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INTIM.HAUT.NAH. – ein Buch, das berührt, erschüttert und Hoffnung schenkt. Es gibt Krankheiten, die sofort sichtbar sind – und solche, die verborgen wirken. Akne Inversa, eine chronisch-entzündliche Hauterkrankung, gehört zu jenen, die sich nicht nur unter die Haut fressen, sondern bis ins Innerste. Betroffene kennen das: Schmerzen, Scham, Rückzug, Depression. Marcus Ehrhardt weiß, wovon er spricht. Mit Anfang 30 begann für ihn ein Weg, der alles veränderte: Abszesse, Operationen, Narben – und mit jeder neuen Wunde die Angst, irgendwann nicht mehr weiterzukönnen. Jahre der Verzweiflung, in denen selbst Aufstehen, Duschen oder Nähe zu einem Kampf wurden. Begleitet von einer Depression, die ihn täglich mit dem Gedanken an Suizid konfrontierte. Doch er fasste eine Entscheidung: Er wollte sein Leben zurück. Schritt für Schritt, mit Rückschlägen und Umwegen – aber auch mit dem Willen, Hilfe anzunehmen. Heute lebt er mit der Krankheit, aber sie bestimmt ihn nicht mehr. Dieses Buch ist mehr als ein Erfahrungsbericht. Es ist ein ehrliches Zeugnis eines Mannes, der nichts beschönigt: Marcus bleibt dabei nahbar, manchmal schmerzhaft ehrlich – aber immer authentisch. Genau das ist seine Botschaft: Sichtbarkeit. Zu oft schweigen Betroffene aus Angst und Scham. Auch seine Frau Birgit kommt zu Wort. Sie schildert, was es bedeutet, an der Seite eines Menschen zu leben, der an seine Grenzen stößt – mit Sorgen, Hilflosigkeit, aber auch mit der Kraft, die aus Liebe entsteht. Damit schenkt sie Angehörigen eine Stimme, die sonst kaum gehört wird. INTIM.HAUT.NAH. macht Mut – ohne Schönreden, ohne falsche Versprechen. Es ist kein Fachbuch, und doch voller Hinweise, die helfen können. Kein klassischer Ratgeber, und doch eine Stütze für viele. Wer dieses Buch liest, wird bewegt – vielleicht erschüttert, aber vor allem gestärkt. Die wichtigste Botschaft lautet: Niemand ist allein. INTIM.HAUT.NAH. ist Mutmacher, Tabubrecher und Zeugnis der Stärke. Ein Buch, das nachhallt.
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Seitenzahl: 176
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Dr. Manfred Wieser, Facharzt für Dermatologie, Salzburg
Keine Einleitung, sondern ein Anfang
Warum ich dieses Buch geschrieben habe – und für wen.
Mein Weg mit AI/HS/MV
Wer ich war. Was ich durchlebte. Wo ich heute stehe.
Die Phasen meiner Krankheit
Vom ersten Knoten bis zur Entscheidung, mein Leben zu verändern.
Diagnose und die ersten 13 Jahre
Die Sanierungen
Sexualität
Mein ehrlicher Blick auf Intimität.
Suizid
Wenn der Wunsch zu verschwinden lauter wird, als der zu bleiben.
Als ich erkannte: Mein Leben gehört mir.
Was mir geholfen hat…
Meine Bausteine für ein besseres Leben.
Operative Sanierung
Wundmanagement
Psychotherapie
Ernährung, TCM und Alternativmedizin
Bewegung und Sport
Physiotherapie und Osteopathie
Nicht-Rauchen
Dauerhafte Haarentfernung
Was mir nicht geholfen hat…
Wer bleibt, wenn es schwierig wird.
Wenn deine Krankheiten (un)sichtbar sind
Du schaust aber gut aus.
Stigmatisierung
Stärker als zuvor. Und trotzdem außen vor.
Was ich mir wünsche?
Warum es mehr braucht als Medikamente.
Mein Status Quo
Alles außer Ende!
Wie geht es mir heute?
Arbeit – mein nächstes großes Ziel
Ratgeber (FAQs)
Häufig gestellte Fragen rund um AI/HS/MV.
Medizinisches
Nüchtern betrachtet.
Autoimmunerkrankung – ja/nein
Körperliches
Mentales
Danke
Nur gemeinsam wirksam.
Wichtige Adressen und Quellenverzeichnis
Gesammelt und sortiert.
