Von Hass getrieben - Marcus Ehrhardt - E-Book
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Marcus Ehrhardt

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Beschreibung

Er wollte helfen - und wurde zum Gejagten. Student Jonathan Hunter freut sich darauf, die Wochen vor seiner Examensprüfung bei seiner Tante im beschaulichen Burns Creek in den Rocky Mountains zu verbringen. Plötzlich taucht eine blutüberströmte junge Frau am Straßenrand auf. Sein Beschützerinstinkt ist geweckt. Jonathan nimmt sie im Wagen mit - der Ort ist nur wenige Meilen entfernt. Doch jemand ist ihnen längst auf den Fersen und jagt sie erbarmungslos durch die unwirtliche, wilde Natur. Am Ende ihrer Kräfte treffen sie auf Hilfe und wähnen sich bereits in Sicherheit. Aber es ist noch lange nicht vorbei ...

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Marcus Ehrhardt

 

 

 

 

Von Hass getrieben

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

© 2018 Marcus Ehrhardt

Klemensstraße 25

49377 Vechta

Email: [email protected] Korrektorat / Lektorat: Tanja Loibl

 

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

unter Verwendung von Motiven

von FinePic/shutterstock

 

 

Diese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig oder erfolgen mit ausdrücklicher Genehmigung.

 

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Danksagung

Über den Autor

Eine Bitte am Schluss

Vorwort

 

 

Liebe Leserinnen und Leser dieses Buches,

 

nachdem ich jetzt sechs Titel veröffentlicht habe, die vorrangig dem Genre Kriminalroman und Kriminalthriller zuzuordnen sind, habe ich mich bei diesem Titel mit Haut und Haaren dem Thrillergenre verschrieben.

Durch viele Stunden des Schreibens und noch mehr Stunden des Nachdenkens und Recherchierens sind, so hoffe ich, ein paar spannende, aufwühlende und mitreißende Lesestunden für euch entstanden.

Wem meine Fremde-Angst-Reihe bekannt ist, wird möglicherweise hin und wieder stutzen, da ich ein paar kleine, aber feine Crossoverelemente eingebaut habe. So begegnet man dem ein oder anderen Nebencharakter wieder und auch der Ort Burns Creek, in dem dieser Thriller seinen Ursprung nimmt, könnte einigen von euch bekannt vorkommen. Aber ich betone, dass diese Story rein gar nichts mit der Fremde-Angst-Reihe zu tun hat. Es ist eine in sich abgeschlossene Geschichte, die nicht in eine Reihe oder Serie münden wird.

Nun habe ich aber genug eurer Zeit in Anspruch genommen, daher wünsche ich jetzt einen rasanten Lesespaß, der euch durch die Wildnis der Rocky Mountains hindurchzerren und in den Dschungel der Stadt entführen wird.

Kapitel 1

 

 

Als würden sie nichts wiegen, warf Jonathan Hunter seine Reisetaschen in den Fond seines hellblauen Pick-ups. Er schlug die Tür zu, die mit einem Krachen ins Schloss fiel, bevor er sich zu seinen Freunden umdrehte.

»So, Leute, macht es gut. Wir sehen uns in zwei Monaten wieder«, sagte er zu den beiden, mit denen er auf der University of Washington in Seattle Ingenieurwissenschaften studierte.

»Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, fragte Bob, der ihn gerne wieder mit zu seinen Eltern nach Los Angeles genommen hätte.

»Danke, lass mal stecken. Ich brauche Erholung von den Partys. Und in L. A. würdest du mich eh wieder von einem Club in den nächsten schleppen – genau wie letztes Jahr.« Bob brach in ein lautes Gelächter aus.

»Alter, wo denkst du hin? Ich wollte dir dieses Mal unsere Kirchen und Museen näherbringen.« Jonathan musste in das Lachen einstimmen und wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Is klar«, sagte er, »aber ich brauche wirklich etwas Ruhe. Und nirgendwo ist es ruhiger als bei meiner Tante Louisa in Burns Creek.«

»Du und dein Burns Creek. Von wegen ruhig: Hast du die Story vergessen, von der du uns letztes Jahr erzählt hast?«, schaltete sich Peter, der dritte im Bunde, mit nasaler Stimme ein. Die Operation seiner Nasenscheidewand war leider nicht so gut verlaufen. Jonathan stutzte, dann fiel es ihm wieder ein.

»Ach, du meinst die Entführung des Jungen vor zwei Jahren?« Peters Nicken bestätigte seine Annahme. »Das war das Highlight dieses Kaffs für bestimmt die nächsten 100 Jahre. Seitdem ist wieder Frieden eingekehrt und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das dort nochmal ändert. Jedenfalls nicht in den nächsten Jahren, wie gesagt. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was das für ein verschlafenes Dorf ist. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man denken, man wäre ins Jahr 1950 zurückgeschleudert, abgesehen von den Handys und den heute üblichen Autos.« Jonathan blinzelte wegen der Sonne, die ihm ins Gesicht strahlte. »Aber genau deswegen fahr ich ja dort hin. Nirgends könnte ich mich besser auf das Examen vorbereiten als in dieser abgeschiedenen Idylle, fernab von allem, was wir unter Zivilisation verstehen.«

»Ich merke schon, du bist fest entschlossen. Und solange es Bier in diesem Nest gibt, müssen wir uns auch keine großen Sorgen um dich machen«, gab Bob grinsend zurück und schlug dem athletischen Jonathan, dessen kurzgeschnittene, dunkle Haare unter einer Cap der Seattle Super Sonics versteckt waren, kumpelhaft auf den Rücken. Die drei Freunde umarmten sich, dann stieg Jonathan in seinen Wagen, drückte zum Abschied mehrfach kurz auf die Hupe und fuhr lässig aus dem heruntergelassenen Seitenfenster winkend vom Parkplatz auf den Zubringer der Interstate 90.

