Irgendwo ist immer irgendwer verliebt - Jenn McKinlay - E-Book
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Irgendwo ist immer irgendwer verliebt E-Book

Jenn McKinlay

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Beschreibung

Drei Länder. Drei Männer. Und die große Liebe. Chelsea ist 29, Single, erfolgreich in ihrem Job – und unglücklich. Doch erst als ihr Vater ihr verkündet, dass er wieder heiraten möchte, realisiert Chelsea, dass sie seit dem Tod ihrer Mutter ein Leben auf Sparflamme geführt hat: Keine Abenteuer, keine Freude, keine Liebe. Glücklich war sie das letzte Mal vor sieben Jahre während ihrer Europareise nach dem College. Ein Jahr lang reiste Chelsea durch Irland, Frankreich und Italien, genoss das Leben in vollen Zügen – und verliebte sich in Colin, Jean Claude und Marcelino. Kurzerhand reist Chelsea zurück nach Europa und sucht ihr verlorenes Glück – und die große Liebe.

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Jenn McKinlay

Irgendwo ist immer irgendwer verliebt

Roman

Aus dem Englischen von Alexandra Rak

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

Für Alyssa Amaturo,

mein hinreißendes Blumenmädchen,

das inzwischen zu einer wunderbaren Frau herangewachsen ist.

Was für ein großartiger Mensch du doch bist – lustig,

talentiert, klug und rundweg großzügig!

Du hast mir bei diesem Buch wirklich sehr geholfen.

Dafür werde ich dir nie genug danken können!

Kapitel 1

»Ich heirate.«

»Hm?«

»Und die Farben haben wir auch schon ausgesucht, Rosa und Grau.«

»Ähm … Rosa und was?«

»Grau. Was meinst du, Chelsea? Du kannst ganz ehrlich sein. Ist das zu retro?«

Ich starrte meinen verwitweten Vater an. Wir standen im Stadtzentrum von Boston in einem Brautmodengeschäft an der Ecke Boylston und Berkeley Street und er erzählte mir etwas über Hochzeitsfarben. Seine Hochzeitsfarben.

»Tut mir leid – Moment mal kurz«, sagte ich. Ich hielt meine Hand hoch und blinzelte heftig, während ich zu kapieren versuchte, was zum Teufel hier gerade vor sich ging.

Nachdem mein Vater mir eine Nachricht geschickt hatte, in der er mich aufgrund eines Notfalls zu dieser Adresse bestellte, war ich von meiner Wohnung im Cambridge hierhergerast. Ich hatte mich auf eine Herz-OP gefasst gemacht und nicht auf Hochzeitsfarben.

Plötzlich bekam ich keine Luft mehr. Ich kämpfte mit meinem einengenden Wollschal, riss mir die Mütze vom Kopf und stopfte beides in meine Taschen. Dann rieb ich mir fest über die Kopfhaut und hoffte, dass ich so das Blut in meinem Hirn zum Zirkulieren brachte. Es half nicht.

Komm schon, Martin, befahl ich mir. Reiß dich zusammen!

Ich machte den Reißverschluss meiner dicken Winterjacke auf und konzentrierte mich auf meinen Vater.

»Was hast du gesagt?«, fragte ich.

»Rosa und Grau, zu retro?«, fragte Glen Martin alias Dad. Er schob seine Drahtgestellbrille die Nase hoch und schaute mich an, als hätte er eine vollkommen vernünftige Frage gestellt.

»Nein, davor.« Ich drehte meine Hand im Kreis, um ihm klarzumachen, dass er ganz bis zum Anfang zurückmusste.

»Ich heirate!«, sagte er mit untypisch hoher Stimme, und plötzlich war ich mir sicher, dass mein normalerweise gesetzter, fünfundfünfzig Jahre alter Vater derzeit wahrscheinlich von einer zwanzigjährigen Brautzilla besessen war.

»Geht es dir gut, Dad?«, fragte ich nicht ganz unbegründet. Als ich das letzte Mal seinen Beziehungsstatus überprüft hatte, war er nicht einmal mit jemandem zusammen. »Bist du kürzlich auf einer Eisplacke ausgerutscht und auf den Kopf gefallen? Irgendwie bist du gar nicht mehr du selbst.«

»Entschuldige«, sagte er. Er streckte die Hand aus und umarmte mich spontan, noch ein Anzeichen, dass er nicht sein übliches zugeknöpftes Mathematikerselbst war. »Ich bin einfach … ich bin einfach nur unheimlich glücklich. Was hältst du davon, unser Blumenmädchen zu werden?«

»Ähm … ich bin fast dreißig.« Hoffentlich sah ich nicht so bestürzt aus, wie ich mich fühlte. Was passierte hier gerade?

»Ich weiß, aber wir planen eine Hochzeitsfeier mit allem Drum und Dran, und du und deine Schwester in passenden Kleidern im Partnerlook wärt wirklich süß. Vielleicht etwas mit Glitzer?«

»Partnerlook? Glitzer?«, wiederholte ich. Ich versuchte, aus seinen Worten schlau zu werden. Was mir nicht gelang. Vollkommen klar, mein Vater hatte komplett den Verstand verloren. Wahrscheinlich wäre es am besten, meine Schwester anzurufen.

Ich studierte sein Gesicht, um herauszufinden, wie verrückt genau er war. Die gleichen haselnussbraunen Augen, die mir jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenschauten, erwiderten meinen Blick, aber während meine Augen oft erschöpft und glanzlos aussahen, leuchteten seine regelrecht. Er sah wirklich glücklich aus.

»Du meinst das ernst«, sagte ich und rang nach Luft. Ich schaute mich im Brautmodengeschäft um, das bis zur Decke mit ausladenden, bauschigen weißen Kleidern vollgestopft war. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn und doch war ich hier. »Spielst du mir einen Streich?«

»Nein.« Er lächelte wieder. »Gratuliere mir, Kleines. Ich werde heiraten.«

Ich hatte den Eindruck, als würde meine Lunge kollabieren. Während der vergangenen sieben Jahre hatte ich nie, wirklich kein einziges Mal, in Betracht gezogen, dass mein Vater wieder heiraten könnte.

»Wen?«, fragte ich. Es war doch nicht etwa …? Niemals. Das wäre völliger Irrsinn.

»Also wirklich, Chels.« Dad richtete sich auf. Ihm entglitt sein Lächeln und er legte den Kopf zur Seite – jetzt hatte er sein Nun-bin-ich-aber-gleich-enttäuscht-Elterngesicht aufgesetzt.

Der Blick wurde mir in meinem Leben noch nicht allzu oft zuteil. Im Gegensatz zu meiner jüngeren Schwester, Annabelle, die sich unter dem Blick erst zu entfalten schien. Normalerweise gab ich in so einer Situation immer sofort klein bei, aber heute nicht.

»Sheri? Du heiratest Sheri?« Ich bemühte mich, möglichst ruhig zu bleiben. Und versagte auf ganzer Linie. Als ich einen Schritt zurückging, stolperte ich über meinen aus meiner Tasche herabhängenden Schal und landete unbeholfen auf einem der cremefarbenen Samtstühle, die überall im durch und durch femininen Geschäft standen. Wahrscheinlich war es ganz gut, dass ich saß, wenn er meine Vermutung bestätigte, würde ich nämlich in Ohnmacht fallen.

»Ja, ich habe sie gefragt, ob sie mich heiraten will, und sie hat den Antrag zu meiner großen Freude angenommen«, sagte er. Seine Lippen verzogen sich wieder zu diesem albernen, breiten Grinsen, so als könnte er einfach nicht anders.

»Aber … aber … sie hat dich doch erst vor zwei Wochen auf einer Junggesellenauktion ersteigert!«, rief ich. Ich schloss meinen Mund, bevor mir noch mehr herausrutschte.

Eine Schneiderin des Geschäfts, die sich um eine Braut auf einem Podest vor einem riesigen, dreigeteilten Spiegel kümmerte, drehte sich zu uns. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem ordentlichen Knoten gebunden und ihr Gesicht war perfekt konturiert. Neben ihr kam ich mir mit meinem Make-up-freien Wochenendgesicht wie eine Vogelscheuche vor. Aber beim Verlassen meiner Wohnung hatte ich nicht im Entferntesten daran gedacht, dass die Adresse, die mein Vater mir geschickt hatte, mich zu Bridannas Brautmoden führen würde. Ich hatte mit einer Notaufnahme gerechnet; und wenn ich ehrlich war, wusste ich noch nicht genau, ob er nicht doch in eine gehörte.

Glen Martin, Mathematiker in Harvard und ein gänzlich langweiliger Familienvater, war vor meiner Schwester Annabelle genötigt worden, bei einer Junggesellenauktion für prominente Bostoner älteren Semesters mitzumachen, wodurch Geld für das Bostoner Kinderkrankenhaus gesammelt wurde. Ich war natürlich auch hingegangen, schließlich wollte ich meine Schwester und meinen Vater unterstützen, aber die Veranstaltung war größtenteils schlichtweg langweilig.

Der Höhepunkt des Abends war, als zwei Prominente wegen eines Chirurgen in einen Bieterwettstreit traten und die Verliererin der Gewinnerin ihren Pappkartenheber übers Gesicht zog. Zum Glück war der Typ ein Schönheitschirurg, denn um die Papierschnittwunde musste sich auf jeden Fall gekümmert werden.