Impressum
Autor
Herr Ehrhardt und ich, beziehungsweise die Haarfollikel von Herrn Ehrhardt und ich, wir kennen uns. Seit vielen Jahren sehen wir uns regelmäßig. Manchmal ist es klar, was zu tun ist, manchmal diskussionsbedürftig. Ich bin im Wesen ein sehr ungeduldiger Mensch – wahrscheinlich musste ich mich deswegen der Dermatologie zuwenden, um zu erkennen, dass man mit Ungeduld nicht immer zu einem guten Ergebnis kommt. Ich habe dies in der Begleitung von Patientinnen und Patienten mit behandelbaren, aber nicht heilbaren Erkrankungen wie der Akne inversa – Hidradenitis suppurativa gelernt und bin immer noch am Lernen. Am Anfang steht oft der Wunsch von Betroffenen nach klaren Richtlinien zur Behandlung. Später, wenn klar wird, dass jeder Mensch seinen eigenen individuellen Krankheitsverlauf hat, seine eigenen Anzeichen für einen neuen „Flare up“ entwickelt, ist es wichtig, mehr zu diskutieren, abzuwägen, mehrere Lösungswege anzubieten, mit den Betroffenen auf Augenhöhe zu sein. Ich habe viel gesehen, viel gelernt mit und von Herrn Ehrhardt und anderen Menschen mit dieser chronischen Erkrankung. Wir haben miteinander getrauert, miteinander neuen Mut gefasst, nicht aufgegeben. Wir sind nicht der Illusion erlegen, immer die hundertprozentig richtigen Entscheidungen zu treffen. Manchmal waren wir zu früh dran, manchmal zu spät. Aber wir haben uns diese Gesprächsbasis erhalten, das Einander-Ernstnehmen, und ich habe mit Bewunderung und Freude gesehen, wie dieser Wille zu einem guten Leben wieder und wieder aufgeflammt ist und es ermöglicht hat, die Therapien mit allen Konsequenzen zu ertragen. Ich hoffe, dass dieses Buch dazu beiträgt, dass auch andere Betroffene den Mut bekommen, mit dieser Erkrankung zu leben und den Traum vom Glück nicht aufzugeben.
Dr. Manfred Wieser
Dieses Buch habe ich zuerst für mich selbst geschrieben. Es war meine Selbsttherapie, mein Arbeitszeugnis der letzten Jahre und der Abschluss jenes Lebensabschnitts, der mich körperlich und seelisch an meine absoluten Grenzen gebracht hatte. Doch je weiter ich schrieb, desto klarer wurde mir: Das hier ist nicht nur meine Geschichte. Sie gehört auch all jenen, die in einer scheinbar ausweglosen Situation feststecken. Menschen, die physisch und psychisch am Boden liegen, so wie ich lange Zeit. Für diejenigen, die in dunklen Momenten keinen Ausweg mehr sehen.
Ich habe dieses Buch nicht aus Selbstmitleid geschrieben, nicht aus einer Opferhaltung heraus. Im Gegenteil. Es entstand aus jener Stärke heraus, die ich in den schwersten Jahren meines Lebens aufgebaut habe. Irgendwann, an meinem absoluten Tiefpunkt, wurde mir klar: Ich trage Verantwortung. Verantwortung für mich selbst, für mein Leben und für meinen Umgang mit dieser Krankheit. Also begann ich mich meinen Herausforderungen zu stellen, auch wenn sie mir oft unüberwindbar erschienen. Ich begann mich mit Themen auseinanderzusetzen, die ich vorher als „nicht so wichtig“ abgetan hatte und ich begriff, dass meine Krankheit – so brutal sie auch ist – nicht mein ganzes Leben bestimmen darf.
Diese Krankheit hat einen Namen: Akne inversa, Hidradenitis suppurativa oder Morbus Verneuil 1. Drei Bezeichnungen für eine chronisch-entzündliche Hauterkrankung, die dutzende Millionen Menschen weltweit betrifft und doch wenig bekannt ist. Schätzungen zufolge sind rund 0,5% bis 1% der Bevölkerung betroffen. Doch die Dunkelziffer ist enorm. Laut der aktuellen S2k-Leitlinie zu Akne inversa (QR-Code siehe Quellenverzeichnis) liegt die offizielle Diagnosequote in Deutschland bei nur etwa 0,03%, während bevölkerungsbezogene Untersuchungen auf Werte von bis zu 3% kommen.
