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Sein Leben beginnt am Stadtrand von Westberlin. In einem hässlichen Neubau gegenüber einer Flüchtlingssiedlung – und nicht weit von der Mauer. Zu einer Zeit, als es das Wort „queer“ noch nicht gibt und „schwul“ allein ein Schimpfwort ist. Die Eltern streiten viel, traumatisiert vom Zweiten Weltkrieg, der noch nicht lange her ist: Sie waren erst fünf, als Hitler die Macht übernahm, und noch keine achtzehn, als alles endete. Der ältere Bruder – ein Fremder, der nichts mit ihm zu tun haben möchte. Doch er sucht und findet Freundschaft– mit anderen Außenseiter*innen wie er selbst. Und irgendwann sogar Liebe und Sex – und die weite Welt.
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Seitenzahl: 319
Veröffentlichungsjahr: 2024
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© Querverlag, Berlin 2024
Lektorat: Rainer Falk
Erste Auflage, August 2024
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale
Gesamtherstellung: Finidr
ISBN 978-3-89656-704-8
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Querverlag GmbH
Akazienstraße 25, 10823 Berlin
www.querverlag.de
Für alle Menschen,
egal welchen Alters
und wo auf der Welt,
die verachtet und verfolgt werden
allein für das,
was sie sind.
Für meine Eltern,
Jahrgang 1928,
die kleine Kinder waren,
als Hitler und die Nazis an die Macht kamen,
und noch keine achtzehn,
als alles vorbei war.
„Hoffnung ist nicht Optimismus.
Es ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht,
sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn macht,
ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.“
Václav Havel (1936–2011),
tschechischer Schriftsteller, politischer Gefangener,
erster demokratisch gewählter Präsident seines Landes
„Stell dich nicht so an!“
Ein Satz jener Zeit.
Warnend, drohend gesprochen.
Anstellerei ist verpönt.
Manchmal gebrüllt.
Oder auch leise gezischt.
„Brauchst gar nicht wegzugucken.“
„Stell dich bloß nicht wieder so an!“
Über andere kann ich wenig sagen.
Aber ich?
Ich stelle mich nicht an.
Gehöre sowieso nicht dazu.
Will in keiner Reihe stehen.
Atme tief durch.
Keine Worte in mir.
Obwohl der Krieg endlich vorbei ist.
Jedenfalls der mit Bomben und Bunkern.
Oder gibt es weiterhin Krieg in den Erwachsenen?
Mühsam verborgen, verschwiegen.
Hinter brüchigen Fassaden.
So viel Schreien um mich herum.
Dann wieder tagelanges Schweigen.
Schweigen und Schreien.
Schreien und Schweigen.
Gab es nichts anderes?
Doch.
Gab es.
Zuerst Anton und mich.
Dann Oleg, Lisa, Gina und noch ein paar.
Und natürlich Martin.
Aber der kam erst später.
Der war am meisten anders.
Auch davon will ich erzählen.
Nicht nur vom Schreien und Schweigen.
Auch von unserer sprachlosen Sehnsucht
nach Liebe.
„Alles erstunken und erlogen“, sagt Oleg*. „Die ganze Geschichte. Aber muss man manchmal …“ Und nach einer Pause: „Sonst kapiert keiner, was wirklich los ist.“1
Da ist er elf, höchstens.
Oleg ist klein für sein Alter. Und manchmal stinkt er. Aber andere hören auf ihn. Darauf kommt es an. Ich hätte ihn gern zum Freund. Doch Oleg schaut nie zu mir her, obwohl er nur zwei Reihen weiter sitzt in der Klasse.
Oleg kommt aus Russland. Das hört man daran, wie er spricht. Er benutzt auch manchmal andere Worte. Er sagt zum Beispiel nicht Stulle, sondern Brot.2
In Russland hungern die Menschen. Wenn die Russen mit ihren Soldaten noch mal länger die Zufahrtswege blockieren oder eines Tages sogar nach Westberlin einmarschieren, werden auch wir hungern. Mama hat immer einige Packungen Zucker und Mehl extra im Küchenschrank. Für alle Fälle.
Als Oleg älter ist, behauptet er: „Es gibt auch ehrliche Lügen. Das ist dann die Wahrheit. Kapierst du das, Jan?“
Kein Wort kapiere ich.
1* Die Zahlen im Text weisen auf Erklärungen und historische Hintergründe am Ende des Buches hin, die heute oft nicht mehr allgemein bekannt sind: „Ein paar Fakten“ halt. Muss man nicht lesen. Kann man.
Richtige Ruinen noch in unserer Gegend. Einige abgezäunt, andere stehen einfach so da. Alles von Wert ist weggeholt. Aber was übrig ist, ist doch noch spannend.
Die Menschen sagen: „Krieg ist schlecht.“ Alle Menschen, die ich kenne, sagen das: Mama und Vater. Die blinde Oma Elli, Opa Hans und Oma Maria. Die laute Tante Inga, der verrückte Onkel Konrad. Auch Onkel Sonny, der gar nicht wirklich unser Onkel ist.
Alle sagen das.
Mein Bruder Harald war damals noch zu klein, um dazu gehört zu werden. Auch wenn er drei Jahre älter ist als ich. Also sagte er gar nichts. Aber ich weiß, dass er der Einzige war, der Ruinen gut fand – zum Spielen.
Es gibt Menschen, die sind Flüchtlinge. Ganz viele Menschen. Sie kommen mit etwas Gepäck auf dem Rücken, manchmal nur in eine Decke gewickelt. Das ist alles, was sie haben. Gelaufen kommen sie. Auch Kinder laufen. Tagelang. Wochenlang.
Und dann sind sie da.
Endlich in Berlin. Westberlin. In unserem langweiligen Stadtteil mit dem komischen Namen – Lankwitz.
Wir wussten nicht viel von ihnen. Sie wohnten auf der anderen Straßenseite. Sie waren irgendwie anders. Wie anders, wusste ich nicht. Jedenfalls erst mal nicht.