Vor ihm lagen endlose sechs Stunden und 350 Meilen Fahrt in Richtung Osten. Sehr viel Zeit, um über Dinge nachzudenken, wichtige und unwichtige. Wenn alles glattging, könnte er am frühen Abend sein seit Kindheitstagen eigens für ihn reserviertes Zimmer über dem Saloon seiner Tante Louisa beziehen. Nur hin und wieder, wenn alle anderen Gästezimmer besetzt waren, bot sie es als Notunterkunft Fremden an. Ab morgen früh würde für ihn das große Lernen beginnen. Er betrachtete sich kurz im Rückspiegel, als die Stadtgrenze Seattles hinter ihm verschwand, und nickte sich lächelnd zu. »Ja, das wird alles klappen wie am Schnürchen. Idaho, ich komme.«

Kapitel 2

 

 

Wie ein Schraubstock umklammerten die kräftigen Hände des Mannes Kerrys schlanken Hals. Er saß auf ihr und durch sein Gewicht, das sich anfühlte wie ein tonnenschwerer LKW, presste er sie auf die harten Fußbodendielen. Ihre langen, blonden Haare hingen verklebt in wilden Strähnen herunter, an die sich der Staub geheftet hatte. Sie spürte panisch, wie sie langsam das Bewusstsein verlor. Nein, das dürfte sie nicht zulassen, so sollte es nicht enden.

»Du gottverdammtes Dreckstück«, keuchte Edgar. Schweiß stand auf seiner Stirn, seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt. Er drückte noch fester zu. Sie hatte das Gefühl, seine Finger hätten bereits ihre Weichteile durchdrungen und würden jeden Moment ihre Halswirbelsäule zerquetschen.

Mit letzter Kraft rammte sie ihm ihr Knie zwischen die Beine. Sein Gesicht zeigte eher Überraschung als Schmerz. Verflucht, durchschoss es sie, ich hab nicht richtig getroffen. Trotzdem lockerte er seinen Griff. Jetzt oder nie: Kerry nutzte den kurzen Moment der Unachtsamkeit ihres Gegners, um nach dem gusseisernen Kerzenständer zu greifen, der beim vorhergegangen Kampf zwischen ihnen umgefallen war. Sie gab hysterische Laute von sich, während sie ihrem Angreifer die Waffe mit aller Macht gegen die Schläfe schlug. Sofort löste er die Hände von ihrem Hals, hielt sie sich an den Kopf und schrie gequält auf. Kerry drückte ihr Becken nach oben, wodurch der Mann aus dem Gleichgewicht geriet und von ihr weg strauchelte. Blitzschnell rollte sie zur Seite und landete einer Katze gleich auf ihren Füßen und Händen. Den Bruchteil einer Sekunde später hatte sie sich aufgerichtet, ihre Schlagwaffe noch festhaltend.

Edgar schüttelte sich und musste sich offensichtlich orientieren. Auch Kerry sah sich hektisch im Wohnzimmer um.

Vom Sofa aus blickte sie mit weit aufgerissenen, toten Augen eine brünette Mittvierzigerin an, neben der ein ebenfalls lebloser junger Mann lehnte. Sein T-Shirt war von Blut durchtränkt wie die Bluse der Frau. Die beiden gaben ein groteskes Bild ab, als würden Mutter und Sohn der Adamsfamily ihr abendliches TV-Programm genießen. Kerry riss ihren Blick von ihnen und fixierte Edgar. Nein, schwor sie sich, mich kriegst du nicht, ich werde überleben!

Atemlos wie zwei Boxer in der zwölften Runde standen sich die beiden gegenüber, wenige Meter voneinander getrennt. Kerry hielt den Kerzenständer vor ihren Körper, bereit, einen letzten Schlag, den Lucky Punch, zu setzen. Ihr Gegenüber schien seine Optionen auszuloten und den Raum nach einer geeigneten Waffe abzusuchen. Sie blieben am Messer haften, das im Schoß des jungen Mannes lag. Er stürzte zum Sofa. Kerry sah, worauf er es abgesehen hatte, holte weit aus und schleuderte Edgar den Ständer entgegen. Er traf ihn hart am Oberkörper.

Der Aufprall klang wie eine gestreckte Gerade auf einem Sandsack und der daraus resultierende stechende Schmerz bremste ihn aus. Doch nur kurz hielt es ihn vom Weiterlaufen ab. Unter lautem Schnaufen erreichte er das Sofa.

