien der Migration eingebunden werden kann, also „how to bring the state back in” (Hollifield und Wong 2015). Die Antworten auf diese Frage fallen naturgemäß sehr unterschiedlich aus, wie wir es schon bei den anderen sozialwissenschaftlichen Theorien gesehen haben. Um die Vielfalt der politikwissenschaftlichen Theorien ein Stück weit zu ordnen, stellen wir nachfolgend die Rolle der Migration im Kontext politikwissenschaftlicher Großtheorien der Internationalen Beziehungen vor, die sich über viele Jahrzehnte etabliert und ausdifferenziert haben, und unterschiedliche Erklärungen für staatliches Handeln liefern, wie Staaten auf Migration reagieren.

2.2.1Klassischer Realismus und Neorealismus

Max Weber, Thomas Hobbes, Niccolò Machiavelli, Thukydides – die Wurzeln des Realismus reichen weit zurück. Alle diese Autoren teilen mit dem klassischen Realismus ein zentrales Motiv: Macht (power) und der Kampf um diese als zentrales Charakteristikum der internationalen Politik. Während es innerhalb eines Staates Organe und Institutionen gibt, bei denen die hoheitliche Macht des Staates liegt, gibt es im internationalen System keine solche Hierarchie – es ist letztlich von Anarchie geprägt und Nationalstaaten sind die zentralen Akteure (Dougherty und Pfaltzgraff 2001). Nach Morgenthau, dem wohl bekanntesten Vertreter des Realismus geht es Politik letztlich immer darum, „either to keep power, to increase power or to demonstrate power“ (Morgenthau 1978, S.5). Zwar sind alle Nationalstaaten rechtlich gleichgestellt und souverän, sie unterscheiden sich jedoch deutlich hinsichtlich ihrer Ressourcen und ihrer Macht. Dies lässt sich an der Bedeutung der so genannten Supermächte nachvollziehen. Das Ziel von Nationalstaaten ist es aber immer, das eigene Überleben zu sichern, koste es, was es wolle. Daher versuchen Staaten, ihre politischen, militärischen und wirtschaftlichen Kapazitäten immer weiter zu erhöhen. Erst wenn das gesichert ist, kann sich ein Staat nachrangigeren Interessen zuwenden. Bündnisse mit anderen Staaten werden nur eingegangen, wenn es dem Ziel der eigenen Selbsterhaltung dient.

Nachfolgende Theorien, wie der Neo-Realismus, auch struktureller Realismus genannt, betonen, dass das Streben nach Macht dabei aber nicht als Selbstzweck verstanden werden dürfe, sondern sich aus dem Sicherheitsstreben der Staaten heraus erkläre: „In crucial situations, the ultimate concern of states is not for power but for security.“ (Waltz 1979, S.37).

Vertreter*innen der realistischen Schule, wie Myron Weiner, sehen Migration vor diesem Hintergrund vor allem als Sicherheitsbedrohung für die soziale Stabilität eines Nationalstaats (Weiner 1985). Dabei wird der Nationalstaat von außen durch Einflüsse der Globalisierung und von innen durch einen wachsenden Multikulturalismus bedroht (Schlesinger 1998). Auch Samuel L. Huntington vertrat in seinem letzten Buch “Who are We? The challenges to American identity“ eine solche Auffassung, indem er argumentierte, die zunehmende „Latino culture“ sei eine Bedrohung der amerikanischen Identität, die er vor allem als angelsächsisch-protestantisch begreift (Huntington 2004) (→ 8 Migration und Sicherheit). Solche Ansichten haben auch weit über den akademischen Bereich Auswirkungen – etwa in den Arbeiten von Peter Brimelow, der Immigration als „Krieg gegen den Nationalstaat“ (Brimelow 1996, S.222) betrachtet (dabei aber selber aus Großbritannien in die USA eingewandert ist). In Deutschland schlug das Buch von Thilo Sarrazin (2010) „Deutschland schafft sich ab“ einen ähnlichen Tonfall an. So unterschiedlich diese Autoren sind, so eint sie die Einordnung von Migration als Bedrohung und eines drohendes Kontrollverlusts des Nationalstaates.

2.2.2Der neoliberale Institutionalismus

Neoliberale Institutionalist*innen stimmen zwar der Einschätzung des internationalen Systems als anarchisch zu, unterscheiden sich aber von den Neorealist*innen hinsichtlich der Bewertung von Kooperationen. Zwar betrachten auch Realist*innen diese als möglich, gehen aber davon aus, dass Kooperationen nur so lange funktionieren, wie die mächtigen Staaten ein Interesse daran haben. Aus neoliberaler Sicht haben Kooperationen jedoch einen Wert an sich und versprechen Gewinne, die ohne Kooperationen niemals möglich wären und selbst bei ungleicher Verteilung jedem Staat Zugewinne bescheren könnten. Ziel der Staaten müsse es daher sein, Kooperationen auf supranationaler Ebene anzustreben. Aus Sicht eines der prominentesten Vertreter des neoliberalen Institutionalismus, Robert Keohane, sind Kooperation aufgrund der zunehmenden Interdependenz in einer globalisierten Welt für Staaten unabdingbar.1 Obwohl sich institutionelle Regeln im anarchischen internationalen System nicht hierarchisch durchsetzen lassen, argumentiert Keohane, dass Veränderungen in der Institutionalisierung der Weltpolitik signifikanten Einfluss auf das Verhalten von Regierungen haben (Keohane 1989) und diese ihr Handeln zu einem beachtlichen Grad von bestehenden institutionellen Einrichtungen abhängig machen. So führte beispielsweise die Aussicht auf Gewährung von Einreisevergünstigungen oder Zugang zum EU-Binnenmarkt zu Veränderungen im staatlichen Verhalten. Abweichendes staatliches Verhalten wird dadurch nicht unmöglich, aber die Kosten-Nutzen-Rechnung verschiebt sich zugunsten regelgeleiteten Verhaltens.