Mein Vater war bei den Damen nicht annähernd so beliebt gewesen. Einen Mathematiker wollte keine. Die Betonung liegt auf keine. Als nach ein paar Minuten qualvoller Stille der Auktionator versuchte, den einsamen Damen meinen Vater schmackhaft zu machen, wollte ich gerade selbst für ihn bieten, als Sheri, eine zierliche Brünette, ihren Kartenheber mit dem Anfangsgebot in die Höhe reckte. Dad strahlte sie voller Dankbarkeit an und dann schossen andere Bieterkarten nur so in die Höhe, aber Sheri blieb dran und sicherte sich meinen Dad für 435,40 Dollar.

»Zwei Wochen reichen völlig aus«, sagte Dad. Er zuckte mit den Schultern und streckte wie ein Blackjack-Croupier die Hände aus, um zu zeigen, dass er weder irgendwelche Karten, Jetons, oder Bargeld versteckt hatte.

Ich starrte ihn gleichermaßen schockiert und entsetzt an.

»Ich weiß, das kommt überraschend, Chels, aber wenn …«, setzte er an.

»Dad, ich denke nicht, dass eine Junggesellenauktion die Grundlage für eine stabile, langlebige Beziehung ist.«

»Du musst zugeben, dass das eine großartige Geschichte ist«, sagte er.

»Ähm … nein.« Ich wollte möglichst vernünftig klingen, so als handelte es sich hierbei um ein mathematisches Problem, wie man beispielsweise sechzig Wassermelonen in ein kleines Auto bekommt. Ich spreizte meine Hände. »Was weißt du überhaupt über Sheri?«, fragte ich. »Was ist ihre Lieblingsfarbe?«

»Rosa, Dummerchen.« Mein Vater, ein erwachsener Mann, schaute mich mit dieser überheblichen Besserwissermiene an, die man sonst eher bei Teenagern findet. Hm.

»Also gut, wer bist du und was hast du mit meinem Vater angestellt?« Ich wollte herausfinden, ob er Fieber hatte. Vielleicht hatte er die Grippe und halluzinierte.

»Ich bin noch immer ich, Chels«, sagte er und blickte mich sanft an. »Zur Abwechslung einfach eine glücklichere Version von mir.«

Lag es wirklich nur daran? Machte ihn das so anders? Er war also glücklich? Wie konnte er mit einer Frau glücklich sein, die er kaum kannte? Vielleicht … oje. Seit dem Tod meiner Mutter war mein Vater nicht der Geselligste gewesen. Vielleicht hatte er allmählich … nun ja … Bedürfnisse, und er verwechselte das mit Liebe. Oh Gott, wie sollte ich darüber mit ihm reden?

Ich schloss die Augen und holte tief Luft. Eltern taten das ständig. Also konnte ich das auch. Ich öffnete die Augen. In der äußersten Ecke standen drei Frauen in den hässlichsten hellgrünen Kleidern, die mir je untergekommen waren. Das waren eindeutig Brautjungfern, die von der Braut gehasst wurden. Und wenn ich diesem Wahnsinn keinen Einhalt gebot, würde ich bald in einer glitzernden rosafarbenen oder grauen Version an ihrer Stelle stehen.

»Setz dich, Dad«, sagte ich. »Ich glaube, wir müssen uns unterhalten.«

Er setzte sich neben mich und sah mich mit derselben Geduld an wie damals, als er mir das Schleifenbinden beigebracht hatte. Ich schaute weg. Args, das war noch peinlicher als mein Besuch beim Gynäkologen, als mich dieser wiederholt bat, weiter nach unten zu rutschen. Als wüssten die nicht, dass ein Frauenhintern bei der jährlichen Untersuchung etwas Halt braucht. Konzentrier dich, Martin!

»Ich weiß, dass du nun schon mehrere Jahre allein lebst.« Ich räusperte mich. »Und ich kann mir gut vorstellen, dass da ein paar Bedürfnisse unbefriedigt bleiben.«

»Nein, Chels«, sagte er. »Darum geht es nicht.«

Ich ignorierte ihn und machte ohne Blickkontakt weiter, weil, Herrgott noch mal, wenn ich diese Unterhaltung schon mit ihm führen musste, dann konnte ich ihn auf keinen Fall anschauen.

»Und ich verstehe, dass du nach so einer langen Durststrecke gar nicht richtig weißt, was du fühlst, und das ist in Ordnung«, sagte ich. Gott, das hörte sich wie ein Aufklärungsbeitrag in der Sesamstraße an. »Es ist nämlich so, du musst nicht die erste Person heiraten, mit der du nach Mom geschlafen hast.«

Bitte schön! Ich hatte es gesagt. Meinen klugen Ratschlägen folgte absolutes Schweigen. Ich wartete auf seine Erleichterung, weil er nicht heiraten musste. Und wartete. Schließlich warf ich meinem Vater einen kurzen Blick zu. Er starrte mich auf dieselbe Art und Weise an wie damals, als ich entdeckte, dass er in Wirklichkeit die Zahnfee war. Verlegen.

»Sheri ist nicht die Erste«, sagte er.

»Ist sie nicht?« Ich war schockiert. Wirklich schockiert.

»Nein.«

»Aber du hast nie von jemandem erzählt«, sagte ich.

»Du brauchtest nicht Bescheid zu wissen«, antwortete er. »Ich hatte keine festen Beziehungen mit ihnen.«

»Ihnen?«, rief ich. Was ich nicht wollte. Die Schneiderin funkelte mich erneut böse an.

Dad verlagerte ein wenig sein Gewicht und lächelte mir vorsichtig zu. »Vielleicht war die Idee, uns hier zu treffen, nicht gerade ideal«, sagte er verständnisvoll. »Ich dachte, du würdest dich freuen, wenn du bei der Planung unserer Hochzeit helfen kannst, aber wahrscheinlich bist du noch nicht so weit.«

»Natürlich bin ich noch nicht so weit«, sagte ich. »Und du ebenso wenig.«

»Doch, ich schon.«

»Ach ja? Dann sag mir doch mal Folgendes: Mag Sheri lieber Hunde oder Katzen?«

»Ich weiß nicht …« Er blinzelte.

»Eben, weil ihr euch gerade mal seit zwei Wochen kennt«, sagte ich. »Erinnerst du dich noch an den Knubbel auf deiner Stirn? Den untersuchen zu lassen, hat länger als zwei Wochen gedauert, aber du willst eine Frau heiraten, bei der du dir weniger Zeit lässt als für eine Biopsie.«

Meine Stimme wurde schriller und Dad streckte mir seine Hände in einer Halt-bitte-den-Mund-Geste entgegen. Normalerweise hätte ich das auch getan, aber ich geriet gerade erst so richtig in Fahrt und holte zum finalen Schlag aus.

»Weißt du überhaupt, Dad, ob sie zu den Torten- oder Kuchenliebhaberinnen gehört?«

»Ich … ähm …«

»Ist dir klar, dass du in Erwägung ziehst, den Rest deines Lebens mit einer Person zu verbringen, bei der es an Geburtstagen Torte gibt?«

»Chels, ich weiß, dass das für dich alles recht plötzlich kommt«, sagte er. »Mir ist das wirklich bewusst, aber ich glaube, es spielt keine große Rolle, ob Sheri lieber Torte oder Kuchen mag. Wer weiß, vielleicht mag sie ja Eiscreme am liebsten, und Eiscreme passt zu allem.«

»Mom war eine Kuchenliebhaberin«, sagte ich. Da. Ich hatte es getan. Ich hatte das gewichtigste Argument gegen diesen überstürzten Eheschließungswahnsinn auf den Tisch gelegt. Mom.

Das Lächeln meines Vaters erlosch wie eine Streichholzflamme zwischen zwei Fingern. Ich fühlte mich miserabel, aber nicht so miserabel wie bei dem Gedanken an Sheri, die meine Stiefmutter werden sollte – oh nein, ganz bestimmt nicht.

»Deine Mutter ist vor sieben Jahren von uns gegangen, Chels«, sagte er. »Das ist für den Hinterbliebenen eine lange Zeit, in der er allein ist.«

»Aber du warst offenkundig ja gar nicht allein …«, protestierte ich. »Und davon abgesehen, hast du Annabelle und mich.«

»Das stimmt.«

»Warum musst du dann heiraten?«, bohrte ich nach.

Dad seufzte. »Weil ich Sheri liebe und sie zu meiner Frau machen will.«

Ich keuchte. Mir war, als hätte er mich geohrfeigt. Ja, ich wusste, dass ich mies reagierte, aber das war mein Vater. Der Mann, der geschworen hatte, meine Mutter zu lieben, bis dass der Tod sie scheidet. Doch genau darin lag das Problem, nicht wahr? Meine Mutter war gestorben und mein Vater seither immer allein, zumindest bis zu dem Zeitpunkt vor zwei Wochen, als er Sheri Armstrong kennenlernte, weil sie für den nur mäßig sexy Mathematiker immer wieder ihr Auktionskärtchen gehoben hatte.

Was ich verstand. Das tat ich wirklich. Alle wussten, dass ich in einen Bieterrausch verfallen war, als auf eBay ein funkelnagelneues Paar Jimmy Choos angeboten wurden. Es ist schwierig, etwas loszulassen, das zum Greifen nah ist, vor allem wenn ein anderer Bieter ständig den Einsatz erhöht. Aber wir sprachen hier von meinem Vater und nicht von Schuhen.

Eine der Brautmodenangestellten kam mit einem Tablett voller Mimosa-Gläser. Ich schnappte mir zwei und schüttete das sprudelnde Getränk in mich. Hoffentlich waren darin mehr Umdrehungen als Fruchtfleisch. Die Kohlensäure prickelte gegen meinen Gaumen. Könnte das Getränk doch nur den Geschmack der alarmierenden Neuigkeiten wegspülen.