Das Bersten von Glas ließ ihn zusammenzucken. Er packte das blutverschmierte Messer und wirbelte herum. Der Quelle des Geräusches folgend erblickte er die Scherben der zerbrochenen Scheibe der Verandatür. Edgar brüllte auf und lief dem Mädchen hinterher aus dem Haus, die Glassplitter knirschten unter seinen Sohlen.

Tief durchatmend verharrte er auf dem Rasen hinter dem Gebäude. Er war zu langsam gewesen. Am Waldesrand sah er gerade noch das helle Sommerkleid aufblitzen, welches von roten Flecken überzogen war, bevor der dichte Kiefernwald und die Dämmerung die junge Frau verschluckten.

Kapitel 3

 

 

Der 23-jährige Jonathan Hunter freute sich unheimlich darauf, seine Tante Louisa wiederzusehen, bei der er in seiner Kindheit regelmäßig seine Ferien verbracht hatte. Mehr als drei Jahre lag sein letzter Besuch in Burns Creek, dem ehemaligen Goldgräber-Kaff im Norden Idahos nahe der kanadischen Grenze, mittlerweile zurück.

»Viel zu lange«, hatte Louisa vor wenigen Wochen am Telefon zu ihm gesagt, als er ihr von seinem Vorhaben erzählte. Er konnte durch das Telefon ihre Freude förmlich greifen und ihm ging es nicht anders.

»Das stimmt, aber dafür bleib ich dieses Mal auch länger. Versprochen«, hatte er ihr versichert. Doch ebenso, wie sich Jonathan auf seine Tante freute, konnte er es kaum abwarten, mit dem Kanu den Kootenay River flussabwärts zu paddeln und durch die dichten Wälder und steinigen Ausläufer der Rocky Mountains zu streifen, den Bären ein paar Lachse vor der Nase wegzufischen und einige Bergkämme zu bezwingen. Auch wenn er die meiste Zeit zur Vorbereitung auf seine Abschlussprüfung nutzen würde, ohne Pausen war man nur halb so effizient. Endlich mal wieder Zeit in der malerischen Natur und dem kleinen Ort zu verbringen, der, wie er seinen Freunden bereits erzählt hatte, in den 50ern stehengeblieben zu sein schien, würde ihm sicher guttun und den Kopf frei machen. Natürlich dachte er auch an die Abende im verqualmten, rustikalen Louisas Inn, dem einzigen Saloon im Umkreis von 30 Meilen, in dem man einmal pro Woche die komplette Bevölkerung antraf.

Es war eine völlig andere Welt als das stinkende, versmogte und schnelle Großstadtleben in der Millionen-Metropole Denver, Colorado, wo er im Haus seiner Eltern aufgewachsen war.

Doch dort hielt man sich die Hälfte seines Lebens im Büro auf, die andere Hälfte stand man gefühlt im Stau. Seine Lunge würde es ihm ebenfalls danken, mal ein paar Wochen mit sauberer Atemluft durchgepustet zu werden, wobei der abends gut gefüllte Saloon nicht weniger als die Innenstadt Denvers stank, musste Jonathan zugeben.

Gut, einige Highlights bot natürlich auch seine Heimatstadt, die am östlichen Fuß der Rocky Mountains lag und ursprünglich eine Goldgräberstadt ähnlich wie Burns Creek war, wobei sich die Größe Denvers daraufhin vervielfachte – ganz im Gegensatz zu Burns Creek, dachte er ohne Spott. Das Colorado State Capitol war nur eines von vielen eindrucksvollen Gebäuden, aber die größte Errungenschaft seines Heimatstaates war Jonathans Meinung nach ganz klar die Legalisierung von Marihuana im Jahre 2014.

Er kam überraschend gut durch den Verkehr. Kaum andere Wagen befuhren zur Zeit die Interstate 90 in seiner Richtung. Wenn nichts Außerplanmäßiges passieren würde, käme er eine halbe Stunde früher als geplant an. Fröhlich pfiff er zu einem Popsong, dessen Titel und Interpreten er nicht kannte. Kein Wunder bei dem ganzen Casting-Müll, der seit Jahren die Musiklandschaft flutet, dachte er und warf einen Seitenblick auf seine Westerngitarre, die neben seinen Taschen auf dem Rücksitz lag. Er liebte es, am Lagerfeuer mit Freunden ein paar gute alte Songs von Johnny Cash oder Loretta Lynn auf seiner Klampfe zu zupfen.

Die Dämmerung brach schneller herein als erwartet, was nicht zuletzt an der Wolkendecke lag, die seit etwa hundert Meilen stetig dichter wurde. Auf das Sommerwetter würde er noch etwas warten müssen.

In der Ferne erkannte er, dass irgendetwas an der Straße nicht stimmte. Blinkende Lichter veranlassten ihn, vom Gas zu gehen, und steigerten seine Aufmerksamkeit.

»Verdammt!«, entfuhr es ihm, als er kurz darauf die Beschilderung sah. »Warum hör ich Idiot keine Verkehrsinfos!« Auf den Schildern las er, dass die Straße in etwa 15 Meilen wegen Baumfällarbeiten für die nächsten drei Tage gesperrt sein würde.

