Irische Passagiere - Richard Ford - E-Book

Irische Passagiere E-Book

Richard Ford

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Beschreibung

In seinem Erzählungsband schreibt Richard Ford meisterhaft über die Unvollkommenheit des Menschen. „Wo nichts geziert ist, ist alles berührend.“ Ijoma Mangold, Die Zeit

Die Menschen, von denen Ford in "Irische Passagiere" erzählt, haben oft haarscharf die falsche Abzweigung im Leben genommen oder einfach Pech. Es geht so schnell – ein dummer Seitensprung, eine verpasste Chance, plötzliche Krankheit, ein Wirbelsturm, und schon ist man unterwegs zur eigenen Scheidung, muss sich ganz neu orientieren, ist plötzlich der Junge, der seinen Vater verloren hat und zum Außenseiter wird. Aber so klar Ford seine Figuren in ihren Schwächen zeigt, so beiläufig lässt er sie in Würde durch ihre Anfechtungen und Prüfungen gehen. Richard Ford begegnet dem menschlichen Makel in diesem Band mit einer Zärtlichkeit, die zutiefst berührt.

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Über das Buch

In seinem Erzählungsband schreibt Richard Ford meisterhaft über die Unvollkommenheit des Menschen. »Wo nichts geziert ist, ist alles berührend.« Ijoma Mangold, Die ZeitDie Menschen, von denen Ford in »Irische Passagiere« erzählt, haben oft haarscharf die falsche Abzweigung im Leben genommen oder einfach Pech. Es geht so schnell — ein dummer Seitensprung, eine verpasste Chance, plötzliche Krankheit, ein Wirbelsturm, und schon ist man unterwegs zur eigenen Scheidung, muss sich ganz neu orientieren, ist plötzlich der Junge, der seinen Vater verloren hat und zum Außenseiter wird. Aber so klar Ford seine Figuren in ihren Schwächen zeigt, so beiläufig lässt er sie in Würde durch ihre Anfechtungen und Prüfungen gehen. Richard Ford begegnet dem menschlichen Makel in diesem Band mit einer Zärtlichkeit, die zutiefst berührt.

Richard Ford

Irische Passagiere

Erzählungen

Aus dem Englischen von Frank Heibert

Hanser Berlin

Kristina

Nichts zu verzollen

Die Seniorpartner lachten alle über einen Film, den sie gesehen hatten. Fünfundvierzig Jahre. Weiß der Geier, irgendwas, dass es fünfundvierzig Jahre dauerte, diesen Film abzusitzen. Sie saßen am äußersten Ende des langen Tisches, und die Frau, die McGuinness bekannt vorkam, spielte mit. Beugte sich vor, als hörte sie alles zum zweiten Mal. »Miss Nagel« nannten sie sie. »Was halten Sie davon, Miss Nagel? Raus mit der Sprache.« Gelächter. Er wusste nicht, worum es überhaupt ging.

Sie war nicht groß, eher zierlich, in einem maßgeschneiderten braunen Leinenkleid, das ihre Bräune und ihren schlanken Körper gut zur Geltung brachte. Zwei Mal hatte ihr Blick ihn gestreift, vielleicht sogar öfter. Ein flatternder Blick, der zunächst für zufällig gehalten werden wollte, sich dann aber auch als Bekenntnis lesen ließ. Sie hatte gelächelt, dann weggeschaut, vielleicht kannte sie ihn von früher. Wie komisch, dachte er, dass es ihm nicht einfiel. Würde es schon.

Sie waren im Monteleone. Die schummrige alte Nachmittags-Bastion mit der Karussellbar. Es war noch nicht voll. Auf der Royal draußen, vor den hohen Fenstern, schob sich gerade eine Parade vorbei. Um-pa-pa, um-pa-pa. Dazu die schrillen Trompeten, etwas schief. St.-Paddy’s-Tag war am Dienstag, heute war erst Freitag.

An seinem Ende redeten die Jüngeren über »beurkundungspflichtige Verträge«. Man wurde wieder reich. »Helft den Banken«, sagte jemand. »Die ersten Fische, die angespült werden. Gut und schlecht. Lieber will noch der Mensch das Nichts wollen als nichts wollen …« Sie gehörten zur alteingesessensten Kanzlei Irlands von der Poydras Street. Coyne, Coyle Kelly & McGuinness et al. Freitags war der übliche Vorbeischau-Termin nach Dienstschluss mit den Juniorpartnern. Eine Chance für sie, ihren Platz zu finden usw. McGuinness war da, um sich gesellig zu zeigen.

Die Frau war nicht allein gekommen. Sondern mit einem Mr. Drown. Irgendein Klient, der schon gegangen war. Sie trank zu viel. Jeder New-Orleans-Neuling bestellte den Sazerac. Dieser sündige Geschmack nach Anis. Sie war schon mindestens beim vierten.

Jetzt streifte ihr Blick ihn schon wieder. Ein Lächeln. Sie hob herausfordernd das Kinn. Der alte Priester saß links neben ihr. Father Fagan mit seinem Pfaffenkragen. Er hatte ein Kind gezeugt, vielleicht auch zwei. Anscheinend typenoffen. Sein Bruder war Verkehrsrichter. »Warum hättest du mit mir besseren Sex als mit deinem Mann?«, hörte er die Frau sagen. Die Männer lachten alle, zu laut. Father Fagan verdrehte die Augen, schüttelte den Kopf. »Was hat Thomas Merton gesagt …«, meinte der alte Coyne. Der Priester legte die Hand an die Stirn. »Was hört man da?«, sagte jetzt eine der jungen Frauen in seiner Nähe. »Nichts Neues«, war die Antwort. »Coyne hält sich für einen Priester, dabei ist er nur ein Drecksack.«

»Miss Nagel! Miss Nagel! Was sagen Sie dazu?« Es wurde wieder laut.

*

Vor fünfunddreißig Jahren waren sie zusammen nach Island gereist (und jetzt hier zu sein war ein Schock). Beide studierten in Ithaca. Damals kannten sie sich noch kaum, das hatte keine Rolle gespielt. Ein Junge von der Katholikenschule in uptown New Orleans. Ihre Mutter, eine reiche Landschaftsmalerin, die im Apthorp Building in New York wohnte, ihr Vater auf einer Yacht in Hog Bay; schillernde Trinker. Exotisch im Kleinformat.

Sie hatten in den Frühjahrsferien nach Griechenland fahren wollen — auch wenn sie wenig voneinander wussten, waren sie bereit für ein Abenteuer. Mykonos. Das klare Wasser. Die gekalkten Häuschen, für ein paar Cent. Jeden Tag fingen die Eingeborenen Fisch für einen und bereiteten ihn auch zu. Aber das Geld reichte doch nur für Island. Um die Reise wurde zu Hause kein großes Gewese gemacht. Damals wurde sie »Barbara« gerufen. Den Namen mochte sie nicht. Er war schlicht Sandy McGuinness. Alex. Ein Anwaltssohn. Seine Mutter war Lehrerin. An denen war nichts exotisch.

Sie warfen zusammen und nahmen einen Pauschalflug nach Reykjavík und einen Bus an die abgelegenen Fjorde im Westen. Zehn Stunden. Sie rechneten mit Jugendherbergen, freundlichen Isländern, gesundem, preiswertem Essen, kalter skandinavischer Sonne. Aber nichts dergleichen. Nicht mal Fremdenzimmer. Ein Fischer am Ende eines langen Feldwegs, der sich um ein Trockengestell für Kabeljau kümmerte und kaum Englisch konnte, bot ihnen ein Grassodenhaus an, wo auf dem Dach Ziegen schliefen. Gratis. Sandy hatte sich schon in sie verliebt, bevor der Flieger abhob.

