Interzonenjahre - Katrin Sobotha-Heidelk - E-Book

Interzonenjahre E-Book

Katrin Sobotha-Heidelk

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Beschreibung

Im Winter 1945 verlieren sich zwei achtjährige ostpreußische Freun­dinnen. Elsa kommt in Mecklenburg und Hanni im Oldenburgischen unter. Nach den traumatischen Fluchterlebnissen lernt jede für sich, den Demütigungen als Flüchtlingskind auszuweichen. Elsa macht sich unsichtbar. Hanni schweigt drüber weg. Sie finden sich durch den Suchdienst wieder und schreiben einander, bis es nicht mehr sein darf. Wie weit sich die Schere ihrer Lebenswege allmählich öff­net und schließlich zwei in ihrem Umfeld verankerte Frauen das jeweils Naheliegende als richtig empfinden, wird in parallelen, mehr­­­fach verknüpften Handlungssträngen erzählt. Im Alter reden sie Klartext miteinander. Ein Ost-West-Roman über Ankunft, Anpassung und Aufbruch.

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Katrin Sobotha-Heidelk

Interzonenjahre

Ein Ost-West-Roman

Die Interzonenzüge, mit denen betagte Großmütter in den Westenfahren durften und wir nicht, lösten beim Winken immer einenPhantomschmerz aus.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://www.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

© Lehmanns Media GmbH, Berlin 2020 Helmholtzstr. 2-9 10587 Berlin Umschlag: Bernhard Bönisch Foto: ksh Satz & Layout: LATEX

HANNI Prolog

Kaliningrad, 2016

Mit dem Aussteigen aus dem Taxi ist das so eine Sache. Hanni wendet ihre ganze Konzentration nach innen: den unteren Rücken anspannen, die Knie aneinanderdrücken, links auf dem Sitzpolster abstützen und rechts nach einer helfenden Hand greifen. Doch sie bemerkt erst jetzt, dass Gabriele noch mit dem Bezahlen zu tun hat, und sackt wieder in sich zusammen. „Gib doch einfach“, zischelt sie. „Nein, nicht immer“, antwortet die Tochter. Der Fahrer kramt ein Bündel abgegriffener Scheine als Wechselgeld heraus, Gabriele reicht einen zurück. Dann spürt Hanni die helfende Hand und sortiert sich erneut. Mit der neuen Hüfte war sie anfangs gut klargekommen, aber seit das Ding beim Aufstehen einmal die Hüftpfanne verlassen hatte und sie sich nicht einmal mehr winden konnte in ihrem Schmerz, ist sie vorsichtig geworden. Reisen wollte sie gar nicht mehr. Doch Königsberg ist etwas anderes, und da Gabriele versprochen hatte, mit ihr nochmal nach Hause zu fahren, scheint alles nur eine Frage des Willens und der inneren Konzentration zu sein. „Und stehen!“, lacht Gabriele, als Hanni es aus dem Taxi geschafft hat. Dabei ist das doch ihr Spruch, noch von ganz früher aus dem Sportunterricht. Wenn sie abspringen sollten vom Schwebebalken oder hinüberhüpfen über das Pferd, hat die Lehrerin das immer den Mädchen zugerufen. Und Hanni hat die Worte damals schon in ihren Alltag übernommen, wenn etwas vollbracht war und Haltung angenommen werden sollte.

„Ich stehe“, sagt Hanni folgsam und beschließt zu lächeln. Sie sind am Zoo, Hanni erkennt das Portal sofort. Um ihre immer gleiche Irritation nicht zum hundertsten Mal mit den immer gleichen Worten zu benennen, schließt sie die Augen. Gabriele könnte bald gelangweilt sein. Dabei weiß die ganze Familie, was damals passiert ist. Jedes Mal, wenn Hanni mit Gabriele und später mit den Enkeln einen Tierpark besucht hat, musste sie davon erzählen! Wie dumm. Einmal hätte gereicht. Hanni öffnet die Augen wieder und hängt sich bei Gabriele ein. Gabriele macht einen Zwischenschritt, damit sie in den Gleichschritt kommen, so geht es besser. Der Euro steht zum Rubel so günstig, dass der Eintritt nicht teurer ist als in Deutschland eine Busfahrkarte. Hanni hat den Eindruck, dass hier alles dem Wert einer einzigen Busfahrkarte entspricht, von Kurzstrecke bis Tageskarte. Sie beugen sich über eine als Ring gemauerte Brüstung. „Ich kann mich nicht erinnern“, flüstert Hanni, „was hier war.“ „Aber ich“, lacht Gabriele, „Waschbären!“ „Bestimmt nicht! Das sind doch keine Zootiere!“ Hanni denkt an den Heuboden unter dem geschnitzten Giebel, auf dem die Waschbären ihren Vater immer wieder austricksten. Die Mutter hatte den Kampf gegen die Pelztiere später aufgegeben, dafür war im Krieg keine Zeit mehr. Mit einem Bettelblick schauen die Tiere hinauf. Die im Betonrand gespeicherte Wärme tut den Unterarmen gut. Wo sie sich abstützen kann, verweilt Hanni gern, auch wenn da unten Waschbären sitzen. Dann fällt es ihr ein: In der Scheune war der Marder gewesen, wie hatte sie das verwechseln können? Und das als Tochter eines Landwirts? Sie schiebt es auf ihre achtzig Jahre und wirft einen versöhnlichen Blick hinunter. Solange sie sonst gut im Kopf zurechtkommt, darf sie die pelzigen Rüpel schon mal durcheinanderbringen. So, Gabriele, weiter! Der Elefant hat sich Gras auf den Rücken gerüsselt. Behäbig stapft er durch sein Terrain, das aussieht wie ein lausiger Hinterhof. Einzelne Beton-Rohrteile, die wohl eine Tiefbaufirma aussortiert hat, dienen hier als Spielplatz. Geht auch, wenn für ein richtiges Tropenhaus das Geld fehlt, denkt Hanni. Jenny hieß die Elefantendame ihrer Kindheit, die eine blumenbekränzte Berühmtheit gewesen war und von der sie bei einer Tombola eine Postkarte gewonnen hatte. Dass sie das überhaupt noch weiß! Sie strafft sich neben ihrer Tochter und hält Schritt. Gabriele drückt ihren Arm und möchte wissen, wie sie sich fühle. Was für eine Frage. Dabei reden sie doch sonst nicht über sowas, weil sich Hanni in vielen Dingen nicht verstanden fühlt. „Wie immer, seit wir hier sind.“ „Das heißt?“ „Dass ich jetzt Appetit auf Marzipangebäck habe. Aber es muss schon Liedtke-Marzipan sein.“ „Das von früher. Verstehe.“ Hanni spürt, wie sich Gabriele um sie bemüht. „Da hinten backen sie Waffeln. Gehn die auch? Zur Not, Mama?“ „Not ist nicht“, sagt Hanni. „Nein, gewiss nicht.“ Not leiden musste Hanni seit ihrer Hochzeit nie wieder. Joachims Eltern hatten ein Kino. Dort hat Hanni ein paar Jahre an der Kasse und am Ausschank mitgeholfen. Außerdem hat sie den Haushalt geführt und in ihrer Erinnerung ein Leben lang gekocht. Das war schon ostpreußische Sitte in ihrem Elternhaus gewesen. Einkochen. Alles, was der Garten hergab. Auf der Schwesternschule hat Hanni dann noch manches dazugelernt. Sogar, was man über die Ehe wissen musste. Auch, dass eine verheiratete Krankenschwester immer in der eigenen Familie gebraucht wird. Und das zum Beispiel hat Gabriele nie in ihr kleines Köpfchen hineingekriegt! Wirtschaften im Haushalt ist auch ehrenwertes Arbeiten. Wenn sie eine kleine Abwechslung braucht, ist das etwas anderes, aber grundsätzlich ernährt der Mann die Familie. Inzwischen spricht sie darüber nicht mehr mit ihrer Tochter.