»Hör mal, ich kann mir vorstellen, dass es eine berauschende Sache ist, wenn man für eine Horde alleinstehender, scharfer Frauen plötzlich zum Objekt der Begierde wird …«

»Ach, kannst du das?« Dad stützte sein Kinn auf eine Hand und schaute mich verschmitzt mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Na gut, nicht wirklich, aber was ich sagen will – und das meine ich jetzt tatsächlich –, du und Sheri habt euch ein Luftschloss gebaut«, fuhr ich fort. »Natürlich schwelgt Sheri noch in ihrem Sieg, weil sie dich ersteigert hat, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie dich heiraten sollte. Warum, bitte schön, musst du sie heiraten? Warum könnt ihr nicht einfach wie andere alte Leute in Sünde zusammenleben?«

»Weil wir uns lieben und heiraten wollen.«

»So schnell weiß man das doch noch gar nicht«, widersprach ich. »Das ist unmöglich. Noch ist ihre Stellvertreterin da.«

Mein Dad runzelte die Stirn, er verstand eindeutig nicht, was ich meinte.

»Die ersten sechs Monate bis hin zu einem Jahr bist du nicht wirklich mit jemandem zusammen«, erklärte ich. »Du lernst nur seinen Stellvertreter kennen. Die Person, die den Toilettendeckel oben lässt und die Ketchupflasche im Kühlschrank nicht findet, obwohl sie genau vor ihrer Nase liegt, zeigt sich in einer Beziehung erst Monate später. Glaub mir.«

»Wovon redest du? Selbstverständlich treffe ich mich mit einem Menschen. Ich kann dir versichern, dass Sheri durch und durch eine Frau ist«, sagte er. »Aber hallo, und was für eine.« Mein Dad bekam rote Ohren und ich spürte, wie mein Gesicht vor Verlegenheit ganz heiß wurde. Ich ließ nicht locker.

»Also erstens, Dad, igitt«, sagte ich. »Und zweitens zeigt der Stellvertreter eines Menschen sich nur von seiner besten Seite. Nach zwei Wochen kennst du die echte Sheri überhaupt noch nicht. Die echte Sheri versteckt sich rund um die Uhr hinter perfekt gestylten Haaren und sorgfältig aufgetragenem Make-up, ist die Ruhe in Person und lacht über deine flachen Witze. Obwohl sie nicht lustig sind.«

»Nein, nein und wieder nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe sie schon ohne Make-up gesehen. Und sie gerät durchaus in Rage – du solltest einmal mit ihr Auto fahren. Das hat meinen Wortschatz erweitert. Sehr lehrreich. Außerdem sind meine Flachwitze sehr wohl lustig.«

Ich verdrehte die Augen. Da lag ein hartes Stück Arbeit vor mir. Ich musste wohl etwas direkter werden.

»Ich hasse es, unhöflich zu werden, Dad, aber du lässt mir keine andere Wahl. Vielleicht heiratet sie dich nur wegen deines Geldes.« Args, ich kam mir schrecklich vor, das auszusprechen, aber er musste vor Goldgräberinnen geschützt werden. Eigentlich tat ich ihm einen Gefallen.

Überraschenderweise lachte er. »Sheri ist um einiges vermögender als ich. In dieser Beziehung bin ich der Wohltätigkeitsfall.«

»Warum um Himmels willen möchte sie dich dann heiraten?«, fragte ich.

Die Worte waren draußen, bevor ich mein Gehirn eingeschaltet hatte, um sie hinunterzuschlucken. Es war abscheulich, so etwas zu sagen. Ich wusste das, aber ich war am Ausflippen und Verzweifeln und kam mit der Situation überhaupt nicht zurecht.

»So habe ich das nicht gemeint«, setzte ich an, aber er unterbrach mich.

»Auch wenn du es nicht für möglich hältst, unter Leuten meines Alters bin ich ein ganz guter Fang.«

Er stand auf und nahm seinen Mantel von der Garderobe. Als er ihn überzog, sah er kurz verletzt aus, und mein Magen zog sich zusammen. Ich liebte meinen Vater. Ich wollte ihn auf keinen Fall verletzen und doch hatte ich genau das getan. Und zwar sehr. Ich war der letzte Abschaum.

»Es tut mir leid, Dad. Wirklich. Ich wollte nicht …«, sagte ich, doch er unterbrach mich.

»Doch, wolltest du, was mich leider nicht einmal überrascht«, sagte er. »Hör mal, ich habe den Verlust deiner Mutter an jedem einzelnen Tag seit ihrem Tod betrauert und ich werde ihr an jedem einzelnen Tag bis zu meinem Lebensende nachtrauern, aber ich habe jemanden gefunden, der mich glücklich macht, und ich will mein Leben mit ihr verbringen. Das hebt nicht auf, was ich mit deiner Mutter hatte.«

»Ach nein?« Ich haderte. Hier waren wir am springenden Punkt angelangt. Genau das hatte mich seit seiner Ankündigung gestört. Warum sah er nicht, dass er durch die Auswechslung meiner Mutter ihre gemeinsame Vergangenheit mit den Füßen trat? »Sheri wird deinen Namen annehmen, oder? Und in unser Haus ziehen, richtig? Also gibst du alles, was einmal Mom gehört hat – den Namen Mrs Glen Martin, das Haus, das sie liebte und wo sie ihre Kinder großgezogen hat –, einer anderen Frau. Und dann erzählst du mir wahrscheinlich als Nächstes, dass ich sie Mutter nennen soll.«

Über sein Gesicht huschte kurz ein schlechtes Gewissen.

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Niemals.«

»Ich verlange ja nicht, dass du sie so nennen musst. Es ist nur so, dass Sheri nie eine eigene Familie hatte, und einmal erwähnte, wie sehr sie sich darauf freut, Töchter zu bekommen. Es wäre schön, wenn du darüber nachdenken könntest, ob es nicht auch etwas Gutes hätte, dass es in deinem Leben wieder eine Mutterfigur gibt.«

»Ich bin nicht ihre Tochter und werde das auch niemals sein«, sagte ich und bekam kaum noch Luft. »Wie kannst du nur so tun, als würde all das Mom nicht auslöschen.«

Dad starrte mit schräg gelegtem Kopf auf mich herab, außerdem hatte er seine rechte Augenbraue hochgezogen, ein Doppelschlag väterlicher Enttäuschung. Er wickelte sich den Schal um den Hals und zog die Handschuhe an.

»Weißt du was? Ich habe keine Ahnung, ob Sheri meinen Nachnamen annehmen wird. Wir haben noch nicht darüber gesprochen«, sagte er. »Und was das Haus betrifft, plane ich, es zu verkaufen, damit wir unser Leben an einem neuen Ort beginnen können.«

Ich holte überrascht Luft. Mein Elternhaus. Meine Vergangenheit. Verkauft? An Fremde? Bestimmt würde ich mich gleich übergeben. Stattdessen trank ich meinen Sekt mit Orangensaft aus.

»Sheri und ich werden in drei Monaten heiraten«, sagte er. »Wir dachten an eine schöne Junihochzeit und würden uns sehr wünschen, dass du Teil davon bist.«

»Als Blumenmädchen?«, fragte ich höhnisch. »Wessen verrückte Idee war das denn?«

»Das war Sheris Idee«, sagte er und bekam schmale Lippen. »Sie war noch nie verheiratet und ist ein wenig aufgeregt. Was ich eigentlich ganz reizend finde.«

»Ein dreißigjähriges Blumenmädchen«, antwortete ich so feinfühlig wie ein Drängler im Verkehrsstau. Ich konnte einfach nicht klein beigegeben.

»In Ordnung, ich hab’s kapiert. Dann wirst du von mir aus eben kein Blumenmädchen«, sagte er. »Du kannst mich der Braut übergeben, du kannst mein Trauzeuge sein oder meine Brautjungfer, meinetwegen kannst du auch den verdammten Traugottesdienst abhalten. Ich möchte einfach, dass du dabei bist. Sheri und mir bedeutet es unendlich viel, deinen Segen zu bekommen.«

Ich starrte ihn an. Dieser sanftmütige Mathematikprofessor, der mir beigebracht hatte, wie man einen Curveball wirft, Fahrrad fährt und einem Jungen notfalls das Knie in die Weichteile rammt, hatte noch nie entschlossener gewirkt. Er meinte es ernst. Er würde Sheri Armstrong heiraten und es gab, verflucht noch mal, nichts, was ich dagegen tun konnte.

»Ich … ich.« Mir fehlten die Worte. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass es in Ordnung war, dass er verdiente, glücklich zu sein, dass ich jedes Amt übernehmen würde, das er mir zuteilte, aber ich bekam keine Luft. Ich war wie ein Fisch an Land, öffnete und schloss meinen Mund und versuchte herauszufinden, wie man atmete.

Mein Vater stellte seinen Mantelkragen hoch und wappnete sich für die kalte Märzluft. Er wirkte gleichermaßen enttäuscht und frustriert. »Überanstreng dich nicht.«

Während ich wie erstarrt dasaß, wandte er sich ab. Ich hasste das. Ich wollte nicht, dass wir so auseinandergingen. Doch die plötzliche Wendung der Ereignisse war dermaßen schockierend, dass ich nahezu katatonisch war. Unglücklich wartete ich darauf, dass er fortging, aber er drehte sich wieder zu mir. Statt wütend auf mich zu sein, dann hätte ich bestimmt auf stur gestellt und ihm Kontra geben, sah er traurig aus.