Häufig halten Angst und Scham die Menschen davon ab, mit ihren Symptomen zum Arzt zu gehen, denn die Erkrankung zeigt sich in sehr intimen Körperregionen. Hinzu kommt, dass selbst Ärztinnen und Ärzte die Krankheit oft nicht richtig erkennen. Viele Betroffene warten daher im Schnitt fast zehn Jahre auf eine richtige Diagnose.
Für dieses Buch werde ich die Kurzform AI/HS/MV verwenden. „Kurzform…“, dass ich nicht lache, die Auswirkungen dieser Krankheit sind alles andere als kurz und knapp, sie sind massiv! Sie greifen nicht nur den Körper an, sondern auch den Kopf, das Herz und die Seele.
In diesem Buch geht es um AI/HS/MV und um mich. Einen Menschen, der irgendwann geglaubt hat, dass alles keinen Sinn mehr macht, der aber trotzdem weitergemacht hat. Es gibt immer einen Weg heraus, auch aus den dunkelsten Momenten. Mir liegt es sehr am Herzen, AI/HS/MV mehr Sichtbarkeit zu geben. Nur wer über diese Erkrankung Bescheid weiß, kann nachvollziehen, welche Belastung sie für Betroffene bedeutet. Mehr Wissen führt zu mehr Verständnis – und genau dieses Verständnis kann für Betroffene unglaublich entlastend sein.
Dieses Buch ist also für dich. Für deine Partnerin oder Partner, für deine Familie, für deine Freunde. Für alle, die verstehen wollen, was es heißt, mit einer chronisch-entzündlichen Hautkrankheit zu leben.
Es ist mein Versuch, aufzuklären, zu ermutigen und zu zeigen, dass es weitergehen kann. Ja, sogar wieder wunderschön werden kann – so wie in meinem Fall.
Lass mich dich auf meine verrückte Achterbahnfahrt mitnehmen…
Ich stand mitten im Leben: Beruflich erfolgreich, sportlich aktiv, finanziell abgesichert, sozial gut eingebunden und in einer glücklichen Beziehung. Kurz gesagt: Die Welt stand mir offen!
Meine Leidenschaft galt all den Dingen, die das Leben lebenswert machen: Sport, gutes Essen, Kochen, ein schönes Glas Wein, Konzertbesuche und vor allem die Zeit mit meiner Frau Birgit. Ich mochte meinen Job als Bankangestellter. Er gab mir Struktur, Sicherheit und das Gefühl, gebraucht zu werden. Alles schien im Gleichgewicht – zumindest dachte ich das.
Doch dann kam der Punkt, an dem ich nicht einmal mehr meine Wohnung verlassen konnte. Mit 42 Jahren war ich körperlich und psychisch am Ende. Mein Körper hatte mehr Löcher als ein Schweizer Käse – handtellergroße Wunden an Stellen, die du dir lieber nicht vorstellen möchtest. Die Schmerzen waren oft unerträglich, aber fast noch schlimmer war das, was sich in meinem Kopf abspielte. Über dreieinhalb Jahre lang verfolgten mich täglich suizidale Gedanken. Mein Alltag bestand aus Schmerz, Wundversorgung, Verzweiflung – und Hoffnungslosigkeit.
AI/HS/MV schlich sich langsam an ... leise, aber gnadenlos. Die Krankheit fraß sich durch meinen Körper. Sie nahm mir Stück für Stück die Kontrolle über mein Leben – und schließlich auch über meinen Geist.
Klingt düster? War es auch. Aber ich habe bald gemerkt, dass ohne Humor und den eisernen Willen etwas zu verändern, alles noch schwieriger wird. Der Schlüssel zum Erfolg bin nur ich. Ich musste mich aufraffen, musste meinen eigenen Weg suchen und traf eine Entscheidung: „Ich gebe nicht auf!“ Also begann ich zu kämpfen – mit allem, was ich hatte. Es war kein geradliniger Weg, kein klarer Plan. Es gab Rückschläge, es gab Sackgassen. Es gab Momente, in denen ich dachte, ich schaffe es nicht. Aber es gab auch Erfolge, unerwartete Wendungen, neue Perspektiven und das großartige Gefühl, wieder am Leben teilzuhaben.
Am Ende meiner Geschichte steht nicht das Scheitern – sondern ein Neuanfang.
