Mordseegrauen - Marcus Ehrhardt - E-Book
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Marcus Ehrhardt

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Beschreibung

Entlang der ostfriesischen Nordseeküste werden innerhalb weniger Tage zwei Kinder entführt. Besteht ein Zusammenhang zwischen den beiden Fällen? Trotz groß angelegter Suchaktionen finden Maria Fortmann und Peter Goselüschen keine Spur von ihnen. Die Zeit arbeitet gegen die Ermittler und als sie mit dem Schlimmsten rechnen, beschließen sie, die Öffentlichkeit mit einzubeziehen. Dann erhält Maria eine Nachricht von einem alten Bekannten, die alles in einem neuen Licht erscheinen lässt.

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Mordseegrauen

 

 

 

 

Marcus Ehrhardt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

Impressum:

 

© 2019

Marcus Ehrhardt

Klemensstraße 26

49377 Vechta

 

Herstellung und Verlag der Printausgabe:

BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN: 9783749448562

Korrektorat / Lektorat: Tanja Loibl

Titelgestaltung: MTEL-Design

Bildnachweis: pixabay

 

Alle Rechte vorbehalten. Jede Weitergabe oder Vervielfältigung in jeglicher Form ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors erlaubt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Danksagung

Über den Autor

Eine Bitte am Schluss

 

Kapitel 1

 

 

Die Mittagssonne brannte stechend vom Himmel. Ellen Grundmann zog ihren Sonnenhut tief ins Gesicht und wischte sich den Schweiß von den Wangen. Seit mehr als einer Woche rollte die Hitzewelle über den Norden Deutschlands hinweg und ihr Körper hatte sich noch lange nicht daran gewöhnt. Gut, dass wir nicht in die Karibik geflogen sind, sondern hier in Bensersiel campen, dachte sie schmunzelnd, wohlwissend, sich solch eine Fernreise sowieso nicht leisten zu können.

Sie musste lächeln wegen der kreischenden, herumtollenden Kinder, die Fangen oder Fußball spielten. Ellen liebte Kinderlärm, auch wenn manch andere Eltern das nicht nachvollziehen konnten. Die meisten von ihnen bekamen den oft, wahrscheinlich zu oft zu Hause präsentiert. Das verhielt sich bei Ellen anders: Bei ihr daheim war es meist ruhig. Aus gutem Grund.

Sie stand als vierte in der Schlange vor dem Eiswagen an und wartete darauf, bei Luigi Schokoladeneis bestellen zu können. Schokolade war die Lieblingssorte ihres Sohnes Julian.

»Prego?«, fragte der schwarzhaarige Mann hinter dem Tresen, der Ellen mit seinem dichten Schnauzbart unweigerlich an Super Mario, den bekannten Klempner aus dem gleichnamigen Spiel erinnerte.

»Zweimal Schoko in der Waffel bitte«, antwortete sie und legte eine Zwei-Euro-Münze neben das Gestell, in das Luigi die fertigen Eistüten steckte, damit sie nicht umfielen. Wehmütig dachte sie an ihre Kindheit zurück, als man für eine Kugel noch keinen ganzen Euro zahlen musste – und in der das Leben als solches noch unbeschwert und unkompliziert gewesen war.

Das Radiogerät hinter dem Italiener spielte fröhliche Musik aus seiner Heimat, während er mit flinken Bewegungen Ellens Bestellung fertigmachte und ihr mit einem breiten Grinsen reichte. »Grazie«, sagte sie schüchtern und hoffte, es richtig ausgesprochen zu haben. Doch Luigi wandte sich bereits den beiden Mädchen zu, die jetzt an der Reihe waren.

Ellen leckte vorsichtig am Rand der Waffel entlang, damit nichts von dem schmelzenden Eis darauf lief. Julian würde es nicht essen, sollte auch nur das kleinste Rinnsal zu sehen sein. Er war speziell, und nicht nur dann, wenn es darum ging, wie sein Eis auszusehen hatte.

