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Ein verwüsteter Planet, eine unbekannte Bedrohung! 3652: Die Erde hat den Kontakt zur Kolonie Red Pearl auf einem fernen Planeten verloren. Seit dort ein galaxisweit gesuchter Verbrecher gesichtet wurde, sind alle Datenübertragungen verstummt. Commander Kalen McKenon wird von Admiralin Nissa Jäger für eine Rettungsmission rekrutiert. Um zur Kolonie zu gelangen, wird ihm ein hochmodernes Raumschiff zur Verfügung gestellt. Als der Einsatz vor Ort beginnt, entdeckt Kalen mit seiner Crew jedoch Verstörendes: Die Kolonie wurde vollständig verwüstet, und es gibt nur einen einzigen Überlebenden – ein Junge, der Zeuge von etwas Schrecklichem geworden ist. Und obwohl die Erde weit entfernt ist, findet Kalen inmitten der Zerstörung Spuren eines uralten Feindes.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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© Piper Verlag GmbH, München 2025
Redaktion: Kathleen Weise
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Covergestaltung: Guter Punkt, München
Coverabbildung: Andrea Barth, Guter Punkt München unter Verwendung von Motiven von iStock / Getty Images Plus und Shutterstock.de
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Cover & Impressum
Terra
2. Oktober 3652
1. Kapitel
Kalen McKenon
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Misa Web
6. Kapitel
7. Kapitel
Kalen McKenon
8. Kapitel
9. Kapitel
Misa Web
10. Kapitel
11. Kapitel
Kalen McKenon
12. Kapitel
13. Kapitel
Misa Web
14. Kapitel
15. Kapitel
Kalen McKenon
16. Kapitel
Yuma Kikiac
17. Kapitel
18. Kapitel
Kalen McKenon
19. Kapitel
20. Kapitel
Lisa Otth
21. Kapitel
22. Kapitel
Yuma Kikiac
23. Kapitel
24. Kapitel
Kalen McKenon
25. Kapitel
26. Kapitel
Lisa Otth
27. Kapitel
28. Kapitel
Trisha McKenon
29. Kapitel
30. Kapitel
Kalen McKenon
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
Misa Web
35. Kapitel
36. Kapitel
Yuma Kikiac
37. Kapitel
Kalen McKenon
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
Amy Crest
41. Kapitel
42. Kapitel
Lisa Otth
43. Kapitel
44. Kapitel
Kalen McKenon
45. Kapitel
46. Kapitel
Misa Web
47. Kapitel
Trisha McKenon
48. Kapitel
49. Kapitel
Misa Web
50. Kapitel
51. Kapitel
Nissa Jäger
52. Kapitel
53. Kapitel
Amy Crest
54. Kapitel
55. Kapitel
Kalen McKenon
56. Kapitel
Derek Hale
57. Kapitel
Trisha McKenon
58. Kapitel
59. Kapitel
Misa Web
60. Kapitel
Trisha McKenon
61. Kapitel
Misa Web
62. Kapitel
Kalen McKenon
63. Kapitel
Nissa Jäger
64. Kapitel
65. Kapitel
Misa Web
66. Kapitel
Yuma Kikiac
67. Kapitel
Lisa Otth
68. Kapitel
Kalen McKenon
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Er presste den Lauf gegen den Nacken des Klons.
Im gedimmten Licht wirkten die Gesichter der übrigen Körper in den Tanks leichenblass. Noch war ihr Gewebe unbeschädigt, die Organe funktionierten. Die meisten Klone warteten auf das zu übertragende Engramm.
»Du machst einen Fehler.« Der Verantwortliche für dieses Grauen hatte seine Sprache wiedergefunden. »Hast du eine Ahnung, wer ich bin?«
Kalen blieb gelassen. »Du bist Arken Sanders, dein Primärkörper befindet sich aktuell in Deutschland, in einem Hub in Berlin.«
Der Klonkörper vor dem Lauf versteifte. »Was …? Wer …?«
»Lass mich das präzisieren: Ich bin der Vater des Mädchens, das sich soeben in den schlafenden Klon vor dir geladen hat.«
»Shit.«
Kalen hatte Wochen damit zugebracht, den Spuren zu folgen. Seine alten Kontakte aus der Zeit beim Explorationskommando waren hilfreich gewesen, doch es gab Grenzen. Meist waren das jene, die von Gesetzen gezogen wurden.
»Während wir uns unterhalten, ist ein weiterer Lauf auf die Stirn deines echten Körpers gerichtet.« Kalen verlieh seiner Stimme jene Eiseskälte, die ihn einst berüchtigt gemacht hatte. »Außerdem haben wir Zugriff auf den MindSave in Zürich, in dem deine Engramme lagern.«
»Das ist unmöglich.«
Was beinahe stimmte. Deshalb hatte sein Team eine Molekularfaserbombe an den DataStore geheftet, die radioaktiv geladene Metallfasern direkt in das Gerät pumpte. Es war fast unmöglich, jede Speichereinheit ausfindig zu machen, in der ein Mensch heutzutage sein Engramm – seinen Geist, sein Ich – speicherte.
Kalen war sicher, dass sie dem trotzdem recht nahegekommen waren. »Halten wir uns nicht mit weiterem Small Talk auf. Hast du den Cocktail bereits verabreicht?«
Arken schüttelte den Kopf, und Kalen dirigierte ihn zum Steuerdisplay der Anlage. Noch war es für ihn nur eine schwarze Fläche aus Saphirglas. »Erteil mir die Freigabe.« Er drückte ihm den Lauf fester in den Nacken, direkt auf die dünnen, sich verästelnden Linien des Engramm-Ports.
Eine Sekunde später leuchtete in Kalens Gesichtsfeld ein grünes Icon auf. Die KI seines EyeSigns fragte an, ob er das Datenmodul akzeptieren wolle. Er blinzelte einmal kurz und war dankbar für die vielseitigen Kontaktlinsen. Seine Hände waren beschäftigt. Die rechte mit dem NanoJammer, die linke zum Zuschlagen bereit.