In dem Grassodenhaus schliefen sie zusammen im Kalten, redeten, rauchten, saßen am Fjord, wenn’s mal etwas Sonne gab. Er versuchte sich erfolglos am Angeln, während sie ihre Füße wärmte und Neruda über Machu Picchu las, Ken Kesey, Sylvia Plath. Sie erzählte, von ihrem Vater her habe sie Navajo-Wurzeln. Der sei Regisseur und stehe auf der schwarzen Liste. Ihre Mutter sei im Wesentlichen eine halb französische Kurtisane. Und sie selbst wolle gern »Contenance« lernen — diese (flüchtige) innere Entschlossenheit, von der sie bei Scott Fitzgerald gelesen hatte. Außerdem habe sie mal Frauen geliebt.

Währenddessen versorgte der Fischer sie mit Kabeljau, hartem Sodabrot, einem hefigen hausgebrauten Bier, Decken, Kerzen, Kleinholz gegen die frostige Märzkälte. Eines Abends lud er sie ein. Zu sich, mit seiner Frau und seinen beiden Kindern — die konnten mehr Englisch, waren aber scheu. Die Frau musterte Barbara finster. Sie gingen nur einmal hin. Sie waren zwanzig. Es war 1981.

Sandy McGuinness wusste nicht, was er von alldem halten sollte. Wenn sie sich unterhielten, würzte Barbara ihre Rede mit kleinen, hörbaren Einatmern, als würde keiner von ihnen ihr Gespräch je vergessen — er fand es eher belanglos. Sie hingegen fand er bildschön, gefühlstief und unvorhersehbar, und etwas weniger klug als sich selbst. Im Lauf ihrer sieben trägen Tage bemerkte er öfter, dass sie ihm bei den häuslichen Pflichten zusah, beim Warm- und Trockenhalten — Holztragen, Lüften, Fegen. Sie schätzte ihn ein, auf der Suche nach einer endgültigen Entscheidung. Er hätte nicht sagen können, was da entschieden werden musste — über ihn. Und dann teilte sie ihm überraschend mit, dass sie dort bleiben wollte. Sie wollte lernen, die Sagas zu lesen, das würde ihr sicher die Contenance verleihen, nach der sie suchte.

Woraufhin er dachte: Ja. Sie zu lieben ging eigentlich nicht über das Gefühl dieses Augenblicks hinaus. Er würde frohgemut nach Hause fahren. Sie vielleicht wiedersehen, vielleicht auch nicht. Damals überlegte er, Tierarzt zu werden. Sollte sie ruhig ihre Sagas lesen. Andererseits hätte er sie aber ebenso gut auf der Stelle heiraten können.

Am letzten Tag liefen sie zu Fuß in die kleine Stadt, damit Sandy zu seinem Bus kam, danach wollte sie zu ihrem Haus zurück. Sie hatte mit der Frau des Kabeljautrockners ausgemacht, ihr im Haushalt zu helfen — ein regelrechter Sieg! Außerdem sagte sie, mit einem Lächeln in die gleißende arktische Sonne, ein leuchtender, fremder Anblick in ihrem großen blauen Pullover: »Weißt du, Schatz«, sagte sie, »sobald wir uns selbst kennengelernt haben, wollen wir niemand anderen mehr. Das ist eine sehr schwere Entscheidung.«

»Von solchen Sachen verstehe ich nichts«, sagte er. Seine billige schwarze Nylonreisetasche stand neben ihm an der Bushaltestelle. Sie hatte dieses Lächeln. Strahlend. Karamellfarbene Augen. Glänzendes, mahagonifarbenes Haar, das sie an der Sonne trocknete. Am Morgen hatten sie sich noch geliebt. Nichts Besonderes. Sie sprach inzwischen mit weniger Worten als notwendig. Als ob so vieles nicht gesagt werden müsste, völlig offensichtlich geworden wäre. Er fand das aufgesetzt und selbstverliebt, seine Abreise war genau das Richtige. Was er vermissen würde, war vermissbar. Im schroffen Stadtlicht bekam ihr Gesicht etwas Grobes, das er vorher nicht bemerkt hatte, wahrscheinlich hätte es ihm bald missfallen.

»Gute Entscheidungen ergeben nicht immer gute Geschichten«, sagte sie. »Ist dir das schon mal aufgefallen?« Die Sonne zog über ihr Gesicht, sie musste blinzeln.

»Nein«, sagte er. »Ich dachte, das täten sie.«

»Wir werden uns wiedersehen«, sagte sie. »Und darüber reden. Ob es wohl stimmt.«

Sie küsste ihn auf die Wange, drehte sich um und stapfte entschlossen das Sträßchen entlang.

*

Barbara war nicht nach Ithaca zurückgekehrt. Er hörte allerdings einiges. Dass sie ihren Namen geändert hätte, von Barbara zu Alix, und Theologie an der Divinity School in Harvard studierte. Dass sie eine Zeitlang für einen Künstler Modell gestanden hätte. Dass sie krank gewesen sei — etwas Mysteriöses. Vielleicht Tuberkulose. Dass sie einen Arzt geheiratet hätte und jetzt in New York City lebte. Alles plausible Zukünfte für sie. Von den Sagas war nicht die Rede. Er fing ein Jurastudium in Chicago an und wollte danach wieder nach Hause ziehen und als Anwalt arbeiten. Das Fremde, das ihm gefallen, das er womöglich kurzzeitig geliebt hatte, würde seinen Platz in seinem Erinnerungsrepertoire einnehmen. Der Platz, den sie in seinem Leben einnahm — Island, in seinem Privatjargon —, war zu einer guten, erzählbaren Geschichte geworden. Als er mal mit einem Mädchen auf Reisen gegangen war.

*

Jetzt stand sie auf, entschuldigte sich am Tisch. Sie hatte ihm noch einen Blick zugeworfen — mit einem kleinen Flunsch, weil er nichts gesagt, kein Getue um sie gemacht hatte. Hatte sie etwa erwartet, ihm zu begegnen, nur weil sie nach New Orleans kam — nach all den Jahren? Die kleinen Annehmlichkeiten einer kleinen Stadt. Schon komisch, dass es ihm nicht schneller eingefallen war. Aber auch nicht komischer als der Zufall, dass eine Frau, die er als Student mal unverbindlich geliebt hatte, hier auftauchte. Sie war dünner geworden, fitter. Sie sah nicht nach vierundfünfzig aus. Er empfand sich selbst immer noch als jung. Der jüngste unter den Partnern. Für diese Dinge gab es keine Schablone.

Anscheinend ging sie auf die Toilette. Die Juniorpartner waren jetzt beim »Sparkassen-Paradox«. Beim »Fehlschluss vom Teil aufs Ganze«. »Ein Haus von oben nach unten aufbauen.« Das war nicht seine Welt. Sein Spezialgebiet war das Seerecht. Große Schiffe.

»Lasst sie mal durch«, sagte der Priester laut. Alle Männer standen auf — für die Dame. »Miss Nagel. Miss Nagel muss mal pullern. Oder sehen wir das falsch?« Sie hatten sich schon viel zu sehr an sie gewöhnt.

Das ärmellose braune Kleid war schlicht, aber schick. Ihre gebräunten Beine und schlanken Fesseln schimmerten im Kerzenlicht der Bar. Die Parade draußen hatte noch etwas Restschwung. Eine abgeranzte Clownstruppe. Eine Dudelsack-Polizeieinheit.

»Du hättest ja …«, sagte sie, als sie an ihm vorbeischlüpfte, als ginge sie davon aus, dass nur er sie hörte. Sie klang wie kurz vorm Lachen. Ihre dunklen Augen erkannte er jetzt wieder.

»Du hättest ja …« Einer der jüngeren Männer hatte es aufgeschnappt und wiederholte es flüsternd. Die Damentoilette befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des goldenen Hotelfoyers.