Sie bog um die Ecke des Gebäudes, in dem sich die öffentlichen Toiletten und ein Kiosk befanden, und steuerte den Spielplatz an, auf dem Julian vor dem Sandkasten saß und die anderen Kinder beim Spielen beobachtete. Das heißt, eben hatte er noch dort gesessen. Ellen wurde unruhig. Hektisch flogen ihre Blicke über das Gelände, doch sie konnte Julian nirgendwo entdecken. Nicht am Sandkasten, nicht bei den Klettergeräten daneben und auch nicht bei den Schaukeln.

»Julian?« Keine Antwort. Natürlich nicht. Abermals rief sie nach ihrem Sohn, dieses Mal lauter, obwohl ihr bewusst war, dass er nicht antworten würde, selbst wenn er direkt hinter ihr stünde.

»Haben Sie meinen Sohn gesehen?«, fragte sie mit sich überschlagender Stimme die Eltern um den Sandkasten herum, die sie irritiert anschauten.

»Nein«, sagte eine Mutter und weitere schüttelten den Kopf, während sie miteinander flüsterten.

»Niemand? Hat ihn niemand gesehen? Er saß eben noch hier.« Sie zeigte auf die Stelle am Boden, an der sich ganz langsam die Grashalme wieder aufrichteten, die von seinem Gewicht zuvor nach unten gedrückt worden waren. Weiteres Kopfschütteln und Gemurmel. Sie ließ das Eis fallen und rannte los. Sie musste ihn finden. Schnell!

Die Erwachsenen schauten ihr verwundert hinterher, die Kinder jedoch nahmen kaum Notiz von der völlig aufgelösten Frau und spielten weiter.

Kapitel 2

 

 

Maria warf ihrem Kollegen einen mitleidigen Blick zu. Wie ein Häufchen Elend kauerte er hinter seinem Schreibtisch, die Jalousien zur Hälfte heruntergelassen. Auf der Tischplatte standen zwei Flaschen Wasser, von denen er eine bereits nach zehn Minuten fast geleert hatte.

»Gose, was ist los? Gestern zu tief ins Glas geguckt?« Sie konnte es sich nicht verkneifen, zumal sie seinen derzeitigen Zustand selbst nur zu gut kannte und zudem wusste, dass auch er keine Chance auf eine Spitze in ihre Richtung ungenutzt verstreichen lassen würde.

»Lass mich in Ruhe sterben«, krächzte er und die raue Stimme unterstrich seine jämmerliche Verfassung.

»Komm schon, du bist doch ein ganzer Kerl.« Sie lachte, worauf er die Augen zusammenkniff. »Ach, sind wir heute etwas geräuschempfindlich? Hast du Migräne?«

»Boah, lass mich einfach. Wenn du krank bist, fühle ich schließlich auch stets mit dir.«

»Na sicher«, erwiderte sie und fügte grinsend hinzu: »Bis eben wusste ich gar nicht, dass du das Wort Mitfühlen in deinem Repertoire hast.«

Die Tür ging auf, ein Kollege trat herein, reichte Maria einen dünnen Pappordner und unterbrach damit die kleine Fopperei zwischen den beiden.

»Ist gerade reingekommen: Der 5-jährige Julian Grundmann wird seit gestern Nachmittag vermisst. Er macht mit seiner Mutter Ellen Campingurlaub in Bensersiel. Näheres steht in der Akte.« Er schaute zu Goselüschen. »Was ist denn mit dir passiert? Du siehst scheiße aus.«

»Danke, Hinnerk, meine Rede«, pflichtete Maria bei.

»Leckt mich doch.« Goselüschen schnappte ihr den Ordner aus der Hand und klappte ihn auf, wobei er ihm fast herunterfiel. »Was haben wir mit ausgebüxten Kindern zu tun?«

»Alter, wirf dir ein Pfefferminz ein.« Hinnerk wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht und verzog es gleichzeitig. »Die Kollegen aus Esens haben den kompletten Campingplatz auf den Kopf gestellt und auch in der Umgebung keine Spur von ihm gefunden. Die Jungs vom Wasserschutz waren ebenso erfolglos. Die Mutter befürchtet, dass er entführt worden ist.«

»Gib mal her«, sagte Maria und streckte ihren Arm aus. Ihre ungeduldige Handbewegung veranlasste Goselüschen dazu, ihr die Unterlagen zu überlassen. »Du kannst das gerade eh nicht lesen.« Sie überflog die Zettel. »Ach, da schau her, die leben in Dinklage, ganz in der Nähe meiner alten Heimat.« Sie nickte ihrem Kollegen zu. »Dank dir, Hinnerk, wir kümmern uns darum.« Der Angesprochene hob kurz die Hand und ging hinaus.