»Was ist nur los mit dir, Mäuschen?«, fragte er. »Du warst einmal das Mädchen mit dem großen Herzen, das die Welt retten wollte.«

Ich antwortete nicht. Seine Verwirrung und Enttäuschung schwappte über mich wie ein Zuber mit sauer gewordener Milch.

»Ich bin erwachsen geworden«, antwortete ich. Aber das klang selbst in meinen Ohren wie eine Schutzbehauptung.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, bist du nicht. Ganz im Gegenteil.«

»Machst du Witze? In den letzten sieben Jahren habe ich Millionen an Spendengeldern gesammelt, um den Kampf gegen Krebs zu unterstützen. Wie kannst du da behaupten, ich wäre nicht erwachsen geworden?«, fragte ich und schäumte vor Empörung. »Ich versuche, etwas in der Welt zu bewegen.«

»Das betrifft deine Karriere«, sagte er. »Wenn man in seinem Beruf Großartiges leistet, heißt das noch lange nicht, dass die Persönlichkeit wächst. Schau dir dein Leben doch an, Chels. Du arbeitest sieben Tage die Woche. Und nimmst dir nie frei. Verabredest dich nicht. Du hast keine Freunde. Verdammt, und wenn wir nicht unseren festen Brunchtermin hätten, würde ich dich wahrscheinlich nur an den Feiertagen zu Gesicht bekommen. Seit deine Mutter gestorben ist, hast du dich emotional von uns allen abgekapselt. Was ist das für ein Leben?«

Ich wandte meinen Kopf ab und starrte durchs Fenster auf die Boylston Street. Unglaublich, wie mein Vater meinen Einsatz für die American Cancer Coalition einfach abtat. Ich hatte mir den Arsch aufgerissen, um die beste Spendensammlerin der Organisation zu werden, und mit Ausnahme eines lästigen Kollegen war dieser Status auch unangetastet.

Er seufzte. Ich schaute nicht zu ihm. »Ich behaupte ja nicht, dass das, was du erreicht hast, unwichtig wäre. Du hast dich die letzten Jahre über einfach nur verändert. Ich weiß gar nicht mehr, wann du das letzte Mal jemand Besonderen mit nach Hause gebracht hast. Es ist, als würdest du dich von allem abschotten, seit deine Mutter …«

Ich riss den Kopf herum. Er sollte es bloß nicht wagen, im selben Gespräch, in dem er mir verkündete, dass er heiratete, von meiner Mutter zu sprechen.

»Chels, da bist du ja!«, rief eine Stimme von den Umkleiden auf der anderen Seite des Geschäfts. Als ich mich umdrehte, entdeckte ich meine jüngere Schwester, Annabelle, die in einer Explosion aus rosarotem Satin und Tüll mit einem breiten Streifen funkelnder Kristalle dort stand.

»Was. Ist. Das?« Ich blickte zwischen Annabelle und unserem Vater hin und her. Die Kristalle reflektierten das fluoreszierende Deckenlicht und ich sah Sternchen, vielleicht hatte ich aber auch einen Schlaganfall. Schwer zu sagen.

»Das ist unser Kleid!«, kreischte Annabelle. Dann kam sie zu uns und wirbelte im Kreis. Der lange Tüllrock fächerte sich unter dem eng anliegenden Satinmieder aus, ihre langen dunklen Locken drehten sich mit. Sie wirkte wie eine verrückt gewordene Märchenprinzessin. »Gefällt es dir oder gefällt es dir?«

»Nein, es gefällt mir nicht. Es ist zu rosa, zu bauschig, von allem zu viel!«, rief ich.

Die Schneiderin funkelte mich an, als würde sie jeden Augenblick ein paar Stecknadeln aus ihrem Nadelkissen ziehen, das um ihr Handgelenk gebunden war, und wild auf mich einstechen. Ich sprach ein wenig leiser. »Habt ihr beide den Verstand verloren? Jetzt mal im Ernst, was zum Teufel geht hier vor?«

Annabelle kam taumelnd zum Stehen. Durch das Herumwirbeln war sie wacklig auf den Beinen und wirkte nicht besonders märchenhaft, sondern eher wie eine betrunkene Prinzessin.

»Wie kannst du dich darüber nur freuen?«, blaffte ich sie an und zeigte auf das Kleid. »Hast du mich in deinen siebenundzwanzig Jahren so wenig kennengelernt? Wie konntest du nur annehmen, dass ich damit einverstanden wäre?«

Annabelle hielt sich an der Stuhllehne fest, um ihr Gleichgewicht zu finden. »Meinst du mit ›damit‹ das Kleid oder die ganze Hochzeitsgeschichte?«

»Natürlich die ganze Hochzeitsgeschichte«, knurrte ich. »Dad steckt ja wohl offensichtlich in einer Midlifecrisis und du machst da eben mal mit. Also wirklich, Annabelle.«

Annabelle blinzelte verdattert. »Welche Midlifecrisis? Dad will heiraten. Das ist großartig.«

»Du bist ja genauso übergeschnappt wie Dad!«, verkündete ich. »Zwei Wochen reichen nicht aus, um herauszubekommen, ob man jemanden heiraten sollte oder nicht. Meine Güte, es dauert länger, einen Pass zu beantragen. Was geht in deinem Hirn vor, dass du diesen Wahnsinn unterstützt?«

»Jetzt bist du aber ungerecht, Chels, und das weißt du auch«, sagte Dad.

Ich muss wohl wie ein wütender Stier ausgesehen haben, denn mein Vater änderte sofort die Taktik, sein Gesicht wurde weicher.

»Seit wann lässt du keine Liebe mehr in dein Herz?«, fragte er. Seine Stimme klang ganz sanft und voller väterlicher Sorge, was wie ein Paar Schuhe zwickte, das zu klein geworden war, aber ich ignorierte den Schmerz. »Willst du so wirklich dein Leben verbringen, Chels, ohne einen besonderen Menschen, mit dem du es teilen kannst? Also ich will das nicht.«

Ich drehte mich wieder zum Fenster und weigerte mich zu antworten. Er seufzte schwer und ging. Ich sah dabei zu, wie seine Spiegelung im Fensterglas immer kleiner und kleiner wurde. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, wann wir uns das letzte Mal gestritten und die bösen Worte, die wie ein eiterndes Geschwür zwischen uns lagen, nicht ausgeräumt hatten. Seit Moms Tod war uns allen nur zu bewusst, wie kostbar das Leben war, und am Ende einer Unterhaltung versicherten wir uns immer, dass wir uns lieb hatten, auch wenn es mal Meinungsverschiedenheiten gab.

Ich überlegte mir, ob ich ihm nachrennen sollte, um mich zu entschuldigen und ihm zu sagen, dass ich mich für ihn und Sheri freute. Aber das wäre gelogen und meine Schauspielkünste reichten nicht aus, um das glaubhaft durchzuziehen. Ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen. Stattdessen schüttete ich meinen zweiten Sekt hinunter, denn auf einen Sekt konnte man sich im Gegensatz zu seiner Familie immer verlassen.

Kapitel 2

»Warte auf mich«, sagte Annabelle. »Ich zieh mich um und dann können wir reden, in Ordnung?«

Ich antwortete nicht. Stattdessen ignorierte ich meine Schwester einfach, stellte meine leeren Gläser auf den Tisch, verließ das Brautmodengeschäft und ging in die entgegengesetzte Richtung, die mein Vater eingeschlagen hatte. Das war eine kindische Aktion – ich weiß –, aber ich war am Boden zerstört und wollte im Moment mit niemandem sprechen.

Kurz darauf klingelte mein Handy. Annabelle rief zweimal an. Ich ging nicht ran. Annabelle schrieb mir drei Nachrichten. Ich las sie nicht. Sie versuchte, mich per Videochat zu erreichen. Nein, einfach nur nein. Ich war zu wütend – nee, das traf es nicht richtig. Fassungslos? Schon eher, aber noch nicht ganz.

Das, was mich umtrieb, steckte tief in einem Strudel aus Gefühlen. Ich konnte es nicht einordnen.

Als ich an einem Zebrastreifen stehen blieb, zwickte mich die kalte Märzluft wie eine unterschwellig aggressive Tante in die Wangen. Ich zog den Reißverschluss meines Mantels hoch, wickelte den Schal um meinen Hals und setzte meine Mütze auf. Die hinterhältige frische Luft fand trotzdem noch einen Weg und kroch in meinen Mantelkragen bis auf meine Haut. Glücklicherweise war ich wie betäubt und spürte es kaum.

Verrat. Das war es, was ich fühlte. Und er schmerzte ungemein.

Ich ging die zweieinhalb Kilometer zu meinem Appartement einschließlich des besonders kalten Wegstücks über die Longfellow Bridge zu Fuß und kochte innerlich bei jedem Schritt. Man könnte meinen, dass mir durch meine Wut heiß wurde. Tat es aber nicht. Was vor allem daran lag, dass Annabelle nicht lockerließ. Sie rief an und schrieb und rief an und schrieb. Ich liebte meiner Schwester zutiefst. Wirklich, sie war mein Ein und Alles, aber manchmal machte mich ihre Hartnäckigkeit fertig.

Ich schloss die Haustür auf und trat ins Treppenhaus, endlich kam ich aus dem eisigen Wind. Als ich die Stufen zu meiner Wohnung hochging, fiel die Tür hinter mir automatisch ins Schloss. Mein Handy klingelte erneut, diesmal nahm ich Annabelles Anruf an.

»Wann hat Dad dir davon erzählt?«, fragte ich.