»Ich hatte nicht erwartet …«, wollte er sagen und wandte sich zu ihr. Sie hielt inne, als hätte er sie als Erster angesprochen. Sie war richtig schön gealtert. Jetzt lag nichts Grobes in ihren Zügen, nur kostbare, zuverlässige Haut. Die Männer an ihrem Ende des Tisches redeten über sie, das wusste sie bestimmt. Dass sie zu viel getrunken hatte, erkannte man an der Veränderlichkeit ihrer Miene. Als wäre sie irgendwie unentschieden. Ihre Hände drückten eine gewisse Unsicherheit aus. Ihre Augen funkelten.

»Also. Würdest du, Lieber?«, sagte sie huldvoll.

»Natürlich …«, sagte er. »Ich …«

»Im Foyer. Gleich — so lang es auch immer dauern mag, um wieder vorzeigbar zu werden?« Jetzt war sie schon unterwegs Richtung Foyer, wo sich die Hotelpagen nach ihr umdrehten. Sie trug schmale, teure, blassblaue Schuhe. Sie wirkte sportlich und roch nach etwas Exotischem. »Natürlich« hatte sie ihn nicht sagen hören. Sich nur umgewandt, im Vorbeischieben. Wie sie wohl jetzt hieß? Wahrscheinlich wieder Barbara.

*

Am hinteren Ende der Bar stand auf einem flachen Podest ein Schlagzeug, außer Gebrauch. Ein großer, älterer Schwarzer mit weißem Hemd und dunkler Hose war damit beschäftigt, es in Position zu rücken. Bald war mit Musik zu rechnen, dann würde sich die Rotunde der Bar füllen. Wer aus anderen Gründen hier war, würde zu Publikum werden. Es war nach fünf. Draußen auf der Straße ging die Parade zu Ende. Einige der Partner standen schon, aufbruchbereit, wollten nur abwarten, ob Miss Nagel zurückkam. Die Juniorpartner waren mit den jungen Kollegen einer anderen Kanzlei am Nebentisch ins Gespräch gekommen. Hershberg — Linz. Öl- und Gas-Anwälte damals in den Boomzeiten. Jetzt Gewerbebauten. Gebäude bauen. Hatte kaum noch was mit Juristerei zu tun. Es war lärmiger geworden. »Diese Miss Nagel«, hörte er jemanden sagen und lachen.

*

Zum Warten stellte er sich im Foyer an den Schaukasten mit Büchern und Fotos von berühmten Schriftstellern, die hier schon abgestiegen waren. Tennessee Williams. Faulkner. So ein Ort war das — selbstgestaltet-literarischer Anstrich. Touristen, die sich die Parade angeschaut hatten, strömten verschwitzt und erschöpft von draußen herein. Sie brauchten, was das Hotel zu bieten hatte. Die Pagen ignorierten sie lächelnd. Die Drehtür ließ schubweise heiße Essensluft herein in die Kühle. »Waren die echt?«, hörte er jemanden fragen. Klang nach einem Farmer aus Iowa. »Die waren so schön. Diese rosa Federn. Und so viele.« Koffer wurden an den Pagen vorbeigezogen. Die Eincheck-Zeit war längst vorbei.

»Ich dachte gerade, wie nett es ist, irgendwo anzukommen«, sagte sie, plötzlich neben ihm. Die Touristen hatten ihn kurz abgelenkt. Der Priester mit seinem weißen Strohhut hastete, ins Handy vertieft, nach draußen. »Ich meinte natürlich, wenn man in Paris ankommt. Nicht hier«, sagte sie. »Es ist viel zu heiß. Und es ist erst März.« Von der fernen Vergangenheit würde nicht die Rede sein. Worüber sollte man denn sonst reden? Eine Liste machen? Aber dann würden sie genauso dastehen.

»Wer ist Miss Nagel?«, fragte er.

»Drowns unwitzige Fantasie.«

»Wo ist der abgeblieben?«, fragte Sandy. Der beurlaubte Klient. »Kurve gekratzt?«

»Tja«, sagte sie. Jetzt wirkte sie frischer, die Augen nicht mehr so funkelnd. Eine winzige Wasserperle saß noch auf ihrem Kinn. Mit einem Lächeln fasste sie hin. Sie roch nach Zigaretten. »Der König des Wunschdenkens sitzt jetzt bestimmt in seiner Gulfstream, zurück nach Dallas. Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit. Eine kleine.«

Sie standen nebeneinander und redeten wie zwei Fremde, die an einer Garderobe warten und bald woanders sind. Sie hatte keine Handtasche dabei.

»Toller alter Schuppen oder?« Sie sah sich um. Sie roch immer noch gut. »Pagen. Schreibmöbel. Zigarrenstand.« Das gefiel ihr.

»Mein Vater hat hier seinen Hokuspokus veranstaltet«, sagte er. »In den Fünfzigern.«

Und da war das plötzliche schnelle Einatmen. »Hokuspokus«, sagte sie. »Das ist ja mal ein nützliches Wort.« Ihr Blick streifte ihn. »Was hat er gemacht?« Anscheinend hatte sie eine Seinsform gefunden. Vorläufig.

Er sollte gehen, dachte er. Er hatte Pläne — sie hatten Pläne. Seine Frau. Mit alten Unifreunden ins Clancy’s. Er begriff, dass es bei jeder Begegnung mit ihr, wie jetzt, zu einer Neueinschätzung des Lebens kommen konnte. So war es früher mal gewesen und hatte nichts am Lauf der Dinge geändert. Trotzdem. Würde nicht jede Frau gern so wirken?

»Hattest du gedacht«, meinte er, »wenn du nach New Orleans kommst, kannst du mich einfach heraufbeschwören?«

Ihr Blick streifte ihn wieder, kehrte zurück und hielt inne. Ihr Mund kräuselte sich leicht. »Na ja. Hab ich doch.«

»Könnte man sagen.«

Von draußen auf der Royal kam der Lärm einer Menschenmenge. Johlen. Eine Basstrommel, sehr schnell. Da näherte sich die Parade nach der Parade. Mehr würden sie über die Vergangenheit nicht sagen.

»Mach schon, McGuinness, du Blödmann«, rief jemand quer durchs Foyer, durch die Menge. Coyle. »Hast uns den ganzen Spaß versaut.« Er war im Aufbruch, auch mit Hut.

»Entschuldigung«, sagte er.

»Hast du Zeit für einen Spaziergang?«, fragte sie leise.

»Du hast doch gesagt, es ist zu heiß.«

»Es ist aber wirklich ziemlich unnatürlich.« Sie legte eine Fingerspitze aufs Kinn, wo die Wasserperle gewesen war. Weg. Ein blauer Fleck saß dunkel auf dem knochigen Handrücken ihrer Linken. Verräterisch.

»Wie hast du dir das geholt?«, fragte er.

Sie schaute auf ihre Hand wie auf eine Armbanduhr. »Ist schnell passiert.«

»Hat da einer …?« Wahrscheinlich war sie gestürzt.

»Na klar.« Sie riss die Augen in gespielter Verblüffung auf. Die Drehtür wirbelte warme Luft und Straßenlärm herein. »Wollen wir los?«

»Wenn du das möchtest.«

»Ich bin zahlender Gast hier«, sagte sie. Im Hotel. Wieder sah sie sich um, als bewunderte sie alles. »Ich habe eine Suite ganz oben. Heißt nach einem Schriftsteller, von dem ich noch nie gehört habe. Mit Flussblick.«

Verhielt er sich ihr gegenüber jetzt eigentlich genauso wie vor fünfunddreißig Jahren? Wie würde man das nennen? Unbeholfen? Distanziert? Missbilligend? Zu verliebt? Damals hatte es ihn nicht zufriedengestellt. Aber vielleicht gab es ja eine Alternative.