Gabriele ist Physiotherapeutin geworden. Fast vierzig Stunden die Woche steht sie an der Liege. Und dann sollen die Hände noch Kraft haben für den Haushalt? Und den Mann? Ach was. Das kann sie Hanni doch nicht weismachen! Aber gestern Abend, nachdem sie ihren alten Hof in Gutenfeld nicht gefunden hatten, weil er nicht mehr existierte, und Hannis Beine den Weg ins Hotel schon fast nicht mehr gehen wollten, hat Gabriele sie massiert. Das kann sie, und sie war so gut zu der Hüfte, Jessesmaaria! „Du kannst die Waffel mit Schokocreme, Kirschkompott oder Vanilleeis haben, Mama“, ruft Gabriele. „Was nimmst du?“ „Mit Eis.“ „Dann möchte ich mit Kirschen.“ Hanni beobachtet, wie Gabriele mit der jungen Waffelbäckerin plaudert. Ist ja doch praktisch, dass sie ein paar Brocken Russisch gelernt hat, obwohl Hanni mit den Russen nichts mehr am Hut haben wollte. Vielleicht hatte sich Gabriele auch gerade deshalb für den Sprachkurs angemeldet. Russisch-Schüler waren Exoten an der Volkshochschule, also musste sich ihre Tochter bei ihnen umso wohler gefühlt haben. Typisch. „Marzipan haben sie nicht, Mama.“ „War klar.“ Hanni schiebt ihre Kuchengabel durch das Kirschmus in die Knusperwaffel, die gerade anfängt, den roten Saft aufzunehmen und weich zu werden. Kirschsuppe hat sie schon so lange nicht mehr gekocht. Einfach bisschen mit Kartoffelmehl andicken und Nelken, Rosmarin, Zucker, Salz und Schmand dazu! Wie bei Muttern. „Früher haben wir hier nach Liedtke-Marzipan angestanden. Die hatten hier eine Tierpark-Konditorei, da nahmen wir uns sogar manchmal eine Tüte für zu Hause mit!“ Gabriele sah sie zweifelnd an und sagte nichts. Dabei sind riesige Süßigkeitenstände heute doch auch nichts Besonderes mehr in einem Tierpark. Die Konditorei damals schon. Hanni lehnt sich zurück und faltet die dünne Papierserviette auseinander. Wer weiß, wie sie aussieht um den Mund! Der Konditor bot herrlichen Luxus damals, den nahm nebenbei mit, wer ihn sich leisten konnte. Was Hanni mit ihrer Schwester aber besonders liebte, war die Rollschuhbahn. Ihre Schwester Gigi, die war drei Jahre älter, konnte richtig tanzen mit Rollschuhen! Sie ist Hanni immer davongerollt. Und dann war da noch ihre Freundin Elsa. Wenn die mitkam, hielten sie sich an den Händen, und der Schwung der einen riss immer die andere mit, so dass sie sich abwechselnd überholten.

Elsa ist später nur bis Ostdeutschland gekommen. Das wurde dann doch DDR. Und jetzt ist alles wieder eins. „Wenn wir hier ausruhten, dann waren wir ganz verschwitzt! Das spür ich heute noch.“ Gabriele nickt lächelnd. „Das sind Kinder doch immer im Zoo! Erst zu den Ziegen, dann dahin, wo der Affe gerade Quatsch macht…“ „Nein, vom Rollschuhlaufen. Das konnte man hier. Wir haben uns die Dinger ausgeliehen. Und Papa hatte seinen Fotoapparat mit.“ Wenn sie an Papa dachte, kam zu viel hoch. Die Fotos hatte er selbst eingeklebt. Im Fronturlaub ging er mit seinen Töchtern in den Zoo und verschwand dann in der Dunkelkammer. Dabei hatte er doch immer auf dem Hof zu tun! Das Fotografieren war seine eigene Welt nebenher gewesen. Im Krieg soll er immer ein winziges selbstgemachtes Album in der Brusttasche getragen haben: seine Familie, sein Hof und vielleicht auch ein Bild vom Zoo. Alles im Miniaturformat. Den Zoo hat er so geliebt, dass er Mama auftrug, beim Retten zu helfen, als die wertvollsten Tiere auf umliegende Gutshöfe evakuiert wurden. Dabei hätte er Mama lieber davon abhalten sollen! Da sie doch bald nur noch die eigene Haut retten konnten. Ach, Papa! Gigi und Hanni waren einmal an einem Freitagnachmittag aus der Schule nach Hause gekommen und hatten nicht in den Stall gedurft. Weil die Mähnenspringer sich erst eingewöhnen sollten. Eine kleine Futterreserve hatte Mama noch gehabt, die musste dann für alle reichen. „Ich weiß, woran du denkst.“ „An Kirschsuppe, Gabriele. Ich werde mal wieder welche kochen.“ „Und an die Ziegen.“ „Mähnenspringer waren das. Die konnten wir nicht mitnehmen, als es losging im Februar. Ganz zuletzt erst ist Mama in den Stall gegangen und hat den Riegel zurückgezogen. Da saß ich mit Gigi, den ganzen Koffern und der Korbkiste schon auf dem Wagen. Unsere Rieke, die war schon vorgespannt, die hat sich gebärdet, als hätte sie alles vorausgeahnt.“ „Das sagt man so.“ „Ja. Das sagt man so. Aber es stimmt.“ Als Gabriele einlenkend nickt, fährt Hanni fort: „Hier hätten die Mähnenspringer auch nicht überlebt, Gabriele. Die ganze Stadt hat es erwischt. Da waren wir Gott sei Dank schon weg.“ Hanni erinnert sich, wie Mama versuchte hatte, heile Welt zu spielen auf dem Pferdewagen. Dabei hat sich aber ihr Gesicht so verzerrt, dass Gigi aufstand und sie in den Arm nahm. Gigi war damals schon so erwachsen! Hanni schiebt die letzten Reste ihrer Waffel durch die Kirschmuspfütze und hält die Gabel so fest, dass die faltige Haut ihres Daumens ganz weiß wird. Mama hat auf dem Kutschbock an die Tiere gedacht und war verzweifelt, weil sie von Papa keinen Rat mehr kriegen konnte. Ganz allein hat sie entschieden, die Ketten zu lösen und die Stalltür zu öffnen. Nein, nicht ganz allein. Sie hat wohl mit anderen Bauern gesprochen, die auch keinen anderen Ausweg wussten. Dann musste ihr der Boden unter den Füßen weggerutscht sein, genauso wie der ganze Hof, und sie wollte den Töchtern von ihrem Kummer nicht mehr zeigen, als dass ihr Lächeln nicht mehr funktionierte. Wenn das Erinnern so wehtut, dass es Hanni wie ein Klumpen Blei hinabzieht, muss sie etwas in die Hand nehmen, das damit nichts zu tun hat. Sie hat mal gelesen, warum das hilft, und sie hofft, dass es diesmal klappt. Deshalb hält sie diese Gabel so krampfhaft fest, dass sie zu einem Griff wird, der in der Gegenwart festgeschraubt ist. Gabriele hätte solch ein Festhalter nicht sein können. Sie zweifelt zu viel an, und Hanni hat Angst, dass der Griff aus der Wand reißt. Manchmal lockern sich ja die Dübel, und sie müsste wieder das heulende Kind auf dem Wagen sein. „Und Rieke? Ihr seid doch dann zum Hafen gefahren.“ Rieke. Die beste Stute, die Vater jemals hatte? Hanni dreht die Kuchengabel zwischen den Fingern. Am unteren Rand spürt sie, dass da ein Grat ist. Zoo-Besteck muss nicht das feinste sein. „Das Pferd blieb dort, in Pillau. Konnte auch nicht mit.“

Als ein Mann mit einer Schubkarre am Waffelstand vorbeifährt, bittet Hanni Gabriele, ihn nach Mähnenspringern zu fragen. „Ich weiß nicht, wie die heißen.“ „Schafe mit einem langen Bart.“ Der Tierpfleger ist schon vorbeigegangen, und Gabriele eilt ihm hinterher. Hanni sieht, wie sie sich ans Kinn greift, um einen Bart darzustellen. Er zeigt in Richtung der Kamerunschafe, vielleicht hat Gabriele sich falsch ausgedrückt. So tiefgründig ist es eben doch nicht mit ihrer Sprache. Was soll’s. Hanni studiert den Lageplan und drückt den Finger auf ein Bild mit Ziegen und Kamerunern. Die meint der bestimmt. „Es gibt hier keine Mähnenspringer mehr, Mama.“ „Die haben wir ja auch mitgenommen“, flüstert sie. „Das verdrehst du jetzt aber. Ihr wolltet helfen!“ Hanni schweigt. Gabriele hat nicht auf dem Wagen gesessen, sie kann nicht wissen, wie sich das anfühlt, den eigenen Hof zu verlassen, sich lieber nicht umzuschauen und einfach nur unter den vielen Pulloverschichten abzuwarten, bis die Kälte es auf die Haut geschafft hatt. Doch schlimmer noch war ihre tausendfache Angst. Alles Furchtbare, das sie noch gar nicht erlebt hatten, stand damals tausendfach vor ihnen. Weil Gigi schon so viel von Zahlen wusste, hatte sie dieses Wort gebraucht. Und diese Tausend schien Hannis Gefühle so sehr zu bestätigen, dass sie dann auch von tausendfachem Hunger geflüstert und von tausendgroßer Angst gesprochen hat auf dem Wagen mit der Rieke. Mutter muss doch schon daran verrückt geworden sein! „Möchtest du noch zu den Kamerunern, Mama?“ „Zu denen nicht extra, nein.“ „Die Bären haben noch ihr altes Haus und die Vögel ein ganz neues!“ Hanni ist müde. Schon der Weg zum Taxi wird wieder zu einer Strapaze werden. „Die Waffeln waren gut. Das sag denen man ruhig.“ „Hab ich schon.“ Das hat Hanni nicht mitbekommen. Ihr fällt das Geld wieder ein: „Lass uns noch zur Verwaltung gehen, die ist doch hier vorne.“ Gabriele hat den Umschlag am Morgen eingesteckt, sie wirft sicherheitshalber noch einen Blick in die Tasche und nickt. Hanni steht schneller als gedacht. Sie hängt sich bei ihrer Tochter ein und stützt sich noch ein wenig auf den Stock bei jedem Schritt. Im Verwaltungsgebäude weist eine Frau am Tresen die Besucher in die Ausstellung, zu den Toiletten oder zur Direktion. Die Direktorin sei gerade in Moskau, übersetzt Gabriele. „Dann lassen wir es gleich hier“, bestimmt Hanni.