Die ausgewiesene Umgehungsstrecke würde einen Umweg von über 50 Meilen bedeuten, stellte er nach kurzem Nachdenken fest. »Nicht mit mir«, sagte er sich und beschloss, nicht der Umleitung zu folgen, sondern einen anderen Weg zu nehmen. Die Ruby Road war nicht so gut ausgebaut und wegen der geringen Frequentierung auch seit vielen Jahren nicht mehr instand gesetzt worden, aber diese Route würde ihn auf direktem Weg nach Burns Creek führen, ohne nennenswert mehr Meilen fahren zu müssen als ursprünglich geplant.

An der nächsten Ausfahrt zog Jonathan auf die Abbiegespur und nach wenigen Minuten befand er sich auf einer Straße, die später direkt in die Ruby Road mündete. Mittlerweile spendete nur der Mond etwas Licht, wenn er es hin und wieder schaffte, eine Lücke zwischen den Wolken zu erhaschen.

Die vergangene halbe Stunde war Jonathan damit beschäftigt, im Kopf einen genauen Plan für die nächsten Wochen zu erstellen. Zwar hatte er ein mehr als ordentliches Lernpensum für seine anstehende Examensarbeit zu bewältigen, dennoch wollte er möglichst viel und oft die wilde Natur genießen – wer wusste schon, wann er das nächste Mal dazu Gelegenheit finden würde, wenn er erstmal in den Mühlen der Arbeitswelt gefangen sein würde. Er beugte sich etwas nach rechts, so kam er gerade mit den Fingern an das Handschuhfach. Er hatte genug von der lausigen Radiomusik und wollte endlich etwas Vernünftiges hören. Beim Herausfischen der CD nahm er den Blick für einen Sekundenbruchteil von der Straße. Als er wieder auf den Asphalt sah, blieb ihm beinahe das Herz stehen und er stieg mit seinem ganzen Gewicht auf das Bremspedal. Der Wagen schlingerte gefährlich. Kurz befürchtete Jonathan, er würde von der engen Straße abkommen und seitlich in den Wald abrutschen. Dann kam das Fahrzeug schräg auf der Fahrbahn zum Stehen. Sein Puls raste und erst jetzt bemerkte er, wie fest sich seine Hände ins Lenkrad krallten: Seine Knöchel schienen im spärlichen Mondlicht wie Glühwürmchen zu leuchten.

 

***

 

Kerry wagte es nicht, nach hinten zu sehen. Sie rannte, so schnell sie konnte. Weder spürte sie die tiefhängenden Äste, die nach ihr und ihrem Kleid griffen, noch die Dornen der Büsche, die feine Schnitte in die Haut ihrer nackten Schienbeine ritzten. Auch den aufkommenden Wind, der eine weitere unwirtliche Nacht ankündigte und unter ihre Kleidung kroch, nahm sie kaum wahr. Das Adrenalin ließ sie laufen und laufen. Denn würde sie stehenbleiben, dessen war sie sicher, wäre das ihr Todesurteil. So hetzte sie immer weiter immer tiefer in den Wald.

Der vom Regen der letzten Tage aufgeweichte Sandboden war seifig und klatschte unter den Sohlen ihrer Sneakers – zum Glück hatte Kerry sie den Pumps heute vorgezogen, dachte sie zwischendurch – immer, wenn einer der Schuhe auftraf und ein besonders lautes Geräusch dabei erzeugte. Mehrmals war sie ausgerutscht, konnte sich jedoch gerade noch fangen, bevor sie stürzte.

Kerry hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, als sie sich nach Luft schnappend die erste Pause erlaubte. Sie versuchte, durch gezielte Atemübungen ihren Puls zu senken und damit ihre Atemgeräusche herunterzufahren. Den Oberkörper nach vorne gebeugt stützte sie sich mit den Händen auf ihren Oberschenkeln ab. Im Moment rauschte das Blut scheinbar noch im Tempo eines Düsenjets zwischen ihren Ohren.

Nach einigen Minuten hatte sie sich beruhigt, soweit das in einer solchen Situation überhaupt möglich war. Zwar hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren, aber sie war sicher, dass sie mindestens zwei bis drei Meilen gerannt sein müsste. Sie lauschte konzentriert, konnte aber außer dem Wind, der die Kronen der mächtigen Kiefern zur Seite drückte, und ihren eigenen Atemgeräuschen nichts hören. Entweder hatte ihr Verfolger aufgegeben, was sie sich nicht vorstellen konnte, wenn sie an den lodernden Hass dachte, der in seinen Augen gebrannt hatte, oder er verhielt sich äußerst leise. Egal, sie müsste weiter, so oder so.

Mittlerweile meldeten sich ihre Verletzungen, die sie beim Kampf im Haus und bei der anschließenden Flucht davongetragen hatte. Kerry tastete sich komplett ab. Außer einigen Prellungen, oberflächlichen Schnitten und Schürfwunden schien alles in Ordnung zu sein. Du bist halt ein zähes Luder, sagte sie sich. Sie band die Schnürsenkel, die sich auf der wilden Flucht gelöst hatten, und zog ihr unangenehm verdrehtes Kleid zurecht, bevor sie sich wieder auf den leicht abschüssigen Weg machte. Der nächste Ort müsste ungefähr zehn Meilen entfernt liegen und wenn sie ihr Gefühl nicht massiv täuschte, sollte die Richtung in etwa passen. Zumindest hoffte sie es.