*

Sie traten nach draußen auf die Royal, wo die zweite Runde inzwischen vorbeigezogen war. Da stand die atemlose Wand aus Frühlingshitze, aus üppigen Nachmittagsgerüchen, den Sedimenten des Tages. Ein einsamer, weiß geschminkter Clown schlurfte in großen roten Schuhen daher, störte den Verkehr und klapperte mit einem Löffel auf einer kleinen Metalltrommel herum. Keine Überraschung, nirgends. Sofort schwitzte er in seinem Jackett und zog es aus. Sie würden zum Fluss schlendern, den sie von ihrem Fenster aus sehen konnte. Selbst in der Hitze keine Entfernung. Da würde ein kühler Wind gehen. Sie waren sich jetzt erstaunlich nah, aber kein Paar.

Sie kamen an Antiquitätenhändlern vorbei, einem Walgreens, einem berühmten Restaurant, dem »Die ganze Welt der Wörter steht dir offen«-Buchladen. Zwei massige Polizisten saßen auf Motorrädern mit blauem Blinklicht und guckten sich das alles an. In einem Eingang rauchte einer ein Tütchen. Penner tranken auf dem Bürgersteig Wein. Das French Quarter halt.

Eine Zeitlang gingen sie weiter, und sie sagte nichts, als wäre ihr Geist auf Reisen gegangen, entrückt. Immer noch wehte die feuchte Brise, und die Spätnachmittagssonne strahlte schräg zwischen Häusern hindurch. Das braune Kleid flatterte gegen ihre Schenkel.

Sie bogen in eine Seitengasse, eine Abkürzung zur Kathedrale und zu dem stattlichen Platz mit der Statue des dubiosen Präsidenten auf dem sich aufbäumenden Hengst. Erst jetzt fiel ihm ihr kleines, zartes Hinken auf. Das hatte sie sich zugelegt. Aber vielleicht lag es auch an den blauen Schuhen.

»Das sieht alles nicht echt aus.« Als wollte sie einen neuen Gedanken vorschlagen.

»Echt?«, echote er, ein gespieltes Verspotten, wie sie hoffentlich merken würde. Wahrscheinlich wartete Drown, der Klient, in dem Zimmer hoch oben auf sie, während das hier ablief. »Ist aber echt«, sagte er. »Ich bin hier geboren.«

»Wer baut hier eine Stadt hin?«, sagte sie. »Du hast immer davon geredet. Aber warum ist das was Gutes? Musst du hier wohnen, weil du von hier stammst?«

»Mehr als das.«

»Ja, natürlich.«

»Wo wohnst du?«, fragte er. Diese Frage klang geradezu anmaßend. Und wo wohnst du? Als würde er da jemals hinkommen.

»In D. C.«, sagte sie im Weitergehen. »Aber kaum. Ich hab da einen Mann.« In der Gasse gab es einen Zigarrenladen, der auch Masken und Pralinen verkaufte. »Ach bitte. Kauf doch eine Zigarre«, sagte sie plötzlich. »Zigarren mochtest du doch immer, oder?« Der Laden war zu, dunkel.

»Falsches Du«, sagte er.

»Dann kauf mir eine wunderschöne Maske, ich liebe Masken.« Sie lachte und hatte es schon wieder vergessen. »Jaja.« Sie stimmte einem Gedanken zu, der ihr gerade durch den Kopf ging. »Ich nehme an, es gibt eine Mrs. Sandy.«

Endlich wurde also sein Name ausgesprochen. Ihren hatte er noch nicht gesagt. Weil er sich unsicher war. »Meine Frau«, sagte er. Nicht laut. »Priscilla.«

Sie musterte ihn. Das braune Kleid hatte schmale Seitentaschen, in die sie jetzt demonstrativ die Hände steckte. Unter den Armen hatte sie verschwitzte kleine Halbkreise, Schatten auf dem Stoff. Nicht das richtige Kleid für diese Hitze.

Im Jackson Park, nach dem abgevetternwirtschafteten Präsidenten benannt, gab es Musik. Straßenmusiker, Bläser, Trommeln. Leute tanzten dazu, machten ihnen beiden elegant Platz. Andere ließen sich unter knalligen Schirmen in der späten Hitze die Zukunft vorhersagen. Der Fluss war ganz nah, überall stieg sein Geruch auf. Ein Duft wie Jahrmarktstoffee. Sie würden bis ganz heran gehen und den Blick nach Algiers genießen. Auf die große Wendestelle gen Süden. Worüber sollten sie in der kurzen Zeit, die ihnen das Leben zugestand, bloß reden?

»In der Stadt gibt es einen sehr netten Kleiderladen«, das war eine ungeschützte Bemerkung. »Dort habe ich dieses braune Kleid gekauft. Er wird von sehr netten Libanesen geführt. Wahrscheinlich kauft deine Frau da.«

Er machte keine Bemerkung. Er fragte sich, ob er in den fünfunddreißig Jahren »oft« an sie gedacht hatte. Einen unbewussten Augenblick lang (könnte man schon sagen) hatte er jeden einzelnen Tag an sie gedacht. An viele andere Dinge allerdings auch. An etwas denken, das bedeutete nicht, was die Leute immer sagten.

»Was für ein juristisches Fachgebiet machst du eigentlich?« Sie sah ihn an, als spürte sie, dass ihn gerade irgendetwas leidvoll beschäftigte. »Machen? Sagt man das so? Ein Fachgebiet machen?«

»Geht schon«, sagte er. »Seerecht.« Er schwitzte sein Hemd durch. Der Schlips steckte längst in der Jackentasche. Die Brise am Fluss würde alles erfrischen. Später.

»Schiffe«, sagte sie, um Bewunderung auszudrücken.

»Supertanker«, sagte er schnell. »Vor allem versichern wir sie. Ersetzen sie. Verkaufen sie. Holen sie manchmal vom Meeresgrund wieder hoch.«

»Die wollen alle irgendwo sinken, oder?«

»Wenn ich Glück habe«, sagte er.

»Na, hast du doch«, sagte sie. »Du hast Glück. Schau dich an.«

Sie stiegen die Betonstufen zur Flusspromenade hoch. Wie aus dem Nichts tauchten drei anmutige schwarze Jungs mit breitem Grinsen neben ihnen auf. Nicht bedrohlich, nur spielerisch. Amüsiert. »Ich weiß genau, wo’s die Schuh da gibt«, sagte einer von ihnen mit plötzlich anzüglichem Lächeln. Alter Trick. Ihr gefiel das. Sie sah sie an und freute sich, dass sie da waren.

»Ich auch. An ihren Füßen«, sagte Sandy, um sie zu verscheuchen.

»Oahh. Klar, Mann«, sagte derselbe Junge. »Wo kommt ihr her, Leute?« Und ließ sie durch.

»Von hinterm Mond«, sagte er. Der alte Spruch der Leute, die von vorm Mond herkommen.

»Kenn ich«, sagte der Junge. »Ich kenn alles.« Sie redeten und lachten und tänzelten weg, um andere zu necken.

*

Und dann standen sie an dem großen Fluss, wo die Luft plötzlich weit wurde und nach draußen ging, in einem Moment von Grenzenlosigkeit nach oben zog und weg, bevor sie zu dem breiten geschwungenen mythischen glanzlosen Strom zurückkehrte. Die Brücken mit ihrem Tumult, vor ihnen, rechts von ihnen. Die kleine Fähre, ein winziger Fleck auf halbem Weg nach drüben, nach Algiers. Nicht die Hauptstadt von Algerien. Eine stetige brütende Süße strudelte landeinwärts. Und ein Klang. Keiner, den man hören konnte. Eher eine Kraft — wie die Zeit, irgendetwas Dauerhaftes.