Durch die Freigabe erwachte das Display zum Leben. Andere würden weiterhin die schwarze Fläche sehen, doch sein EyeSign konnte nun die Kontroll-Icons sichtbar machen, Daten wurden angezeigt.
In vier Klone waren Engramme übertragen worden, alle minderjährig. Ein Strom aus Hass pulsierte durch Kalens Körper. Möglicherweise hätte er auf die anderen hören und die Anlage mit einem Klonkörper infiltrieren sollen. Mit diesem hätte er allzu starke Emotionen herunterregeln können.
»Wurde irgendwem bereits der Cocktail verabreicht?«, fragte er.
»Nur dem Jungen aus Frankreich.«
Kalen schloss die Augen. Ein weiteres Opfer der um sich greifenden Sucht.
Es hatte ihn schockiert, als er zum ersten Mal davon erfahren hatte. Jugendliche kamen auf Ideen, die er schlicht niemals in Betracht gezogen hätte. Die reicheren Kids kauften sich Klonkörper, um von Gebäuden zu springen oder auf andere Art den Tod leibhaftig zu spüren. Das Engramm wurde nicht fest verankert, es wurde gestreamt. Im Augenblick des Todes also zurückgezogen in den Primärkörper, der sicher im Bett oder sonst wo lag.
Der neueste Trend war schleichend aufgetaucht. Der Geist wurde dabei in einen Klonkörper übertragen, der dann mit einem Drogencocktail vollgepumpt wurde. Angeblich konnte man so das absolute High genießen, ohne dass der eigene Körper in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sucht ausgeschlossen. Was die Jugendlichen nicht wussten, war, dass die Suchtstruktur von den Dealern nicht gefiltert, sondern im Engramm eingebettet wurde. Nach der Rückkehr blieb die Gier auf den Cocktail erhalten.
Kalen heftete einen Datenextraktor an die Seite des Displays. Sein EyeSign bestätigte eine erfolgreiche Verbindung. Irgendwo saß Byte-Cat (»Keine echten Namen, falls wir erwischt werden!«) und übernahm die Kontrolle.
»Sind wir dann fein?«, fragte Arken.
Auf dem Display wurde eine Warnung angezeigt. Die Suchtstruktur wurde aus dem Engramm des französischen Jungen gelöscht, kurz darauf die Rückübertragung eingeleitet. Alle Jugendlichen kehrten in die Sicherheit ihres eigenen Körpers zurück.
Kalen atmete auf. Da er Arken noch eine Antwort schuldig war, drückte er ab und zerfetzte damit dessen Port sowie das Gewebe. Der Todesimpuls würde automatisch die Erweckung seines Körpers auslösen.
Zwar verzichtete Kalen darauf, diesen ebenfalls zu töten, doch die Protektoren aus dem Deutschen Cluster waren bereits im Hub angekommen. Die hier erbeuteten Daten würden an die Ordnungsbehörden weitergeleitet werden. Damit war zumindest dieser Ring Geschichte.
In Kalens EyeSign leuchtete eine Warnmeldung auf. Der Tod des Dealers hatte Sicherheitskräfte aktiviert, die sich in der Anlage befanden. Dass er selbst die körperliche Anwesenheit bevorzugte, war jetzt ein Problem. Zwar gab es für den Fall seines Todes einen Klon mit aktuellem Engramm, doch darauf hätte er gern verzichtet.
Seine veraltete Engramm-Technologie sorgte außerdem dafür, dass er seinen Geist nur übertragen und im Zielklon verankern, aber nicht streamen konnte.
Er würde seine Tochter in ein Bootcamp auf dem Merkur schicken. Mindestens. Sobald es dort eins gab. Möglicherweise würde er es auch einfach selbst bauen! Falls er das hier überlebte.
Das Klonlabor befand sich im obersten Stockwerk eines Himmelskratzers, also über den Wolken. Hier oben gab es vier Verbindungsstege zu angrenzenden Gebäuden. Den langen Weg nach unten, nicht zu vergessen.
Bevor er flüchtete, trat Kalen an einen der Klontanks und nahm das bereitliegende Etui an sich. Die Spritzen darin waren mit dem Cocktail gefüllt.
Er verließ das Labor, als sich die Aufzugtür öffnete. Da er kein Anfänger war, hatte er Sprengladungen angebracht. Sie detonierten und zerfetzten die Sicherheitscrew. Selbst Klone mit Schutzerweiterung waren gegen radioaktive Metallfasern chancenlos.
Er rannte den Gang entlang und war zufrieden mit sich und seinem militärischen Können, als in Hörweite ein Zischen erklang. Ein Blick über die Schulter, und Kalen fluchte. Die Sicherheitskräfte hatten sich einfach in die Klone im Labor geladen, zogen jetzt die Schläuche aus den Ports und sprangen heraus.
Damit hatten sie zwar keine Waffenerweiterungen mehr, waren aber deutlich in der Überzahl.
Er hätte die Klone natürlich alle ausschalten müssen. Anfängerfehler!
Vor ihm tauchte der Verbindungsgang zum Nachbargebäude auf. Dort befanden sich einfache Büros. Der Zugang war mit seinem militärischen Equipment leicht zu knacken. Panzerstreben entfalteten sich aus Wand, Decke und Boden, bildeten ein Spinnennetz, welches das weitere Vorankommen unmöglich machte.
»Wieder zu langsam.« Vor ein paar Jahren wäre ihm das noch nicht passiert.
Dieser Körper stand am Übergang von der vierzig zur fünfzig, und trotz sportlicher Betätigung, Pflege und einem gesunden Maß an Erweiterungen war er nicht mehr in den Zwanzigern.
Er berührte das hauchdünne Display auf dem linken Handrücken, das mit dem EyeSign verbunden war. Der SmartCom nahm Kontakt zum Verschlusssystem des Wabenschotts auf, doch der Codeschlüssel war in der Kürze der Zeit nicht auszulesen.