Heute bin ich lebendiger denn je!
Die ersten 13 Jahre meiner Reise mit AI/HS/MV und der einhergehenden schweren Depression fühlten sich an wie ein Albtraum. Langsam, aber unaufhaltsam zog er mich in seinen Bann. Was anfangs wie harmlose Hautunreinheiten aussah, entpuppte sich als heimtückische Krankheit, die mein Leben Stück für Stück in Beschlag nahm.
Als die ersten Symptome in meinen Achseln und in der Leistengegend auftraten, verkannte ich die Ernsthaftigkeit meiner Lage. Ich dachte, es handle sich lediglich um späte Akne-Erscheinungen an ungewöhnlichen Stellen. Doch als die Knoten schmerzhaft wurden und ich bei einem Hautarzt in Salzburg vorstellig wurde, bekam meine Situation einen Namen: Akne inversa, Hidradenitis suppurativa oder Morbus Verneuil. Der Arzt machte mich darauf aufmerksam, dass ich mit einer ernsthaften chronisch-entzündlichen Hautkrankheit konfrontiert war. Begrifflichkeiten, mit denen ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts anfangen konnte.
Trotz der Diagnose wollte ich die Tatsachen nicht wahrhaben. Anstatt die notwendigen tiefgreifenden Veränderungen zu akzeptieren, klammerte ich mich zunächst an oberflächliche Behandlungsmethoden: Ambulantes Öffnen und Spalten der Abszesse, jedoch ohne umfassende Sanierungen unter Vollnarkose. Ich hoffte, mich irgendwie durchschlagen zu können, um mich den unvermeidbaren Konsequenzen nicht stellen zu müssen.
Ich habe mich selbst jahrelang erfolgreich beschissen! Hätte mich jemand vor acht Jahren gefragt, wie es um meinen Lebenswandel steht, wie gesund ich mich ernähre und wie bewusst ich mit meinem Körper umgehe, hätte ich voller Überzeugung geantwortet: „Alles stabil. Alles im grünen Bereich. Sogar besser als bei den meisten.“ Ich präsentierte mich als der unverwüstliche Typ, der gegenüber Alkohol, Zucker, scharfem Essen, Zigaretten, mangelnder Bewegung, Stress und Schlafmangel immun war. Ein wahrer Superman, dessen Kryptonit erst noch entdeckt werden musste. Doch wie sich herausstellte, war mein Kryptonit in Wahrheit eine Mixtur aus Selbsttäuschung und Verdrängung. Ich hatte längst die Verbindung zu mir selbst verloren.
Wenn ich getrunken habe, dann nicht zu knapp – und das mehrmals die Woche. Zucker war mein bester Freund: 300g-Schokolade-Tafeln, Eis, Kekse und Kuchen wurden nicht genossen, sondern regelrecht verschlungen. Zigaretten? Ein halbes Päckchen am Tag – mein selbstauferlegtes Limit. Doch in Zeiten erhöhten Alkoholkonsums war diese „konsequente Haltung“ eher Wunschdenken. Bewegung? So gut wie gar nicht. Das sportliche Leben des Herrn Marcus E. aus S. war längst Geschichte. Und scharfes Essen? Mein Faible für scharfe Gerichte war so ausgeprägt, dass ich selbst beim Eisessen ins Schwitzen kam. Der Vater eines Freundes hatte ein Speiselokal mit pakistanischen Spezialitäten. Mein Leibgericht war Lamm mit Spinat – von Haus aus sehr scharf, aber für mich gabs noch extra Chilis im Gericht und den „Feuertopf“ obendrauf (eingelegte richtig scharfe Chilis in Öl). Zu meiner besten Zeit hätte ich mit jedem Thailänder oder Pakistani in Sachen Schärfe mithalten können. Kurz gesagt, ich habe bei jedem Essen, egal ob warm oder kalt, scharf oder mild, ein Handtuch benötigt. Ich habe im wahrsten Sinne des Wortes innerlich gebrannt. Im Nachhinein ist es unfassbar, wie ich meinen Körper immer wieder an seine Grenzen gebracht habe und dachte, das sei normal. Damals spürte ich nicht, dass all das meinen Körper aufheizte und Entzündungsprozesse begünstigte. Die Dosis macht das Gift!