»Oh, wow«, sagte sie und verschränkte ihre ausgestreckten Hände. Der blaue Fleck war erst mal vergessen. Von irgendwo — von nirgendwo — hörte er die Dampforgel auf dem Flussboot. Grab your coat and get your hat, leave your worries on the doorstep. Er kam selten hierher, verstand aber ihre Reaktion. Ihm fiel ein, wie er aus Island nach Hause geflogen war, über den verschneiten Lappen von Grönland. Damals hatte er sich vorgestellt, er würde nie aufhören, über Länder hinwegzufliegen. Hatte er dann aber. »Da kommen einem die Tränen«, sagte sie, sie wollte hingerissen, entrückt, ehrfürchtig wirken — nein, sein. »Ganz was anderes, als das von meinem Zimmer aus zu sehen. Was für ein Raum sich auftut.« Sie lächelte verträumt und ließ den Blick zum blassen Himmel schweifen, dann gen Süden, wo Möwen flogen, ein Pelikan. Schwarze Vögel. »Empfinde ich das richtig?«, fragte sie. »Das möchte ich.«

»Alles richtig«, sagte er, sein warmes Jackett überm Arm.

»Aber bestimmt gibt es ein vollkommenes Richtig.« Sie atmete wieder jäh und schnell ein.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich hab es einfach immer …«

»Einfach immer was?« Plötzlich war sie spitz, als machte er sich wieder über sie lustig, aber diesmal ernst gemeint. Stimmte gar nicht.

»… einfach gesehen«, sagte er. »Alles hier gesehen. Seit Kindertagen.«

Sie betrachtete die vorbeigleitende braune Fläche, als wäre sie ausgehungert danach. In dem gebrochenen, schattenlosen Licht gab es die verkleinerte Stadt hinter ihnen schier nicht mehr. So hübsch wie im Hotel sah Barbara nicht mehr aus, offenbar spürte sie das, gab aber nichts drauf. Was war ihr noch alles piepegal? Darin hatte, als sie jung war, ihr großer Reiz bestanden — weniger darin, woran ihr lag. Jetzt wirkte sie schroff dadurch. Und er, wirkte er genauso wie früher? »Ach«, sagte sie plötzlich, als wäre es ihr gerade eingefallen. »Da krieg ich Lust, dich zu küssen. Sandy. Darf ich dich jetzt küssen?« Sie wandte sich um, ihr Blick suchte sein Gesicht, als wäre er gerade aufgetaucht. Noch eine Variante von egal.

»Nicht hier«, sagte er. Und hielt sich das warme Seersucker-Jackett vor die Brust.

»So«, sagte sie und setzte sich augenblicklich in Bewegung, als hätte er nicht die geringste Enttäuschung bei ihr ausgelöst. »Was tun wir, statt uns zu küssen?« Jetzt würde sie wieder nüchtern werden.

»Wir gehen einfach weiter.«

Sie nickte. »Und so. Gingen sie einfach weiter.«

*

Sie gingen Richtung Canal Street, gegen die stürmische Strömung des Flusses — westwärts, vielleicht auch südwärts —, über die Promenade, benannt nach dem berühmten Bürgermeister mit dem Spitznamen »Moon«. In der blassen Frühabendbrise war tatsächlich ein Mond zu sehen — wie in Wartestellung, ohne Licht an den Himmel abzugeben. Vor ihnen lagen hohe Gebäude, die weniger stimmungsvollen Geschäftsviertel, wo auch sein Büro lag. Immer mehr Touristen. Penner angelten im abfallenden Seichten, tranken und hockten sich auf die Aufschüttung. Jetzt tauchte wie eine Erscheinung ein großer schwarzer Frachter auf, unter den Brücken hervor, krängte lautlos auf den großen Wendepunkt zu, von kleinen Booten umsorgt. Faszinierend. Die Unwägbarkeit des Navigierens.

Nicht sehr hoch über der Wasseroberfläche puckerte ein kleines Flugzeug daher, ein Banner im Schlepptau, das allen hier unten Happy St. Paddy’s wünschte. Von irgendeiner Bar im French Quarter. Dabei war das doch erst in ein paar Tagen.

»Muss nett sein, wenn man Ire ist«, seit sie vor einigen Minuten weitergegangen waren, ihr erster Satz. Sie klang nicht zugeneigt. »Wenn man sich um gar nichts kümmern muss.« Ein Telefon klingelte — eher ein Summen, in einer Tasche ihres Leinenkleids. Sie ließ sich nichts anmerken, dann hörte es auf. Er fühlte Erleichterung und wusste nicht, warum. Ihr Hinken war weitgehend verschwunden.

»Wie kommst du über die Runden?«, fragte er, einen halben Schritt hinter ihr in der warmen, beweglichen Luft, ließ seine Stimme kaum vernehmen, was ihr Autorität verlieh.

»Wonach fragst du genau?«, fragte sie zurück und warf lächelnde Missbilligung über ihre linke Schulter, als gefiele sie sich darin.

Er hatte gefragt, wollte es aber eigentlich gar nicht wissen. Er stellte sich vor, wie er wohl geschmeckt hätte, ihr Kuss. Anis. Tabak. Lustlosigkeit. Als junge Frau hatte sie sich leicht ablenken lassen. Langsam beim Aufessen. Beim Anziehen. Beim Zuendesprechen eines Satzes oder beim Weg zum Orgasmus. Das hatte ihm nicht gefallen. Sie hatte ausschließlich Fotos von sich selbst. Eins auf einer toten Giraffe, die sie mit ihrem Vater in Afrika erlegt hatte. Ein anderes, wie sie nackt auf einer Chenille-Tagesdecke lag — von einem berühmten, vergessenen Fotografen gemacht.

»Nur so«, sagte er — auf ihre Frage nach seiner Frage. Hörte sie ihn überhaupt in der heißen, dann kühlen metallischen Brise, die sie umwehte, im Schub des Frachters kurz vor der Wende gen Süden? Jetzt hätte er sich nach der Lektüre der Sagas erkundigen können.

Sie hatte ihren Gang geändert, hin zum Lässigeren. Das Hinken war komplett weg. »Fragst du alle Frauen, ob sie Huren sind? Und leugnen sie es alle — oder nur ich?«

»Nein, alle«, sagte er und akzeptierte, dass sie ihnen einen Scherz erlaubte. Diese Zärtlichkeit hatte es immer gegeben, einander nicht zu ernst zu nehmen, wenn sie Klartext redeten.

»Sagen wir so, als Nicht-Antwort«, antwortete sie fast fröhlich. »Sagen wir so … ähmm … Ich bin nicht sehr gut darin, aus Ex-Liebhabern Freunde zu machen. Entweder bleiben sie Liebhaber, oder ich mag sie nicht.« Sie ging immer noch voran. »Vorhin dachte ich gerade daran, irgendwo anzukommen. Und wie viel besser es ist, als wegzugehen. Ich dachte an woanders, nicht an diesen wunderschönen Ort am Vater aller Gewässer. Das habe ich, glaube ich, schon gesagt. Aber es ist wirklich sehr romantisch, dass du mich fragst, wie ich über die Runden komme.«

Jetzt gingen sie fast nebeneinander, halb im Kontakt, halb im Konflikt. Er mit Seersucker-Hose und blauem Hemd, Jackett in der Hand; sie in ihrem smarten Kleid, mit gebräunten Armen und Beinen und den blauen, garantiert italienischen Schuhen. Sie schwitzte am Haaransatz, vom Alkohol. Er überlegte, sie an der Schulter zu berühren, um zu ihr aufzuschließen. Er stellte sich ihre Schulter auch in der Hitze kühl vor.