Damit waren alle Verbindungsgänge unpassierbar, denn die übrigen wurden zweifellos ebenfalls durch ein Schott blockiert.
Da Kalen die Aufzugskabine gesprengt hatte, blieb nur ein Ausweg: das Dach.
Hinter ihm erklangen Rufe.
Patronen surrten vorbei.
Er rannte.
Es geschah nicht alle Tage, dass er von einer Horde nackter Klone verfolgt wurde, die mit NanoJammern auf ihn feuerten. Er wusste nicht, woher sie die hatten, doch die Personen hinter Arken trafen für zahlreiche Eventualitäten Vorbereitungen.
Die Tür zum Dach war verschlossen, aber sein SmartCom benötigte nur Sekunden, um das Schloss zu öffnen. Es fühlte sich seltsam an, Treppenstufen zu benutzen.
Wer tat das noch in dieser Zeit?
In der Regel wurde der Körper im eigenen Heim durch Nanotechnik fit gehalten. Muskelstimulatoren, entsprechende Nahrung, DNA-Therapien und spezielle Depots mit Vitalstoffen zur Zelloptimierung. Außerhalb benutzte man einen Klon. Fernübertragung in andere Länder, auf Raumstationen oder einfach ins Restaurant war die Norm.
Für alle.
Außer Kalen.
Über die Gründe wollte er selbst nach all den Jahren lieber nicht nachdenken.
Er erreichte das Dach und trat hinaus. Ein leichtes Prallfeld überzog das Gebäude, um die Atmosphäre für das Servicepersonal zu halten. Heizaggregate pegelten die Temperatur auf Normalniveau ein, sprangen jedoch erst an, wenn die Tür zum Treppenhaus geöffnet wurde. Damit war sichergestellt, dass es wärmer wurde, doch das dauerte. Aktuell war Kalen noch umgeben von eisiger Kälte bei minus fünfundvierzig Grad. Ohne seine Einsatzkleidung, die aus den Zeiten beim Explorationskommando stammte, hätte das böse Folgen gehabt.
Über Blicksteuerung erlangte er via EyeSign Zugriff auf die Gebäudesteuerung und stoppte die Temperaturregelung. Er zitterte, und seine Extremitäten würden es nicht lange aushalten. Die Klone allerdings noch weniger.
Er rannte zum Dachrand und blickte in die Tiefe. Zweieinhalb Meter unter ihm befand sich das Dach des Verbindungsgangs. Darunter sah er ein Wolkenmeer.
Beinahe hätte ihn der Anblick das Leben gekostet. Vier Klone traten durch die Tür. Während drei aufgrund der Kälte innehielten, stürzte sich ein vierter auf Kalen. Sie rangen miteinander. Dieser Klon besaß keinen NanoJammer, es hatte also eine begrenzte Anzahl gegeben.
Leider flog sein eigener durch den Aufprall über die Kante und verlor sich in den Wolken.
Kalen trat dem Klon die Beine weg, zog eine Spritze mit dem Cocktail aus dem Etui und rammte sie ihm in den Hals. Die Augen des Klons bekamen einen träumerischen Ausdruck, das High setzte ein.
Die anderen hatten inzwischen ihren Schock überwunden und legten den Nanojammer an. Ihnen musste klar sein, dass diese Körper in den nächsten Minuten an Unterkühlung sterben würden. Bis sie sich in neue geladen hatten, verging Zeit. Außerdem kamen sie nicht mehr so leicht hier herauf.
Das sorgte für eine gewisse Rücksichtslosigkeit. Sie feuerten. Die winzigen Kapseln waren Nanodepots, die sich beim Eindringen in den Körper entfalteten. Kalen war überzeugt davon, dass sie in diesem Fall darauf programmiert waren, seine Lebensfunktionen einzustellen.
Er atmete kurz ein und wieder aus.
Dann sprang er. Trotz der geringen Höhe schickte der Aufprall Schmerzwellen durch seine Beine. Kalen rollte sich ab, kam an den Rand des schmalen Dachstreifens …
… und glitt darüber hinaus.
Seine vielfach geschulten Reflexe wurden aktiv. Er drehte sich und bekam mit den Fingern die Kante zu fassen. Schüsse schlugen wenige Zentimeter entfernt ins Dach ein und hinterließen Durchschusslöcher im Material.
Er korrigierte sich. Die Kugeln waren keine Nanodepots, es handelte sich um Mikrosprengladungen. Sie detonierten bei Aufprall.
Die Lippen der Klone über ihm waren blau angelaufen, ihre Hände zitterten. Damit war klar, warum sie auf diese Entfernung so miserabel zielten. Einer kippte um, ein anderer musste bereits zuvor das Bewusstsein verloren haben. Es stand lediglich noch ein letzter.
Kalen zog sich mit einem Ruck wieder hinauf und robbte das Dach entlang in Richtung des verbundenen Gebäudes. Hinter ihm endeten die Schüsse. Er blickte über die Schulter zurück.
Der letzte Klon war ebenfalls gesprungen. Auf allen vieren nahm er die Verfolgung auf. Ein Geist, der sich fokussierte, denn der Körper war längst mehr tot als lebendig. In seinen Augen loderte ein Feuer, das nur ein Ziel kannte: Kalen zu verbrennen.
Angespornt durch den Ausblick auf ein Stelldichein mit einem Mörderklon ging Kalen in die Hocke, richtete sich auf und rannte. Vorsicht würde ihm hier nicht weiterhelfen. Fernab vom Gebäude sank die Temperatur, die Wärmeaggregate waren zu weit entfernt.
Jetzt wurde es auch für ihn ungemütlich. Seine Muskeln reagierten langsamer und verkrampften. Beim Ausatmen stiegen kleine Kondenswolken auf. Der Weg kam ihm lang vor, doch er erreichte das Ende des Verbindungsgangs.