„Wir können zu ihrer Assistentin. Die holt uns gleich ab“, widerspricht Gabriele. Maria ist hochgewachsen, schmal und spricht fließend Englisch. Als sie Hanni und Gabriele in das Vorzimmer bittet, stellt sie ein Tellerchen mit Marzipan-Talern auf den Tisch. „Ist das von Liedtke?“, entfährt es Hanni. Maria schmunzelt. „It’s nearly the same.“ Hanni nickt befriedigt und bemüht sich, das Wort tradition schön englisch auszusprechen. Als sie endlich auf einem der schmalen Stühle Platz genommen hat, kann sie durch das Fenster den Elefanten beobachten. Er rüsselt immer wieder in sein betonschweres Spielzeug hinein. Hanni bemüht sich nicht, Gabriele und die Assistentin Maria zu verstehen. Sie weiß, worum es geht. Während der Elefant ihr behäbig die andere Seite zudreht, rutschen ein paar Büschel Gras von seinem Rücken. „Mama? Jetzt würde es passen“, flüstert Gabriele und reicht ihr den Umschlag. Hanni konzentriert sich kurz, kehrt innerlich an den Tisch und zu Maria zurück und sagt kurz: „Wir haben die Mähnenspringer auf unserem Hof lassen müssen 1945. Das konnten wir uns nicht verzeihen, aber es ging nicht anders. Auch wir haben nicht alle überlebt.“ Sie weiß, dass Gabriele den letzten Satz nicht übersetzen würde und schiebt einfach den Umschlag über den Tisch. Das Geld würde für ein neues Elefantenspielzeug und mehrere seiner Wochen-Mahlzeiten reichen. Das ist wenigstens etwas. Maria nimmt den Umschlag entgegen und reicht Hanni die Hand. Sie sagt, sie werde das Geld einschließen, bis die Chefin wieder da sei. Gabriele nickt. Hanni auch. Ihr wird ein wenig leichter. Wie einfach manches doch ist. Auf dem Weg zum Park-Ausgang kommen sie an einer zweisprachigen Schautafel mit historischen Fotos vorbei. Hanni versenkt sich in die sepiafarbenen Fotos, als könnte sie unter den abgebildeten Kindern Gigi und sich selbst finden.

Das einzige, was Hanni noch sehen möchte, ist der Laden von Elsas Eltern. Als der Taxifahrer sich übersetzen lässt, in welcher Straße der gelegen hat, winkt er ab, als wolle er Hanni keine Hoffnung machen. Im Feierabendverkehr kommen sie nur mühsam voran. Das ist Hanni recht, vielleicht erkennt sie ja doch etwas wieder. Die Samitter Allee war damals schon eine der großen Straßen. Sie heißt jetzt anders, Hanni kennt die Buchstaben nicht, und die Hausnummer weiß sie nicht mehr. Ständig hat sie das Gefühl, schon vorbeigefahren zu sein. Es war ein Fachwerkhaus gewesen mit einer geräumigen Durchfahrt zum Hof, einem Ladengeschäft im Erdgeschoss und einer großen Wohnung darüber. Im Geschäft unten hatte schon Elsas Großvater mit Kaffeespezialitäten und Lebensmitteln gehandelt. Von Hannis Eltern bezog der Laden Gemüse. Dadurch hatten sich die Kinder überhaupt kennengelernt. Im Königsberger Kaufmannshaus durften Hanni und Gigi Stadtkinder sein, feine Damen gar, und bei ihnen auf dem Hof tobte Elsa mit im Heu und blieb manchmal sogar über Nacht. Sie schleichen an endlos wirkenden Zehngeschossern vorbei. In den kurzen Vorgärten hocken hier und dort wettergegerbte Plüschtiere. Kleine Läden reihen sich aneinander. Blumen, Lebensmittel, Bernsteinprodukte. Das braucht Hanni niemand zu übersetzen. „Kennst du den Baum?“ Gabriele deutet auf einen, der schon hundert Jahre alt sein kann. Hanni weiß, dass hier Alleebäume standen, aber ob das einer von denen war?

1  ELSA  Schatten auf den Kugeln

Königsberg, 1944

„Du ruinierst das Parkett!“ Großmutter beugte sich über das Fischgrätenmuster und rieb mit dem Zeigefinger über eine winzige Kerbe. „Da und da und da auch! Elsa, zieh die Botten aus!“ Es waren Holzpantinen, wie Hanni und Gigi sie im Stall trugen. Elsa konnte mit denen nur nicht genauso schnell flitzen. Noch nicht. Deshalb wollte sie ja trainieren, einmal um den Tisch im Esszimmer, dann durch die Flügeltür ins Wohnzimmer, über die Schwelle ins Herrenzimmer, auf den Flur zur Mädchenkammer, ins Kinderzimmer, dann ins Arbeitszimmer und immer weiter. Ihre Schritte klangen auf den schwarz-weißen Fliesen vor dem Herd genauso wie in der Futterküche der Freundinnen. Im Wohnzimmer war es etwas anderes, da hatte Großmutter Recht. Jetzt sah Elsa die kleinen scharfen Dellen auch, und die Freude über die Botten verformte sich zu einem Klumpen in der Magengegend. Vielleicht warfen die Kerzen des Weihnachtsbaums ein mildes Schummerlicht auf die Böden, so dass Mutters Blick nicht gleich an ihnen hängen blieb. Vater wäre vielleicht außer sich gewesen, aber Vater war an der Front. „Ich schmier Spucke drauf, Großmutter!“ „Das ist doch kein Mückenstich, Kind!“ „Aber dann wird das dunkler.“

Elsa spürte schon, wie sich unter der Zunge der Speichel sammelte, sie schob ihn von einer Backe in die andere und ertastete einen zarten Widerstand in der neuen Zahnlücke. Am Freitag vor dem vierten Advent hatte sie so lange an einem Zahn gewackelt, bis der nur noch an einem Hautfetzen hing. Dann war sie zu Mutter in den Laden hinuntergerannt, um den Hinkezahn als scharfe Spitze durch ihre zusammengekniffenen Lippen zu präsentieren. Das hatte ihr vor dem Spiegel so gefallen. Mutter würde sich kaputtlachen, hatte sie gedacht. Sie waren doch alle beide Kicherliesen und Großmutter auch. Doch Mutter hatte nur ihr Taschentuch aus dem Kittel gezogen, um damit die hässliche Blutspucke von Elsas Bluse zu rubbeln. „Mach mal auf den Mund!“ Ratsch. Und der Zahn war draußen gewesen. Dann hatte die Glocke an der Ladentür geschellt, und Elsa musste sich hinten raus durch das Treppenhaus wieder in die Wohnung verdrücken. Mund ausspülen. Den Zahn ins Kristalldöschen zu den anderen dreien legen. Elsa war etwas spät dran beim Zahnwechsel. Mit acht Jahren hatte Gigi schon ihre Hasenzähne vorn gehabt. Aber das war eben Gigi. Die hatte jetzt, mit elf, schon kleine Brüste. Gut, dass Hanni genauso alt wie Elsa war und genauso milchzahnig und genauso verkichert. Nur mit den Botten konnte sie schneller laufen, aber das würde Elsa noch lernen. „Der Neue kommt, Großmutter“, sagte Elsa, während sie zwei angefeuchtete Kerben im Parkett gleichzeitig rieb. Sie sah, wie Großmutter einen kleinen Schrecken zu verbergen suchte und in Elsas Gesicht forschte. Als wollte sie ausgerechnet in dem Mädchen etwas herausfinden, was jetzt nicht besprochen werden musste und mit Kindern schon gar nicht. „Der neue Zahn, Großmutter“, sagte Elsa schnell und versuchte fröhlich zu lachen, damit Großmutter nicht gleich wieder an den Russen dachte. Der kam wohl auch bald. So wurde es im Laden erzählt. Seit der in Ostpreußen einmarschiert war, hatte Elsa keinen Unterricht mehr. „Sieht man den schon?“ Großmutter kam auf Knien herüber, um das weiße Pünktchen im Zahnfleisch zu begrüßen. „Für die Zunge ist er schon richtig da.“ Wieder lief ihr die Spucke zusammen. „Guten Tag, neuer Zahn“, flüsterte Großmutter, „du bist einer von denen, die durchhalten müssen!“ Sie stand auf, drehte sich zum Weihnachtsbaum und hängte ein paar Kugeln um. „Die angelaufenen immer nach hinten!“ Es schepperte leise, wenn sich zwei berührten. Großmutter bemühte sich, die Lücken am Baum wieder auszugleichen, indem sie auch die von Vater geschnitzten Holzengel umsetzte. „Manche Kugeln sind schon ganz schwarz. Dass der Junge sowas nicht sieht!“ Der Junge. Valdis war schon ein Mann, fand Elsa. Einer, den sie sich immer als großen Bruder gewünscht hatte. Im Frieden würde er Arzt werden, hatte er gesagt. Aber jetzt musste er hier in Königsberg für die Wehrmacht arbeiten, weil er aus dem besetzten Lettland kam. Seit Herbst war er bei ihnen einquartiert. Großmutter hatte ihn gebeten, den Baum zu schmücken, als er am Dreiundzwanzigsten spät hereinkam und in die Kammer schlich. Jetzt kratzte sie mit dem Fingernagel auf einer angelaufenen Kugel herum. „Wie ein fauler Apfel!“ „Dann muss er auf den Kompost!“ Endlich lachte die Großmutter. Sie hängte die bräunlich schimmernde Kugel an der Wandseite auf. Elsa überlegte, was es noch gäbe zum Lachen. Es war doch Weihnachten! Trotzdem war Mutter im Laden unten, obwohl der gar nicht geöffnet war. Immer und immer und immer hatte sie dort zu tun, seit Vater und Großvater ihr nicht mehr helfen konnten. Nachdem die Engländer im August die Innenstadt zerbombt hatten, gab es weniger funktionierende Geschäfte. Alle hatten Angst. Da gab es eben doch nichts mehr zum Lachen. Elsa stellte die neuen Holzpantinen, ihre Botten, wieder unter den Baum und nahm sich die anderen Geschenke vor.   Das Spielzeugboot mit Abschussrampe war ein richtiger kleiner Torpedo. Wenn sie das Dieter zeigte, dem Nachbarskind im Hinterhaus, würde er ihr den abschwatzen wollen. Zum Tauschen hatte der aber nichts mehr. Vielleicht konnte sie ihm das Boot auch schenken, was sollte sie mit so einem Kriegsschiff? Hatte sie doch sogar noch ein Fahrrad bekommen! Und die schönen Botten für ihre Stallbesuche bei Hanni und Gigi! „Kann das Boot richtig ins Wasser, Großmutter?“ „Nicht auf dem Parkett!“