Sie wohnen da in Baracken oder vergammelten Steinhäusern. Kann man von außen sehen, weil mehrere Fensterscheiben kaputt sind. Manchmal nur mit Pappe vernagelt.
Meine Eltern und die meisten Nachbarn nennen die Gegend Mau-Mau-Siedlung. Hat nichts mit dem Kartenspiel zu tun. Vater weiß, dass es was mit Afrika zu tun hat.
Mit Afrika?
„Ja“, sagt Vater. „Da ist doch auch nur Chaos. Und Elend. Und Gewalt.“
Woher er das weiß?
„Is’ so!“, behauptet er. „Ich war bei den Engländern in Gefangenschaft.“
Ach so. Daher hat er das.
Aber auch die anderen sagen Mau-Mau-Siedlung. Mau-Mau: unordentlich, schmuddelig. Wie Hundegebell.
Aber immerhin ist da öfter was los. Zuweilen hören wir laute Musik. Fremde Musik. Angeblich russisch. Wenn der Wind ungünstig steht, sogar richtig laut. Sonst ist nicht viel los in Lankwitz.
Obwohl die abgehauen sind aus Russland, machen sie diese Musik.
„Unmöglich“, beklagt sich Mama. Aber sie würde nie die Polizei rufen, wie der abgemagerte Nachbar mit nur einem Bein von gegenüber.
Von den vielen Kindern dort kannte ich keines. Bis wir umzogen und ich in die neue Schule kam. Da saßen sie plötzlich: Oleg und Lisa. Und Leo und Pawel und all die anderen. Sie redeten anders als Anton und ich. Lange redeten sie gar nicht mit uns.
Und wir nicht mit ihnen.
Mit Anton aus dem fünften Stock rede ich manchmal darüber, was alles anders sein sollte. Wie es besser wäre. Über seine Knochenkrankheit. Oder über meine Eltern, die so oft streiten.
Ich weiß nicht, warum. Aber ich bin mir sicher, auch Oleg und seine Freunde reden in ihrer Sprache darüber, was anders sein sollte, in ihrem Leben da in der Mau-Mau-Siedlung.
Ich erinnere mich zuerst an Oleg und Lisa, da drüben in der Siedlung. Und an uns Kinder in den hässlichen Hochhäusern gegenüber, wo wir wohnen: Anton und ich. Zwei Berliner Jungs.
Mit Anton der erste Sex.
Und längst nicht nur das.
Sie soll lustig gewesen sein. Sonst war nicht viel lustig. Darum hat Mama uns öfter von meiner Geburt erzählt. Mein Bruder konnte die Geschichte schon nicht mehr hören. Ich schon – weil sie lustig war und Mama sie jedes Mal etwas anders ausgeschmückt hat.
Und ja, wohl auch, weil es um mich ging.
Der Anfang eines Lebens eben.
Es ist Sommer, heiß. So heiß, dass niemand schlafen kann. Also beschließen meine Eltern mitten in der Nacht, die Küche zu streichen. Ist schon lange nötig. Aber es gibt kein Geld für Farbe. Vor ein paar Tagen hat Vater von einem Kollegen ein paar Blechbüchsen mit verschiedenen Farbresten bekommen.
„Macht doch nichts … Wird schön bunt“, meint Mama. Sie steht mit dickem Bauch auf der Leiter und schwingt den Pinsel. Beide lachen. Können gar nicht wieder aufhören, fast hysterisch. „Die Küche wird jetzt bunt – nicht mehr dieses vergammelte Klogrün!“, ruft Mama. Sie prusten vor Lachen. Vater hat schon drei Bier getrunken. Wegen der Hitze. Mein Bruder Harald wird wach und schreit. Er bekommt seine Flasche, obwohl er schon drei ist.
Als Mama erneut auf die Leiter klettert, kommen die ersten Wehen. Ziemlich heftig und schnell.
Um die Zeit, nun schon lange nach Mitternacht, fährt kein Bus mehr. Geld für ein Taxi gibt es auch nicht. „Taxi fahren nur die Reichen“, sagt Vater. Mehr eine Erklärung als eine Anklage.
Harald kommt in den Kinderwagen. Er schreit noch immer. Vater schiebt ihn und trägt eine Tasche mit dem Nötigsten für Mama, falls sie länger im Krankenhaus bleiben muss. Vaters Tagesschicht beginnt um sieben Uhr, egal was. Mama hält sich den Bauch.
„Mann, nicht jetzt, nicht auf der Straße … Los, wir schaffen es.“
Und dann geht sie langsam die zwei Treppen von unserer Mietswohnung in die Havensteinstraße hinunter.
Später erzählte Mama immer wieder: „Lief alles wie geschmiert.“ Jedes Mal lachte sie bei der Erinnerung laut auf. Was für ein Triumph! Niemand hat sie unterkriegen können!
„Wir da rein bei der Anmeldung, und die Schwester fragt, was los ist, als würde sie meinen Bauch nicht sehen.“
Mama muss kurz Luft holen. Sie ist die Heldin. Ich der Schatz, den es zu bergen gilt.
„Und da, gleich bei der Anmeldung, kamst du auch schon, Janni. Einfach so rausgeflutscht. Ich konnte gerade noch in die Hocke gehen, sonst wärst du mit dem Kopf auf den Boden geknallt.“
Harald hört nicht zu. Er schaut aus dem Fenster.
Ich frage ernst: „Und dann?“ Obwohl ich es natürlich längst weiß.
„Dann fragt die Schwester: ‚Brauchen Sie noch was?‘ Und ich …“, fährt Mama aufgeregt fort, als würde sie es zum ersten Mal erzählen: „… ich antworte: ‚Nein, alles klar. Ich weiß, wie’s geht – ist ja nicht das erste Baby.‘“
Hier lachten Mama und Vater wieder. Beide erst Mitte zwanzig und schon das zweite Kind. Nicht wirklich geplant. Lieber hätte Vater erst eine bessere Arbeit gefunden. Aber was kann man schon planen im Leben?