Die Hände ausgestreckt, versuchte Kalen, das Dach zu erreichen. Es fehlten nur noch wenige Zentimeter.
Der Klon war heran. »Kalen McKenon.«
»Kennen … wir uns?« Die Worte kamen langsam heraus, er spürte eine seltsame Müdigkeit.
»Ehemaliges Mitglied des Explorationskorps«, keuchte der Klon.
Die Worte gefielen ihm nicht. Der Klon hatte sein Gesicht abgeglichen und zugeordnet. Sie hatten also irgendwie Zugriff auf militärische Datenbanken erhalten. »Wer …?«
Der Angriff kam abrupt.
Das Sprechen war Ablenkung gewesen, oder der Lenker hatte einfach begriffen, dass nicht mehr viel Zeit blieb. Wobei es letztlich keinen Ausweg für Kalen gab, der andere würde sich schlicht in seinen Körper zurückziehen.
Der Hass, der im ersten Schlag lag, war persönlich. Kalen hatte das komplette Unternehmen lahmgelegt. Viele Menschen verloren an diesem Tag eine Menge Geld. Durch die Kälte mochten die Glieder des Klons zittern, aber unter normalen Umständen hätte er saubere Kampfschläge ausgeführt. Jene, die auch Kalen kannte. Militärische Ausbildung, Einsatztruppe.
Nicht gut.
Dem ersten Schlag konnte er nicht ausweichen, er traf in den Magen. Den Schmerzreflex ignorierend, blockte er jedoch den zweiten. Er musste von diesem verdammten Dach runter, und das schnell. Leider konnte er seinen Gegner wohl kaum bitten, ihm eine Räuberleiter zu machen.
Ihm kam ein Gedanke.
Als die nächsten Schläge kamen, glitt Kalen zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Wand des Gebäudes stieß. Bei der darauffolgenden Attacke wich er aus, packte den Klon und schmetterte ihn an die Hauswand. Ein harter Tritt an dessen Knie, und der Klon sackte in die Hocke. Er versuchte noch, sich irgendwie mit einem Bein in Position zu halten. Doch ein zusätzlicher Tritt in den Magen, und er krümmte sich. Damit war er exakt dort, wo Kalen ihn haben wollte. Er trat auf dessen Rücken, stieß sich ab und sprang in die Höhe. Mit den Fingern erreichte er die Dachkante und zog sich hinauf.
Schwer atmend lag er auf dem Dach, blickte in den Himmel, wo die Sterne zu sehen waren. Alles wirkte so friedlich. Dort oben herrschte nicht das atemlose Pulsieren einer Welt, die mit Originalkörpern und Klonen befüllt war, wo um Ressourcen gestritten wurde und Frieden ein zerbrechliches Gut darstellte.
Manchmal vermisste er es.
Immer dann, wenn die Albträume eine Zeit lang fernblieben.
Sein EyeSign schickte eine Warnmeldung. Die Unterkühlung nahm ein gefährliches Ausmaß an. Er musste vom Dach.
Kalen riss sich zusammen, rollte herum und kam auf die Beine. Unter ihm lag auf dem Verbindungsgang der erfrorene Klon.
Taumelnd kam Kalen bis zur Dachtür, das Schloss war von seinem SmartCom längst geknackt. Er trat durch die Tür. Wärme umhüllte ihn, seine steifen Glieder ließen sich wieder bewegen. Er eilte zum nächstgelegenen Aufzug. Die Büros hier wurden zivil genutzt, denn die Sicherheit war armselig. Die Kabine trug ihn in die Tiefe des Gebäudes bis ins Erdgeschoss.
Er trat hinaus, passierte die Eingangshalle und grüßte den Wachmann mit einem Nicken. Es wurde freundlich erwidert.
Minuten später stieg Kalen in einen Gleiter, der ihn hinauf zu einem AirHub brachte. Völlig erledigt bestieg er einen Atmosphärenjet, der in Richtung Heimat davonschoss.
Dort wartete ein ernstes Gespräch auf ihn.
Kalen fühlte sich müde, als er in den frühen Morgenstunden des 3. Oktobers 3652 die Haustür hinter sich schloss.
Durch die Fenster sah er das Morgenlicht, das die Baumwipfel umschmeichelte. Der Herbst zeigte sich von seiner goldenen Seite. Hier, am Rand der Silver Star Mountains, fühlte er sich zu Hause.
Ganz im Gegensatz zu Trisha, die laut Haussystem im Obergeschoss schlief. Seine Tochter war nur knapp einer grauenvollen Sucht entkommen, die selbst mit Engrammbereinigung (die er sich nicht leisten konnte) ihre Spuren hinterließ.
Kalen gähnte, öffnete seine Boots und stellte sie neben der Tür ab. Hinter der Tür gab es einen gemütlichen Eingangsbereich, in dem Jacken hingen und Schuhe standen, an einer Pinnwand hatte er altmodische Fotografien aufgehängt. Darauf waren Trisha und er zu sehen, auf manchen lächelte auch Vivien in die Kamera. Schwere erfasste ihn.
Über einen lautlosen Befehl gab er durch sein EyeSign einen Kaffee in Auftrag. Als er die Küche betrat, war die Tasse bereits gefüllt. Sie war aus Porzellan, bemalt mit der Silhouette der Silver Star Mountains.
Kalen drehte sich um und erstarrte.
Vor ihm lag das weitläufige Wohnzimmer, auf einer Seite vom Boden bis zur Decke verglast. In einem der Sessel saß eine hochgewachsene, schlanke Frau mit grauem Haar, die er auf den zweiten Blick erkannte. Sie trug noch immer den Dutt, der ihr eine Aura der Strenge verlieh. Trotz der Lachfalten um die Augen strahlte sie jene eiserne Willensstärke aus, die man bei Militärangehörigen in Führungspositionen häufig vorfand.