Elsa ließ in der Küche Wasser in eine Emaille-Schüssel laufen und setzte das Boot hinein. Ganz früher, im Sommer vor dem Krieg, hatte Vater ein Schiffchen für sie geschnitzt mit Mast und Segel. Das hielt sich damals sogar senkrecht im Fluss. Vater hatte eine Schnur drangeknotet und mit Elsa im flachen Wasser Kapitän gespielt. Im Album hatte sie Fotos von jenem Sommertag gesehen, vielleicht waren es auch nur die Bilder, an die sie sich erinnerte. Jetzt hatte sie ein Torpedoboot. Es schwamm in der Schüssel, aber Kapitän-Spielen konnte sie damit nicht. Sie wusste nicht einmal, welche Geräusche sie nachmachen sollte – tuuut bestimmt nicht. Mit Dieter konnte sowas vielleicht Spaß machen im Sommer am Fluss, wo sie mit Vater gespielt hatte.

Valdis‘ Augen leuchteten, als Elsa ihm das Spielzeug zeigte. Er spannte eine der winzigen Raketen in den Träger und fingerte am Abschussmechanismus. „Wenn du drückst hier, dann zündet Rakete!“ Elsa mochte, wie er das R rollte. Und sie genoss, ihm etwas zeigen zu können, was ihn interessierte. „Mach mal“, bat sie. Sie hielt die Hände auf dem Rücken über Kreuz und wippte gespannt nach vorn und zurück wie früher beim Gedichtaufsagen vor der ganzen Klasse. „Draußen. Sonst geht kaputt die Wohnung.“ Dann hatten sie nur fünf Schuss, und der Spaß wäre vorbei. Niemals würde sie im Schnee die kleinen Raketen wiederfinden. „Drinnen, Valdis! Du darfst nur nicht das Parkett zerschießen.“ Elsa hangelte sich an ihm hoch und erzählte flüsternd von den Botten-Kratzern und dass man mit Großmutter Pferde stehlen könnte, nur eben nicht auf gepflegtem Eichenparkett. Sie trug wieder ihre warmen karierten Filzhausschuhe, die waren oben mit einer festen Schleife zugebunden. Großmutter hatte die Botten weggestellt. Hanni und Gigi wussten noch gar nicht, dass sie jetzt auch welche hatte. Elsa kletterte richtig an Valdis hinauf und setzte sich auf seine Schultern, so dass sie beide größer waren als der Weihnachtsbaum. „Komm. Wir sind Zirkus. Stell dich mal hin“, lachte Valdis. Wo sollte sie sich festhalten, wenn sie erst einen und dann den anderen Schenkel von seiner Schulter lösen wollte? Valdis war ein Riese. Da aber kam ihr eine seiner Hände entgegen, sie griff zu und wackelte langsam in die Höhe. Noch nie hatte sie das Wohnzimmer so weit von oben gesehen. Das Kanapee und die Sessel rückten auf neue Weise zusammen, und der Weihnachtsbaum sah schief geschmückt aus, vorne lauter Engel und Kerzen und hinten die ganzen Kugeln. „Nicht loslassen“, schrie Elsa, als sie plötzlich spürte, wie sich Valdis‘ Griff lockerte. Sie ging in die Hocke und umklammerte seine Handgelenke. „Wir sind doch Zirkus! Der beste in Ostpreußen!“ „Und Lettland“, keuchte Elsa. „Ja, in der ganzen Welt“, trompetete Valdis wie ein Zirkusdirektor, „jetzt mit Akrobatik-Nummer tapferer Soldat und hübscher Mehlsack!“ Er klapperte mit der Zunge eine Art Trommelwirbel, zu dem sich Elsa vorsichtig wieder erhob. Sie ließ sogar seine Hände los, mit denen er dann ihre Waden sicherte. „Applaus! Applaus! Applaus!“, rief sie in die Zimmerrunde, aber es war niemand da. In Zeitlupe begab sich Valdis auf die Knie, neigte den Kopf und ließ sie absteigen. Graziös verbeugten sie sich in alle Richtungen. „Jetzt kaufen wir Zuckerwatte!“ lachte Elsa und klatschte wie verrückt in die Hände. Seit Jahren hatte sie keine mehr von einem Stäbchen gezupft, aber sie meinte, das gehörte unbedingt zum Zirkus. Sie rannte zu Mutters Nähschränkchen und zog die zwei längsten Stricknadeln aus einer Schublade. „Schön hinten anstellen. Das gilt auch für Soldaten!“ Sie drehte die Nadel in einer imaginären Trommel, bis sich eine ansehnliche Zuckerwolke gebildet haben könnte. Das dauerte eine Weile. „Zehn Reichspfennig, der Herr!“ Valdis hatte sogar einen Groschen in der Tasche, den er ihr in die Hand drückte. „Stimmt so.“ „Das sehe ich“, entgegnete sie kess. Er wusste, wie es aussehen musste, wenn man sich Zuckerbüschel abzupfte, und lobte die Rezeptur, während Elsa für sich selbst eine Watte drehte. „Eine Zirkus-Nummer wir haben verpasst, Elsa!“ „Kann nicht sein. Ich war die ganze Zeit hier.“ Er beharrte darauf und zeigte auf den Weihnachtsbaum. „Engel alle sind geflogen.“ „Ja. Aber das war schon in der Frühvorstellung! Weil ein paar Kugeln so hässlich angelaufen sind, dass Großmutter sie nicht vorn haben wollte.“ Elsa schlitterte mit ihren Hausschuhen hinter den Baum und präsentierte ihm eine picklig verfärbte Silberkugel. Valdis hielt sich die freie Hand vors Gesicht, als könnte er den Anblick nicht ertragen. „Ausmustern!“, befahl er. „Nicht mehr k. v.!“ „Zu Befehl, Herr General!“ Elsa salutierte kichernd. „Gleich abschießen?“ „Natürlich!“ Valdis hielt plötzlich inne, als müsste er kurz eine Entscheidung treffen. Elsa kannte diesen Gesichtsausdruck schon und wagte kein Wort. Meist endete solche kurze Versunkenheit nämlich mit einem plötzlichen Schlachtruf zum Toben, das musste bei großen Brüdern so sein! Sie hatte sich nicht geirrt. „Rüstet zur Seeschlacht, Kameraden!“ Elsa rüttelte ein wenig an den Metallschließen ihrer Hausschuhe, das musste reichen als Kriegsvorbereitung. „Und jetzt, Valdis? Wo muss ich hin?“ „Aus der Schusslinie!“ Elsa hopste auf das Kanapee und spürte, wie ihr das Herz plötzlich an die Kehle pochte. Valdis hatte sich das kleine Torpedoboot geschnappt und justierte die winzige Rakete. Dann kniete er sich auf das Parkett, hielt das Spielzeug in Richtung Tannenbaum, kniff das linke Auge zu und zerschoss die Pickelkugel. Sie flog in tausend glitzernden Splittern auseinander, während die Rakete an der Wand abprallte und die Englein an ihren Zweigen zu turnen anfingen. „Volltreffer!“ Elsa war schockiert und fasziniert zugleich. Sie wäre niemals auf solch eine Idee gekommen. Sie schlitterte zum Scherbenhaufen und untersuchte den kleinen Einschlag an der Wand. Das nadelkopfgroße Loch in der Tapete ließ sich mit dem Finger verstreichen. Sie hatte nicht gewusst, wie präzise Valdis schießen konnte. „Du hast gesehen?“, fragte er überflüssigerweise. Sie nickte stumm. „Jetzt Scharfschützin Elsa.“ Er reichte ihr das Spielzeugboot und suchte unter dem Tannenbaum nach der ersten Rakete. „Da sind insgesamt vier“, flüsterte das Mädchen. Triumphierend hielt er den kleinen spitzen Zylinder zwischen den Fingern und hängte eine zweite angelaufene Kugel von hinten an einen leeren Zweig. Er führte Elsa die Hand, doch sie zuckte unwillkürlich zurück, als das Geschoss das Boot verließ. Es schlug knapp neben dem Baum unter dem Fensterbrett ein. „Oh Gott“, sagte sie tonlos. Beinahe wäre das Ding durch die Scheibe gekracht. Nur einen Moment stellte sie sich die scharfe Kälte vor, die dieses Zimmer zur Eishölle gemacht hätte und wie Großmutter die Ritzen an der Flügeltür verzweifelt mit Lumpen gestopft hätte. „Die Hand du musst ganz ruhig halten“, flüsterte Valdis unbeeindruckt. „Meine Hände sind nie ruhig“. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, steckte die Finger in die Achselhöhlen und sah Valdis beim zweiten Schuss zu. Scheppernd schlugen die Splitter auf den Fußboden. „Hast du schon mal einen Menschen getroffen?“