Die Schwester bringt schließlich doch noch eine Schüssel mit warmem Wasser und zwei saubere Handtücher. Gleich auf einer Holzbank bei der Anmeldung. Sind keine anderen Patienten da um diese Zeit, und sie will wohl nicht extra ein frisches Bett schmutzig machen.
Um diese Zeit.
Ich freue mich, dass meine Eltern lachten, als ich geboren wurde. Sonst haben sie sich fast immer gestritten. Aber damals haben sie gelacht. Der Ärger mit mir begann erst zwei Wochen später und bedeutete zehn Jahre Schulden.
Zehn teure Jahre.
Mein Bruder soll mich an die Hand nehmen. Will er aber nicht.
„Nun nimm ihn schon an die Hand, Harry!“, sagt Mama ungeduldig. Harald packt mich grob am Handgelenk und zerrt mich mit sich. „Und dass ihr nicht in den Ruinen spielt!“, ruft Mama uns noch nach.
Kaum sind wir um die Ecke und damit außer Sicht, schubst mein Bruder mich nur noch vor sich her. „Bist ja nicht blöd. Kannst allein laufen.“
Logisch kann ich das. Bin ja schon fünf.
Bei den Ruinen warten schon seine Freunde, Gerd und Torsten. Sie spielen dort Krieg. Meist kämpfen sie gegen die Russen. Sie selbst sind die Guten. Also nicht Deutsche, das geht nicht mehr. Aber auch nicht Amis oder Tommys.3 Eben die Guten. Wer gegen die Russen kämpft, ist gut, weil die immer angreifen. Da muss man auf der Hut sein.
„Die Russen sind an allem schuld“, sagen viele. So wie: „Krieg ist schlecht.“
Ich darf nicht mit, wenn die drei in die zerbombten Gebäude hinein- und auf sie hinaufklettern, sogar in die höheren Stockwerke. Da, wo es wirklich spannend ist und man überhaupt noch interessante Sachen finden kann. In einem unter Zweigen verborgenen Versteck haben sie schon zwei verrostete Gewehre und ein paar Patronen, bei denen niemand sicher ist, ob die noch funktionieren.
Auf der Straße warten geht aber auch nicht, weil dann bei so einem Kleinen wie mir jemand fragen könnte: „Wo ist denn deine Mutti?“ Also muss ich mit hinter den Bretterzaun, dann bis zu so einer Art Innenhof. Da soll ich warten, bis der Krieg vorbei ist.
„Wenn du rumläufst, kriegst du Kloppe“, erklärt mein Bruder. Nicht wirklich böse. Ist halt so. Wenn mir was passiert, bekommt er Ärger mit Mama.
Und dann sind sie weg.
Ich höre von unten, wie sie einander Befehle zurufen: „Deckung!“ – „Achtung, feuern!“ – „Kolonne, marsch!“ Dann auch manchmal lange nichts. Es ist langweilig. Irgendwann beginne ich was zu bauen, meist aus alten Mauersteinen. Zum Beispiel kleine Häuser. Oder Brücken. Das ist schon schwieriger. Wenn die Guten zurückkommen, treten sie immer kaputt, was ich gebaut habe. „Keine Spuren hinterlassen“, erklärt mein Bruder.
Er und Gerd sind Offiziere, das ist deutlich. Torsten ist die Kolonne, nur ein Soldat. Eine kleine Kolonne, die anderen alle gefallen. Er muss gehorchen, was er anscheinend in Ordnung findet. So ist das eben im Krieg, auch wenn man es blöd findet.
Gehorchen gehört zum Krieg.
Heute habe ich eine Mauer gebaut, die größer ist als ich. Um weiter in die Höhe bauen zu können, steige ich auf eine alte Tonne. Leider ist die Holztonne etwas glitschig, denn zuvor hat es tagelang geregnet. Als ich einen besonders schweren Stein auf die höchste Stelle legen will, verliere ich mein Gleichgewicht. Beim Festhalten am obersten Mauerrand krachen die lose aufeinandergestapelten Steine mit mir zusammen zu Boden. Eine Hand und ein Knie bluten. Ein Stein hat mich an der Stirn getroffen, wo sich jetzt eine dicke Beule zu bilden beginnt.
Alles nicht wirklich schlimm – außer dass Harald nun sicher Ärger mit Mama bekommen wird. Ich sitze auf der umgefallenen Tonne und warte auf das Ende des Krieges. Und da kommen sie auch schon, die beiden Offiziere und ihr Soldat. Als mein Bruder sieht, dass ich blute und eine Beule am Kopf habe, ist auch ihm sofort klar, was das bedeutet.
„Du Blödmann, Idiot, Dummkopp …!“ Mehr Schimpfwörter fallen ihm so schnell nicht ein. Mit der flachen Hand schlägt er mir auf den Hinterkopf. Genau gegenüber von der Beule.
Ich sage: „Aua.“ Nicht laut. Eher herausgerutscht. Mehr für mich.
„Stell dich jetzt nicht auch noch an!“, schnauzt er weiter.
Als wir fast daheim sind, schon beinah versöhnlich: „Warum kannst du nie gehorchen, Mann?“ Er benutzt selten meinen Vornamen.
Dann stehen wir vor unserer Wohnungstür. Mama öffnet, sieht meine Beule und erfasst die Situation sofort, als sie Haralds verstaubte Hose und meinen verletzten Kopf sieht: „Wart ihr also doch wieder bei den Ruinen!“ Dabei packt sie ihn am Arm und schubst ihn hin und her, während sie auf ihn einschreit: „War der eine Krieg noch nicht genug, Harald? Wisst ihr nicht, dass Krieg schlimm ist und kein Spiel?“
Und dann muss sie plötzlich weinen. Sie lässt Harald los und schaut auch nicht mehr nach mir, sondern läuft aufs Klo und knallt die Tür hinter sich zu. Wir hören ihr Heulen durch die geschlossene Tür und schauen einander stumm an.
„Geh rein“, sagt Harald und schubst mich mal nicht.