Dass er seinen Reflexen nicht freien Lauf ließ, die Kaffeetasse warf und den Feindalarm auslöste, hatte lediglich einen Grund: Sie war kein Feind.
»Hallo, Kalen«, sagte Admiralin Nissa Jäger. »Es ist lange her.«
»Und da dachtest du, es sei eine gute Idee – um der alten Zeiten willen –, hier einzubrechen?«
»Habe ich mir verdient.« Sie schob ein hauchdünnes Pad über den Tisch, auf dessen Oberfläche er selbst zu sehen war. »Einbruch, vierfache Klontötung, Sachbeschädigung.«
Er setzte sich ihr gegenüber auf den Sessel und trank seinen Kaffee. »Seit wann ist das Explorationskommando zuständig für solche Delikte?«
Sie beugte sich vor und nahm das Pad wieder an sich. »Wie es der Zufall so will, wollte ich dich aufsuchen. Eine Prüfung vor einigen Tagen ergab, dass du umtriebig bist. Wir konnten die Datenspuren analysieren und deinen heutigen Einsatz verfolgen. Du hast nichts verlernt.«
Er würde ein ernstes Wort mit Byte-Cat sprechen müssen. Sie hatte ihm versichert, alle Datenströme im Blick zu haben.
»Was willst du?«, fragte er.
»Geht es Trisha gut?«
Kalen nickte. »Zumindest körperlich. Vivians Tod hat seine Spuren hinterlassen. Sie spielt mit dem Adrenalin.«
Glücklicherweise beging sie dabei Fehler. Um in einem Klonkörper Drogentrips zu erleben, musste das Original in einem sauberen Tiefschlaf gehalten werden. Zwar hatte der Trip nicht stattgefunden, doch der Deltawellen-Modulator war auf Zeitschaltuhr. Trisha würde den ganzen Tag schlafen, es sei denn, er deaktivierte das Gerät manuell.
»Es tut mir leid, dass ihr sie verloren habt«, sagte Nissa.
»Spar dir das.« Die Worte kamen kälter als beabsichtigt. »Du hättest mir damals helfen sollen.«
»Der Einsatz ging schief, Menschen sind gestorben«, erwiderte sie. »Trotzdem habe ich dir geholfen. Im Hintergrund. Leider gab es zu viel politischen Einfluss, man wollte einen Sündenbock. Du weißt, wie das Spiel ab einem gewissen Punkt gespielt wird.«
Kalen hätte eine Menge erwidern können, doch es war sinnlos. Die Wahrheit war, dass sie recht hatte. Niemand hätte ihn oder sein Kernteam damals davor bewahren können, entlassen zu werden. Er hatte einen Fehler gemacht.
»Wir haben auch die Datenströme deiner Gegner verfolgt«, sagte Nissa. »Bei einem davon handelte es sich um René Dupont. Ehemaliger Militär, der Technologie auf dem Schwarzmarkt verkauft hat. Deshalb konnte er dich zuordnen.«
Das erklärte den Hass, den der Klon ihm entgegengebracht hatte.
»Nach seiner Entlassung heuerte er bei einem Syndikat an.«
»Lass mich raten: eines, das ganz groß im Geschäft der Engramm-Sucht tätig ist, Minderjährige ködert und sie dann auf ihre Trips schickt.«
Sie nickte. »Er wurde zusammen mit den übrigen Beteiligten verhaftet.«
Ein Tropfen in einem Meer aus Drogencocktails. Kalen hatte einen winzigen Ring zerschlagen, ein neuer würde dessen Platz einnehmen. Syndikate waren Kraken mit tausend Armen.
Er rieb sich müde die Augen. »Ich kann sie nicht ewig beschützen.«
»Sie wird in Kürze achtzehn?«
»Und laut planetarem Gesetz damit volljährig«, bestätigte er. »Als wäre das nicht genug, erhält Trisha dann Zugriff auf den Trust-Fonds, den ihre Mutter angelegt hat.«
Spätestens an diesem Punkt würde sie jede Grenze sprengen, sich Spezialklone zulegen und auf die endgültige Zerstörung zusteuern. Trishas Seele war verletzt, doch anstatt zu heilen, zerstörte sie Körper und Geist. Das schien ihr leichter, als den beschwerlichen Weg der Heilung zu beschreiten.
»Mir ist bewusst, dass dies ein ungünstiger Zeitpunkt ist, aber ich bin hier, weil etwas vorgefallen ist.«
»Zumindest so viel war mir bereits klar.« Kalen nahm den letzten Schluck des Kaffees und stellte die Tasse auf dem Tischchen zwischen ihnen ab. »Ich nehme an, ihr benötigt meine Expertise zu einem alten Einsatz?«
Es kam überraschend oft vor, dass er aufgrund seiner alten Einsätze über Wissen zu einem Gebiet verfügte, das hilfreich war. In der Regel kam dann jedoch eine kurze Anfrage, die er in Textform beantwortete. Mehr wollte er nicht vom Explorationskorps und es nicht von ihm.
Wenn die leitende Admiralin hier auftauchte, um etwas zu besprechen, musste es ernst sein. Und geheim. Kurz prüfte er die Konnektivität des Hauses und war nicht überrascht, dass ein Nullfeld etabliert worden war. Keine Daten konnten von hier verschickt werden oder eingehen. Überwachung war unmöglich gemacht worden.
»Dieses Mal benötige ich nicht deine Expertise«, erklärte Nissa. »Es geht um mehr.«
Er erwiderte ihren Blick mit gerunzelter Stirn und hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.
»Wir … Ich brauche dich für einen Einsatz.«
Er zuckte zurück. Sie musste den Verstand verloren haben.
»Kalen?« Nissa betrachtete ihn besorgt.
»Ich überlege gerade, ob ich meine Gedanken dazu laut aussprechen soll oder ob ich es lieber lasse, weil das gegen ein Gesetz verstößt.«
Was hoffentlich von ihr übersetzt werden konnte in: Bist du wahnsinnig, du kannst mich mal, verpiss dich.