Sie hielt laufend den eingeschlagenen Kurs bei, auch wenn sie deutlich langsamer vorankam als zu Beginn ihrer Flucht. Einerseits schwand ihre Kraft, andererseits wurde der Waldboden zunehmend steiniger. Sollte ich mich so geirrt haben?, dachte sie. Ihrer Erinnerung nach müsste sich das Waldgebiet bis nach Burns Creek erstrecken und sie dürfte nur den weichen, moosig-sandigen Untergrund unter ihren Füßen spüren. Das Gegenteil war der Fall: Es wurde zunehmend steiniger und härter. Das ließ darauf schließen, dass sie sich eher auf ein Massiv zubewegte als auf die Ortschaft. Kerry überlegte nicht lange und änderte die Laufrichtung, sodass sie im rechten Winkel ihrer bisherigen Route weiterlief. Langsam spürte sie die Kälte, die sich unter ihrem Kleid ausbreitete, denn obwohl es Mitte Juli war, wurden die Nächte in dieser Gegend bitterkalt, selbst Nachtfrost war keine Seltenheit. Trotzdem machte sie sich darüber keine Gedanken. Sie war dem stählernen Griff des Mannes entkommen, der sie erwürgen wollte – da wäre es doch eine erbärmliche Ironie des Schicksals, sollte sie auf der Flucht erfrieren. So kämpfte sie sich weiter durch das unbekannte Gelände.

Überrascht blieb sie stehen, als sie auf einmal befestigten Schotter unter ihren Füßen spürte. Erleichtert schloss sie die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Eine starke Windböe brandete auf und ließ ihre zerzausten Haare fast senkrecht vom Kopf abstehen. Direkt nach dem Abebben des Windstoßes hörte sie ein Motorengeräusch. Sie riss die Augen auf, sah den Lichtkegel direkt auf sich zukommen und konnte im letzten Moment von der Straße springen, bevor der Wagen sie erfasste. Kerry sah die aufblendenden Bremslichter und hörte, wie das Fahrzeug über den Schotter rutschte, bis es schräg auf der Fahrbahn zum Stehen kam. Ihr stockte abermals der Atem. Wenn ER es wäre, hätte er leichtes Spiel mit ihr, da die Flucht sie viel Kraft gekostet hatte. Kerry glaubte nicht, dass sie ihm, der sich körperlich erholen hatte können, auch nur den Hauch eines Widerstandes entgegnen könnte.

Sie verharrte am Waldrand, in den sie sich wieder zurückgezogen hatte, und beobachtete den Pick-up. Sie biss sich auf die Lippen, als sie im Mondlicht den Mann sah, der aus dem Wagen stieg.

 

***

 

Jonathan fixierte den Rückspiegel. Außer einem Stück der Straße und den Schemen des Waldrandes konnte er im roten Licht der Bremsleuchten nichts erkennen.

»Was zum Teufel war das?«, sagte er fassungslos. Er griff nach dem Baseballschläger, der hinter dem Fahrersitz verstaut war, und stieg zögernd aus. Langsam ging er zum Heck des Wagens und schaute mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. »Hallo, ist da jemand?«, sagte er leise. Keine Reaktion. Sein Griff um den Schläger wurde fester. Er wiederholte die Frage lauter. Nichts. Jonathan machte ein paar Schritte vorwärts. »Hallo?«, rief er abermals und erschrak. Wie aus dem sprichwörtlichen Nichts tauchten die Umrisse einer Frau auf. Sie kam ihm entgegen. Ihr Gang wirkte unsicher, kraftlos.

 

***

 

Die Anspannung fiel von ihr wie das Regenwasser aus dem Fell eines sich schüttelnden Hundes. Kerry wusste nicht, was sie dem Mann, der nach ihr rief, antworten sollte. Sie atmete tief durch und ging langsam auf ihren Retter zu. Beim Blick in das Gesicht des Mannes, der in ihrem Alter sein müsste, fragte sie sich, wer sich im Moment mehr fürchtete.

»Er will mich töten«, sagte sie leise. Ein kalter Schauer lief Jonathan über den Rücken.

»Was? Wer will dich töten?«, fragte er. Dann erst sah er die Blutflecken auf ihrem Kleid. Im nächsten Moment brach sie zusammen und er konnte mit einem beherzten Zugreifen gerade noch verhindern, dass sie mit dem Kopf auf die Straße prallte. Jonathan nahm sie auf den Arm und trug sie zum Auto, wo er sie auf den Beifahrersitz gleiten ließ. Langsam kam sie zu sich.