Als wir in der Wohnung sind, geht er zum Küchenschrank und holt eine Schachtel mit Pflastern hervor. Er gibt mir eines der größeren: „Hier – für dein Knie.“ Mein Bruder ist nicht immer nur blöd zu mir.
Etwas später kommt Mama aus dem Klo, putzt sich die Nase und lobt Harald dafür, dass er mir ein Pflaster gegeben hat. „Ihr Brüder müsst zusammenhalten. Nicht euch immer kloppen. Wer weiß, ob nicht doch noch mal Krieg kommt …“
Für den Rest des Nachmittags liegt sie auf dem Sofa im Wohnzimmer, die Gardinen geschlossen, weil sie jetzt kein Licht verträgt. Mama hat Migräne. Manchmal so schlimm, dass sie kotzen muss. Migräne kommt meist, wenn Mama an den Krieg denkt oder sich mit Vater gestritten hat.
Zu mir sagt Harald: „Alles wegen dir.“
Als Vater vom Tagesdienst heimkommt, weiß er schon Bescheid. Er hat die zugezogenen Gardinen bereits von der Straße aus gesehen. „Scheiße“, sagt er. Mehr zu sich selbst. Dann zieht er seine Polizeiuniform aus, hängt die Jacke an den Haken im Flur und gibt mir seine große, graublaue Schirmmütze zum Spielen.
Nächste Woche wird er wieder Nachtdienst haben. „Streife schieben bis zum Morgengrauen“, sagt er dazu. Er hasst seine Arbeit, wäre so viel lieber Goldschmied geworden oder was auch immer. Nur nicht Polizist.
„Wegen Adolf schon mit sechzehn in den Krieg“, erklärt er uns einmal ohne jeden Vorwurf. „Aber ich hatte Glück. Schon bei Hannover haben mich die Tommys gepackt. Sogar den Führerschein in Gefangenschaft gemacht. Alle Kumpels aus meiner Klasse, die Richtung Osten mussten, kamen nie zurück.“
Nach der Gefangenschaft keine Zeit und kein Geld für eine Ausbildung. Alles zerbombt. Keine Wohnung, nicht mal ein eigenes Zimmer. Und dauernd Hunger. Wo nur arbeiten? Da kam der Aufruf von der Polizei an junge, ungelernte Männer.
„Eure Mama hatte es viel schwerer hier in Berlin, als die Russen kamen. So jung, so hübsch. Die Russen machten mit den Mädchen doch, was sie wollten …“
Zum Monatsende, meist freitags, holt er immer die Holzkiste aus der Schrankschublade im Wohnzimmer, das nachts mit der ausgeklappten Couch gleichzeitig Schlafzimmer der Eltern ist. In der Holzkiste liegen immer alle Rechnungen, die meisten unbezahlt. In einem blauen Umschlag die monatlichen Rechnungen aus dem Kinderkrankenhaus.
„Privat, katholisch!“, sagt Vater so verächtlich wie möglich. „Noch fünf Jahre abzahlen, alles für deinen Reißverschluss, Jan“, erklärt er bitter. Da gehe ich schon in den Kindergarten. Der Reißverschluss ist eine etwa acht Zentimeter lange Narbe auf meinem Bauch, die mit mir wächst.
Zwei Wochen nach der Geburt musste ich zurück ins Krankenhaus, weil mein Magen irgendwie krank war. Im städtischen Krankenhaus gab es für so was eine Warteliste. Der Arzt dort sagte: „Die Chancen stehen nicht gut …“ Mama schaute Vater flehend an. Der zögerte keine Sekunde: „Dann eben privat!“ Sie wickelten mich in eine Decke und brachten mich noch am selben Nachmittag zu den „Katholen“. Wahnsinnig teuer, aber ohne Wartezeit. Erst nach drei Monaten durfte ich wieder nach Hause.
Vater musste vorab unterschreiben, alle Kosten für die zweistündige Operation und die vielen Wochen in der Babyabteilung an jedem Ersten direkt von seinem Gehalt zu bezahlen, noch vor der Miete und anderen möglichen Verpflichtungen. Zehn Jahre lang. So viel Geld. Ein Vermögen. Als einfacher Streifenpolizist verdient man nicht viel. Nichts von den Schulden wurde jemals erlassen. Irgendwann schrieb Vater keine Anträge mehr an den Bischof.
Ich schäme mich, als ich eine Ahnung davon bekomme, was für ein teures Kind ich bin.
Wir waren arm, aber nicht bettelarm. Wir Kinder hungerten nie und hatten immer was anzuziehen. Vater und Mutter drehten jeden Pfennig dreimal um, bevor sie sich selbst etwas kauften. Zerlöcherte Kleidung wurde von Mama geflickt, Strümpfe wurden gestopft. Wenn mein Bruder was Neues bekam, freute ich mich darauf, es auch irgendwann tragen zu können, wenn es ihm zu klein geworden sein würde.
Es gab kein Auto, keine Urlaubsreisen, auch keinen Fernseher, als die ersten in Schwarz-Weiß zu kaufen waren. Manchmal gab es drei Tage lang denselben Eintopf, am Ende mit Wasser verlängert. Zuweilen aß auch eine der Omas oder der Opa mit. Aber wenn jemand sich auch nur irgendwie beklagte, entgegnete Mama selbstbewusst und ohne Zögern: „Mir schmeckt’s!“
Dann waren alle ruhig.
Bettelarm waren wir wirklich nicht. Deswegen haben sie sich nicht gestritten.
Ich bin mir sicher, meine Eltern haben einander geliebt – auf ihre Weise und eben dann, wenn sie sich nicht gestritten haben. Die Wohnung war so klein, dass ihr Sex in manchen Nächten unüberhörbar war – selbst wenn Mama zuweilen stammelte: „Nicht so laut, die Kinder …“
Ab und zu sehe ich Vater als Silhouette im Halbdunkel durch die nicht ganz geschlossene Wohnzimmertür, wie er nackt am Fenster steht und danach eine raucht, während ich unbemerkt zum Klo schleiche und mich freue. Ich kann nicht sagen, worüber. Es ist einfach gut.