»Hallo erst mal, Schwesterchen.« Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus, überrascht klang sie nicht. »Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr rangehen.«

Ich wusste genau, dass meine jüngere Schwester meiner Frage auswich, was meine Entrüstung allerdings nur weiter befeuerte. Nicht genug, dass mein Vater wieder heiraten wollte, ich würde jede Wette eingehen, dass er Annabelle viel früher davon erzählt hatte als mir. Hätte er uns das nicht gemeinsam mitteilen sollen? Jetzt hatte ich den Haken an der Geschichte gefunden und der würde meinen Zorn garantiert halten.

»Wann?« Ich zog den Wintermantel aus und hängte ihn an die Garderobe auf der Rückseite meiner Wohnungstür. Ich tigerte durch mein Appartement und vermied die knarrende Diele in der Mitte des Raums. Ich wohnte im ersten Stock eines zweistöckigen Stadthauses in der Worcester Street in Cambridge, einem Vorort von Boston. Die Wohnung hatte große Fenster, Holzdielen und es zog dort wie auf dem Bahnsteig, aber der Blick aus meinem abgetrennten Schlafzimmer auf die Müllcontainer unten in der Straße war einmalig.

An der Wohnungstür klingelte es. »Warte mal kurz.«

Ich durchquerte das Zimmer und drückte auf die Gegensprechanlage. »Ja?«

»Ich bin’s.« Die Stimme meiner Schwester erscholl in Stereo aus meinem Handy und der Gegensprechanlage. Dermaßen Hi-Fi zu sein, gelang auch nur Annabelle.

»Du bist da?«, fragte ich.

»Offensichtlich«, sagte Annabelle. »Nachdem du mich einfach abserviert hast, habe ich mich gleich auf den Weg gemacht.«

»Oh.« Ich weigerte mich, mir ein schlechtes Gewissen machen zu lassen, und drückte auf den Türöffner. »Komm hoch.«

»Danke.« Annabelle legte auf und ich öffnete die Tür.

Sie sprang die Treppe hoch und geriet nicht einmal außer Puste. Ich runzelte die Stirn. Ich lebte jetzt schon seit fünf Jahren hier und schnaubte und keuchte mich noch immer bis zum Treppenabsatz von meiner Wohnung. Ich trat zur Seite, ließ meine Schwester herein und verschloss dann die Tür. Annabelle zog rasch ihren lila Wollmantel aus und warf ihn auf einen Stuhl. Das nervte. Ich hängte ihn an den freien Haken, der für Gäste reserviert war.

Als ich mich umdrehte, hatte sich Annabelle auf die Couch gefläzt. In ihren schwarzen Leggings, schwarzen Stiefeletten und einem übergroßen, dunkelgrauen Longpulli zusammen mit den dunklen, langen Locken, die ihr Gesicht umrahmten, sah sie aus wie eine Spinne. Ich weiß, das war kein netter Vergleich, aber ich war noch immer sauer auf meine Schwester, also egal.

Ich kehrte zu unserer Unterhaltung zurück. »Seit wann wusstest du es?«

»Ich habe Dad geholfen, den Ring auszusuchen«, sagte sie. Sie sprach ganz leise, fast flüsternd, damit ich nicht ausrastete. Aber sicher doch. Annabelle rieb sich mit der Seite ihres Zeigefingers mehrmals über die Wimpern. Ein untrügliches Zeichen, dass sie gestresst war. Das scherte mich nicht. Sollte Annabelle ruhig gestresst sein – genau genommen sollte sie sogar panische Angst haben.

»Und wann war das?«, grollte ich. Ich machte auf dem Absatz kehrt und stapfte in die Küchenzeile.

»Keine Ahnung.« Annabelle ließ ihre Hand sinken und zuckte mit den Schultern.

»Wann?« Ich knirschte so sehr mit den Zähnen, dass mein Kiefer wehtat. Fragend hielt ich einen Kaffeebecher hoch. Annabelle nickte.

»Ich glaube, das ist nun schon ein paar Tage her«, sagte sie, wobei ihre Stimme nach oben ging, als würde sie eine Frage stellen.

Aber das war keine Frage. Sie wusste, an welchem Tag sie den Ring gekauft hatten. Sie wollte lediglich den Schlag abmildern. Ich wappnete mich. Dann stellte ich den Becher unter die Kaffeemaschine und drückte auf Start, ehe ich mich wieder meiner Schwester zuwandte.

»Musst du erst im Kalender nachschauen?«, fragte ich. »Dort an der Wand hängt einer.«

Annabelle atmete hörbar aus und funkelte mich an. »Nein, es ist drei Tage her.«

»Und du hast mir nichts davon erzählt?« Meine Stimme wurde ganz rau und brüchig. Ich drehte mich weg, holte die Milch aus dem Kühlschrank und einen Löffel aus der Besteckschublade.

»Dad hat mich darum gebeten.«

Als ich aufschaute, sah mich meine Schwester mitfühlend an, das tat weh.

»Also hast du es nicht gemacht. Bedeute ich dir so wenig?«

»Natürlich nicht, aber …«

»Aber was?«, fragte ich provozierend. Ich fühlte mich ausgeschlossen und das gefiel mir gar nicht.

Annabelle schwieg.

Ich wartete ein paar Sekunden. »Aber was, Annabelle?«, blaffte ich sie an.

»Dad ist total glücklich und ich wollte nicht, dass du das verdirbst«, sagte sie.

Die Kaffeemaschine piepte, Annabelle schob sich von der Couch und gesellte sich zu mir in die Küche. Sie nahm den Becher und überließ es mir, das Kaffeepad auszutauschen und meinen eigenen Becher unter den Auslauf zu stellen. So typisch.

»Es verderben? Wie kommst du auf die Idee, dass ich es verderben würde? Bloß weil sie sich gerade mal seit zwei Wochen kennen und die ganze Angelegenheit vollkommen dämlich ist und verrückt und schwachsinnig und albern und …« Mir fiel nichts mehr ein, aber ich weigerte mich, Annabelle recht zu geben.

»Wie ist es denn gelaufen, als Dad dir von seinen Hochzeitsplänen erzählte?«, fragte Annabelle. »Tut mir leid, dass ich das verpasst habe, ach ja, ich hatte ja gerade Kleider für ihren besonderen Tag anprobiert«, sagte sie beißend, als sie an der Küchentheke auf einen Hocker rutschte. Das brachte mich in die Defensive.

»In Ordnung«, log ich.

»Ach, als Dad dir also erzählte, dass er um Sheris Hand angehalten und sie eingewilligt hat, bist du vor Freude an die Decke gesprungen und ihm um den Hals gefallen?«

»Nicht direkt.«

»Hast du ihm deine Hand entgegengestreckt, um ihn abzuklatschen?« Annabelle trank einen Schluck Kaffee und schaute über den Rand ihrer Tasse mit zusammengekniffenen Augen zu mir. Ihren Kaffee trank sie immer schwarz, wie auch sonst.

»Nein.«

»Gettofaust?«

»Hör auf.«

»Hast du ihm in irgendeiner Art und Weise gratuliert?« Sie blieb hartnäckig.

Ich antwortete nicht. Ich hasste es, wenn sie recht hatte.

Auf dem ganzen Planeten gab es wahrscheinlich keine unterschiedlicheren Schwestern als Annabelle und mich. Als die drei Jahre Ältere war ich die Brave von uns beiden, die immer nur Einsen schrieb, sich an außerschulischen Aktivitäten beteiligte und in erster Linie dazu da war, unsere Eltern zu erfreuen. Im Gegensatz zu Annabelle.

Annabelle, die als Grafikdesignerin inzwischen in einem Loft in der Newbury Street lebte, war damals ein Wildfang. Impulsgesteuert zählte sie eher zu dem Was-scheren-mich-Verbote-wenn-mir-vergeben-wird-Typus, der in Miniröcken und Springerstiefeln herumlief und in seinem ach so kreativen Dasein unangemessene Ausdrücke verwendete und Regeln lediglich als Richtlinien betrachtete.

Mit sechzehn ließ sie sich ihr erstes Tattoo stechen, illegal; mit siebzehn wurde sie wegen unerlaubten Alkoholkonsums das erste Mal verhaftet; und jetzt, im reifen Alter von siebenundzwanzig, hatte sie sich kürzlich von ihrem zweiten Ehemann scheiden lassen, einem Typen, den sie gerade mal zwei ganze Monate kannte, bevor die beiden sich das Jawort gaben. Daher war es nicht wirklich überraschend, dass sich unser Vater erst ihr anvertraut hatte, schließlich schien Annabelle zu glauben, dass eine Heirat nicht länger halten musste als ihre Laufschuhe.

Ich weiß, dass ich gerade gemein war, aber ich würde deswegen bestimmt kein schlechtes Gewissen bekommen. Ich war zu sauer.

»Hallo, Chels? Bist du noch da?« Annabelle wedelte mit ihrer Hand vor meinem Gesicht.

»Ja, bin ich.« Die Kaffeemaschine piepte wieder und ich nahm meinen Becher. Das Porzellan in meinen Händen war ganz heiß, was mir bewusst machte, dass ich fror.

»Also, hast du Dad nun irgendwie gratuliert?«

»Wenn erschrocken mit offenem Mund dastehen als Gratulation zählt, dann ja, das habe ich hinbekommen«, sagte ich.

»Du hast nichts gesagt?«, fragte sie fassungslos.

Es war nahezu unmöglich, Annabelle zu schockieren, und zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich meinen Sieg genossen. Heute aber flammte irgendwo tief in mir drinnen ein Funken Scham auf, was ich mit zwei Zuckerstücken und einem ordentlichen Schuss Milch in den Griff bekam.