»Er ist durchgedreht«, sagte sie fast tonlos. Jonathan dachte nicht, dass ein noch kälterer Schauer ihn überkommen konnte, doch er hatte sich geirrt. »Hat sie alle umgebracht. Ich konnte ihm gerade so entkommen.« Wie vermutlich jeder Mann gefiel auch Jonathan sich in der Rolle des edlen Retters, der ein attraktives Mädchen aus den Fängen eines Bösewichts befreien konnte. Aber diese Story war eindeutig zu heftig, um Superman-Allüren zu entwickeln. Trotzdem bemühte er sich, ruhig und vernünftig zu bleiben. Etwas ungelenk griff er in den Fußraum zu seinem Rucksack, wobei er leicht ihre Wade streifte. Er zog eine Wasserflasche und ein Sandwich hervor und reichte es ihr.

»Hier, du scheinst etwas zu essen zu brauchen.« Sie nickte mit einem zaghaften Lächeln und nahm ihm die Sachen aus der Hand. Jonathan schaute nochmal in den Rückspiegel und startete den Wagen. »Bis Burns Creek sollten es nur noch ein paar Meilen sein. Das müssten wir in 20 bis 30 Minuten schaffen. Von dort können wir die Polizei rufen.« Sie nickte abermals, biss gierig in das Brot und nuschelte mit vollem Mund:

»Kerry.«

»Was? Ach so. Hi, ich bin Jonathan«, sagte er stockend. Normalerweise verhielt er sich wesentlich routinierter in Gegenwart von hübschen Frauen. Aber im Moment fühlte er sich wie in einem schlechten Film. Was zum Teufel war hier vorgefallen? Er dachte darüber nach, welches Glück diese Frau hatte, dass er seine Reiseroute aufgrund der Baumfällarbeiten hatte ändern müssen. Aber vor wem lief sie weg? Ein Mörder, hier in dieser Einöde?

Während seiner Überlegungen vergingen einige Minuten, in denen Kerry das Sandwich herunterschlang. Er durchbrach das Schweigen: »Willst du erzählen, was passiert ist?«, fragte er vorsichtig. Sie schüttelte leicht den Kopf.

»Nein. Im Moment nicht«, erwiderte sie leise, »vielleicht später.« Aus dem Augenwinkel taxierte er sie. Sie schien Schlimmes durchgemacht zu haben, daran ließ ihr Äußeres keinen Zweifel. Trotz der vielen Fragen, auf die er unbedingt eine Antwort bekommen musste, beschloss er, sie erstmal in Ruhe zu lassen und nicht weiter neugierig zu sein. Sie fuhren einige Meilen schweigend weiter.

 

***

 

Gerade erreichten sie eine langgezogene Kurve, als Jonathan im Rückspiegel Scheinwerfer aufblitzen sah. Im ersten Moment dachte er sich nichts dabei, außer, dass tatsächlich noch ein Verrückter neben ihm in dieser Pampa unterwegs war. Das änderte sich schlagartig:

»Was hat der denn vor?«, fragte er angespannt, als sie aus der Kurve herausfuhren und die Lichter schon direkt hinter ihnen waren. Kerry drehte den Kopf über ihre Schulter und warf einen Blick nach hinten.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Im nächsten Moment zog der Wagen hinter ihnen nach links und setzte zum Überholen an.

»Ist der nicht ganz dicht?« Der Wagen, ein dunkler SUV, fuhr jetzt direkt neben ihnen. Jonathan sah hinüber und erkannte dank des Mondlichts das Gesicht eines Mannes, welches zu einer Fratze verzerrt war. Er schien ebenfalls in ihren Wagen zu sehen. Kerry drehte sich zu Jonathan und beugte sich leicht nach vorn, um selbst zu gucken.

»Das ist er!«, schrie sie. Auch der Mann im anderen Wagen schien sie erkannt zu haben, denn er zog nach rechts und rammte den Pick-up ohne Vorwarnung. Der Aufprall rüttelte die beiden durch.

»Was zur Hölle ...«, entfuhr es Jonathan, der es schaffte, mit allen Reifen auf der Straße zu bleiben und sich, indem er Vollgas gab, wieder vor den SUV zu setzen. Die Hoffnung, dem Killer entkommen zu können, hielt nur wenige Sekunden an. Mit einem Scheppern krachte er den beiden ins Heck, wodurch ihre Köpfe brutal in die Stützen gepresst wurden. Bevor sie darauf reagieren konnten, hörten sie einen Knall, fast zeitgleich zerbarst ihre Heckscheibe. Unwillkürlich zuckten sie zusammen, hunderte Glassplitter verteilten sich im Innenraum des Wagens. Jonathan konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er schaute mit aufgerissenen Augen in den Rückspiegel und erkannte, dass ihr Verfolger erneut zum Überholen ansetzte. Mit aller Kraft stieg Jonathan in die Bremsen und schaffte es, unter Einsatz der Handbremse ein sensationelles Wendemanöver hinzulegen, wofür er sich in einer anderen Situation gefeiert hätte. Jetzt war er heilfroh, eine Chance zu bekommen, dem Irren zu entwischen. Kerry hielt sich mit einer Hand am Griff über der Tür fest, mit der anderen stützte sie sich auf dem Armaturenbrett ab. Jonathan beschleunigte und ein Blick in den Rückspiegel gab ihm die Gewissheit, dass ihr Verfolger ebenfalls gewendet hatte. Ihm war bewusst, dass der SUV einen großen Geschwindigkeitsvorteil besaß, da sein Pick-up im Verhältnis zum Gewicht doch eher wenige Pferde unter der Haube hatte.