»Okay«, sagte Goselüschen und rieb sich die Schläfen. »Jetzt klär mich nochmal auf, worum es genau geht.«

»Bist du sicher, dass du nicht erstmal deinen Rausch ausschlafen willst? So nehm ich dich jedenfalls nicht mit zu der Mutter des Jungen. Und nun erzähl mal, warum du verkatert bist.«

»Ach, daran ist mein Bruder Schuld. Der kam gestern Abend überraschend vorbei und wollte nur kurz Moin sagen. Das Ende vom Lied waren zwei leere Flaschen Küstennebel. Aber«, er hob beide Hände, um seine Aussage zu unterstreichen, »daran ist nur Knut Schuld!«

»Natürlich, das verstehe ich«, sagte Maria zwinkernd. »Hör zu, folgender Vorschlag: Ich bring dich eben rum zu dir, du duschst und haust dich ein paar Stunden auf´s Ohr. Ich hol dich wieder ab, wenn ich aus Esens zurück bin.«

»Hm, das wäre sicher eine vernünftige Maßnahme. Einverstanden.«

 

***

 

Wenn dieser Sommer weiterhin mit Temperaturen um die 30 Grad Celsius aufwarten würde, sollten sie und Goselüschen einen Antrag auf ein Cabrio als Dienstwagen stellen, träumte Maria vor sich hin. Zwar arbeitete die Klimaanlage in ihrem Audi gut, doch schöner wäre es, sich den Fahrtwind durch die offenen Haare wehen zu lassen, wie sie es bereits bei vier Cabrios gesehen hatte, die ihr entgegengekommen waren.

Maria steuerte auf den Parkplatz vor der Polizeidienststelle Esens zu, wo die Mutter des Jungen gestern die Vermisstenmeldung aufgegeben hatte. Sie parkte neben einem Streifenwagen, band sich die blonden langen Haare zu einem Pferdeschwanz und kontrollierte dessen Sitz mit einem Blick in den Rückspiegel.

»Moin, Frau Fortmann«, begrüßte sie eine junge, rothaarige Polizistin, die offensichtlich ebenfalls mit der Hitze zu kämpfen hatte. Darauf deuteten jedenfalls die dunklen Schweißflecken unter ihren Achseln hin, die sich schwach vom Dunkelblau des kurzärmligen Uniformhemds abhoben.

»Moin, Frau Detersen, nennen Sie mich Maria«, erwiderte sie, nachdem sie sich gegenseitig vorgestellt hatten. »Was können Sie mir sagen, abgesehen von dem hier?« Sie wedelte mit dem Ordner, den sie vorhin von Hinnerk bekommen hatte.

»Alles klar, Maria, ich bin Katja. Setzen Sie sich erstmal. Wollen Sie einen Kaffee? Oder lieber was Kaltes?« Sie stöhnte leise. »Diese Temperaturen sind nichts für mich.« Daran habe ich keinen Zweifel, dachte Maria im Hinblick auf die helle, von Sommersprossen übersäte Haut Katja Detersens. Wahrscheinlich gab es im freien Handel keine Sonnencreme, die einen ausreichend hohen Lichtschutzfaktor aufwies, um es Menschen wie Katja zu ermöglichen, sich länger als zehn Minuten ungefährdet im Freien aufhalten zu können.

»Gerne ein Wasser.« Sie nickte und zog eine Flasche aus einer Kühlbox, die neben ihrem Schreibtisch stand, schenkte zwei Gläser ein und schob eines zu Maria. »Danke, das sieht gut aus.« Sie griff nach dem Glas, über das sich bereits ein kühler Kondenswasserfilm gelegt hatte, und nahm einen großen Schluck.