»Ich schätze, den Teil hast du auch verpasst«, sagte ich. »Ich hätte da mal eine Frage: Wessen hirnverbrannte Idee war es eigentlich, mich damit in einem Brautmodenladen zu überfallen? Niemand hat mich vorgewarnt, darauf vorbereitet oder auch nur langsam an die Vorstellung gewöhnt, dass Dad sein Leben wegwirft, indem er eine völlig Fremde heiratet. Ich meine, also echt, kennt ihr mich überhaupt?«

Annabelle nickte. »Das ist ein gutes Argument. Nachdem Dad den Ring ausgesucht und ihr den Antrag gemacht hat, waren wir, ehrlich gesagt, so aufgeregt …«

Meine Schwester verstummte, deswegen ergänzte ich, was sie nicht zugeben wollte. »Ihr wart so aufgeregt, dass ihr mich vollkommen vergessen habt.«

»Nein, wir … beziehungsweise, okay, ja«, gab sie zu. »Haben wir.«

»Autsch.« Ich zog das Wort möglichst in die Länge, damit sie ein ordentlich schlechtes Gewissen bekam. Annabelle wurde blass, das hatte also gesessen.

Trotzdem fühlte ich mich nicht besser und ich hätte zu gern noch zwei Mimosas. Stattdessen musste es Trostnahrung tun, ich brauchte unbedingt irgendetwas zwischen die Zähne, was die Traurigkeit in meiner Seele vertrieb. Ich öffnete die Tür meines Vorratsschranks und starrte auf die ordentlich gestapelten Packungen Haferflocken, einen Brotlaib und ein Glas Erdnussbutter. Keine Kekse. Verdammt! Das war bedauerlich. Also warf ich die Tür zu.

»Es tut mir leid, Chels. Wir hätten dich früher einweihen sollen«, sagte Annabelle. »Aber darf ich dich etwas fragen?«

»Was?«, wollte ich wissen. Ich inspizierte gerade mein Gefrierfach, womöglich war dort ja auf wundersame Weise ein Becher Ben & Jerry’s Karamel-Sutra-Eiscreme aufgetaucht. War es nicht.

»Wenn ich dir vor ein paar Tagen schon davon erzählt hätte, hättest du dann überhaupt anders reagiert?«

Ich schlug das Gefrierfach zu und starrte meine Schwester an. »Ich schätze, das werden wir nie erfahren.«

»Wirklich?«, fragte Annabelle. Sie nippte an ihrem Kaffee. »Ich denke, wir wissen es doch.«

Ihre hochmütige Art erwischte mich auf dem falschen Fuß. »Diese Frau hat unseren Vater vor zwei Wochen auf einer Junggesellenauktion für prominente Bostoner ersteigert. Für eine Heirat kennt er sie noch nicht gut genug. Wie kannst du damit einverstanden sein?«

»Weil ich sie mag«, sagte sie.

»Du magst sie?«, fragte ich. »Du kennst sie doch auch nicht!«

»Ich kenne sie besser als du«, sagte sie und klang dabei ziemlich arrogant. Das nervte.

»Also schön.« Ich verdrehte die Augen und trank einen Schluck aufputschenden Kaffee. Der vertrieb jedweden Schwips, den mir meine Mimosas beschert hatten, was in der Situation wahrscheinlich ganz gut war, aber was für eine Verschwendung.

»Ich bringe meine Schmutzwäsche noch immer zu Dad, daher sehen wir uns regelmäßig sonntagabends«, sagte sie. »Sheri war die letzten beiden Sonntage dort und wir haben Zeit miteinander verbracht. Letztens sind wir sogar zusammen in eine Ausstellung im Kunstmuseum gegangen.«

»Du hast dich mit ihr angefreundet«, sagte ich vorwurfsvoll.

»Ich versuche es zumindest«, sagte sie. »Ehrlich, ich mag Sheri. Sie ist schräg und lustig.«

»Sie will, dass wir ihre Blumenmädchen werden«, sagte ich ungehalten. »Das ist nicht schräg – das ist bizarr.«

Annabelle runzelte die Stirn. »Also ich finde es witzig. Sie war noch nie verheiratet. Sie ist aufgeregt.«

»Würg«, brummte ich. Mir fehlten ungelogen die Worte.

»Was ist denn schon dabei, wenn sie gerne möchte, dass wir die gleichen Kleider tragen und Rosenblätter streuen? Es ist doch egal, solange sie Dad glücklich macht.«

Was redete sie denn da für einen Unsinn. Annabelle klang wie die Selbstlosigkeit in Person, wo ich doch immer dachte, das wäre meine Rolle als ältere Schwester. Das ließ mich angesichts der ganzen Situation natürlich noch ungehaltener werden.

»Das hätte ich mir ja denken können«, sagte ich. »Seit Mom gestorben ist, waren es immer du und Dad gegen mich. Wie konnte ich bloß auf die Idee kommen, dass du plötzlich auf meiner Seite stehst, bloß weil er eine komplett Fremde heiratet.«

»Ach komm schon, Chels. Das ist völliger Bockmist und das weißt du auch. Dad und ich habe uns nie gegen dich verbündet«, sagte sie. »Weißt du was, wenn du dir mal einen Tag freinehmen und mit uns verbringen würdest, wärst du auch eher auf dem Laufenden.«

»Hör auf, mich zu bevormunden. Was ich mache, ist sehr wichtig.«

Annabelle schwieg einen Moment. »Deine Familie auch«, sagte sie dann.

»Das weiß ich«, antwortete ich, in mir brodelte es. »Ich weiß das besser als jeder andere. Deswegen tue ich auch, was ich tue.«

»Hör mal, du bist nicht die Einzige, die Mom verloren hat.« Sie schob den Becher zur Seite und lehnte sich ganz nah zu mir nach vorn. Ich würde ganz bestimmt nicht zurückweichen. »Was ist mit der Familie, die noch immer da ist, noch immer lebt, noch immer möchte, dass du ein Teil von ihr bist? Du hast uns seit Jahren ausgeschlossen, genau wie deine Freunde. Du lebst in einer selbst auferlegten Isolation, nimmst an keinen Hochzeiten, Partys – oder dem Leben teil! Was glaubst du, wie lange wir noch bei dir anklopfen werden?«

»Was willst du damit sagen?«, fragte ich. Jetzt wich ich doch ein Stück zurück. »Verstößt du mich, wenn ich Dads Hochzeit nicht zustimme?«

»Würde dir das überhaupt auffallen? Hör mal, ich liebe dich. Du bist meine große Schwester und wirst es auch immer bleiben, aber du hast dich verändert, Chels. Nachdem Mom gestorben ist, hast du dich zurückgezogen und nie damit aufgehört. Ich erkenne dich nicht mehr wieder. Du lässt keinen mehr an dich ran.«

»Nein, das stimmt nicht«, protestierte ich. »Außerdem geht es hier überhaupt nicht um mich.«

»Doch, tut es. Es geht zu einhundert Prozent um dich. Ist dir klar, dass du lediglich in der Zeit vor Moms Tod irgendwelche Beziehungen hattest?«, fragte sie. »Und mit einem Mann verabredet hast du sich schon seit Jahren nicht mehr.«

»Was hat das denn damit zu tun?«

»Wie willst du auch nur ansatzweise verstehen, was Dad für Sheri empfindet, wenn du nicht mehr verliebt warst seit … Ich weiß nicht einmal, seit wann.«

»Das ist lächerlich«, sagte ich. Ich brauchte ein wenig Abstand. Also trank ich einen belebenden Schluck Kaffee und ging von der Küche zur Couch. Ich setzte mich mit angezogenen Knien darauf und tat so, als wollte ich mich aufwärmen.

»Schau dich doch an!« Annabelle zeigte zu mir. »Jetzt gerade machst du es auch. Du siehst aus wie ein Igel und deine Körperhaltung schreit mir entgegen: Komm mir nicht zu nah!«

Obwohl ich wusste, dass meine Schwester recht hatte, wollte ich nicht klein beigegeben. »Weißt du was? Ich hätte mir denken können, dass du die Geschichte auf deine typische Annabelle-Art verdrehst.«

»Was soll das denn jetzt heißen?« Sie nahm ihren Kaffeebecher und setzte sich auf die äußerste Ecke der Couch.

»Ich versuche, mit dir über Dads Heirat zu sprechen, und du verdrehst das Ganze so, dass du mir einen Vortrag darüber hältst, was mit mir nicht stimmt«, sagte ich. »Und nur zu deiner Information, mit mir ist alles in Ordnung.«

»Großartig, dann kannst du ja auch zur Hochzeit kommen.«

Das kam wie ein Doppelschlag aus dem Nichts und ich wurde panisch. »Nein! Ich kann nicht … Das habe ich nicht …«

»Ich erkläre dir das jetzt mal, Chels«, sagte Annabelle. »Dad ist verliebt und wird heiraten. Entweder reißt du dich zusammen und bist dabei oder du ziehst dich immer weiter von deiner Familie zurück, wie du es schon die ganze Zeit tust, bis wir nur noch dem Namen nach eine Familie sind. Ist es das, was du willst?«

»Nein, aber ich kann nicht … Was ist mit Mom?« Meine Stimme brach und ich holte tief Luft, um das Engegefühl in meiner Kehle loszuwerden. Ich nahm meine Knie herunter und stellte meinen Becher auf den Beistelltisch.