Valdis antwortete nicht. Diese Frage schien nicht zum Weihnachtsbaumspiel zu gehören. Er hängte eine weitere Kugel an den leeren Zweig, der nun auch Nadeln verloren hatte, und reichte Elsa das Boot mit der erneut eingespannten Rakete. Sie streckte es auf Augenhöhe von sich und visierte die einzelne Kugel an. So muss ich bleiben, ganz ruhig, dachte sie. Ihre Hände waren unbewegt wie bei einer Statue und sie meinte zu spüren, wie sie sie nur mit ihrem Willen totstellen konnte, so dass kein Zittern ihre Unterarme oder gar die Finger erreichte. Sie hätte solch ein Zittern in die Zehenspitze lenken können oder sonstwohin, wenn es denn plötzlich gekommen wäre. Valdis hatte schon einmal Mehlsack zu ihr gesagt, er sollte nicht auch noch ein Wort für einen Danebenzieler finden. Sie wusste, dass sie treffen würde. Die große Stelle mit dunkel ineinander zerlaufenen Punkten würde sie jetzt in aller Ruhe sprengen. Das Abdrücken war dann doch irgendwie von allein geschehen, sie hatte die Sekunde nicht geplant. Die Holzengel hüpften über der dritten zerschossenen Kugel, Elsa reichte ihre Waffe zurück an Valdis und holte Handfeger und Kehrschaufel.

Wenn Dieter kam, durfte er die alten Schuhe seines Vaters anbehalten, solange Elsa mit ihm in der Küche blieb. Er roch seine eigenen Füße nicht, aber Elsa konnte beim Einatmen das Bittersaure nicht wegfiltern. Vielleicht wurden Dieters Socken im Winter nicht gewaschen, weil er kein zweites Paar hatte. Großmutter holte das Bonbon-Glas aus dem Wohnzimmer. Mutters Laden hatte eine kleine Lieferung bekommen aus Borntuchen. Da gab es eine Frau, die Bonbons aus Rübensaft kochte. Früher, als fast noch Frieden gewesen war, hatte der kleine Dieter einmal alle Süßigkeiten weggenascht, die er bei Elsa gefunden hatte. „Die müssen wir wegschließen, wenn der Bursche mal wiederkommt“, hatte Großmutter damals zu ihrer Tochter gesagt. Jetzt aber hatte sie das Glas extra auf den Tisch gestellt. Dieter schloss beim Lutschen die Augen. „Rübe“, sagte er mit Kennermiene, „und Wiesenkräuter“.

Elsa schob sich auch einen Bonbon in den Mund, obwohl sie sich nichts aus Süßigkeiten machte. Wenn es nach ihr gegangen wäre, brauchte sie gar nichts essen. Sie hatte nie Hunger. Widerwillig kaute sie, was Großmutter für sie zusammenstellte. „Du hast nichts zuzusetzen, wenn es losgeht“, war es aus Großmutter herausgerutscht, als sie versonnen die Holzengel in die Kiste gelegt und über die fehlenden Kugeln kein Wort verloren hatte. Seit Tagen durfte Dieter abends dazukommen, wenn der Tisch gedeckt wurde. Großmutter mochte den kleinen Streuner aus der Nachbarschaft, der sich mit Elsa die schulfreie Zeit vertrieb. Valdis war von einem auf den anderen Tag abkommandiert worden. „Tschau!“ hatte er nur gesagt. Elsa wäre bestimmt ans Fenster gelaufen, wenn sie geahnt hätte, dass sein Abschied ernstgemeint war. Stattdessen hatte sie geschmollt und war noch den ganzen Abend überzeugt, er würde mit einer scherzhaften Erklärung wieder zurückkehren. Dieter war nur ein schwacher Trost. Er gehörte zu ihrer Kindheit wie Hanni und Gigi und konnte sie nicht mehr überraschen. Alle Spiele hatten sie schon gemeinsam gespielt und alle Ecken erkundet. Trotzdem freute sie sich, wenn er kam.

2  ELSA  Nur Kakao im Ranzen

Unterwegs, 1944

Elsa träumte von den Russen. Mit Nagelstiefeln trampelten sie durch die Wohnung, rissen Vorhänge zurück, ein Stuhl kippte um. Als sie das vertraute Quietschen einer Schranktür ganz nah auf dem Flur vernahm, fuhr sie hoch. Das war kein Traum. Zitternd beobachtete sie, dass sich die Türklinke wie in Zeitlupe senkte. Starr vor Schreck verharrte sie, konnte sich nicht unter der Decke verstecken, nicht nach der Mutter rufen. Im offenen Türrahmen stand jemand. Elsa schrie. Dann erst erkannte sie die Mutter. „Es geht los, mein Kind, zieh dich schnell an.“ In den letzten Tagen hatten sie oft überlegt, was Elsa alles übereinander ziehen sollte. Doch da war es noch verboten gewesen, sich mit Sack und Pack davonzustehlen. Stand doch der Endsieg auf dem Spiel. „Ist doch längst verloren“, hatte Dieter geflüstert. Na, der musste es ja wissen, der kleine Klugscheißer. Was hatte der schon zu verlieren? Großmutter hatte beim Kauen Elsas Gedanken gelesen und plötzlich auf eine Weise innegehalten, die Elsa verschämt den Blick senken ließ. War das vorgestern gewesen oder letzte Woche? „Du bist ja noch nicht weiter! In fünf Minuten geht es los. Sonst müsst ihr laufen!“, rief Mutter.

Laufen? Elsa sah die Trecks aus Gumbinnen und Insterburg vor sich, da liefen wirklich Gestalten neben den voll bepackten Wagen her. Nie hatte sie unter die Spannplanen sehen können. Ob da auch Kinder saßen? Wie sie selbst hier wegkämen, war nie besprochen worden. Sie hatte immer gedacht, sie könnten doch bleiben. Für immer. Mutter setzte sich zu ihr auf das Bett und nahm sie wie ein Kleinkind auf den Schoß. Mit flinken Griffen streifte sie ihr den dünnen, den dickeren und Vaters Wollpullover über das Nachthemd und rollte die gestrickten langen Strümpfe an Elsas knochigen Beinen hinauf. Darüber Schafwollsocken. Das Mädchen staunte, dass ihre Füße trotzdem noch in die Hausschuhe passten. Mutters alten Flanellrock knöpfte Elsa selbst zu. Er war lang genug, das Nachthemd zu verdecken. Mutter nahm Elsas Gesicht in beide Hände und küsste sie. „Ich bleibe hier. Einer muss ja den Laden weiterführen. Versprich mir auf Großmutter aufzupassen. Du bist ja schon vernünftig.“ Sie schickte sie in die Küche und drückte ihr zwei dicke Brotscheiben mit Sirup in die Hand. Großmutter kam schon von draußen die Treppe hinauf und hängte Elsa den Schulranzen um. „Ist alles unten. Die warten nicht. Komm, mein Kind.“ Mutter rannte mit hinaus und blieb an der Ladentür stehen. Elsa sah sie noch kurz, als sie sich umdrehte auf dem Militärlaster, auf den sie kräftige Hände gehoben hatten. Unter der Plane war es dunkel, es roch scharf nach einer Mischung aus Schweiß und Benzin. Elsa musste kurz an Valdis denken, vielleicht saß er hier auch. Jemand setzte sie auf eine Bank. Als der Laster anfuhr, schepperten irgendwo Kanister, und Elsa wurde nach hinten gedrückt, wo sie Großmutter spürte, die der Schwung auf genau den Platz schleuderte, den sie klaglos als ihr Reich anerkannte, während Elsa sich ängstlich fragte, wann sie Mutter wiedersehen würde, ob Dieter in der Stadt geblieben war und wo der Russe stand. „Mach nochmal die Augen zu, Kind, es ist Mitternacht“, flüsterte Großmutter und legte die Sofadecke aus dem Wohnzimmer über sie beide. Ob sie die Augen schloss oder offen hielt, war egal. Die diffuse Enge, das schaukelnde Miteinander  der vielen Fremden auf dem Laster war zu riechen und zu hören, aber kaum zu sehen. Stöhnende Atemzüge vernahm sie und das Rumsen beim Umlagern von Gepäckstücken, die sich in den Kurven nicht verschieben durften. Elsa wusste nicht, welche Koffer Großmutter mitgenommen hatte. Hinter ihren Waden lehnte der Schulranzen. Sie hatte ihn nicht gepackt. Großmutter hielt sie davon ab nachzuforschen, was darin war. „Lass zu!“, zischte sie, nahm dann aber Elsas Hand und streichelte sie. Selten hatten sie einander einfach so an den Händen gehalten. Elsa hielt still und horchte in sich hinein. Entweder würde es ein kurzer Spuk sein, eine kleine Abwesenheit von Zuhause, oder es brach ein ungewisses neues Leben an. Sie bekam eine Gänsehaut, weil sie sonst alles Pathetische hasste. „Was ist denn drin im Ranzen?“ Großmutter flüsterte ein kurzes Wort mit langen Silben, es klang wie ein gedehnter Hauch, und Elsa hatte verstanden. Kakao. Im Schulranzen! Oh Gott. Die Welt war aus den Fugen. Da konnte sie ihre Augen nicht einfach schließen. Sie hatte Mutter versprochen, auf Großmutter aufzupassen. Ein bisschen wenigstens. Was hieß denn das? Neue Medikamente besorgen, wenn die Herztabletten aufgebraucht waren? Ihr entfuhr ein hörbar trauriges Ausatmen. Alle guten Absichten würden vergeblich sein. Der Motor, an dessen monotones Rattern sie sich bald gewöhnt hatte, tuckerte nach kurzem Halt und scharfer Kurve in einem anderen Gang etwas leiser, als würden sie nun im Schritttempo fahren. „Pillau“, flüsterte Großmutter. Das Haff. Hier legten die großen Pötte an, wie Mutter immer sagte. Und der Kaffee, den schon Großvater immer erwartet hatte, wurde über diesen Hafen angeliefert. „Müssen wir aussteigen?“ „Nein, Kind. Das Haff ist zu. Das trägt.“ Das Haff ist zu. Das trägt. Und der Kessel? War der nicht auch zu? Also auch über dem Haff geschlossen? Die Plane war so fest zugezogen, dass Elsa nur auf die Geräusche achten konnte. Spürte sie schon, dass die Räder auf einem anderen Untergrund rollten? Nein. Der Laster tuckerte einfach durch den verharschten Schnee. Sie hörte Pferdewiehern. Die Tiere sträubten sich auf dem Eis. Gut, dass Elsa und Großmutter in einem Laster saßen. Elsa lehnte sich an Großmutter und spürte, dass die den Atem anhielt. Dann beugte sie sich zu Elsa hinunter und küsste sie. „Gute Nacht, mein Kind. Wir wollen schlafen.“ Ja. Morgen würden sie ankommen, also musste Elsa ausgeschlafen sein. Sie spürte, wie sie sich entspannte und dass es immer bequemer wurde neben Großmutter.