»Frau Grundmann rief uns gestern gegen 15 Uhr an und meldete das Verschwinden ihres Sohnes Julian, das steht ja in den Unterlagen.« Maria nickte. »Wir haben sofort zwei Kollegen hingeschickt, die bei der Suche geholfen haben, was jedoch ergebnislos blieb. Dann haben wir einen Hubschrauber mit Wärmebildkameras und zwei Hunde eingesetzt. Die Kollegen von der Wasserwacht haben mit Booten und Tauchern den Bereich vor dem Strand abgesucht. Doch nada – nix gefunden. Wir haben bis in die frühen Morgenstunden gesucht.«

»Hat niemand was gesehen? Ich meine, der Spielplatz war doch sicher voller Menschen.«

»Ja, Maria, das ist ja das Ding: Einige konnten sich an Julian und auch an seine Mutter erinnern, doch niemand will etwas von seinem Verschwinden mitbekommen haben.« Sie räusperte sich. »Was, wenn Sie mich fragen, auch nicht so ungewöhnlich ist, denn die hatten schließlich genug damit zu tun, ihre eigene Brut im Blick zu behalten. Da bleibt nicht viel Zeit, um ein nahezu unbewegliches Kind zu beobachten.« Maria runzelte die Stirn.

»Was heißt das? Sitzt Julian im Rollstuhl?«

»Nein. Ach, steht das noch nicht im Bericht? Julian ist Autist.«

»Das steht in der Tat nicht drin, allerdings, dass Frau Grundmann von einer Kindesentführung ausgeht. Wie kommt sie darauf?«

»Tja, sie ließ von Anfang an auch nicht den geringsten Zweifel an dieser Überzeugung zu. Frau Grundmann meinte, er würde normalerweise nicht einfach losspazieren und erst recht nicht weglaufen.« Maria überlegte krampfhaft, allerdings musste sie sich eingestehen, über diese Entwicklungsstörung kaum besser informiert zu sein als jeder, der damals Rain Man mit Dustin Hofman in der Hauptrolle gesehen hatte, der darin, so meinte sie jedenfalls, oscarprämiert und sehr authentisch einen Autisten darstellte.

»Hat sich denn ein Entführer gemeldet?«

»Nein, jedenfalls wissen wir nichts davon. Ich habe vor einer halben Stunde noch mit Frau Grundmann telefoniert. Sie ist völlig aufgelöst, hat aber diesbezüglich nichts erwähnt.«

»Was ist mit dem Vater des Jungen?« Jetzt war es Katja Detersen, die in den Unterlagen nachsehen musste.

»Hier, Hubert Grundmann, wohnhaft in Vechta. Laut Frau Grundmann sind sie seit ungefähr drei Jahren geschieden.«

»Ist er über das Verschwinden des Jungen informiert?«

»Von uns nicht, vor Abschluss der Suchaktion hielten wir es für verfrüht, weitere Schritte einzuleiten. Wir haben gestern Abend noch per Facebook eine Vermisstenanzeige geschaltet, die, wie üblich, oft geteilt wurde – doch leider kam dabei außer Mitleidsbekundungen und Aufmunterungen für die Eltern nicht viel herum. Wir wollten die Sache bis heute Morgen beobachten, bevor wir die Meldung zu euch nach Aurich rausschicken.« Maria nahm das Wasserglas und trank es aus.

»Verstehe. Ich würde jetzt gern mit der Mutter des Jungen sprechen.« Sie erhob sich und folgte Detersen, die ebenfalls aufgestanden war und an ihr vorbei aus dem Büro ging. Im Eingangsbereich teilte sie einem Kollegen mit, dass sie mit Maria nach Bensersiel fahren würde.

 

***

 

Maria atmete tief durch, als Katja Detersen an der Tür zum Wohnmobil klopfte. Sie spürte ein leichtes Ziehen in der Magengegend, denn im Gegensatz zu dem Bild, das die Frau ihnen bot, als sie öffnete, hatte Goselüschen vorhin ausgesehen wie der frische Morgen. Ellen Grundmann hatte schwarze Ringe unter den verweinten, aufgedunsenen Augen und ihre strohblonden, langen Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab.

»Kommen Sie rein«, sagte sie mit brüchiger Stimme. Maria und Katja setzten sich zu ihr an den Tisch, der direkt an der Küchenzeile montiert war.