»Hier geht es nicht um Mom«, sagte Annabelle. »Es geht um dich.«

»Wovon redest du? Natürlich geht es um Mom.«

»Chels, Dad ist fünfundfünfzig Jahre alt. Das ist womöglich seine letzte Chance, eine Frau zu finden, mit der er sein Leben teilen kann. Willst du ihm das wirklich verwehren, weil du dir wünschst, dass er sich genauso an die Erinnerung von Mom festklammert wie du?«, fragte sie. »Mom würde das nicht wollen und du solltest das auch nicht.«

»Das weißt du doch gar nicht.« Ich kochte vor Wut. Ich hasste dieses Gespräch und hätte Annabelle am liebsten rausgeworfen, aber meine Schwester war noch nicht fertig.

»Doch, tue ich. Mom hat uns geliebt und wollte, dass wir glücklich sind. Wenn du die Erinnerung an sie tatsächlich so sehr in Ehren halten möchtest, wie du behauptest, dann solltest du deinen Kram auf die Reihe kriegen und herausbekommen, wie es in deinem Leben weitergehen soll«, sagte Annabelle. »Wann warst du das letzte Mal glücklich und hast so richtig herzhaft gelacht?«

»Ich lache ständig«, behauptete ich.

»Wirklich?«

»Nur zu deiner Information, ich folge verschiedenen Online-Größen, die urkomisch sind«, sagte ich. »Eine von denen zeigt diese klitzekleinen Hamster, die klitzekleine Nahrung zu sich nehmen, und dann gibt es da auch noch haufenweise Katzenvideos – oh Gott.«

»Um deine Frage vorwegzunehmen, ja, das ist genauso armselig, wie es sich anhört.«

Ich ließ den Kopf auf die Hände sacken.

Nach einer Weile sagte Annabelle: »Ich weiß, wann du das letzte Mal glücklich warst.«

Ich schaute auf und sah meine Schwester überrascht an. »Tatsächlich? Ich weiß es nämlich nicht.«

»Doch, das tust du.« Annabelle stellte den Kaffeebecher hin und stand auf. Während sie das Wohnzimmer durchquerte, klackerten ihre Stiefelabsätze auf den alten Holzdielen. Vor dem Bücherregal, das zwischen den beiden großen Wohnzimmerfenstern stand, ging sie in die Hocke und suchte die Reihen ab.

»Da ist es ja«, sagte sie. Aus dem untersten Regal zog sie ein staubiges Scrapbook. Dann kam sie zu mir und ließ es auf meinen Schoß plumpsen. »Das letzte Mal, als ich dich aus vollem Herzen habe lachen sehen, war auf diesen Bildern.«

Ich schaute auf das Album. Wie ein Betonblock lag es auf meinen Schenkeln und drückte mich nieder.

»Du hast die letzten drei Monate von Moms Leben neben ihrem Bett gesessen und ihr Geschichten von deinem Auslandsjahr erzählt, während du das hier zusammengeklebt hast. Sie liebte deine Geschichten.«

Annabelle brach die Stimme. Sie schluckte heftig und ich erkannte die Trauer in ihren Augen. Wie gerne hätte ich sie jetzt in den Arm genommen, aber ich schaffte das nicht.

»Du hast ihr versprochen, dorthin zurückzukehren«, sagte Annabelle. Sie tippte auf den weißen Ledereinband des Buchs. »Stehst du nicht noch mit ein paar von den Leuten in Kontakt? Vielleicht ist es an der Zeit.«

»Ich weiß nicht … ich kann nicht«, protestierte ich. »Ich muss nachdenken.«

»Das musst du bestimmt.« Sie seufzte, schritt durchs Zimmer, schnappte sich ihren Mantel vom Haken und zog ihn über. Ohne ein weiteres Wort zog sie die Tür hinter sich zu.

Und wieder war da kein Ich habe dich lieb. Was passierte gerade mit meiner Familie? Ich hatte den Eindruck, als würden wir auseinanderdriften und ich musste tatenlos dabei zusehen. Wie gern hätte ich Sheri dafür verantwortlich gemacht – wirklich unheimlich gern. Wenn diese Frau nicht im Leben meines Vaters aufgetaucht wäre, hätte es all diese Unterhaltungen überhaupt nicht gegeben und alles wäre beim Alten geblieben. Aber ich wusste, dass ich den auktionskärtchenwedelnden Flaschengeist nicht wieder zurück in seine Flasche stopfen konnte.

Glücklich. Annabelle hatte mich gefragt, wann ich das letzte Mal glücklich war. Ich kannte das genaue Datum und die Uhrzeit. Am 15. Mai 2013 um 16.20 Uhr. Zu dem Zeitpunkt war ich nach der Uni ein Jahr im Ausland unterwegs und gerade in Italien. Und dort erreichte mich der Anruf meines Vaters, in dem er mich bat, nach Hause zu kommen, weil meine Mutter nur noch ein paar Wochen zu leben hatte. Ich nahm den nächsten Flieger von Florenz.

Drei Monate später starb meine Mutter. Annabelle, Dad und ich waren an ihrer Seite. Das war der Augenblick, als mir klar wurde, dass mich niemand jemals so sehr lieben würde, wie meine Mutter es getan hatte, und mit ihrem letzten Atemzug verschwanden auch die Liebe und das Glück aus meiner Welt. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie verschwunden waren, und wusste auch nicht, wie ich sie zurückholen sollte. Ich wünschte, ich könnte sie wiederfinden, aber so einfach ging das nicht.

Als ich mein Scrapbook aufschlug, wurde mir ganz eng ums Herz. In dem Buch hatte ich verschiedene Momente aus meinem Auslandsjahr zusammengetragen. Ich war zur Feier meines Hochschulabschlusses durch Europa gereist und hatte verschiedene Jobs angenommen, um mir das zu finanzieren. Das Buch hatte mir etwas zu tun gegeben, während ich mich um meine Mutter kümmerte. Auf dem ersten Bild verabschiedeten meine Eltern und Annabelle mich auf dem internationalen Flughafen von Boston.

Vorsichtig fuhr ich mit den Fingerspitzen über das Foto. Die Augen und das trotzige Kinn hatte ich von meinem Vater, aber die dicken hellbraunen Haare, meine große, schlanke Gestalt mit ein wenig zu ausladenden Hüften und mein breites Lächeln kamen alle von Mom. Ich blätterte um. London. Oh, die Stadt hatte mir unheimlich gut gefallen. Big Ben. Die U-Bahn. Der Portobello Market. Nächste Seite. Irland. Ich war den ganzen Sommer über dortgeblieben und hatte in der Grafschaft Kerry auf einer Schafsfarm gearbeitet. Als ich meine Augen schloss, roch ich noch immer das saftige Gras, spürte die feinen Nebeltröpfchen in meinem Gesicht und die warme Sonne in meinen Rücken.

Ich blätterte durch die Bilder, auf den meisten war ein rothaariger junger Mann mit einem widerspenstigen Haarwirbel und einem verschmitzten Grinsen. Colin Donovan. Ich hatte seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht und doch war ich damals total verknallt in ihn. Einmal hatte er uns alle überredet, die komplette Schafsherde in Schlafanzüge zu stecken, um Mr O’Brien einen Streich zu spielen. Bei der Erinnerung musste ich lachen.

Ich blinzelte und schlug mir die Hand vor den Mund. Dann warf ich wieder einen Blick ins Buch und blätterte weiter. Dort war Jean Claude in Paris. Bei seinem französischen Akzent und seinem unfassbar guten Aussehen wurden meine Knie immer ganz weich. Ich war das Kindermädchen der Beauchamps und er hatte als Designer für das Modehaus von Monsieur Beauchamp gearbeitet. Mit jedem Tag, den wir Händchen haltend an der Seine entlangspazierten und gemeinsam träumten, verliebte ich mich mehr in ihn.

Ich blätterte durch ein paar weitere Länder und hatte sofort alles lebendig vor Augen. Deutschland, Schweden, Spanien und Portugal hatten mich begeistert, aber nichts im Vergleich zu Italien. Ach ja, Florenz. Dort war ich Marcellino DeCapio begegnet. Ein dunkelhaariger junger Mann, dessen Leidenschaft dem Wein und mir gegolten hatte und dessen schokoladenbraune Augen direkt in meine Seele zu blicken vermochten. Er war ein geborener Schmeichler, der angeblich die Trauben an den Weinstöcken mit seinem Raunen überreden konnte, schneller zu reifen. Mich hatte er mit seinem Zauber zu weit mehr verführt. Ich spürte noch immer seine starken Arme um mich und erinnerte mich an seine seidenweichen, dichten dunklen Haare, wenn ich mit meinen Fingern durch sie strich. Ich seufzte.

Marcellino war der Einzige, zu dem ich noch Kontakt hatte. Allerdings nicht besonders eng. In der Zeit, als meine Mutter krank war und starb, hatten wir uns noch angerufen, was aber schon bald auf die jährlichen Weihnachtskarten schrumpfte. Genau genommen habe ich ihm irgendwann nur noch die Firmenkarten aus dem Büro geschickt, weil … ich weiß auch nicht.

Ich sackte in die Couch zurück und klappte das Buch zu. Das. Das war das letzte Mal, als ich wirklich glücklich war. Während meines Auslandsjahres. Und dann wurde mir klar, dass ich diese Frau, die sich in Colin und Jean Claude und Marcellino verliebt hatte, nicht mehr kannte. Ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie es sich anfühlte, wenn einem von einem Lächeln schwindlig wurde und plötzlich alles kopfstand oder man bis über beide Ohren verknallt war.