Doch Nissa gab sich professionell unbeeindruckt. »Ich präzisiere das: Das Explorationskommando benötigt dich und dein gesamtes damaliges Team für einen Noteinsatz. Hierfür erhaltet ihr eine Einstellung im alten Rang, eure Akten werden gesäubert, und ihr bekommt den Sold rückwirkend für die letzten sechs Jahre.«
Er starrte sie an.
Ein triumphierendes Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. »Ich wusste doch, dass ich dich irgendwann einmal dazu bekomme, die Klappe zu halten.«
Mit einem derartigen Angebot konnte jeder Einzelne im Team sein Leben zurückbekommen, aus finanziellen Problemen entkommen und, wenn gewollt, wieder für das Explorationskommando arbeiten. Jahrelange Karrieren, die wegen ihm gekappt worden waren, würden erneut Fahrt aufnehmen. »Was zur Hölle ist passiert?« Es musste gewaltig sein, wenn sie so ein Angebot machte.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich alles Mögliche getan habe, um dir zu helfen«, sagte Nissa. »Damals waren mir die Hände gebunden, aber es war klar, dass irgendwann etwas Großes auf uns zukommen würde.«
»Ach, das war es?«
»Wir haben den Kontakt zu einer Kolonie der Stufe drei verloren.«
Kalen rief sich in Erinnerung, was er wusste. Stufe drei bedeutete, dass die Welt autark überlebensfähig war und aus sich selbst heraus wachsen konnte. Das technologische Niveau erlaubte einen regelmäßigen Datentransfer über einen Interspace-Pointer. »Schickt ein Interspace-Team. Oder ein Raumschiff.«
»Womit wir bei einem der Probleme angekommen wären.« Nissa erhob sich, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und schritt durch den Raum. »Wir haben ein Schiff zum Planeten geschickt. Das übliche Verfahren: Eine KI steuert autark das Ziel an, dann werden Engramme in die Klone übertragen.«
»Was ist schiefgegangen?«
»Wir kennen den Grund noch nicht, aber am Ziel werden die Daten zersetzt«, erklärte sie.
Das war neu. Und überaus beunruhigend. »Die Bewusstseine werden gelöscht?«
Sie nickte. »Es ist ein spezifischer Virus, der den Codec von Engrammen angreift, die über einen Interspace-Pointer eingehen. Sie erreichen das Schiff, können dort aber nicht mehr weitertransportiert werden.«
Womit das Raumschiff die Position hielt, darüber hinaus jedoch unbrauchbar wurde. »Was ist mit Sensordaten der Oberfläche?«
Nissa schüttelte nur bedauernd den Kopf. »Wir bekommen nichts rein. Die Datenübertragung zurück zu ZENTRUM ist vollständig gekappt.«
»Könnten die Kolonisten selbst dafür verantwortlich sein?«
Sie hielt inne, erwiderte seinen Blick und seufzte. »Wir haben eine Vermutung. Kurz vor diesen Ereignissen meldete der Sicherheitschef der Kolonie eine Sichtung. Eine Kamera hat ein Gesicht erfasst, das auf der Fahndungsliste steht.«
»Jemand Großes?« Es gab nicht viele Personen, die galaxisweit gesucht wurden, was schlicht daran lag, dass man die meisten erwischte, bevor sie Terra oder ihre jeweilige Kolonie in irgendeiner Form verlassen konnten.
»Sein Name ist Nils Sheft, er war Adjutant von Admiral Derek Hale.«
»Oh, verdammt.«
Es lag nun zweiundvierzig Jahre zurück, dass Admiral Hale mit einer Gruppe von Verschwörern das Team einer Explorationseinheit unter Liam Mikaelsson zu einer der verbotenen Welten umgeleitet hatte. Die Folgen mündeten beinahe in einer Katastrophe. Ein Großteil der Akten war unter Verschluss, doch Hale war in einem Prozess zum Engramm-Freeze verurteilt worden. Seitdem befand er sich in einer virtuellen IceBox.
Erst in den Folgejahren war erkannt worden, dass sein Netzwerk viel weiter gereicht hatte und die zugehörigen Personen noch immer nach einem Weg suchten, die Hinterlassenschaften einer toten Zivilisation nutzbar zu machen. Das betraf das Auslösen von Seuchen durch Superviren, Versuche mit Klonhybriden und Engramm-Veränderungen. Der Geist war aus der Flasche. Zumindest bisher ohne eine Chance, ihn wieder einzufangen. Hale war mehrmals befragt worden, verweigerte jedoch die Kooperation.
Mehr war der Öffentlichkeit nicht bekannt, und auch Kalen wusste nichts darüber.
»Diese Verbindung ist bisher lediglich eine Vermutung«, bekräftigte Nissa. »Du weißt, dass auch andere Faktoren in Betracht kommen.«
Auf einer eher arktischen Welt hatte es Viren gegeben, die durch den Eisabbau freigesetzt worden waren. Die Pandemie war so schnell und endgültig erfolgt, dass alle Engramme auf Terra relifed werden mussten.
»Was wäre der Auftrag?«, fragte Kalen.
»Ihr begebt euch zum Ziel und baut die Datenverbindung wieder auf«, erklärte Nissa. »Die eingelagerten Engramme werden nach Anschluss des lokalen MindSaves nach Terra geholt. Sobald wir ein neues Zuhause für die Bewohner gefunden haben, relifen wir sie dort.«
Die Bevölkerungsdichte war aktuell derart hoch, dass ein Relife auf Terra unmöglich war.
»Wenn möglich, findet den Grund für den Verbindungsabbruch und Nils Sheft«, ergänzte sie. »Egal, wie es ausgeht, ihr habt eure alten Leben wieder.«
Doch das führte ihn zur alles entscheidenden Frage: »Warum wir? Und wie wollt ihr uns dorthin bringen?«
»Ah, das hatte ich vergessen.«
Was er Nissa keine Sekunde glaubte.