Ich finde auch, dass sie beide klasse aussehen. Vater gewinnt immer wieder Preise bei den Schwimmmeisterschaften der Berliner Polizei, und Mama hat lange braune Haare und schöne Lippen, mit denen sie uns Kindern Gutenachtküsse gibt, wenn sie nicht traurig ist über den Krieg oder sich mit Vater gestritten hat.
Warum streiten sie sich nur immer wieder? Und das nicht nur ein bisschen. Dann fliegen echt die Fetzen. Vater knallt mit den Türen, Mama schreit: „Geh doch zurück zu deiner Mutter! Die liebst du ja doch mehr als mich!“ Und Vater, ohnehin gestresst vom Nachtdienst, zittert vor Wut und brüllt sich mit rotem Kopf die Seele aus dem Leib: „Lass meine Mutter aus dem Spiel, die hat genug Scheiße erlebt. Die braucht nicht auch noch deinen Mist!“
Wenn es so weit ist, vergessen sie alles um sich herum: uns Kinder, die Nachbarn sowieso. Das alte Ehepaar von unter uns keift dann manchmal durchs offene Fenster zu uns herauf: „Schnauze da oben!“ Aber Mama und Vater hören nichts, wenn sie sich streiten.
Mein Bruder geht, obwohl er der Ältere ist, meist in Deckung, verschwindet einfach: unter den Tisch, unter die Eckbank oder im Schrank. Wir sind allein. Mein Bruder. Ich. Jeder für sich.
Ich hänge mich oft an Mama und heule mit ihr, auch wenn ich nicht genau weiß, warum.
Einmal sagt sie leise zu mir: „Pusteblume, Kleiner. Ich hatte doch auch mal Träume. Alle weg. Eben wie bei einer Pusteblume.“
Wenn sie beide nicht mehr konnten, einfach aus Erschöpfung, ist Vater meist abgehauen – nicht ohne die Wohnungstür so laut zuzuknallen, dass alle anderen Mietparteien im Haus es hörten. Niemals hat er Mama geschlagen.
Nach dem Geschrei schwiegen sie sich tagelang an. Kein Wort, auch nicht beim Essen. Selbst wir Kinder sprachen kein Wort. Eisiges Schweigen. Keine Gutenachtküsse. Wenn Mutter dann auch noch Migräne bekam, wurden die Gardinen zugezogen. Es wurde so still und dunkel in der kleinen Zweizimmerwohnung, als wäre kein Mensch mehr am Leben.
Irgendwann denke ich: Ist alles wegen des Krieges. Wenn es um Krieg geht, heult Mama ja auch ohne Streit einfach los. Was hat der Krieg nur mit ihnen gemacht? Etwas Unerklärliches, etwas Schlimmes, so dass niemand mehr zuhören kann oder will. Nur noch Geschrei.
Es gibt dieses Schwarz-Weiß-Foto von mir, da bin ich noch kleiner als jetzt. Mama hat es sogar in einen Rahmen getan. Inzwischen weiß ich ja auch, warum. Wegen ihrer Träume. Vater hat es aufgenommen mit seiner Boxkamera, acht Fotos auf einem Film. Ich laufe an irgendeinem Feld lang und puste auf eine Blume.
„Das ist Löwenzahn“, erklärt Mama.
Ein schöner Name, denke ich – für eine Pusteblume.
Ab und zu male ich auf kleine Zettel Blumen und Herzen und schreibe mit verschiedenfarbigen Buntstiften in krakeliger Schrift dazu: „Liebe Mama, lieber Vater! Bitte vertraagt euch wida, Jan.“ Die Zettel lege ich dann irgendwo in die Wohnung. Das kann ich schon ab der zweiten Klasse. Bald weiß ich auch, dass „vertragt“ nur ein a hat und wie man „wieder“ schreibt.
„Idiot!“, sagt mein Bruder trotzdem. Vermutlich hat er recht.
Es gibt da ernste Geschichten, die undeutlich blieben, aber eben doch irgendwie mit Krieg zu tun hatten: wie Mama sich alte Frauenkleider anzog und mit Kohle Falten ins Gesicht malte, damit die Russen sie nicht als junges Mädchen erkennen sollten. „Hat meist geklappt, aber einmal nicht …“, sagte sie kaum hörbar.
Das ist alles, was wir erfahren haben, so lange sie lebte. Mama redete überhaupt wenig über damals mit uns.
Anders als Vater. Er erzählte nicht oft, aber manchmal doch. Zum Beispiel die traurige Geschichte von Opa Willem, den es nicht mehr gab.
Vaters Mutter ist Oma Elli, die ohne Mann. Opa Willem, Vaters Vater, stirbt schon vor dem Krieg. Hat einfach Pech: endlich eine Arbeit, wenn auch nur als Souvenirverkäufer im neugebauten Berliner Olympiastadion. Dafür bekommt er sogar eine weiße Schirmmütze. Da kann man nicht einfach wegen einer Lungenentzündung zu Hause bleiben. Also geht er auch mit hohem Fieber noch hin. Fünf Tage später ist er tot.
Da ist Vater acht und sorgt ab dann für seine kleine Schwester Laura. Holt sie von einer Nachbarin, sobald er aus der Schule heimkommt. Seine Mutter muss nun irgendwie Geld beschaffen. Egal, wie. Und wenn sie Klos putzen geht.
Aber dann hat auch sie Pech: Ihre Augen werden immer schlechter, obwohl sie noch so jung ist, so dass sie bald nicht mal mehr putzen gehen kann. Geld für einen Augenarzt gibt es schon gar nicht. Und auf einmal ist sie blind. Da ist Oma Elli noch jung und keine Oma.