Stimmen drangen in den Wagen und das schwache Schnauben eines Pferdes. „Danzig“, sagte ein Soldat schräg gegenüber. „Schon?“, entfuhr es Großmutter. Elsa nahm jetzt erst wahr, dass es hell geworden war. Feine Risse im Gewebe der Plane ließen so viel Licht hindurch, dass das Mädchen eine ganze Reihe von Köpfen auf der anderen Seite ausmachen konnte. Sie ragten hervor aus einem Durcheinander von geschnürten Gepäckstücken, Federbetten und Koffern und nickten gleichzeitig bei jedem Schlagloch. Sie hatten die Trecks auf dem Festland erreicht und mussten sich dem Tempo der Pferdewagen anpassen. Elsa drückte sich ganz dicht an Großmutters Oberschenkel und spürte, wie sich dessen Muskulatur anspannte zu einem leichten Gegendruck. Die Sofadecke auf ihren Beinen war zu Hause manchmal Zeltdach gewesen. Sie hatte sie sogar ins Kinderzimmer mitnehmen dürfen, um mit Hanni und Gigi unter wollenem Himmel Kaffeekränzchen zu spielen. Das Lustige daran war, dass sie alle drei feine Damen gewesen waren, die sich aber nicht benehmen konnten. Sie flöteten sich mit gespitzten Mündern Klatsch und Tratsch zu und überboten sich reihum mit Unartigkeiten, bei denen aber alle ernst bleiben mussten. So zog Hanni schnoddernd den Rotz hoch, während Gigi von ihren neuen Seidenhandschuhen schwärmte, die ihr angeblich ein Offizier geschenkt hatte. Für die Oper, zirpte Gigi, was für Elsa Anlass für eine kleine Königin-der Nacht-Koloratur war, die sie mit einem unkontrollierten Bäuerchen ausklingen ließ. Weil die Schwestern sich dann nicht mehr halten konnten vor Lachen, hatte Elsa die Runde gewonnen. Jetzt suchte sie das Muster nach Spuren ihrer fröhlichen Mädchenrunden ab, doch die Decke verriet nichts von früher. Sie verschob sich etwas, blieb am Gewebe des Flanellrocks hängen und gab so Elsas rechte Fußspitze frei. Hellbraunes Karo auf gelbem Untergrund. Ihr rutschte das Herz in den Hosenbund und tiefer, in das rumorende Ungewisse, das sie solange in Schach halten musste bis das Fahrzeug irgendwann anhielt. Reflexartig zog sie den Fuß zurück, doch wie zwei wespenfarbene Filz-Insekten tanzten die Hausschuhe längst vor ihrem inneren Auge. Sie hatte vergessen die Schuhe zu wechseln! Eine heftige Sehnsucht riss sie zurück zu dem Moment, als Mutter sie in der Frühe angezogen hatte. Wäre sie gleich aufgestanden, hätte sie vielleicht noch daran gedacht, in die Lederstiefel zu steigen. So hatten sie es abgesprochen. Die Hausschuhe würden sich im Schneematsch vollsaugen, sobald sie auch nur ein paar Schritte gegangen war.Maaaa-maaaaa dachte sie zwei schmerzhaft lange Atemzüge, obwohl sie immer Mutter gesagt hatte, und hielt krampfhaft die Tränen zurück. Großmutter, deren Füße in Großvaters Schnürstiefeln steckten, sollte nichts von ihrem Kummer mitbekommen. Immerhin waren Elsas Hausschuhe gummibesohlt und hatten zwei Metallschließen für den festen Halt. Elsa bewegte ihre Zehen und sah, wie die Falten der Wohnzimmer-Decke ein wenig mitgingen. Sie musste sich einschwören auf ein neues Verhältnis zu ihren Füßen. Die würden im karierten Filz aushalten müssen bis zu ihrer Heimkehr. Oder bis sie in einer anderen Wohnung angekommen waren, irgendwo weiter westlich. Linksfuß, alte Socke, hast du gehört? Und Rechtsfuß, du mit dem langen zweiten Zeh, hältst du das durch? Elsa krallte die Zehen rund, dick eingepackt, und versuchte, nicht mehr an Schnürsenkel, gefettetes Leder und dicke Schuhsohlen zu denken.   Es gab kein zweites Kind auf diesem Lastkraftwagen, nur schweigende, graue Gesichter, die verschnürten Gepäckstücke, Weidenkörbe und Pappkoffer im Blick behaltend. Und ein paar Soldaten, die vor sich hindämmerten, weil sie daran gewöhnt waren, auf solch einer Wagen-Pritsche zu ruhen, wenn sie an die Front mussten oder von dort wieder abrückten. Elsa gegenüber kauerte ein Mütterchen mit Runzeln wie im Märchen, über die unentwegt Tränen liefen. Im Zickzack waren sie durch die Furchen gerollt und hatten kleine weiße Spuren hinterlassen. Eine jüngere Frau mit einem geschnürten Bündel zwischen den Knien hatte einen Arm um die Alte gelegt und war eingeschlafen. Es tropfte weiter aus den verhangenen nassen Augen, und Elsa fragte sich, ob irgendwann Ebbe sein würde in den Tränensäcken. Sie traute sich nicht, Großmutter deswegen anzusprechen. Seit Stunden schon wurde geschwiegen auf dem Transporter, nur geatmet und innerlich angehalten, damit man sich nicht nass machte. „Ich glaub, ich muss mal“, sagte Elsa leise zur Großmutter und spürte sofort alle Blicke auf sich gerichtet. Selbst die Frau neben dem Mütterchen wachte auf. Als hätte sich alles aus einer Starre gelöst, nahm Elsa das Motorenknattern, den Schweißgeruch, ihre trockene Zunge und die drückende Blase nun überdeutlich wahr. Großmutter drückte Elsa an sich und streichelte ihre Wange. „Kannst du noch aushalten, Kind?“ Der Soldat, der dem Führerhaus am nächsten saß, langte über den Berg von Gepäckstücken hinweg und klopfte vorn heftig an. Es klang dumpf und dennoch gezielt, wie ein Geräusch aus dem wirklichen Leben, das auf der Ladefläche heute noch nicht stattgefunden hatte. In der kleinen Sichtscheibe erschienen die Umrisse zweier Männergesichter, die sich im dämmrigen Durcheinander der Ladefläche zu orientieren versuchten. Elsa folgte dem Impuls, kurz nach vorn zu winken, bei jedem Gesicht der Wehrmacht dachte sie an Valdis. Einer der Männer hielt einen Finger zwischen zwei gespreizte der anderen Hand, und der Soldat in der Nähe nickte. Unter ihrer Decke fingerte Elsa diese Zeichensprache staunend nach. Auch Großmutter nickte. Wenig später bremste der LKW, der Motor klapperte langsam aus, und Elsa schien es, als würde in beiden Ohren eine Geräuschblase platzen. Sie hörte plötzlich Stimmen auf der Straße, Hundegebell und das Knirschen von Rädern im Schnee, und als die Plane hochgeschlagen wurde und die Wintersonne Licht auf die Gesichter gegenüber malte, sah sie auch die dick eingepackten Gestalten am Lastkraftwagen vorbeiziehen, zu Fuß. Sie stieg nach Großmutter vom Fahrzeug. Hinter ihnen holten mehrere Trecks langsam auf. Töpfe und Weidenkörbe schepperten angebunden an den Seiten der Planwagen. „Kind!“ entfuhr es Großmutter, als Elsa im festgetretenen Schnee ihre Beine ausschüttelte. „Hab ich auch schon gemerkt“, flüsterte Elsa, „wenn wir wieder zu Hause sind, stell ich die Schnürschuhe gleich an mein Bett.“ „Dann ist bestimmt Sandalen-Wetter.“ Elsa sprang in den Straßengraben und begegnete einem abgemagerten Hund, von dem Großmutter sie blitzschnell zurückriss. „Auf die andere Straßenseite, aber schnell!“ Elsa hatte sich innerlich schon gefreut, allen Druck herauszulassen, sprang auf und ließ den Rocksaum ärgerlich wieder fallen. Da sie noch nie Angst vor Hunden hatte und es nicht mochte kommandiert zu werden, stapfte sie mürrisch zum anderen Straßengraben. Was sich dort alles angesammelt hatte! Offene Koffer, Scherben, sogar durchnässte Bücher, mitten im Schnee, vom mehrfachen Durchwühlen mit Erde beschmutzt. Doch keines der abgeworfenen Gepäckstücke war groß genug, dass sich Elsa ganz hätte dahinter kauern können. Nicht weit ab hörte sie, wie die weinende Alte sich im Hocken quälte. Elsa war schnell fertig und fühlte sich leicht. Wenn sie nicht auf ihre Hausschuhe hätte aufpassen müssen, wäre sie gern ein Stück gerannt, einmal um den Militärlaster herum. Auf der anderen Seite war der Hund. Elsa schlich an der wartenden Großmutter vorbei und wurde doch sanft von ihr festgehalten. „Guck da nicht hin, Kind.“ Verbote reizten Elsa nur noch mehr. Nun zog es sie erst recht zum Hund im Straßengraben. Er riss an einem großen, blutigen Fleischbatzen, aus dem ein Knochen hervorstach. Als Elsa sich fragte, wie ausgerechnet ein Hund zu Frischfleisch kam, während die Flüchtlinge auf der Straße hungerten, erkannte sie Reste einer Uniformjacke im Schneematsch und übergab sich, Großmutters Hand auf der Stirn. „Hab ich doch gesagt, Kind.“ So hatte sie es nicht gesagt, fand Elsa. Aber sie schwieg und versuchte, einen langen Speichelfaden abzuschütteln. Im Augenwinkel nahm sie etwas Vertrautes aus Mutters Laden wahr. Großmutter hielt ein Päckchen Bohnenkaffee mit dem hauseigenen Kaufmannsetikett in der Hand. Elsa hatte oft beim Bekleben der leeren Tüten geholfen. Millimetergenau in der Mitte musste das Bildchen sitzen und der Leim durfte nicht über das kleine Viereck hinaus schmieren. Mit dem Andrück-Papier hatte Elsa das Etikett immer vor den verklebten Fingerspitzen geschützt. Einmal kurz fest pressen und dann die Tüte auf den Stapel. Wie lange sie noch kleben musste, hatte Elsa oft gefragt. Bis die Tüten aufgebraucht sind! Das hätte Elsa im Leben nicht geschafft, auch wenn sie zu Hause hätten bleiben können. Dass der Kaffee in Großmutters Hand hier nicht aufgebrüht werden sollte, sondern als Gegenleistung gedacht war, war Elsa klar. Doch ihren fragenden Blick bemerkte Großmutter nicht. Sie war schon auf der Suche nach dem Fahrer und stürzte auf ihn zu, als er plötzlich am Führerhaus auftauchte und den unteren Trittrost anspringen wollte. Großmutter schob sich ihm geschickt in den Weg und wird ihn angelächelt haben. Elsa sah sie nur von hinten, aber sie kannte die würdevolle Haltung der Kaufmannsfrau, wenn etwas ausgehandelt werden sollte. Der Fahrer kratzte sich den Haaransatz unter der Uniformmütze und drehte den Kopf zur Chaussee in Fahrtrichtung, über die die Trecks in langer Reihe wie Ameisen krochen. Großmutter deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger einen Schlenker an. „Weiter geht‘s!“, rief der Fahrer. Wenig später saßen Elsa und die Großmutter wieder auf ihren Plätzen und schaukelten vom verharschten Straßenrand in die Fahrspur. Die Alte gegenüber weinte nicht mehr, vielleicht hatte die kleine Pause ihr gutgetan. Elsa beschloss, von nun an immer Bescheid zu sagen, wenn sie musste.