»Wir haben nur eine Chance«, sagte er zu Kerry, die weiter gebannt aus der Windschutzscheibe starrte. Sie reagierte nicht. Toll, du bist mir ja eine große Hilfe, dachte er. Egal, sie konnte eh nichts tun. Erleichtert stellte er mit einem Blick in den Rückspiegel fest, dass ihr Verfolger sich nicht so schnell näherte, wie er befürchtet hatte.

Eine Meile weiter, direkt nach einer scharfen Kurve, bremste Jonathan stark ab, schaltete die Scheinwerfer aus und bog in einen unbefestigten Waldweg ein. Er fuhr soweit hinein, bis er sicher war, dass sie von der Ruby Road aus nicht mehr zu erkennen sein würden.

»Was tust du?«, fragte Kerry ängstlich. Jonathan drehte sich um und beobachtete den Weg.

»Wenn er vorbeifährt, können wir es nach Burns Creek schaffen.« Auch Kerry drehte sich um, sodass sie fast Wange an Wange durch das Loch in der Heckscheibe schauten. Nach wenigen Sekunden überkam sie ein befreiendes Gefühl. Der SUV fuhr tatsächlich vorbei. Jonathan wartete einige Atemzüge, dann startete er den Motor – beziehungsweise, er versuchte es.

»Was ist los?«

»Keine Ahnung«, schrie Jonathan, »spring an, du Dreckskarre!« Erneut drehte er den Zündschlüssel. Nichts. Außer dem kläglichen Wimmern des Motors wegen des vergeblichen Startversuches war nichts zu hören. Kerry blickte ihn sorgenvoll an, was ihn noch nervöser machte. Er schlug frustriert auf das Armaturenbrett. Im ersten Moment nahm er kaum wahr, dass sich ihre Hand auf seinem Unterarm befand. Erst als Kerry sich damit festkrallte, registrierte er es. Gerade wollte er fragen, was das sollte, als er ihrem ängstlichen Blick folgte. Jetzt schaute auch er zwischen den Kopfstützen hindurch und zuckte augenblicklich zusammen.

»Er hat uns entdeckt«, flüsterte sie. Ihm kroch das Entsetzen langsam den Rücken hoch, als er sah, dass sich Scheinwerfer ihrem Wagen näherten. Der Killer musste seinen Plan durchschaut haben und würde in wenigen Sekunden bei ihnen sein. Er würde sein Werk vollenden, wenn sie es nicht noch irgendwie verhinderten.

»Wir müssen weg!«, rief er plötzlich und griff nach dem Rucksack, der zu ihren Füßen lag.

»Wohin?« Sie machte keine Anstalten, sich zu bewegen.

»Ist das jetzt nicht völlig egal?«, reagierte er panisch. »Erstmal weg!« Mit diesen Worten öffnete er die Tür und schwang sich aus dem Fahrzeug. Kerrys Regungslosigkeit dauerte nur einen Moment, dann sprang auch sie aus dem Wagen und rannte Jonathan hinterher, der sich bereits einige Meter in den Wald geschlagen hatte.

 

***

 

Als Edgar nach etwa einer halben Meile kein Fahrzeug mehr vor sich sehen konnte, obwohl eine langgezogene gerade Strecke vor ihm lag, war ihm klar: Die beiden hatten die Straße verlassen. Er wendete und es dauerte nicht lange, bis er den Waldweg entdeckte, in den sie ausgewichen sein mussten. Eine andere Möglichkeit kam für ihn nicht in Frage.

Beim Überholvorgang vorhin hatte er das Gesicht des Flittchens genau erkennen können und sofort gewusst, dass er es zu Ende bringen könnte. Die Verstärkung, die sie sich gesucht hatte, würde ihr nicht helfen. Dies war sein Terrain, seine Heimat, hier kannte er jeden Kiesel und jede Kiefer, sie würde ihm nicht entkommen. Er fuhr im Schritttempo den dunklen Weg hinein, rollte Meter für Meter weiter in das sich meilenweit ausdehnende Waldstück, bis er den Pick-up entdeckte. Edgar beschleunigte und hielt kurz darauf hinter dem verlassenen Wagen. Die Fahrertür war angelehnt, die Beifahrertür stand weit offen. Schnell suchte er mit seinen Augen die nähere Umgebung ab, konnte jedoch nichts entdecken. Erst als er das Fernlicht hinzuschaltete, konnte er am Ende des Lichtkegels eine Bewegung ausmachen. Da liefen sie! Sie flüchteten. Langsam schob sich der SUV an dem abgestellten Wagen vorbei und folgte dem Waldweg. Er war sicher, dass die Flüchtenden ihre Richtung nicht großartig ändern würden, daher dürfte es ein Kinderspiel werden. Der Weg beschrieb eine fast durchgängige Rechtskurve und endete vor dem kleinen Massiv. Wenn sie diesem an seinem Fuß folgten, würden sie nach einigen Stunden den mittleren Arm des Kootenay Rivers erreichen. Und da sie weder ein Kanu noch ein Floß dabei hatten, würde dort ihre Flucht enden und sie säßen in der Falle. Edgar lachte auf und schlug siegessicher mit seiner Handkante ans Lenkrad.