Vater erzählt Harald und mir, wie er, nun ein großer Junge von zehn, seine blinde Mutter zur Stütze bringt. Dort erhält sie immerhin eine Karte, mit der sie einmal pro Woche Gemüse vom Laden an der Ecke umsonst abholen kann. Dahin geht sie bald allein mit ihrem weißen Stock. „Oma Elli will weiter alles ohne Hilfe von anderen machen“, sagt Vater. „Niemals abhängig werden, versteht ihr?“ Harald und ich nicken aufmerksam.
Vater kann endlich wie andere Jungen auch zur Hitler-Jugend. Am besten ist er beim Bauen von Segelfliegern, berichtet er stolz. Und zu essen gibt es da auch manchmal. Jetzt lacht er sogar und sagt: „Hitler sorgte für die Jugend!“
Dabei schaut er uns aufmerksam an. Wir wissen, dass Hitler heute verboten ist. Tot ist er außerdem. Einfach weg, nicht mal ein Grab hat der. Vater fand aber damals auch was gut an Hitler. Segelflieger zum Beispiel.
Wir schauen schweigend zurück. Das mit Hitler ist eindeutig kompliziert. Jedenfalls für Vater. Obwohl er genau wie wir weiß, dass Hitler verboten ist. Vater will uns was sagen. Was nur? Vielleicht, wie schwierig und kompliziert das alles für ihn noch immer ist.
Da gibt es nämlich auch noch die andere Geschichte von der Nachbarsfamilie Silbermann. Herr Silbermann verschwindet plötzlich, im selben Jahr, in dem Oma Elli als junge Frau erblindet.
„Wie – verschwindet?“, fragt Harald. Vater zuckt mit den Schultern: „Eben abgeholt …“ Warum? Von wem? Es bleibt offen.
Vater will erst noch etwas anderes zur Familie Silbermann loswerden – die Geschichte mit den Briefmarken aus Brasilien, die er bis heute aufgehoben hat. Als nämlich wenig später Frau Silbermann mit der kleinen Rachel wegzieht, ganz weit nach Brasilien, muss Vater ihr im Auftrag seiner blinden Mutter Karten nach São Paulo schreiben. Und manchmal kommen auch Postkarten von dort, mit bunten Briefmarken, die sonst keiner hat. Eben so lange die Post noch geht.
Kurz vor dem Krieg stirbt Vaters kleine Schwester Laura. Ganz schrecklich. Ein Autounfall, obwohl es doch noch kaum Autos gibt. Direkt vor dem Kindergarten. Da, wo sie auf den großen Bruder wartet. Wäre er nur fünf Minuten eher gekommen. Ist er aber nicht. Er ist genau pünktlich. Die Kindergärtnerin muss eher weg an dem Tag. Niemand hat wirklich Schuld. Nicht mal der Autofahrer, der nicht mehr ausweichen kann. Laura läuft einfach auf die Straße. Kurz nach ihrem vierten Geburtstag.
Von da an hat Oma Elli nur noch ihren großen Jungen.
Vater erzählt es uns nur einmal. Als Harald fragt, wer das kleine Mädchen auf dem schwarz-weißen Foto in seiner Brieftasche ist. „Laura war halb so alt, wie du jetzt bist, Harry“, sagt Vater an meinen Bruder gewandt.
Bis heute kann ich Vater vor mir sehen, wie er das zu Harald sagte. Sein trauriges Gesicht mit feuchten Augen, aber ohne zu heulen. Höre seine tiefe, ernste Stimme. Harald und ich wussten gleichzeitig, dass wir nicht einfach noch mehr nach der kleinen Laura fragen konnten. Tat zu weh.
Mamas Gesicht verändert sich, wenn Oma Ellis Name auch nur genannt wird. Wie dunkle Wolken tauchen auf ihrer Stirn dann tiefe Falten auf. Oft beginnt ein Streit wegen Oma Elli.
„Sie mischt sich in alles ein“, sagt Mama noch ruhig.
Aber da ist Vater schon wieder wütend: „Niemals lasse ich meine Mutter im Stich. Wegen dir schon gar nicht!“
Jetzt schreit Mama: „Immer deine Mutter! Ja, sie hatte ein schweres Leben. Aber sie ist doch nicht mit dir verheiratet.“
Vater brüllt: „Ich hab genug von deiner Anstellerei. Immer ist meine Mutter schuld!“
Und so weiter.
Am Ende knallen die Türen.
Vater bleibt weg über Nacht.
Ich mag Oma Elli, auch wenn es wegen ihr so oft Streit gibt. Sie kann so schöne Märchen erzählen, von ihr selbst ausgedachte: das vom Bettler, der einmal so viel essen darf, bis er platzt. Ein guter Tod, findet Oma. Und sie hat vor nichts Angst, auch wenn sie nichts sieht. Außerdem raucht sie und trinkt gern Schnaps, wenn auch meist nur heimlich. Wenn sie ein Glas zu viel getrunken hat, singt sie gern, zum Beispiel: „So ein Tag, so wunderschön wie heute …“ Selbst wenn niemand mitsingt.
Auch wenn ihr der Arzt das Rauchen streng verboten hat, schafft sie es immer wieder, an Zigaretten zu kommen. Einmal, als sonst niemand daheim ist, fragt sie mich, ob ich mit ihr zum Kiosk gehen kann: „Aber es bleibt unter uns, ja?“ Ich nehme sie bei der Hand, und wir ziehen los zum Kiosk. Wir kaufen zwei Zigaretten. Als ich auf dem Rückweg unter einem Straßenschild durchlaufe, knallt sie mit dem Gesicht voll dagegen. Blut strömt aus ihrer Nase. Ich heule. Aber sie wischt sich nur das Blut mit dem Ärmel ab und sagt ruhig: „Kannst du doch nichts für, Janni.“
Zu Hause bleibt es dann natürlich nicht unter uns, weil ihre geschwollene Nase unübersehbar ist. Obwohl auch Vater sich über Omas Ausflug mit mir ärgert, schaffen es Mama und Vater doch, wieder einen Streit vom Zaun zu brechen.