»Der Virus greift den aktuellen Codec an, doch wir haben ein Testpaket übertragen, das durchkam. Du und dein Team habt noch alte Technologie in euren Schädeln.«
Er begriff. Wenn er sein Engramm übertrug, ging das langsamer vonstatten, die Komprimierung durch den Codec war nicht so stark. Gleichzeitig wies das Ergebnis eine andere Signatur auf, die vom Virus nicht erkannt wurde.
Es gab im Explorationskorps schlicht niemanden mehr, der sechs Jahre alte Technologie in sich trug. Die Anpassungen erfolgten im jährlichen Turnus, sowohl Software als auch Hardware betreffend.
»Wir brauchen euch, Kalen«, sagte Nissa eindringlich.
Er schuldete ihnen nichts, sie ihm aber eine ganze Menge. Seinen Leuten wiederum schuldete er alles. »In Ordnung.«
Sie atmete auf.
»Allerdings erweitere ich unsere Abmachung um einen Punkt, der nicht verhandelbar ist.« Er verschränkte die Arme.
»Ich höre.«
Er sagte es ihr.
Nissa war alles andere als erfreut, stimmte am Ende aber zu. Welche Wahl blieb ihr auch?
Damit lag es an ihm, das alte Team zusammenzutrommeln.
»Wir haben sie auf dem Monitor«, erklärte die NetSpec.
»Nicht verlieren.« Die Worte kamen pro forma, doch auch wenn jeder im Einsatzzentrum die Bezeichnungen des Militärs trug, waren es Zivilisten. Gut ausgebildete, aber eben trotzdem Zivilisten. Manchmal vergaß Misa das.
»Vier Gleiter nähern sich der Übergabestelle«, ergänzte die NetSpec.
Sie war dafür zuständig, die Datenströme zu überwachen, vor allem jene von MindStreams. Falls die Käufer zu früh aufmerksam wurden, würden sie den Killswitch ihrer Klone aktivieren und den Stream abbrechen. Es sei denn, die NetSpec ließ das nicht zu.
»Haben wir mittlerweile Kontrolle?«, fragte Misa.
»Gleich.«
»Was bedeutet das in Zeit?«
Die NetSpec lächelte schmallippig. Sie besaß violettes Haar und einen Nasenstecker, davon abgesehen hielt sie nicht viel von Hierarchien. Man konnte wohl sagen, dass sie zwei Gegensätze waren, die aufgrund ihres Könnens auf eine Zusammenarbeit angewiesen waren.
»Es bedeutet, dass jede Ablenkung das ›gleich‹ zu einem ›demnächst‹ werden lässt.«
Misa verzichtete auf eine Erwiderung und ließ sie arbeiten. Der Tank war wie vermutet am Hafen von Osaka eingetroffen. Es hatte Jahre gedauert, das Netzwerk so weit zu infiltrieren, dass sie diese Fuhre entdeckten. Der Kauf konnte nicht über einen Mittelsmann erfolgen, die Ware musste DNA-fixiert werden.
»Es gab zwei Watchdogs«, erklärte die NetSpec. »Ich habe sie ausgeschaltet.«
Misa hätte das gern selbst erledigt. Oder von einem gut ausgebildeten Sicherheitsteam durchführen lassen. Leider waren ihre Inserts veraltet und konnten aufgrund gewisser Vorfälle auch nicht außerhalb des Militärs aktualisiert werden.
Sie galt genau genommen als überholt. Immerhin besaß sie dafür das notwendige Wissen, um Sicherheitsteams aufzubauen, anzuleiten und sich rasend schnell in neue Situationen einzufinden.
»Überwachungsteam vor Ort«, meldete der Teamleiter. »Wir haben alles im Blick.« Seine Stimme war nur in ihrem Ohr, die Audio-Implantate hatten sich nicht groß verändert.
»Wenn ihr das glaubt, führ eine weitere Untersuchung durch«, verlangte Misa. »Wir sprechen hier nicht von irgendjemandem. Dieser Kerl ist den Protektoren auf der ganzen Welt durchs Netz geschlüpft, wir müssen ihn kriegen.«
»Komm schon …« Er verhielt sich viel zu vertraut.
»Sie sind da«, meldete die NetSpec. »Ich habe den Stream gepinnt. Die kommen nicht weg.«
Immerhin eine gute Nachricht. Sie zog sich den visuellen Stream vom EyeSign der Teamleitung in ihr Gesichtsfeld.
Dicke Regentropfen prasselten auf die Schiffscontainer im Hafen herab. Das Team überwachte alles mit Nachtsichtgeräten und Nahbereichsübertragungen durch versteckte Linsen. Es gab sogar Sensoren, die Luft und Boden permanent auf Veränderungen prüften.
»Ziel im Visier«, meldete der Teamleiter.
Misa ging zur Liege. Sie musste auf alles vorbereitet sein. Während sich ihr Körper entspannte, konzentrierte sie sich auf die Daten in ihrem Gesichtsfeld. Signaturen, die Datenströme symbolisierten und halb transparent über der Szene lagen.
Ein Gleiter sank zu Boden, die Seitentür wurde aufgeschoben. Ein hochgewachsener Mann im Mantel kam heraus. Er besaß hohe Wangenknochen, ein hervorstehendes Kinn und einen intelligenten Blick.
»Das ist kein Klon«, sagte der Teamleiter.
»Nein«, bestätigte Misa das Offensichtliche. »Er ist ein Original.«
Das Alter des Körpers mochte die hundert überschritten haben oder die zweihundert. Es geschah nicht oft, dass sich jemand so kurz vor dem Tod seines Körpers nach draußen begab. Normalerweise wurde an diesem Punkt der Übergang zum nächsten als Original eingestuften Körper vorbereitet. Hier ging etwas vor, was sie nicht erkannten.
»Wieso hat er nicht einfach die DNA-Probe für die Fixierung mit einem Klon überbracht?«, drang es in Misas Ohr.