Kapitel 4

 

 

In was für eine verdammte Scheiße bin ich hier nur hineingeraten?, fragte sich Jonathan atemlos. Sie rannten seit mehreren Minuten, so schnell es die Umstände zuließen, immer tiefer in den Wald hinein, weg vom Weg und vor allem: raus aus der Gefahrenzone. Weg von dem Irren, der sie von der Straße drängen wollte und der tatsächlich auf sie geschossen hatte. Jonathan konnte es immer noch nicht fassen.

Die spitzen Nadeln an den tiefhängenden Ästen peitschten durch sein Gesicht und die Widerhaken an den Dornen der Sträucher, die überall hier wuchsen, rissen an seinen Jeans wie kleine, klebrige Finger. Aber es zählte einzig, dass sie vorankamen.

Kurz darauf stürzte Kerry über eine hervorstehende Baumwurzel und landete auf dem Bauch, woraufhin sie einen spitzen Schrei ausstieß. Mehr vor Schreck als vor Schmerz, vermutete Jonathan. »Steh auf!« Er griff nach ihrem Oberarm und half ihr, hochzukommen. »Wir müssen weiter!«

»Warte, mein Knie«, bat sie, folgte ihm jedoch leicht humpelnd und rieb immer wieder mit der Hand über ihr Bein, während er sein Lauftempo etwas widerwillig dem ihren anpasste.

»Beiß die Zähne zusammen, darum kümmern wir uns später«, sagte er und hoffte, dass sie wirklich einen sicheren Platz fänden.

Zwar konnte Kerry einigermaßen mit Jonathans reduziertem Tempo Schritt halten, doch er merkte zusehends, dass sie am Limit zu sein schien. Ihr Atem rasselte und sie schnaufte wie eine Dampflokomotive, ganz zu Schweigen vom gelegentlichen Wimmern aufgrund ihrer Schmerzen.

Da sie seit Beginn ihrer Flucht weder Scheinwerfer eines Autos noch Motorengeräusche wahrgenommen hatten, wagten sie es, kurz anzuhalten. Sie hatten mittlerweile den Waldrand erreicht. Vor ihnen ragten Felswände steil in die Höhe, davor verteilten sich zahllose Steine und Felsen verschiedener Größe. Hier und da fristete ein besonders robuster Baum oder Strauch, der es geschafft hatte, seine Wurzeln durch das Gestein zu schlagen, sein tristes Dasein.

Jonathans Augen suchten konzentriert den Fuß des Massivs und danach den Wald in der Richtung, aus der sie gekommen waren, nach verdächtigen Bewegungen ab. Alles schien ruhig zu sein. Außer dem Wind, der durch die Schneise aus Wald und Felsen pfiff, hörte er lediglich den einsamen Ruf einer Eule in der Ferne.

»Hier können wir kurz Pause machen«, sagte er zu Kerry. Dankbar zog sie sich an ihm vorbei und ließ sich auf einen Felsbrocken nieder, der die Höhe eines Barhockers hatte.

»Ich kann nicht mehr«, klagte sie. »Mein Knie ist im Eimer und ich bin total am Ende.«

»Lass mal sehen«, sagte er und hockte sich vor sie. Er spielte seit frühester Kindheit Football, daher kannte er sich mit der Behandlung von Sportverletzungen bestens aus. Oft genug war er selbst in den Händen von Physiotherapeuten gewesen, wenn sein Meniskus mal wieder Probleme machte oder seine Schulter schmerzte.

Kerry zog den Saum ihres Kleides bis zur Mitte ihres Oberschenkels hoch und zeigte auf eine Stelle oberhalb ihres rechten Knies.

»Da tut es weh.« Jonathan tastete vorsichtig um das Knie herum, ebenso ein paar Zentimeter unter- und oberhalb davon. Sie zuckte hin und wieder und sog zischend die Luft ein, als er auf die Kniescheibe drückte.

»Sorry. Beug und streck das Bein ein paarmal.« Sie tat, wie ihr geheißen.

»Ich bin zwar kein Fachmann, aber ich bin mir sicher, dass du nur eine Prellung hast. Von den Kratzern und Schürfwunden am Bein mal abgesehen.« Unter anderen Umständen hätte er sich gerne länger und intensiver damit befasst. Kerry hatte sehr schöne, wohlgeformte Beine und ihre Haut fühlte sich zart unter seinen Händen an. Aber im Moment ging es nicht um Spielereien, sondern darum, lebendig aus dieser Sache herauszukommen.

»Das beruhigt mich«, sagte sie und strich ihr Kleid wieder nach unten. »Was meinst du, ist er noch hinter uns her?«

Warum fragst du mich das?, dachte er. Der Irre hat es doch auf dich abgesehen.

»Ich denke, wir haben ihn abgeschüttelt. Jedenfalls kann ich weder was von ihm hören noch was sehen.

---ENDE DER LESEPROBE---