„Wo fahren wir als Nächstes hin?“, fragte sie die Großmutter am Tag darauf. „Zu Anni und Gustav. Wenn sie noch da sind. Ich hab dem Fahrer ein bisschen was gegeben. Sie fahren doch sowieso fast vorbei, da kann er sie doch gleich mitnehmen.“ „Wie lange dauert das denn noch?“ „Ich weiß es nicht, Kind.“ Elsa versuchte an diesem Tag und in der nächsten Nacht, ihre Sinne mit inneren Geschichten zu täuschen. Sie schloss die Augen, und was sie hörte, baute sie in ein Feen-Märchen ein. Sie war müde genug, sich diese Geschichten auch im Traum weiterzuerzählen. Die durchsichtigen Feen konnten lautlos schweben und waren so beweglich, dass sie immer die Stärkeren waren, obwohl sie so zerbrechlich wirkten. Wenn Elsa Platz machen musste, weil der Fahrer einen Kanister zum Nachtanken brauchte, dann presste sie sich an die LKW-Plane, um eine Glücksfee vorbeizulassen. Plötzlich aber wurde Großmutter unruhig, und Elsa war sofort hellwach. „Hoffentlich ist die Anni mit dem Gustav noch da.“ „Sind wir denn schon in Pyritz?“ „Das muss gleich kommen, Kind“, sagte Großmutter. Elsa nickte. Sie würden noch mehr zusammenrücken müssen. Anni, Großmutters Schwester, war dünn wie Schrubber-Stiel, aber Gustav hatte schon immer gut im Futter gestanden, wie Mutter gern sagte. Ihm gehörte die alte Eisengießerei. Auf allen Gullydeckeln in Pommern stand sein Name! So einer ging nicht weg! Elsa spürte, wie sich die Unruhe der Großmutter auf sie übertrug. Was, wenn der Umweg nach Pyritz sie gerade wertvolle Zeit kostete und der Russe sie am Ende doch einholte? Der Fahrer schaltete rumpelnd einen Gang höher, das Getriebe fing sich wieder, der Laster preschte vorwärts. Auf dieser Strecke waren keine Trecks unterwegs. Als sie in Pyritz ankamen, spürten die Soldaten auf der Bank es zuerst. Der vordere, der gerade noch energisch an die Scheibe des Führerhauses geklopft hatte, zog den Kopf ein, schloss die Augen und versank in seinem Militärmantel. Wenn ich euch nicht sehe, dann findet ihr mich auch nicht. Elsa musste an das Versteckspiel denken, bei dem sich Kleinkinder die Augen zuhielten, weil sie dachten, dann nicht gesehen zu werden. „Bisschen dalli!“, schrie der Fahrer. Großmutter flog geradezu vom Laster in Annis und Gustavs Haustür, die zum Glück unverschlossen war. Dann hörte Elsa das Motorenbrummen auch. Wenn Großmutter nicht sofort mit Schwester und Schwager auf den LKW sprang, würden die Russen die Plane hochheben und … Elsa hatte keine Vorstellung, was dann geschehen würde. Sie hörte Schüsse. Plötzlich hatte sie doch eine Vorstellung und kämpfte gegen die Erinnerung an die angefressene Leiche im Straßengraben. Die Alte gegenüber schluchzte hemmungslos. Elsa konnte nicht einmal durchatmen, so heftig schlug ihr das Herz in den Hals. Als die Plane tatsächlich angehoben wurde, schrie sie vor Angst. Hände, die von irgendwoher kamen, vielleicht waren es die von der jüngeren Frau gegenüber oder von den Soldaten, hielten sie fest. Jemand nahm sie in den Arm, sie spürte fremdes Herzklopfen über dem eigenen und roch scharfen Angstschweiß. Der Mann an der Plane aber hatte die Stimme des Großonkels. Das nahm sie mit einer irren Erleichterung wahr, der sie so schnell keinen Ausdruck geben konnte. Die Tränen liefen ihr warm und ohne Halt über die Wangen. Sie riss noch ihren Ranzen mit sich, während sie von der Ladefläche direkt in den Pranken des Großonkels landete. „Elsa!“, rief er mit weicher Stimme. „Ihr müsst ganz schnell in den Keller!“ Fünf Schritte waren es bis zur Haustür, gleich rechts ging eine Treppe hinunter. Die Alte aus dem LKW war dort schon angekommen und stieg vor ihr die ausgetretenen Holzstufen hinab. Unten, neben dem Regal mit Eingewecktem hielt die Großtante eine Klappe im Fußboden auf. Schon oft war Elsa hier gewesen, aber sie hatte nicht gewusst, wie weit die Unterwelt des Hauses reichte! Sie stürzte auf Tante Anni zu, doch die nickte nur mit zusammengepressten Lippen und schob sie sanft zu dem schwarzen Viereck in den Dielen, aus dem die beiden Enden einer Leiter ragten, die die Alte gerade tapfer ansteuerte. Sollte die doch wieder vor ihr runter! Wahrscheinlich war die junge Frau ihr schon vorausgegangen. So war es nicht Elsa, auf die sich die Kellermonster zuerst stürzten. Unten hörte sie die Stimme der Großmutter. Zitternd folgte sie nun der Alten, die immer wieder rief: „Tritt mir nicht auf die Finger, Mädchen!“ Es roch nach Moos und faulenden Balken. Im schwachen Kerzenlicht sah Elsa, dass Großmutter unten Platz schuf und Decken über den Boden warf. Die jüngere Frau war auch da, zog die Enden glatt und half der Alten beim Hinsetzen. Stehen konnte hier niemand. Elsa hatte das entsetzliche Gefühl, in einem Grab gelandet zu sein. Mühsam kämpfte sie dagegen an, sie durfte nicht daran denken und es erst recht nicht aussprechen, sonst würde die Alte wieder zu heulen beginnen, und das machte es für alle noch schwerer. Tante Anni war die Letzte. Sie stellte die Leiter schräger, so dass Onkel Gustav von oben mit einem Ruck die Klappe schließen konnte. Er trat noch einmal nach. Das Grab war geschlossen. Der allerletzte Luftzug war Elsa wie eine Druckwelle durch Mark und Bein gegangen. Ein Teppich wurde über ihnen ausgelegt, das war zu hören. Nun hatte sie das Gefühl, nicht mehr atmen zu können und wollte zurück zu Gustav und den Soldaten, die im oberen Keller geblieben waren. „Kommen wir hier nicht mehr weg, Großmutter?“ Das Kerzenlicht verpasste den kauernden Frauen andere Konturen und schuf riesige Schatten. Elsa schmiegte sich seitlich an die Großmutter, die immer noch ein wenig wie zu Hause roch. „Wenn die Russen sich da oben ausgetobt haben, fahren wir weiter.“ „Und wenn uns die Luft nicht reicht?“ „Die reicht“, sagte sie kurz.