Heute weiß ich: Meine nicht wahrgenommene Erschöpfung bzw. Depression sorgte dafür, dass ich mich selbst nicht mehr spürte.
Diese extremen Verhaltensweisen waren ein verzweifelter Versuch, meinen Körper überhaupt wahrzunehmen und den innerlichen Stress abzubauen. Ich fühlte mich durch diese Aktionen spitze, dachte, alles sei in Ordnung. Dabei merkte ich nicht, wie sehr meine Psyche litt. Jedes Mal, wenn mir jemand nahelegte, einen Gang runterzuschalten, hatte ich eine Ausrede parat: „Ja, aber lass mich doch wenigstens einmal was trinken, einmal naschen, einmal scharf essen.“ Ein Paradebeispiel für Selbstbetrug. Mein Belohnungssystem hatte mich fest im Griff und ließ mich nicht los.
Die Operationen in der Arztpraxis, bei denen die Abszesse geöffnet wurden, waren nur der Beginn eines Zyklus aus Schmerz und vorübergehender Erleichterung. Die Prozeduren ohne Betäubung, die ich oft selbst durchführte, waren Zeugnisse meiner verzweifelten Versuche, Kontrolle über meine Krankheit zu erlangen. Der Wecker klingelte, ein neuer Tag begann. Anstatt mich aus dem Bett zu quälen und mir einen Kaffee zu gönnen, stand etwas anderes auf dem Programm. Noch bevor ich ans Arbeiten denken konnte, wartete die erste „Aufgabe“ auf mich. Ein in der Nacht gebildeter tiefsitzender Abszess in der Leiste war prall gefüllt, pochend und schmerzhaft. Ich wusste, was zu tun war – und ich wusste, dass es alles andere als angenehm werden würde.
Anstatt einen Arzt aufzusuchen, griff ich routiniert zum Skalpell. Kein Zögern, keine Betäubung, einfach nur die blanke Klinge und ich. Ein sauberer Schnitt, ein brennender Schmerz, das warme klebrige Gefühl, das sich sofort ausbreitete. Ich biss die Zähne zusammen und dachte mir: „Herrlich!“ – Mit Ironie, natürlich. Aber wenn du dir unzählige Male auf diese Weise selbst helfen musstest, weil der Alltag es nicht anders zulässt, dann entwickelt sich eine gewisse Abstumpfung. Eine Abstumpfung, die meiner „Murmel“ (Kopf) nicht gutgetan hat. Kurz durchatmen, Abszess ausräumen, desinfizieren, provisorisch versorgen – und dann? Wenige Minuten später saß ich bei einer dampfenden Tasse Kaffee, als wäre nichts gewesen. Ein ganz normaler Morgen – zumindest in meiner Welt – und „husch, husch“ ab in die Firma. Die Show musste weitergehen. Immer. Egal, wie sehr mein Körper geschrien hat. Egal, wie sehr sich alles in mir danach gesehnt hat, einfach nur stehenzubleiben, durchzuatmen.
Pausen gab es nicht, AI/HS/MV interessierte sich nicht für meine Pläne, meine Termine oder meine Kraftreserven.
Also funktionierte ich Tag für Tag, innerlich brodelte es gewaltig. Jede Bewegung ein Kontrollblick: Blute ich? Sieht man etwas? Hat sich die Stelle weiter entzündet? Die Angst, dass Kollegen etwas mitbekommen, jemand einen Fleck sieht oder sich fragt, warum ich manchmal komisch sitze oder mich vorsichtig bewege, war mein ständiger Begleiter. An solchen Tagen rannte ich ständig auf die Toilette, um nachzusehen. Tupfer hatte ich immer griffbereit, als wäre es das Normalste der Welt. Trotz allem habe ich versucht, meinen Arbeitstag mit Freude zu absolvieren, nach außen hin souverän zu wirken. Doch der innere Druck, das ständige Versteckspiel und die Unsicherheit…, manchmal war es kaum auszuhalten.
Die kurze Zeit der Besserung, die eintrat, war eine Illusion und machte alles danach nur noch schlimmer. Ich redete mir ein, dass ich über den Berg sei, dass die schlimmste Phase vorbei wäre.
In Wahrheit täuschte ich mich erneut selbst. Die Krankheit hatte sich nicht verabschiedet. Sie hatte nur eine Pause eingelegt. Eine trügerische Ruhe, bevor sie später mit noch größerer Wucht wieder zuschlug.