»Mein Name ist Maria Fortmann, ich komme von der Kripo Aurich. Wir sind jetzt zuständig für Sie.«

»Kripo? Heißt das, man nimmt mich jetzt endlich ernst?«

»Frau Grundmann«, begann Detersen, »wir nehmen Sie die ganze Zeit ernst, ansonsten hätten wir mit Sicherheit nicht den Aufwand mit der nächtlichen Suchaktion gefahren.« Die Mutter des vermissten Kindes reagierte mit einem spöttischen Zischen.

»Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, dass Julian nicht einfach weggelaufen ist, sondern dass ihn auf jeden Fall jemand entführt hat.« Maria hob beschwichtigend die Hand, worauf ihre Kollegin die Erwiderung unterließ, zu der sie gerade ansetzen wollte.

»Gibt es zu Ihrer Vermutung einen Anlass, sprich: Haben Sie jemanden Konkretes in Verdacht? Oder hat sich gar ein Entführer bei Ihnen gemeldet?«

»Nein, es hat sich niemand gemeldet«, sagte Ellen Grundmann und schüttelte langsam den Kopf. »Wozu auch? Wir haben kein Geld.«

»Und wie kommen Sie darauf, dass er entführt wurde?«

»Weil er, wie ich Ihrer Kollegin bereits mehrfach gesagt habe, nicht einfach so fortlaufen würde. Er ist Autist, wissen Sie?« Maria nickte. »Fremde Umgebung verunsichert ihn und normalerweise würde er am Abend noch dort sitzen, wo er sich morgens hingesetzt hat.«

»Fällt Ihnen ein Grund ein, warum ihn jemand entführt haben könnte? Abgesehen vom Geld, das nicht vorhanden ist?«

»Nein, warum sollte jemand so etwas machen? Er hat doch niemandem etwas getan.«

»Hatten Sie vielleicht mit jemandem Streit? Sind Sie jemandem auf den Schlips getreten?« Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und schluchzte.

»Mein Gott, mir fällt nichts ein. Aber egal wo er gerade ist, er wird große Angst haben.«

»Was ist mit Julians Vater, weiß er Bescheid?« Die Mutter des Jungen schnäuzte sich, bevor sie antwortete.

»Ich konnte ihn noch nicht erreichen. Aber ihm ist es wahrscheinlich eh egal. Für ihn war Julian immer nur Ballast, er konnte überhaupt nicht damit umgehen, dass er anders ist. Deswegen hat er sich ja auch von uns getrennt.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Er könne es nicht mehr ertragen, von allen angestarrt zu werden, hat er gesagt. Und dann war er weg.« Maria hatte kein Verständnis für jemanden, der sein eigenes Kind wegen einer Beeinträchtigung im Stich ließ, und generell für niemanden, der überhaupt an behinderten Menschen Anstoß nahm. Aber wenn der Vater, wie Ellen Grundmann sagte, nichts mit Julian zu tun haben wollte, wusste sie auch nicht, warum er ihn entführen sollte.

»Gut, wenn ich Sie richtig verstehe, kam es bisher nicht vor, dass Julian sich mal davongestohlen hat?«

»Nein, noch nie. Nur deswegen habe ich ihn überhaupt für die paar Minuten aus den Augen gelassen. Ich sagte doch, er braucht immer eine gewisse Sicherheit um sich herum. Am entspanntesten ist er, wenn ich in unmittelbarer Nähe bin.« Sie schaute die Polizistinnen mit verweinten Augen an. »Mir ist schon klar, dass Sie mich für eine Rabenmutter halten, die nicht auf ihr Kind aufpassen kann.«

»Nein«, entgegnete Maria energisch. »Dafür halte ich Sie absolut nicht.«

»Dann sind Sie die Einzige.«

»Was genau ist passiert gestern? Wo hielten Sie sich auf, bevor Sie das Eis geholt haben?«

»Ich lag keine zehn Meter neben dem Sandkasten im Gras und habe ein Kreuzworträtsel gemacht.«

»Haben Sie Julian gesagt, dass Sie das Eis holen gehen oder sind Sie einfach so gegangen?«

»Natürlich habe ich ihm Bescheid gesagt«, sagte sie eine Spur zu echauffiert nach Marias Empfinden. Sie ging jedoch nicht weiter darauf ein, sondern zog eine Visitenkarte aus ihrer Hosentasche und reichte sie Ellen. »Hier ist meine Handynummer drauf. Falls sich irgendetwas ergibt, zögern Sie nicht, mich anzurufen.« Ellen Grundmann nahm sie und warf einen Blick darauf.

