Irischer Liebessommer - Maren Frank - E-Book

Irischer Liebessommer E-Book

Maren Frank

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Beschreibung

Als Zeugin eines Verbrechens wird Stefanie Gardner ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Zusammen mit ihrer Leibwächterin Gundula, genannt Gun, wird Steffi für einige Zeit in Irland versteckt. Die Leichtigkeit des irischen Sommers lässt Gefühle entstehen, gegen die sich beide nicht lange wehren können ... Da trifft die Nachricht ein, dass die Täter gefasst seien und Steffi wieder gefahrlos nach Deutschland zurückkehren könne. Wird sie ihre Leibwächterin nun tatsächlich nicht mehr brauchen?

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Maren Frank

IRISCHER LIEBESSOMMER

Roman

Originalausgabe: © 2011 ePUB-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-004-2

Coverfoto:

Schmerz drang durch ihr Bewusstsein. Es fühlte sich an, als bearbeite jemand von innen sämtliche Teile ihres Kopfes mit kleinen Hämmern. Befand sie sich im Jenseits? Aber dann müsste doch irgendwo ein Tunnel und dahinter Licht sein und Geister oder Engel – oder was auch immer einen erwartete. Nicht diese grässlichen Kopfschmerzen.

Steffi versuchte sich zu bewegen, doch etwas hielt sie davon ab.

»Sie wird wach!«

Wer rief das? Die Stimme klang recht tief und vertraut, als ob sie sie schon einmal gehört hätte. Und war sie damit gemeint? Hielt derjenige oder diejenige sie auch fest? Warum? Sie fühlte sich doch ohnehin viel zu schwach, um aufzustehen. Und dieses schier unerträgliche Hämmern in ihrem Schädel. Ein Königreich für ein Aspirin!

Ihr Mund war so trocken, die Zunge klebte ihr am Gaumen und der Hals brannte.

»Nun komm schon!«, rief die Stimme erneut.

Schnelle Schritte erklangen.

»Zur Seite«, sagte eine andere Stimme, heller und befehlsgewohnt. Der Druck an ihren Schultern ließ nach. Steffi versuchte eine Hand zu heben, doch es gelang ihr nicht. In ihrem Kopf drehte sich alles, und der Schmerz betäubte jegliches Denken. Sie spürte den Abgrund der Schwärze, wollte sich hineinfallen lassen, doch da rief jemand ihren Namen.

»Stefanie? Stefanie, können Sie mich hören?«

Mühsam bewegte sie die Lippen, versuchte ihre Zunge dazu zu bringen, ihr zu gehorchen. Warum gab man ihr denn nichts zu trinken? Und wo war sie überhaupt?

Irgendjemand zog ihr Auge auf und leuchtete mit einer Taschenlampe hinein.

Steffi blinzelte und versuchte den Kopf zur Seite zu drehen. Das Hämmern in ihrem Schädel nahm zu. Das Licht war zu grell und verhinderte, dass sie Einzelheiten erkannte. Nur vage nahm sie die beiden Gestalten wahr. Die eine groß und kräftig, die andere weitaus kleiner und schmaler. Doch mehr ließ sich nicht erkennen.

Die Lampe wurde fortgenommen. Erleichtert schloss Steffi die Augen und wollte sich wieder der Schwärze hingeben.

»Stefanie? Wissen Sie, wer Sie sind?«

Wieder bemühte sie sich, die Lippen zu bewegen und einen Ton herauszubekommen. »Durst«, krächzte sie fast tonlos. Sie hoffte, dass jemand verstanden hatte, was sie wollte.

Offensichtlich schon, denn nun wurde etwas an ihre Lippen gehalten, und Wasser floss in ihren Mund.

Gierig schluckte Steffi, doch da zog man ihr die Tasse auch schon wieder fort. »Nicht so hastig«, tadelte die Stimme.

»Trinken«, brachte Steffi hervor.

Erneut bekam sie etwas Wasser, zwang sich, nur kleine Schlucke zu nehmen, um es nicht sofort wieder entrissen zu bekommen. Das tat gut. So ähnlich mussten sich auch Wüstenreisende fühlen, denen das Wasser schon vor zwei Tagen ausgegangen war und die nun an eine Oase kamen.

»Erinnern Sie sich an das, was geschehen ist?«, fragte die Stimme, nachdem die Tasse leergetrunken war.

Das Denken strengte sie an, verstärkte den Schmerz. Bilder wirbelten durch ihren Kopf. Da waren dunkel gekleidete Gestalten, jemand schrie, dann klappte ein Messer auf. Und Schmerz. Überall in ihrem Körper. Und dann Schwärze, gnädige Schwärze.

Steffi hob eine Hand, tastete nach ihrem Gesicht und fühlte Verbände. Sie verliefen über den Nasenrücken, an ihrem Kinn, sogar an der Stirn. »Mein . . . mein Gesicht«, stammelte sie und versuchte mit den Fingern unter einen der Verbände zu gelangen.