Relative oder absolute Gewinne?

Umgangssprachlich ist oft von einer „Win-win“-Situation die Rede, im Bereich der Internationalen Beziehungen gestaltet sich die Sache aber etwas komplexer: Dass Staaten bei internationalen Verhandlungen und Abkommen an ihren eigenen Vorteil denken, ist weitgehend unumstritten. Eine Kontroverse gibt es aber darüber, wieweit dabei auch der Vorteil der anderen Partei(en) eine Rolle spielt: Realist*innen glauben, dass hier relative Gewinne entscheidend sind, Staaten also nur zur Kooperation bereit sind, wenn sie daraus mehr Vorteile ziehen als der oder die anderen Beteiligten. Institutionalist*innen gehen dagegen davon aus, dass Staaten bereits kooperieren, solange sie selber davon einen Nutzen haben, selbst wenn dieser für die anderen Beteiligten größer ist. In beiden Fällen folgen die Akteur*innen der Theorie der rationalen Entscheidung (rational choice theory), treffen dabei aber eine andere Kosten-Nutzen-Abwägung.

Die Kosten-Nutzen-Abwägung kann auch dann zugunsten einer Kooperation ausfallen, wenn diese für einen Staat nicht nur Vor-, sondern auch Nachteile mit sich bringt, und zwar dann, wenn dieser Staat die Vorteile höher einschätzt als die Nachteile.

Am weitesten ist der Gedanke der internationalen Kooperation in der sog. Regimetheorie entwickelt worden. Unter Regimen versteht man ein Geflecht von Normen, Regeln und Entscheidungsverfahren auf internationaler Ebene, an denen sich Nationalstaaten und andere Akteure orientieren und anpassen. Beispiele für internationale Regime finden sich etwa in Bereichen wie Handel, Umwelt, Menschenrechte und Abrüstung. Auch im Bereich Migration spielen sie eine wichtige Rolle, besonders im Schutz von Geflüchteten, wie wir weiter unten noch sehen werden. Regime können Bausteine einer Global Migration Governance werden; hier spielen Staaten nicht mehr die alleinige – oder sogar nur eine sehr geringe – Rolle und die Bedeutung von privatwirtschaftlichen und (zivil)gesellschaftlichen Akteur*innen nimmt zu (→ 13 Global Migration Governance).

Regime

Die weitgehend anerkannte Definition von Regimen stammt vom Stephen D. Krasner (1982, S.186): „Implicit or explicit principles, norms, rules, and decision-making procedures around which actors’ expectations converge in a given area of international relations. Principles are beliefs of fact, causation, and rectitude. Norms are standards of behavior defined in terms of rights and obligations. Rules are specific prescriptions or proscriptions for action. Decision-making procedures are prevailing practices for making and implementing collective choice.”)

Die Reichweite ist in der Regel global, kann aber auch regional sein und sehr spezifische Themenfelder umfassen; so gibt es etwa im Diamantenhandel ein Regime, das den Handel mit sogenannten „Blutdiamanten“ ächtet und Mindeststandards für den Handel mit Rohdiamanten festlegt (Kimberley Process Certification Scheme (KPCS). Bei der internationalen Fluchtpolitik wird oft von einem Regime gesprochen, im Bereich der Arbeitsmigration dagegen von einem „fehlenden Regime“.

Im Gegensatz zu internationalen Organisationen, wie z.B. die Vereinten Nationen, besitzen Regime keine Akteursqualität, sie können also nicht eigenständig handeln; es handelt sich lediglich um Regelwerke (Zangl 2010, S.133). Internationale Regime sind problemfeldspezifisch, internationale Organisationen können sowohl problemfeldspezifisch als auch problemfeldübergreifend sein.

2.2.3Liberaler Intergouvernementalismus

Eine weitere Theorie ist der Liberale Intergouvernementalismus. Diese Theorie sieht Staaten weiterhin als rationale Nutzenmaximierer an, die allerdings auch erkennen können, dass eine gewisse Aufgabe ihrer Souveränität hin zu supranationalen Institutionen – wie der EU – in ihrem Interesse sein kann. Während alle bisher genannten Theorien den Staat als zentralen Akteur sehen, lenkt diese Theorie das Augenmerk auf gesellschaftliche Gruppen, die ihre materiellen und ideellen Interessen innerhalb des Staates, aber auch über dessen Grenze hinaus, also transnational, durchzusetzen versuchen (Moravcsik 1997).

Internationale Politik erfolgt also auf zwei Ebenen: Gesellschaftliche Gruppen tragen einen sowohl innerstaatlichen als auch transnationalen Wettbewerb um Interessen aus und nehmen dadurch Einfluss auf die Politik von Regierungen. Staaten sind somit für Moravcik „ein Transmissionsriemen dominanter gesellschaftlicher Präferenzen, die sich auf die Außenpolitik eines Staates übertragen“. Im Bereich der Migrationspolitik könnte dies also bedeuten, dass tatsächliche (oder angenommene) fremdenfeindliche Stimmungen in der Bevölkerung oder der Erfolg von Anti-Immigrations-Parteien Regierungen dazu bringen, restriktivere Migrationsgesetze zu verabschieden, selbst wenn diese ihren wirtschaftlichen Interessen oder humanitären Prinzipien widersprechen. Die Debatten, die zum britischen „Brexit“-Volksentscheid geführt haben, können hierfür als Beispiel gesehen werden.