Die Alte ließ ein empörtes Räuspern hören. Vielleicht hatte sie etwas sagen wollen und es sich anders überlegt. Elsa spürte wieder Tränen, die sie nicht aufhalten konnte, über die Wangen rinnen. Sonst war sie nie eine Heulsuse gewesen, aber jetzt kam das Wasser immer von selbst. Sie bemühte sich, nicht laut zu schluchzen. Da beugte sich die junge Frau zu ihr und zog Elsas Hände an sich. „Darf ich mal?“ Elsa nickte irritiert und überließ sie ihr – kalt, rau und schmutzig. Vielleicht sollte sie etwas abgelenkt werden. Wenn die Frau die Kraft dazu hatte, sollte es Elsa recht sein. Noch nie hatte ihr jemand die Hände massiert, jeden Finger, jedes Knöchelchen und sogar die Kuppen. Erstaunt ließ Elsa locker. Die kleinen Wülste, an denen sich die Lebenslinien auf dem Handteller entlangzogen, schienen zu reagieren, und Elsa kroch dichter an die junge Frau heran. „Kannst du aus der Hand lesen?“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Wer kann das schon? Also so, dass es auch stimmt?“ Sie lachte. „Aber es gibt so viel Leben in den Händen und wenn du hier das Daumen-Dreieck ein bisschen knetest, dann tut das immer gut.“ Sogar Großmutter fingerte sich ihre Hände zurecht und suchte die Stelle. Anni jedoch griff nach der Kerze, deren Messinghalter Elsa aus der Küche kannte, und flüsterte: „Wir müssen das Licht löschen.“ Die junge Frau hielt Elsas Hände weiter umschlungen und ließ sie auch nicht los, als oben Schüsse zu hören waren, Poltern und wütendes Schreien des Großonkels und der Soldaten. Der Moment, vor dem sich alle schon in Königsberg gefürchtet hatten. Reflexartig zog Elsa ihre Hände zurück und presste sich an die Großmutter, versuchte ihren Kopf in deren Schoß zu legen, doch dafür war es zu eng. Sie waren zu fünft hier unten, sie berührten sich in der Dunkelheit, saßen zu dicht beieinander. Großmutters Arm kam von hinten und hielt sie fest. Zuerst zählte Elsa noch die Einschläge und das Krachen, das auch das Stück Erde, auf dem sie hockten, erreichte. Dann ließ sie den Gedanken zu, dass es sie nicht betraf. Ich muss atmen, einfach nur atmen, dachte Elsa, nicht nachdenken. Einatmen. Ausatmen.

„Weckt das Kind.“ Da bewegte sich auch schon die Luft, leichtes Wehen fuhr Elsa durch die Haare. Die Beine taten ihr weh. Großmutter hielt sie fest, während Tante Anni die Leiter richtete. Die junge Frau war rasch nach oben geklettert. Tante Anni schob die Alte von unten. „Ich kann Ihnen Sachen von mir geben“, flüsterte sie ihr zu. „Hab’s nicht mehr halten können. Und das bei solchem Durst!“ „Aber macht kein Licht!“, wies Onkel Gustav sie an. Er half Elsa heraus, reichte Großmutter die Hand und schloss hinter seiner Anni die Klappe. „Vier sind noch da. Da oben. Die schlafen ihren Schnaps-Rausch aus!“, flüsterte er verbittert. Anni unterdrückte einen Schrei, als sie durch die Kellertür auf den Flur trat. Onkel Gustav legte ihr seine großen Hände auf die Schultern. „Ja, der ist tot.“ Mit der bestickten Kaffeetischdecke war ein Körper abgedeckt, in Lappen gewickelte Füße schauten unten heraus, die Stiefel hatten die Russen gleich mitgenommen. „Ist das der Soldat, der ganz vorn gesessen hat?“, fragte Elsa entsetzt, weil sie sich nur an dieses eine Gesicht erinnern konnte. „Ich will’s gar nicht wissen“, sagte Großmutter und schickte Elsa in die Küche. „Ich zuerst!“, rief das Kind und nutzte gegenüber den fremden Frauen ihren Vorteil, zu wissen, wo die Toilette war. Wie ein Geschoss stürzte Galle aus ihrem Magen, dem sie lange nichts angeboten hatte. Dann erleichterte sie sich, während die beiden Frauen vor der Tür ungeduldig warteten. Großmutter war wohl auf das alte Plumpsklo hinter dem Stall gegangen. Tante Anni hielt sich am Türrahmen der guten Stube fest. „Das wäre uns erspart geblieben, Gustav!“

Die aufgeschlitzten schweren Sessel waren zu einer Barrikade aufgetürmt, davor lagen haufenweise Bücher, hingeworfen und zertrampelt, zerbrochenes Geschirr, aus dem Buffet gerissen, und die herausgekippten Glasfenster des Bücherschranks. „Wonach haben die denn gesucht?“ „Nach Waffen, Anni.“ Auf ihren fragenden Blick, den nur er deuten konnte, schüttelte er unmerklich den Kopf. „Wo sind die Anderen aus dem Laster?“ Onkel Gustav hob kurz die Schultern an. „Weg. Ist auch besser so.“ Flüsternd setzte er noch hinzu: „Ich hole jetzt einen Wagen aus der Fabrik.“ Also war er nun bereit zu gehen. Anni füllte eine kleine Milchkanne mit Wasser und stellte sie an der Kellertür ab. In der hohen Weißblechdose auf dem Küchenbord fand sie noch eine Ration Weihnachtskekse, nach Kriegsrezept gebacken. Schnell raffte sie in der Speisekammer die Kette mit getrockneten Apfelscheiben zusammen, stopfte sie zu den Keksen und eilte mit allem Proviant die Kellertreppe hinab. Wer wusste schon, wie lange sie da unten noch bleiben mussten. Auf dem Rückweg hob sie im Flur das Kinn sehr hoch, damit der Tote unter der Tischdecke nicht in ihren Blick geriet. „Die bringen dich um, Gustav!“ „Wo ist der Wehrmachtslaster?“, fragte Großmutter, die durch die Küche wieder ins Haus gekommen war. „Den haben die Russen gleich mitgenommen.“ Elsa dachte an den Ranzen, den sie noch gegriffen hatte, und wusste, dass Großmutter den Koffern nachtrauerte. „Dann haben wir jetzt nur noch Kakao?“ Elsa war ratlos. Großmutter klopfte auf die alten Winterstiefel ihres Mannes. „Und die Papiere. Und etwas Geld.“