Was auch immer andere sagen mochten: Wir hatten keine Not, mussten niemals betteln. Aber wegen der vielen Streitigkeiten meiner Eltern waren wir eben auch nicht wirklich glücklich. Dabei gaben sich beide immer wieder so viel Mühe: Dann hörten wir abends zusammen ein Hörspiel im Radio oder am Sonntagmorgen um zehn für Kinder den Onkel Tobias vom RIAS.4
Mama erzählt zuweilen, wenn sie nicht traurig ist, lustige Geschichten aus ihrer Kinderzeit – aus der Zeit, als noch kein Krieg war und sie mit ihrer Freundin Inga im Teltowkanal ganz allein schwimmen lernte: „Inga paddelte immer wie ein kleiner Hund, aber war die Erste, die es bis auf die andere Seite schaffte.“
Tante Inga kommt manchmal zu Besuch, wenn Vater auf Schicht ist, und dann erzählen beide von früher und lachen viel. Tante Inga hat eine schrille Stimme und lacht, dass die Wände wackeln. Nur wenn sie über Krieg oder Oma reden, müssen mein Bruder und ich raus aus der Küche. Aber dann lachen sie auch nicht, und man hört selbst Tante Ingas Stimme kaum, da sie meist auch noch die Tür zumachen.
Vater repariert unsere Schuhe, auch die von Mama. Er kann alles, selbst neue Sohlen drunter leimen. Auch schneidet er sich und uns beiden Jungen immer die Haare. Schließlich bastelt er mit uns alles Mögliche: im Herbst aus Kastanien und Streichhölzern kleine Männchen und in der Adventszeit aus Goldpapier Sterne für den Weihnachtsbaum. Man kann sehen, wie gut er als Goldschmied gewesen wäre, wenn es nur den Krieg nicht gegeben hätte.
Weihnachten geht es immer schief.
Am Heiligabend kommen beide Omas und Opa Hans, der noch lebt. Sie kommen gemeinsam im Bus aus Moabit, einem Stadtteil weit weg von Lankwitz.
Zu Weihnachten ist jeder noch angespannter als sonst. Damit nichts schiefgeht, schweigen alle so lange wie möglich. Aber irgendwas geht dann doch schief: Mal verbrennt Mama sich an der Ofentür, die Vater hat offen stehen lassen. Ein anderes Mal hat Vater das verkehrte Oberhemd an, denn Mama hat extra ein anderes für ihn gebügelt. Nicht wirkliche Gründe. Aber genug, um einander Vorwürfe zu machen.
Wenn das Schreien beginnt, brechen die Eltern von Mama zuerst still auf. Vom Braten bekommen sie etwas eingepackt. Ebenso wie die blinde Oma Elli, die von Vater heimgebracht wird. Meist knallt er dann nicht die Tür zu – weil doch Weihnachten ist. Ist auch so schon schlimm genug.
Ich versuche mir einzureden, dass das normal ist und man deshalb daran auch nichts ändern kann. Darum funktionieren wohl auch meine Briefe mit Blumen und Herzen nicht.
Es gelingt mir nicht wirklich. Ich wünsche mir öfter, man könnte Weihnachten einfach ausfallen lassen. Muss wirklich nicht sein. Die Adventszeit mit Basteln ist schön und reicht doch.
Einmal in der Woche heizt Mama den Ofen im Badezimmer. Wenn Vater nicht auf Schicht ist, badet er als Erster in der Wanne. Alles dampft, und vom Spiegel rinnt das Kondenswasser. Während der Woche waschen wir uns mit kaltem Wasser. Aber am Samstag ist Badetag.
Bevor mein Bruder und ich in Vaters noch herrlich warmes Badewasser dürfen, sehen wir, wie er sich abtrocknet und mit einer Lotion einreibt. Harald drängelt, weil ihm kalt ist.
Ich schaue Vater fasziniert zu. Wie seine Haut glänzt, wie sich die Muskeln an seinen Armen und am Bauch spannen! Vater schämt sich nicht. Er weiß, dass er gut aussieht. Am Ende cremt er auch seinen Schwanz ein. Erst dann zieht er sich an und ruft: „Harald, Jan – ihr könnt in die Wanne!“
Zur Freude von Harald und mir gibt Mama dann aus der grünen Badedas-Flasche die duftende, gelbe Flüssigkeit ins Wasser. Harald und ich plantschen wie verrückt, um so viel Schaum wie möglich zu erzeugen. Wenn wir gut sind und Mama genug in die Wanne gekippt hat, geht der Schaum manchmal bis zum Rand.
Wenn ich beim Plantschen aus Versehen meinen Bruder berühre, zieht er sich reflexartig zurück. Oder tritt nach mir und ruft empört: „Mann, bleib auf deiner Seite!“
Harald findet mich nicht nur dünn, sondern klapperdürr. Er sagt es verächtlich. Mein Bruder ist tatsächlich kräftiger, hat deutliche Muskeln an Armen und Beinen. Bei mir kann man „die Rippen zählen“, wie Mama es nennt. Aber sie lacht dabei, meint es nicht böse.
Nach einer Weile sackt der Schaum in sich zusammen – egal, wie viel wir noch plantschen. Das Wasser wird kühler. Jetzt kann man auch sehen, dass wir nackt sind. Manchmal hat mein Bruder einen steifen Schwanz, er dreht sich dann weg. Ich bekomme ihn seltener steif. Aber wenn, dann ist es ein schönes Gefühl. Ich schäme mich auch nicht dafür, weil ich so sein will wie Vater. Einmal knie ich mich sogar hin, damit er unübersehbar aus dem Wasser ragt. Mein Bruder knallt mir eine und ruft: „Bist du schwul, Mann?“
Da geht er schon in die Schule. Ich noch nicht. So was lernt man wohl in der Schule, denke ich. Ich habe keine Ahnung, was „schwul“ bedeutet. Vielleicht etwas mit warmem Wasser und einem schönen Gefühl im Schwanz? Ich weiß nicht, wen ich fragen soll. Ich werde wohl warten müssen, bis ich in die Schule darf.