War ich zu solchen Gefühlen überhaupt noch in der Lage? Ich wusste es nicht. Aber es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Ich musste sie wiedersehen. Der Gedanke, dass ich fortging und einfach alles hinter mir ließ, um nach Europa zu reisen und diese drei Männer zu suchen, die mir einmal sehr viel bedeutet hatten, war geradezu beängstigend. Aber ich fühlte mich seit Jahren wieder lebendig. Daher gab es keinen Zweifel. Ich musste dorthin zurück.

Kapitel 3

»Ich kündige«, sagte ich.

»Entschuldige, was?« Aidan Booth nahm seine Ohrstöpsel aus den Ohren und hielt sie mir entgegen. »Ich mache gerade meine tägliche Meditation.«

»Oh, tut mir leid, dass ich störe«, sagte ich. Ich schaute mich in seinem Büro um und versuchte, dieselbe Entschlusskraft aufzubringen wie gerade eben, als ich die Worte Ich kündige hervorgestoßen hatte. Ich hatte drei Tassen Kaffee und »Flawless« von Byoncé benötigt, um mich in die nötige Stimmung zu bringen. Ich war bereiter als bereit und jetzt war ich … es nicht.

Aidan war zweiundsechzig und sein langer grauer Bart reichte ihm bis zum zweiten Knopf seines Henley-Shirts. Seine dichten Locken – ebenfalls grau – trug er als Zopf, den er im Nacken zusammenband und der bis über seine Schulterblätter fiel. Er war Veganer, der sich für die Umwelt engagierte. Neben seinem Beruf als Geschäftsführer für die American Cancer Coalition ging er in Secondhandläden einkaufen, schränkte seinen Plastikverbrauch ein und hatte in der Ecke seines Büros einen hydroponischen Gartenturm vor dem Fenster stehen, aus dessen großem Metallzylinder, der an einen Pflanzenstiel erinnerte, unterschiedliche Salatsorten wuchsen, die wie großblättrige Blumen aussahen.

»Kein Problem«, sagte er. Das tat er ständig. Genau genommen war es sein Mantra. In all den Jahren, in denen ich für Aidan arbeitete, schien er alles ganz leicht zu nehmen. »Was wolltest du mir sagen, Chelsea?«

»Ich kündige«, antwortete ich. Das kam unvermittelter, als beabsichtigt, und ich zuckte zusammen.

Aidan blinzelte. Er rammte sich den Finger in sein rechtes Ohr und wackelte damit, als wollte er es sauber machen, dann nickte er. Es war eine langsame Bewegung, als müsste er sich an die unerwartete Richtung, die unser Gespräch genommen hatte, erst gewöhnen. »Verstehe. Darf ich fragen, warum?«

Ich schnaufte. Wie viel wollte ich ihm erzählen? Ich war mir unsicher. Wie sollte ich erklären, dass mein Vater wieder heiraten wollte, ich am Rad drehte und es, wenn ich mich richtig erinnerte, schon eine Ewigkeit her war, seitdem ich das letzte Mal über etwas gelacht hatte, das nicht mit einem süßen Katzenvideo zusammenhing, in dem ein pummeliges Exemplar dieser Gattung in einem schmal zulaufenden Hosenbein steckte?

»Ich muss zu mir finden«, sagte ich. Das klang durchaus unkonventionell, daher würde Aidan schätzungsweise Verständnis dafür haben.

Ich griff nach meinem Haargummi, der meine Haare im Nacken zusammenhielt, und schob ihn hoch, dann spielte ich mit meinen Ohrringen. Ich war zappelig und musste auf Aiden nervös wirken – was ich eigentlich vermeiden wollte. Daher faltete ich die Hände in meinem Schoß, damit ich es nicht wieder tat. Ich war nicht nervös – ehrlich nicht. Ich wusste, dass das die richtige Entscheidung war. Mein Leben war vollkommen vorhersehbar geworden und musste ein wenig durcheinandergewirbelt werden.

Aidan strich über seinen Bart. An meinem ersten Arbeitstag für die Firmenspendenabteilung der ACC waren seine Haare kurz und sein Gesicht glatt rasiert. In meinen sieben Jahren hatte Aidan sich langsam verwandelt, wie ein Strand, der mit der Zeit abgetragen wird, wobei seine Gesichtszüge mithilfe von Bartöl und Zöpfen ja eher aufgeforstet worden waren.

Ich schaute kurz zu meinem Spiegelbild im Fenster hinter seinem Schreibtisch. Mir ging auf, dass ich mich in den sieben Jahren überhaupt nicht verändert hatte. Wie immer trug ich eine Seidenbluse, die ich bis zum Hals zuknöpfte, einen schmal geschnittenen Rock und taillierten Blazer. Gepaart mit meinen sechs Zentimeter hohen Pfennigabsatzpums, mit denen ich eins achtzig groß wurde, war das meine Bürokleidung. Heute hatte ich einen dunkelblauen Rock mit den passenden Pumps an, mein Blazer war graugrün und die Bluse eierschalenfarben. Ich trug wie an jedem anderen Tag die Diamantohrstecker und den Perlenring meiner Mutter. Selbst mein schulterlanger, stumpf geschnittener Bob war genau wie vor sieben Jahren gestylt. Ich nahm meine Haare immer im Genick zusammen, ließ sie nie offen oder frisierte sie anders.

Ich mochte es einfach, wie unkompliziert alles verlief, wenn meine Routine immer genau gleich blieb. So gab es morgens nie irgendwelche Überraschungen. Ich verwaltete mich, so wie ich mein Leben verwaltete: ein Platz für alles und alles an seinem Platz. Oh Mann, mein Vater hatte recht gehabt, ich hatte wirklich aufgehört, mich weiterzuentwickeln.

Obwohl ich also tipptopp hergerichtet war, machte ich mir Sorgen. Wie würde Aidan meine Kündigung aufnehmen? Hätte er Verständnis für meinen Schritt? Oder würde er mir meine Entscheidung ausreden wollen? Ich wusste nicht, ob ich dem standhalten konnte. Ich hatte dem Firmenspendenbereich eine Menge Geld eingebracht. Und es hatte nichts mit Arroganz zu tun, wenn ich behauptete, dass erst mein Einsatz unsere Abteilung so erfolgreich gemacht hatte. Das zumindest erzählte Aidan mir immer wieder bei unserem jährlichen Mitarbeitergespräch.

»Du suchst also nach Erleuchtung?«, fragte er und sah so aus, als versuchte er, meine Beweggründe zu verstehen.

Aidan war in den Jahren, die wir uns kannten, zum Buddhismus übergetreten, er hatte seine katholischen Wurzeln hinter sich gelassen und folgte nun den Lehren des Dalai-Lamas. Deswegen sollte er eigentlich auch verstehen, warum ich gehen musste. Richtig? Ich verschränkte meine Finger und bemühte mich, sie nicht zu sehr zusammenzuquetschen. Ich hatte keine Lust darauf, dass er mir anbot, mich in ein buddhistisches Kloster zu schicken. Das hat er schon einmal getan, als er befürchtete, dass ich allmählich ausbrannte.

»Nicht so sehr Erleuchtung, ich möchte einfach grundsätzlich mehr Licht in mein Leben lassen«, antwortete ich. Als ich in seine freundlichen Augen schaute, holte ich tief Luft. »Ich muss mich wieder daran erinnern«, fuhr ich fort, »wie es sich anfühlt, glücklich zu sein. Ich muss mein Lachen wiederfinden.«

Aidans Blick wurde ganz weich. Sein Bart ging an den Mundwinkeln nach oben, was bedeutete, dass er lächelte. Ich hatte den Eindruck, als überlegte er, wie sich mein Lachen anhörte. Da über der Nasenwurzel zwei tiefe Falten auftauchten, vermutete ich, dass er sich nicht an mein Lachen erinnern konnte. Da waren wir schon zu zweit. Wenn ich erheitert war, gab ich bestenfalls ein eingerostetes Schnauben von mir.

Aidan lehnte sich nach vorn. Er stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und faltete die Hände zu einem spitzen Dach. Als er mich mit seinen ruhigen, hellblauen Augen betrachtete, spürte ich, wie das Herz in meiner Brust heftig pochte. Seit ich vor zwei Jahren zur Abteilungsleiterin für Großspenden ernannt wurde, eine Beförderung, die mir im Gegensatz zu den üblichen zehn Jahren schon nach fünf Jahren Erfahrung im Firmenspendenbereich zuteilgeworden war, hatte ich mich nie krankgemeldet, keinen Urlaubstag genommen oder auch nur einen einzigen Arbeitstag verpasst, wirklich keinen einzigen.

»Ist dir bewusst, dass du die ganze Arbeit, die du in Hinblick auf Severin Robotics geleistet hast, gefährdest?«, fragte er.

Ich senkte den Kopf. Natürlich war mir das bewusst. Das war auch der Grund, warum ich letzte Nacht nur zwei Stunden geschlafen hatte und jetzt in einem nebligen, halb wachen Zustand agierte und ich sogar meinen geliebten abgetragenen Kuhschlafanzug hergeben würde, wenn ich nur für einen Moment die Augen schließen dürfte.

»Ich bin im höchsten Maße davon überzeugt, dass mein Team das auch ohne mich hinbekommt«, sagte ich und schaute ihn voller Zuversicht an. Ich glaubte wirklich an mein Team. Zu einhundert Prozent.

Aidan ließ mich nicht aus den Augen. Das war die Sache mit Aidan. Er war ein vollkommen friedfertiger, liebenswerter, entspannter Typ, aber er war auch Geschäftsführer einer Organisation, die Millionen eintrieb, und auf diese Position gelangte man nicht, wenn man ein Lackaffe war.