Ich wollte glauben, dass ich es im Griff hatte, doch stattdessen steckte ich fest in einem endlosen Kreislauf aus Wunden, Operationen und Rückschlägen.
Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich mich dieser Krankheit stellen musste – nicht nur für mich, sondern auch für die Menschen, die ich liebe. Diese Erkenntnis gab mir die Kraft weiterzumachen. AI/HS/MV hat mir auf brutale Weise gezeigt, was es bedeutet zu kämpfen, zu leiden und auch was es bedeutet, die Hoffnung nicht zu verlieren. Verlustängste und die Furcht vor dem Unbekannten waren Teil meines Lebens, doch ich habe mir vorgenommen, dass sie mich nicht von meinem Weg abbringen dürfen.
Wahre Stärke liegt nicht darin, nie zu fallen. Sie liegt darin, immer wieder aufzustehen – egal, wie hart der Schlag auch sein mag.
Der Anfang meiner vierjährigen Tortur.
Die folgenden vier Jahre wurden zur Hölle – eine Tortur, die nicht nur meinen Körper, sondern auch meine Seele in Stücke riss. Alles begann im Sommer 2019 während eines Urlaubs in Griechenland, auf den sich meine Frau und ich so sehr gefreut hatten. Sonne, Meer, Entspannung – das war unser Plan. Doch schon am zweiten Tag machte sich meine Krankheit mit voller Wucht bemerkbar.
Unter meinem Hoden und in der Leiste bildeten sich plötzlich feuerrote, daumendicke Abszesse. Sie waren hart, geschwollen und pulsierend vor Schmerz. Verzweifelt versuchte ich, sie mit einem Skalpell zu öffnen, doch nichts half – sie blieben fest. Und das war erst der Anfang.
Von Tag zu Tag wurde es schlimmer. Neue Abszesse tauchten auf, erst unter der linken Achsel, dann unter der rechten. Mein Körper glich einem Schlachtfeld, und in meinem Kopf tobte der Kampf ebenso heftig. Ich tastete mich ständig ab – immer wieder, dutzende Male am Tag. Ich konnte nicht anders, denn die Angst, dass sich neue Entzündungen bilden könnten, ließ mich nicht los. Ich war wie in einem Tunnel gefangen – voll von Schmerz, Panik und dem Gedanken: „Was, wenn es noch schlimmer wird?“
Die Sorge vor einer Sepsis begleitete mich auf Schritt und Tritt. Eine Blutvergiftung – die unheilvolle Gefahr, bei der sich Bakterien aus den Abszessen über die Blutbahn im Körper ausbreiten. Ich wusste, wie ernst die Situation werden konnte – sogar lebensbedrohlich. Und das im Ausland, wo ich weder die Qualität der medizinischen Versorgung kannte noch wusste, ob die Ärzte mit AI/HS/MV vertraut waren. Geschweige denn, wo sich das nächste Krankenhaus befand. Es sollte doch ein Urlaub sein! Aber schon wieder hatte mich die Krankheit fest im Griff und ein Entrinnen war unmöglich. Genau das machte mir höllische Angst.
Tagsüber gingen wir an den Strand, doch es war nicht so unbeschwert wie sonst. Jede Bewegung fiel mir schwer, jeder Schritt war mühsam. Trotzdem wollte ich es irgendwie genießen. Abends saßen wir in den Tavernen, aßen gut, tranken ein Glas Wein und redeten über alles Mögliche. Doch egal, wie sehr ich mich ablenkte, die Schmerzen waren immer da. Sie blieben mein ständiger Begleiter – stumm, aber unaufhörlich. Kaum zurück in Salzburg suchte ich sofort meinen Dermatologen auf. Er versuchte, die Abszesse unter den Achseln, in der Leiste und im Intimbereich zu öffnen, um den Druck zu lindern. Doch bei manchen war dies fast unmöglich: Das Gewebe war hochgradig entzündet, hart und geschwollen. Nicht reife, tief im Fleisch sitzende Entzündungen lassen sich mit dem Skalpell nur schwer öffnen. Ich hoffte zwar auf Erleichterung, doch schnell wurde klar: Diese Maßnahmen würden nicht ausreichen.