Vom ersten Schultag gibt es ein Foto von mir: blaue Jacke mit Goldknöpfen, graue, kurze Hose, lange, weiße Socken, neue, schwarze Schuhe und eine riesige Schultüte. Vorne im Mund fehlt ein Zahn, wie bei den meisten in dem Alter. Aber das sieht man auf dem Foto zum Glück nicht.
Nur habe ich heute keinerlei konkrete Erinnerung mehr an diesen bedeutsamen Tag. Wer hat mich zur Schule gebracht? Nur Mama? Oder hatte Vater freigenommen?
Wie das Foto zeigt, schien an diesem Frühlingstag nach Ostern die Sonne. Und ich weiß, dass ich mich auf die Schule freute. Allein schon, um es meinem großen Bruder gleichzutun.
Vielleicht ist der Beginn der Schulzeit auch vergessen, weil alles überschattet ist von einem Tag nur wenige Wochen später, als etwas geschah, das nichts mit der neuen Schule zu tun hatte. Gar nichts. Es war nämlich irgendwann in den großen Ferien, meinen ersten Sommerferien. Ein „Weltereignis“ nannte Vater es später. Mein Bruder und ich wussten lange nicht, was das wirklich bedeuten sollte. Es geschah nämlich nicht irgendwo in der Welt, sondern ganz bei uns in der Nähe. Wir hätten auf unseren Kinderrädern hinfahren können und zuschauen. Durften wir aber nicht.
Wir erlebten dafür, wie Mama durchdrehte.
Es ist Sonntag, noch kaum hell.
Wir sind am Vorabend früh schlafen gegangen, nach einem schönen Badetag an der Havel: Sogar zwei Liegestühle hat Vater in der vollen S-Bahn mitgeschleppt und Mama eine große Tasche mit Stullen und Saftflaschen. Für Vater auch ein Bier zur Feier des Tages, damit wir wirklich den ganzen Tag bleiben können. Einen ganzen sonnigen Sonnabend alle zusammen – ohne Streit. Das gibt es nicht oft. Müde, aber froh kommen wir am Abend nach Hause. Wenig später fallen wir alle zufrieden und erschöpft ins Bett. Eine traumlose Nacht.
Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen ist, hört man am Sonntag im Morgengrauen schon die ersten Vögel von draußen durch die offenen Fenster. Niemand, wirklich niemand, ahnt auch nur das Geringste.
Auch nicht Vaters Chef vom Revier. Vater läuft inzwischen nicht mehr Streife, sondern schiebt überwiegend Dienst in einer Kaserne. Die Abteilung dort heißt „Bepo“ – das steht für Bereitschaftspolizei.5 Die sollen immer bereit sein, wenn etwas Besonderes passiert – wenn zum Beispiel ein Staatspräsident nach Berlin kommt.
„Oder die Welt untergeht“, meint Vater mal lachend zu uns.
Ich lache nicht mit. Weil ich nicht weiß, wohin die Welt dann geht, und schon gar nicht, was mein Vater dann tun soll. Ich hoffe, er ist dann bei uns.
Mama lacht auch nicht mit.
Harald lacht. Aber er ist auch bereits in der dritten Klasse. Da hatten die bestimmt schon „Weltuntergang“.
Was an diesem Sonntag geschieht, kommt einem Weltuntergang jedoch ziemlich nahe. Es ist das erste Mal, dass ein Polizeiauto in unserer Straße hält, um Vater zum Dienst abzuholen.
Mein Bruder und ich hören das Auto durch das Vogelgezwitscher ankommen, unten vor unserem Mietshaus parken und schließlich zwei Männerstimmen. Aber wir denken erst nicht daran, dass es für Vater sein könnte. Bis es bei uns läutet und ein Arbeitskollege, schon in Uniform, im Flur auf Vater einredet.
Wir hören nur aufgeregte Bruchstücke: „Sofort antreten …“ – „Seit heute früh um zwei Uhr …“ – „Überall Volksarmee und Russen …“ – „Keiner kommt mehr rüber …“
Mama ist noch im Nachthemd und hat sich nur einen Bademantel übergeworfen. Sie schaut hektisch zwischen Vater und uns hin und her, ringt ihre Hände und streicht ihr Haar immer wieder aus der Stirn. Mama reißt sich zusammen, so gut sie nur kann.
„Ist jetzt Krieg, Mama?“, fragt Harald. Mein Bruder und ich sind auch aufgestanden, stehen hinter Mama im Flur und beobachten, wie Vater sich die Uniform anzieht.
Mama antwortet nicht.
Ob er sich noch rasieren kann, fragt Vater den Kollegen.
„Nein“, antwortet der. „Alarmstufe eins. Sofort raus. Die meisten anderen haben wir angerufen, aber ihr habt ja immer noch kein Telefon.“ Er sagt es mit deutlichem Vorwurf in der Stimme.
Bevor er geht, rät uns Vater: „Lasst einfach das Radio an. So werdet ihr wissen, was los ist.“
Dann sagt Mama zu Vater etwas so leise, dass sein Kollege es nicht hören kann. Aber wir schon, so dicht neben ihr: „Wenn ein Krieg kommt, gehen wir nach Amerika, so lange es noch geht. Versprichst du mir das?“
„Wie denn?“, entgegnet Vater unwirsch. „Womit denn?“ Er verspricht es Mama nicht und geht. Aber er macht die Wohnungstür leise zu. Bestimmt schlafen einige Nachbarn noch, so früh am Sonntagmorgen.
Mama beißt sich auf die Lippen. Sie denkt angestrengt nach. Was ein Krieg ist, weiß sie genau – und dass immer die kleinen Leute die Angeschissenen sind.
„Wir packen“, sagt sie zu uns. „Ich mache nicht noch einen Krieg mit. Wir hauen ab.“
Immerhin schaltet sie aber doch das Radio an. Auf keinem Sender Musikgedudel wie sonst immer am Sonntagmorgen. Auch später kein Onkel Tobias vomRIAS