Inzwischen war die Stadt sehr nahe gerückt und nicht mehr belanglos. Bedrängend. Er erspähte das Haus, in dem sein Büro lag. Eine Tram fuhr vorbei. Der große Frachter war weit hinausgeglitten, gab sein triumphierendes, tiefes Tuba-Signal von sich und verschwand Richtung Golf. Die Brise roch jetzt nach Petroleum. Es musste fast sechs Uhr sein, in New Orleans der einsetzende Abend, wenn die Schatten sich zur Dunkelheit hin abkühlten. Eine kleine Flottille grünköpfiger Enten schaukelte am Flussrand im entspannten Kielwasser des großen Frachters. Leute — Touristen — auf Parkbänken sahen den beiden nach. Ein gutaussehendes Paar, das zog immer verstohlene Blicke auf sich. Guck mal. Wie die sich irren. Wir kennen das. Wir kennen alles.

»Wie geht es deinem Vater?«, fragte er, jetzt nah bei ihr, er konnte sie riechen. Einmal war die Rede davon gewesen, dass sie sich kennenlernen sollten. Der Vater und der neue Lebensabschnittsgefährte. Ob der Vater überhaupt noch lebte? Seiner war lange dahin. Seine Mutter allerdings nicht, die saß allein im großen Haus in der Philip Street, gar nicht so weit von ihnen entfernt.

»Ach, Jules geht’s gut«, sagte sie, als amüsierte sie der Gedanke. Oder dass er fragte. Sie ließ einen Handrücken — den rechten, nicht den lädierten — an seinem Hosenbein rascheln. Viel weiter konnten sie nicht laufen. Hotels und Malls und das Konferenzzentrum lagen vor ihnen. »Meine Eltern sind beide noch nicht unter der Erde — soweit ich weiß«, sagte sie. »Meine Mutter lässt sich von schicken Jungs zu Tanzbällen ausführen und das Geld aus der Tasche ziehen. Und Jules lebt mit seiner peruanischen Frau in Locarno und schreibt einen Roman. Wolltest du das nicht auch mal tun? Dass du geschrieben hast, weiß ich noch.«

»Wieder jemand anders«, sagte er.

»Waren wir nicht in Hog Bay bei ihm?«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte er.

»Aber sicher«, sagte sie. »Ich weiß es ja noch. Er hat eine Schule in Kenia aufgebaut. Die Peruanerin will davon nichts wissen.«

Zwei Airedale-Terrier entfernten sich von ihrem jungen Besitzer und rannten zu ihnen, für eine Inspektion. So lief das hier auf der Promenade. »Nette Hunde«, sagte sie. »So süß.« Er hatte ihren Namen immer noch nicht benutzt. Hier verstand sich offenbar einiges von selbst, so sein Gefühl. Aber seinen Namen hatte sie benutzt. »Ist es nicht wirklich heißer, als es sein sollte?« Sie fächelte mit einer Hand herum.

»Wir sind hier in den Tropen«, sagte er. »So ist das halt.«

»Und nie ganz so, wie man es will.« Wieder fehlten Worte. Ihm fiel ein, wie weit weg sie in Sekundenschnelle sein konnte. Schroffe Abwendung. Genau das, wozu ein vorsichtiger Vater raten würde. Er hatte selber zwei Töchter, siebzehn und dreizehn. Beide hatten die Unnahbarkeit im Repertoire.

Aus der Ferne, aus den engen, wuselnden Straßen des alten French Quarter erklangen wieder Dudelsäcke. Die Parade hatte kehrtgemacht, die Chartres Street hinunter. Sie würden sie nicht sehen. Trommeln waren zu hören. Blaue Polizeilichter blinkten. »Ha. Keine Dudelsäcke bitte«, sagte sie. »Dafür ist es viel zu spät.« Noch ein Witz, den nur sie kannte.

»Heißt du immer noch Barbara?«, fragte er. Miss Nagel. Alix. Wer war sie? Er fühlte sich ausgeschlossen, weil er fragte.

Die Airedales waren ihnen gefolgt. Der Besitzer rief nach ihnen. »Lulu und Gracie. Lauft nicht weg.«

»Aber ja!« Sie drehte sich mitten auf der immer belebteren Promenade zu ihm um. »Barbara.« Der flache Fluss war ein Hintergrundfoto. »Wieso?« Sie strahlte, als müsste sie gleich lachen. Ihre wunderschönen Augen.

»Ich dachte, das müsste ich einfach wissen.« Er hatte in Erinnerung, oder falsch in Erinnerung, dass ihr Geburtsort Kansas City war. Das hatte sie zumindest vor Jahr und Tag gesagt. Konnte ebenso gut sein wie alles andere. Reagierte er jetzt anders auf sie? »Ich weiß noch, wie du gesagt hast, dass es so toll wäre, wir zwei zu sein.«

»Und dann hast du gesagt, ich hätte bloß gemeint, es wäre so toll, ich selbst zu sein.«

»Richtig.« Und ebenso schnell gab es ein kleines Gekabbel, auf der Straße. Vor den Leuten.

»Manchmal«, sagte sie, »denke ich an dich. Nicht sehr oft. Letzten Sommer habe ich dich in New York gesehen — du bist über eine breite Straße gegangen. Eine Avenue. Ich kam nicht bis zu dir. Natürlich warst du es nicht.«

Er fuhr durchaus nach New York. Da traf er sich mit jemandem. Nicht oft. »Wahrscheinlich nicht.«

»Ich dachte …«, sagte sie und brach ab. Zwei Leute — junge Leute — kamen vorbei, ein Mädchen, ein Junge, beide wunderschön, sie sprachen Französisch. Mais quand même, quand même. Sie schaute sie an, als verstünde sie ihr Gespräch, dann merkte sie, dass sie darüber vergessen hatte, was sie sagen wollte. Vielleicht genau das, was er wissen wollte. Was sie dachte. »Vielleicht«, sagte sie, »bin ich deshalb heute hergekommen. Weil ich dich fast gesehen habe, aber dann doch nicht.« Strahlendes Lächeln. Schon möglich, dass das nicht weit von dem entfernt war, was sie ursprünglich hatte sagen wollen. Wieder wirkte sie, als wollte sie gleich loslachen.

»Ganz bestimmt«, sagte er.

»Würdest du mit mir wegfahren?«, fragte sie. »Ich habe noch nie jemanden besonders glücklich gemacht. Aber ich dachte immer, dich könnte ich glücklich machen — wenn ich mich dazu entschlösse. Es wäre eine Herausforderung.« Ihr Lächeln leuchtete, ohne jeden Hauch Traurigkeit. »Du siehst jünger aus als ich.«

»Das stimmt nicht«, sagte er.

»Ich würde dich immer noch gern küssen.« Der feuchte Wind brachte ihre Haare durcheinander. Sie schüttelte ganz kurz den Kopf, was ihr Lächeln auffrischte.

Er hielt inne — um sie wirklich richtig wahrzunehmen. Und um sie zu küssen. Weit hinter ihnen, im Gewirr der Stadt, prangte das Monteleone-Schild auf seinem rechteckigen weißen Gebäude. Aus dessen Fenstern hätte sie jeder sehen können. Anonym, aber deutbar. Weiter unten an der Promenade erspähte er den Priester, der mit einem frischen, hellgelben Hemd und Jeans auf einer Bank saß, neben ihm ein jüngerer Mann.

Er trat an sie heran und legte seine Hand, wohin er sie längst hatte legen wollen, auf ihre bloße Schulter, die sich tatsächlich kalt anfühlte — unerklärlicherweise. »Ja«, sagte er und küsste sie, beugte sich zu ihr, während sie sich in ihren blauen Schuhen reckte, dem Kuss entgegen. Sie roch süß, nach Anis, ein bisschen nach Zigarette.