Trotz täglicher Reinigung und dem Wechseln der Verbände war keine Besserung in Sicht. Jeder Tag war ein neuer Kampf gegen meinen eigenen Körper. Mein Hautarzt sah mich ernst an und empfahl mir dringend eine umfassende Sanierung im Krankenhaus. Sanierung beschreibt eine unter Vollnarkose durchgeführte, großflächige Entfernung der betroffenen Hautareale. Ein Wort, das mir die Gänsehaut über den Rücken jagte. Meine innere Stimme meldete sich sofort zu Wort: „Jetzt ist es so weit! Jetzt wird es ernst, Kollege!“ Der Eingriff war für sieben Wochen später geplant. Eine Ewigkeit!
Diese sieben Wochen bis zur großen Operation wurde ich nun im Krankenhaus ambulant weiterbehandelt. Die Zeit fühlte sich an wie ein einziger Höllenritt – ein quälendes Warten, gefüllt mit Schmerz, Angst und Hoffnungslosigkeit. Es begann mit dem ersten Einstich in meine linke Achsel. Ein kleiner Schnitt unter örtlicher Betäubung, um den Druck zu nehmen. Das war nur der Anfang. Ab diesem Moment wurde es jeden Tag schlimmer.
Ich musste es einfach ertragen. Immer wenn das Skalpell meine Haut aufriss, fühlte es sich an, als würde ein Stück meiner selbst weggeschnitten.
Die eigentliche Hölle begann erst beim täglichen Verbandswechsel. Der Baumwollstreifen, der tief in meiner Wunde lag, um den Eiterabfluss zu ermöglichen und die Wunde offen zu halten, musste alle 24 Stunden entfernt werden. Das Herausziehen empfand ich als brennenden Schmerz, der sich bis heute tief in mein Gedächtnis eingegraben hat. Dafür gibt es kaum Worte. Danach wurde die Wunde mit Desinfektionsmittel gespült. Ich kann dir sagen – das ist ein ganz besonderes Erlebnis. Entzückend! Als krönender Abschluss wurde ein neuer, steriler Baumwollstreifen mit einer Pinzette tief in das offene, blutige Fleisch gestopft. Das Brennen, das Ziehen, das Pochen – es war, als würde mein ganzer Körper schreien. Eine brutale Prozedur.
Mein Körper hatte offenbar keine Ruhepause verdient. Wenige Tage später bildete sich direkt unter dem ersten geöffneten Abszess ein neuer – noch tiefer, noch aggressiver. Wieder kam das Skalpell zum Einsatz. Ich spürte, wie mein Körper kämpfte – oder vielleicht sogar schon langsam aufgab. Meine linke Achsel war ein einziger blutgetränkter Kampfplatz. Es fühlte sich an, als würde mein Fleisch von innen heraus faulen. Und das Schlimmste daran? Ich wusste, das war nur der Anfang. Die große Operation lag noch Wochen vor mir und die Zeit kroch im Schneckentempo dahin. Tick – Tack. Tick – Tack.
Es blieb nicht bei der Achsel. Ähnliche Qualen erlitt ich in meiner linken und rechten Leiste sowie an meinem Hodensack. Man sollte nicht von besseren oder schlechteren Stellen reden, aber die Hodengegend ist definitiv nicht meine erste Wahl!
Schlimmer als die körperliche Qual war das Gefühl der Ohnmacht. Ich hatte keine Kontrolle mehr über meinen eigenen Körper. Mein Wille, mein Durchhaltevermögen – alles schien sich aufzulösen.
Ich funktionierte nur noch. Wartete und zählte die Tage…
Rückblickend kann ich sagen, dass diese sieben Wochen mich körperlich und seelisch an meine Grenzen gebracht haben – und weit darüber hinaus. Sie haben mich zermürbt, mich gebrochen. Doch war mir zum damaligen Zeitpunkt nicht bewusst, dass das, was danach kommen sollte, erst die eigentliche Prüfung werden würde.
OP 1
Da war sie – meine erste Operation, meine erste Vollnarkose seit über zehn Jahren. Es fühlte sich an, als stünde ich vor einer unüberwindbaren Mauer. Die geplanten Sanierungen umfassten beide Achseln, beide Leisten sowie den Bereich über dem Penis. Aus Sorge vor den großen Wundflächen und wie ich die Wundpflege zu Hause bewältigen würde können, habe ich meinen Chirurgen förmlich angefleht, die Wunden zu nähen. Ich hatte Angst – eigentlich vor allem. Angst ist bekanntlich ein absolut schlechter Ratgeber.