Exakt diese Frage stellte sie sich auch. Ihre Zielperson handelte normalerweise nur über Mittelsmänner. Persönliches Eingreifen geschah maximal mit einem Klon. Doch der Originalkörper … Das war seltsam.
»Haben wir grünes Licht?«, fragte der Teamleiter.
»Warten!«, befahl Misa.
Die Zielperson steuerte den Container an. Eine Sensorlinse wurde aktiv und schickte grüne Strahlen über ihren Körper. Es zischte, als das Siegel gebrochen wurde. Im Inneren befand sich eine Konsole.
»Wo sind die Körper?!«, entfuhr es Misa.
Fragen wurden hin und her geschickt.
Die Zielperson legte die Hand auf einen Scanner. Das Ergebnis musste positiv sein, denn ein Stuhl erhob sich aus dem Boden. Alles ging so schnell, dass Misa kaum noch Zeit hatte zu reagieren.
Die Zielperson setzte sich auf den Stuhl, aktivierte den Pointer und startete die Extraktionsprozedur.
»Wir haben uns geirrt«, sagte die NetSpec. »Es geht hier nicht ums Multi-Klonen.«
»Nein.« Misa fluchte innerlich.
Ihre Zielperson war auf dem Radar der Behörden aufgetaucht, weil sie zur Verübung von Straftaten auf Multi-Klonen setzte. Jeder Mensch durfte lediglich einen Primärkörper besitzen. Dessen Aufenthaltsort und MindStream konnte nachgewiesen werden. Auf diese Art konnte niemand Morde begehen, sich selbst Alibis geben oder andere illegale Dinge durchführen.
»Er gibt seinen Primärkörper auf«, sagte Misa. »Er wechselt in einen anderen. Ich brauche einen Nahbereichscan!«
»Läuft. Positiv, es gibt multiple Streams.«
»Nur einer ist der richtige, wir müssen ihn finden!« An den Teamleiter sendete sie: »Zugriff.«
Und damit brach am Hafen die Hölle los.
Misa wartete nicht ab. Sie aktivierte den Pointer und ließ ihren Geist in einen der Klone übertragen, die sie rings um den Hafen vorbereitet hatte. Äußerlich waren es Kopien ihrer selbst. Das Haar schulterlang; Gesichtszüge, die einen japanischen Hintergrund vermuten ließen. Schlanke, athletische Gestalt. Der Trend ging dahin, Klone wieder mit den eigenen Charakteristika zu versehen. Das Thema Individualität gewann an Bedeutung.
»Ich brauche das Ziel«, sagte sie. »Ich bin vor Ort.«
Sie holte die Szene ins EyeSign. Mittlerweile war der Primärkörper der Zielperson tot, irgendwo erwachte sie soeben in einem speziell designten neuen Klon inklusive Primärstatus. Damit war die alte Identität nicht zurückzuverfolgen, es gab keine offiziellen Aufzeichnungen darüber.
»Wir …« Eine Explosion schnitt die Worte des Teamleiters ab.
Ein Container nach dem anderen explodierte am Hafen. Misa konnte sehen, dass die Körper des Sicherheitspersonals der Zielperson tot zu Boden sackten, die Limousine detonierte ebenfalls. Er verwischte seine Spuren.
Sie benötigte lediglich Sekunden, um das Muster zu erkennen. Er hatte einen Bereich des Hafens verschont. Vermutlich um seinen neuen Körper nicht zu gefährden.
Misa rannte zum bereitstehenden Gleiter und raste zu jener Stelle. Eine weitere Explosion schleuderte Trümmerteile in die Nacht, beinahe hätte ein Schrapnell ihren Motor getroffen. Doch sie erreichte unbeschadet ihr Ziel.
Die Tür eines Containers stand offen. Im Inneren befand sich ein Klontank, leer.
Misa durchdachte die Situation. Was hätte sie getan? Die Zielperson hatte Jahre Zeit gehabt, die Operation zu planen. Trotzdem war sie ein Zivilist. Ungeschult in derlei Aktionen und paranoid genug, niemanden hinzuzuziehen.
Hinzu kam, dass der neue Körper erst eingetragen werden musste.
Das Wasser!
Sie rannte zum Hafenbecken. In der Ferne war noch der Motor eines Boots zu hören.
»Verdammt!«, entfuhr es ihr. Sie blickte zur Seite.
Ein kleines Mädchen starrte sie verängstigt an. »Da waren böse Männer.«
Misa erwiderte den Blick, atmete auf und schickte ein Signal an die Zentrale. Zielperson in Gewahrsam. »Lassen Sie mich raten, die wurden von jemandem gewarnt, dass Sie hinter sich aufräumen, und sind geflohen.«
»Was?« Der Blick wurde noch unschuldiger.
»Ich bin Misa Web«, sagte sie. »Und verhafte Sie wegen Multi-Klonen und Verbrechen in sieben Ländern, darunter Mord an drei Primärkörpern.«
»Aber …«
»Versuchen Sie es gar nicht erst, das ist nur ermüdend. Ich habe auf Tiefraummissionen unzählige Verbrecher gejagt, die weitaus schlimmere Tricks angewendet haben.« Unweigerlich kam ihr jener Einsatz in den Sinn, bei dem ein verurteilter Kriegsverbrecher eine ganze Familie getötet hatte, um sein Engramm beim Relifing in den Ehemann zu spielen. Ihn damit zu ersetzen. Zuvor hatte er alles über diesen gelernt, die Historie bis hin zu jeder Vorliebe. »Das hier ist ein vorhersehbares Klischee. Aber dass Sie sich noch mal die Pubertät antun, Respekt.«
Das Mädchen seufzte auf. »Misa Web. Ich hätte mich zuerst um Sie kümmern sollen.«
»Da habe ich mir wohl einen Ruf erarbeitet.«
Die anderen trafen ein, und die Verhaftung wurde vorgenommen.