*

Später, als sie wieder durch die alten Straßen zurückgingen, wurde sie gesprächig, so als hätte etwas — nicht nur ihr Kuss — eine Stimmung in ihr ausgelöst, und nun wären sie zusammen wie früher beinahe, in Island.

Ihm war, eher frei assoziierend, sein alter Juraprofessor eingefallen, der jung gestorben war. Ständig hatte er im Mittelpunkt gestanden, als Ziel von Interesse, Aufmerksamkeit, Bewunderung, Verehrung. Doch dann dauerte es nicht lange, und keiner sprach mehr von ihm. Professor Lesher. Er hatte einen schrecklichen Tick gehabt. War ein brillanter Kopf gewesen. Als Nächstes dachte er kurz an seinen Vater, der die Familie verlassen hatte und, ehrlich gesagt, nie zurückgekehrt war; er hatte sein Leben in anderen Städten gelebt, mit anderen Menschen. Ein großer Fehler. Aber dann schließt sich die Wunde irgendwann.

»Was hast du erlebt, Sandy?«, fragte Barbara. »Wie würdest du das beurteilen?« Sie hatte vergessen, dass sie ihn gebeten hatte, mit ihr wegzufahren. Sie waren jetzt auf der Iberville Street, nicht weit von ihrem Ausgangspunkt. Von dem geschichtenumwobenen alten Kasten, wo sie Gast war.

»Ich bin nicht die Sorte Anwalt«, sagte er. Dass das weder ihre noch irgendeine Frage beantwortete, war ihm schon klar. »Uns sind außergerichtliche Einigungen lieber als Urteile.«

»Ich finde«, sagte sie schnell und packte seinen Arm. Sie war über einen kaputten Pflasterstein gestolpert, hatte sich ein Knie aufgeschrammt, ihren hübschen Schuh ruiniert. Er hatte sein Jackett wieder an. Den Schlips nicht. »Du gibst dir jede Mühe, kompliziert zu sein. Während ich mir jede Mühe gebe, einfach zu sein.« Sie drückte seinen Arm fest, als suchte sie Schutz. Es war hier gar nicht so leicht, in ihren Schuhen zu gehen. Aber barfuß würde auch niemand durchs French Quarter gehen. Sobald sie wieder auf ihrem Zimmer war (falls es überhaupt eins gab), würde sie diese Schuhe wegwerfen. »Du hast eine Zielscheibe auf dein Herz tätowiert«, sagte sie. »Das ist nicht kompliziert.«

»Ich bin anderer Meinung«, sagte er. Sie irrte sich.

»Möchtest du mit mir schlafen?«, fragte sie ganz beiläufig. Hinter ihnen auf dem Fluss ging wieder die Dampforgel los. Diesmal mit einem Beatles-Song, an dessen Titel er sich nicht erinnern konnte.

»Na klar«, sagte er.

»Was ich dir alles beigebracht habe. Das übst du jetzt mit jemand anders, oder?« Sie machte einfach weiter. Und da war wieder das kleine Keuchen beim Einatmen.

Sie hatten die Drehtür erreicht, durch die sie vor höchstens einer Stunde in die Hitze hinausgegangen waren. Der große Portier in seiner blauen Uniform mit Goldquaste und Epauletten trat heran, lächelte, schob die Drehtür an. »Ich mach schon.« Ein Schwall kalter Luft drang hinaus. In der Lobby war es immer noch voll und hell, Leute wuselten umher und sangen laut. Was sie ihm alles beigebracht hatte, war ein viel zu weit gehendes Thema, um jetzt damit anzufangen, aber sie hatte ihn nie glücklich gemacht und es auch nie versucht. Für ihn galt dasselbe. Er hatte sie nur vor ziemlich langer Zeit kurz fast geliebt.

Er trat beiseite und berührte sie noch einmal an der Schulter, als sie seinen Arm losließ. Einmal hatte er ihren Namen gesagt, aber er wiederholte ihn nicht. »Ein andermal«, sagte sie etwas unsicher, während sich die Glastüren drehten. Wahrscheinlich hatte sie etwas anderes gemeint. Aber egal, was sie jetzt sagte, es wäre in Ordnung gewesen.

»Ja«, sagte er, als sie durch die Drehtür eintrat, und machte sich auf seinen — nicht allzu weiten — Weg die Canal Street hoch.

*

Auf der Fahrt Richtung uptown, wo er mit seiner Frau und Freunden verabredet war — er würde zu spät kommen —, hing er noch einem Gedanken über seinen Vater nach. Zum letzten Mal besucht hatte er ihn in dem stattlichen Haus auf der Lakeview Avenue, schon auf der North Side von Chicago, wo er mit seiner neuen Frau Irma wohnte. Sein Vater hatte sich eins von den alten, abgestuften Brownstones ausgesucht. Großer Erker mit Buntglasfenstern. Es war Oktober. Die Linden und Buchen verteilten sich ordentlich über den Park. Damals arbeitete sein Vater für den Zulieferer einer irischen Firma, die Küchenkeramik herstellte. Er hatte genug vom Anwaltsberuf. Zwei Jahre noch, dann würde er auf der Gangway zu einem Flugzeug sterben. Vollkommen glücklich.

»Ich konnte keine Minute mehr in dieser Stadt leben«, sein Vater meinte New Orleans. »Deine Mutter war nicht dran schuld. Damals gab es keine Irma. Wir hatten uns einfach nichts mehr zu sagen, schon seit Jahren nicht. Ja, ich weiß. Na und? Aber. Ich war einfach … wie sagt man? … de-fasziniert. Das wirst du nicht verstehen. Ich hoffe, nie.«

Er war hochgeflogen, um Familienangelegenheiten mit seinem Vater zu besprechen. Die Vermögensmasse. Das geänderte Testament. Wie seine Mutter, die abgelegte Ehefrau, bedacht wurde. Sein Vater hatte ein umfassendes Vermögensverzeichnis aufgestellt, wünschte sich aber jetzt überraschenderweise eine Einigung in Anwesenheit des Sohnes, eine Anhörung. Er war groß, mit hellen Augen und einem glatten Gesicht. Geistreich und durch und durch verschlagen. Er war Richter gewesen, Karnevalskönig in der Stadt. Ein Grande. »Heutzutage muss sich jeder ständig auf die eigene Schulter klopfen, auch wenn es für lauter Selbstverständlichkeiten ist«, sagte sein Vater und trat an das geschwungene Erkerfenster, dessen bleigefasste Scheiben in Rot und Grün und Gelb und Blau leuchteten. Er schaute auf die laubbedeckte Straße hinunter, als gäbe es da etwas Interessantes zu sehen. »Ich habe jede Selbstgefälligkeit abgelegt. Man kann doch auf nichts mehr stolz sein. Darauf musst du unbedingt aufpassen. Es ist nicht der schlimmste menschliche Makel, aber der mit dem größten Selbstbetrug und dem meisten Schmerzpotenzial.«

»Ja«, sagte Sandy. »Ich passe auf. Verstanden.« Dachte er.

Und das war das letzte Thema, über das sie sprachen. Sein Vater war ein Mann großer Ansagen und stürmisch gelernter harter Lektionen. Mehr Anhörung wollte er nicht. Später wurde Sandy klar, dass es seinem Vater nur um die Vorkehrungen für die verlassene Exfrau gegangen war. Besonderen Dank erwartete er dafür auch nicht. All das hatte keine Bedeutung. Aber einen Moment lang, als er ihn zu verstehen glaubte, hatte sein Vater scheinbar über eine Tat oder eine Frage von großer Tragweite gesprochen. Was gar nicht stimmte.