»Und was gedenken Sie nun zu tun, Frau Hauptkommissarin?«

»Wir werden zuerst noch einmal alle Zeugen befragen, die sich gestern auf dem Spielplatz aufgehalten haben.« Maria schaute zu Detersen. »Gleichzeitig werden wir die Suchaktion ausdehnen und intensivieren.«

»Aber –.«

»Später«, unterbrach Maria ihre Kollegin, die offensichtlich Einwände hatte.

Mit grimmigem Gesichtsausdruck stapfte Katja Detersen neben Maria her, als sie sich dem Spielplatz näherten, der nur etwa zweihundert Meter vom Wohnmobil der Grundmanns entfernt vor einem großen Spaßbad lag.

»Wie stellen Sie sich das vor? Was sollen wir noch alles in Bewegung setzen?«, platzte es aus ihr heraus.

»Nichts«, antwortete Maria ruhig und registrierte aus dem Augenwinkel den verdutzten Blick ihrer Kollegin. »Stellen Sie sich vor, ich hätte ihr gesagt, dass wir im Moment so gut wie nichts machen können – meinen Sie, damit wäre ihr geholfen?« Sie wartete nicht auf eine Antwort. »Ich denke nicht, aber vielleicht gibt ihr das etwas Ruhe und uns die Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen.«

»Ach so, daher weht der Wind. Glauben Sie ihr denn, dass der Junge entführt wurde? Am helllichten Tag vor zig Zeugen?«

»Es geht nicht darum, was ich glaube, sondern darum, ob es möglich ist.« Eine Möwe flog kreischend nur wenige Meter an ihnen vorbei, drehte dann ab und schoss in Richtung des Meeres. Maria sah ihr nach. »Schauen Sie selbst.« Sie wies auf den Spielplatz, auf dem etliche Kinder auf den Geräten herumtollten und deren Eltern auf Bänken, Hockern oder einfach im Gras saßen, Kaffee tranken, den Kindern zuschauten oder sich unterhielten. »Nehmen wir mal den kleinen, dunkelhaarigen Jungen dort im Sandkasten, sehen Sie ihn?« Detersens Blick folgte Marias ausgestrecktem Arm.

»Der mit der gelben Mütze?«

»Ja, genau. Seine Mutter sitzt dort drüben und liest ein Buch.«

»Äh, woher wissen Sie das, Maria?«, fragte sie offensichtlich leicht verwirrt.

»Sie schaut etwa alle zwei Minuten zu ihm. Das ist mir bereits aufgefallen, als wir vorhin hier vorbeigegangen sind.«

»Ja, gut. Und weiter?«

»Wenn ich nun den nächsten Kontrollblick abwarten würde, direkt danach zu ihm gehen, ihn auf den Arm nehmen und fortgehen würde, seinen Kopf dabei so an meine Schulter drückend, dass man ihn nicht hören könnte, würde ich ihn höchstwahrscheinlich ohne Weiteres einige Meter wegschleppen können, bevor seine Mutter es mitbekäme. Denn die meisten hier passen auf die eigenen Kinder auf, nicht auf die fremder Leute.«

»Mag ja sein, aber nach zwei Minuten würde die Mutter Alarm schlagen.«

»In diesem Fall sicher. Aber nun stellen Sie sich vor, Sie hätten nicht zwei Minuten, sondern vier oder fünf.« Sie schaute zum Parkplatz hinüber. »Meinen Sie nicht, dass ich in der Zeit spielend zum Auto käme?«

»Möglich«, sagte die uniformierte Polizistin.

»Stellen wir uns einfach mal vor, der Entführer beobachtet die beiden eine Weile, hält sich in deren Nähe auf und wartet nur auf den passenden Moment, um zuzuschlagen. Dann sagt Mutter Grundmann zu ihrem Sohn, dass sie das Eis holen geht.

---ENDE DER LESEPROBE---