Dieses Gespräch fiel ihm oft in den unerwartetsten Momenten ein, wie jetzt zum Beispiel, da er sich eher anderen, nach vorn gewandten Gedanken hätte widmen können — dem baldigen Abendessen. Seiner Frau. Den abwechslungsreichen, detailliert durchgesprochenen Angelegenheiten ihres Tages, worauf er sich schon freute. Diese letzte Stunde — die gerade mal so herumgebrachte Zeit mit Barbara — würde nicht durchgesprochen werden. Da gab es wenig bis gar nichts an Konsequenzen oder Auswirkungen zu bedenken. Kein Schaden war angerichtet, niemand war enttäuscht worden. Er würde sie einfach nicht wiedersehen. Schon daraus zog er ein gewisses — was war es? Ein Zutrauen vielleicht, aber auch nicht ganz. Wie sein Vater gesagt hatte: Es gab wenig, worauf man stolz sein konnte. Nicht dass das jetzt eine besondere Lebensmaxime gewesen wäre, aber damit würde er ganz gut über den Abend kommen und über die zahllosen Abende, die noch vor ihm lagen.

Happy

Happy Kamper rief am Freitag an, um ihnen mitzuteilen, dass Mick Riordan gestorben war und sie westwärts fahren würde, aber ob sie heute Abend vorbeikommen, ein Glas oder zwei oder drei auf den alten Krieger trinken könne und sich vielleicht an Tommy Thompsons Schulter ausheulen?

Die Thompsons hatten die Jacobson-Parrs zum Abendessen inklusive Übernachtung eingeladen, und Tommy war zum Einkaufen nach Camden hochgefahren, für große Lammkoteletts und Sommermais und Ochsenherzen, die Kiste Montrachet stand schon bereit. Alle freuten sich auf das Feuer am Strand. Es war ihr Jährliches, das Ritual zum Ende des Sommers in Maine. Sam und Esther, die aus Cape Neddick kamen, würden noch vor dem Kolumbus-Tag nach Florida fliegen, Islamorada.

Tommy hatte natürlich sofort gesagt: »Ja. Na klar. Wie furchtbar«, ohne einen Blick zu Janice. In den Neunzigern waren sie alle sechs eine Gang gewesen, als Tommy und Esther Parr ihre beste Zeit als Romanschriftsteller hatten und Janice und Sam mit dem Megaerfolg ihrer Galerie alle über Wasser hielten. Deswegen hatten die Thompsons ein Ganzjahreshaus in Maine und eine Wohnung in der Rue Froidevaux. Keiner arbeitete mehr so richtig, außer Esther Parr. Tommy Thompson hatte mit ein paar Romanen passable Zahlen geschrieben, aber er arbeitete nicht besonders gern.

Mick Riordan war in den guten Jahren Esthers und Tommys Lektor gewesen. Er war Ire, sein Vater ein bis in die zwanziger Jahre in Dublin bekannter imagistischer Lyriker. Mick kam vom Trinity College, hatte einen humoristischen Roman verfasst, fürs literarische Feuilleton und beim Radio gearbeitet, hatte angefangen, sich mit seinem Stilgefühl einen Namen zu machen, und wollte nun ein Mädchen aus Roscommon heiraten, das er von der Uni kannte — aber dann beschloss er einfach, dass New York die neue Zukunft war. Er war groß, fleischig, auf eine weiche Art gutaussehend, hatte widerspenstige Haare wie sein Vater und blassblaue Augen. Wenn er mit Höhergestellten zu tun hatte, brachte er etwas Witzig-Geistreiches, Konfliktvermeidendes, Vertrauensvolles in die Beziehung. Er war ein Freund des Alkohols, und er war ein Freund der Frauen. Er gab damit an, dass er fast denselben Nachnamen hatte wie der berüchtigte Kommunist O’Riordan. Dank Beziehungen seines Vaters bekam er einen Job bei Berensen & Webb und wollte — wie so viele — nur so lange arbeiten, bis ihn sein zweiter Roman in den Ruhm und die vielgepriesene amerikanische Literaturszene, so viel größer als im kleinen Dublin, hineinkatapultieren würde.

Es kam nicht mal annähernd dazu. Es sollte keinen zweiten Roman geben, auch nicht den Versuch einer Handvoll Erzählungen. Lektor sein war kinderleicht, stellte er fest. Talent herausbringen, das lag ihm mehr als Talent hervorbringen. Außerdem begeisterte ihn die Verlagsbranche — die Klubs, die neuesten Restaurants, die Empfänge mit den Drinks, die späten Abendessen mit den smarten Autorenkumpeln. New York war nicht der Duke-Pub und Jagdwochenenden und Schwimmen im Meer und das Hotel Abbey und Abendessen bis nach dem Morgengrauen im Landhaus von irgendwem. Aber es war dort, wo alles Wichtige anfing. In Irland hörte es auf. Amerikaner litten an intellektueller Verstopfung, konnten sich nicht anständig unterhalten — geschweige denn ein Lied singen —, tranken nicht genug, legten jedes Wort auf die Goldwaage und lachten selten von Herzen. Aber es war dort bei alldem authentisch und bejahend. Ein freundlicher, geistesgegenwärtiger, gutaussehender irischer Paddy stach heraus und konnte sich einen annehmbaren Platz erarbeiten, auch wenn das in puncto Leistung nur ein semiliterarischer Platz war. Nach kurzer Zeit hatte er jemand anders geheiratet, rasch zwei Töchter hervorgebracht, war nach Bronxville in ein Haus auf der Broad Avenue gezogen, und das war das. So konnte das Leben gern immer weitergehen — den späten Zug in die Stadt nehmen und den noch viel späteren wieder nach Hause, an den Wochenenden lesen, die Mädchen hinbringen, wo sie hinmussten, bis sie älter waren, und im Sommer mit Marilyn auf das Anwesen ihrer Familie fahren, an einem See in den Adirondack-Bergen. Manchmal wehte ihn, das musste er zugeben, der Hauch des Gefühls an, im Leben nur ein Zuschauer zu sein. Aber in Amerika — da war jeder ein Zuschauer. Seinem Eindruck nach war keiner bei irgendetwas hundertprozentig dabei.

1970 war er vierzig, die Kinder waren schon fast keine Teenager mehr, er hatte sich scheiden lassen — nachdem er Bobbi Kamper (Happy) auf einer Wochenend-Kunstparty in Vermont kennengelernt hatte (sie war Bildhauerin). Er hatte mit ihr spontan in Cabo San Lucas einen draufgemacht, und das war’s mit der Ehe. Er wohnte jetzt an der Upper West Side, Bobbi im Village, wo ihr Mann schon in jungen Jahren gestorben war. Mick polierte mittlerweile seinen schillernden Hochglanzruf, er machte aus literarisch mäßig guten Romanen causes célèbres. Er fühlte sich mit Schriftstellern aller Altersklassen wohl, rauchte gern seine Camels, trank gern einen im Grammy oder im White Horse, bei Raoul’s und in der Oak Bar. Er mochte Jazz, mochte die Hamptons und das North Shore und hatte sich in Beck’s Harbor in Maine ein kleines Hummerfischerhaus am Meer gekauft, wohin er sich jeden August den ganzen Monat lang »zum Lesen« zurückzog. »Mir ist, als wäre ich weit vorangekommen«, sagte Mick Riordan, dann: »und es wäre doch keine sehr weite Reise gewesen.« Sein Leben war rund und selbstbestimmt, weit weg von dem hohen, düsteren Backstein-Herrenhaus in Ballsbridge, wo sein Vater seine Reden geschwungen hatte (beide Eltern waren seit Jahrzehnten verstorben). Fast war es, sagte Mick oft, als hätte er, der unterm Strich nur Halb-Ire war, die besten Teile abbekommen, nichts von dem ollen Kackkrempel.