Sofort wurde ihr Handgelenk gepackt und von ihrem Gesicht fortgezogen. »Nicht. Da dürfen Sie jetzt nicht hinfassen.«

»Aber . . . mein Gesicht!« Der Schmerz in ihrem Kopf nahm noch einmal an Stärke zu. Steffi wand sich, versuchte sich zu befreien. Sie musste es sehen, jetzt. Oder wenigstens fühlen können. Musste wissen, was mit ihr war. Sie schlug die Hände zur Seite, die sie festzuhalten versuchten. Sofort packten sie erneut zu, wollten sie daran hindern, ihr Gesicht abzutasten. Aber das durften sie nicht! Sie musste doch wissen, was mit ihr los war.

»Gun, hilf mir!«, rief eine Stimme. Sie gehörte der kleineren Frau. Jener, die ihr eben auch ins Auge geleuchtet hatte.

Im nächsten Moment legten sich Hände wie Schraubzwingen um ihre Oberarme, jede Bewegung wurde unmöglich. Ein anderes Geräusch, dann ein Stich an ihrem Arm. Und die Welt versank erneut in Dunkelheit.

»Danke, Gun«, sagte Jasmin und trat von dem Bett zurück. Sie streifte sich die sterilen Handschuhe ab und warf sie in den bereitstehenden Mülleimer.

Guns Blick ruhte noch auf der nun wieder schlafenden Frau. Rabenschwarz schaute ihr Haar zwischen dem ganzen Weiß von Verbänden und Kopfkissen hervor. Auch ihre Wimpern waren dunkel, sehr lang, dicht und leicht gebogen, obwohl sie in den vergangenen Tagen ganz sicher nicht in die Nähe entsprechender Kosmetika gekommen war.

»Hat sie noch Schmerzen?«

»Nein, im Moment nicht. Ich habe ihr etwas zur Beruhigung gegeben und auch ein Schmerzmittel. Es war wohl vor allem auch die Panik, die sie so reagieren ließ.«

Verständnisvoll nickte Gun. »Kein Wunder. Sie kennt niemanden hier, weiß nicht, wo sie sich befindet und was überhaupt mit ihr los ist.«

Jasmin trat neben Gun und berührte sie sacht am Ellbogen. »Danke für dein schnelles Eingreifen. Es war gut, dass du mich sofort gerufen hast.«

»Ist doch mein Job.«

Jasmin lächelte zu ihr hoch. Sie reichte Gun nicht einmal bis zur Schulter, ein zierliches Püppchen, das aussah, als sei es für den weißen Kittel noch mehrere Jahre zu jung. »Sie wird einige Stunden schlafen. Das ist im Moment auch am besten für sie.« Jasmin seufzte.

»Sind ihre Verletzungen wirklich so schlimm?«, fragte Gun, während sie in den Nebenraum gingen und sich an den Tisch setzten. Durch eine große Glasscheibe hatten sie einen guten Blick auf die schlafende Frau.

»Sie hat riesiges Glück gehabt!«, sagte die Ärztin. »Ein halber Zentimeter weiter links, und jede Hilfe wäre zu spät gekommen.«

»Das habe ich schon gehört. Aber was ist mit ihrem Gesicht?«

Jasmin presste die Lippen kurz zusammen. »Da müssen wir abwarten. Noch kann man nicht sagen, wie schlimm es wirklich ist. Zum Glück ist sie ja direkt versorgt worden. Das ist immer gut, wenn solche Wunden gleich richtig behandelt werden.«

»Sie war ein Model, nicht wahr?«, fragte Gun. Irgendwer hatte das gesagt, Lily vermutlich. Die wusste ja stets über alles bestens Bescheid und hielt mit ihren Informationen nie hinter dem Berg.

»Kennst du sie nicht?« Die Ärztin klang überrascht.

Gun lächelte entschuldigend. »Ich lese keine Modemagazine. Ist nicht so mein Ding. Außerdem bin ich mit 1,88 m zu groß für diese Kollektionen, und schulterfrei steht mir nicht.« Sie spannte kurz ihre Oberarmmuskeln an, so dass sie unter dem schwarzen Hemd sichtbar wurden. Jahrelanges Training hatte ihren Körper in eine athletische, kraftvolle Gestalt verwandelt.

Jasmin wurde ein wenig rot. Sicherlich las sie diese Hochglanzblätter. Und vermutlich sah sie hinreißend in einer Designerkreation aus. »Stefanie G., wie sie genannt wurde, war der Star auf den diesjährigen Modenschauen. Mailand, London, Paris – die Presse war ebenso verrückt nach ihr wie die Modewelt. Man munkelte, dass einige ganz große Verträge anstanden. Sie war auf dem besten Weg, eines der Topmodels zu werden.«

Gun fiel auf, dass die Ärztin in der Vergangenheitsform sprach. »Dann ist ihre Karriere damit nun wohl beendet?«

»Die plastische Chirurgie ist schon sehr weit«, sagte Jasmin. »Aber ich fürchte, sie wird nie wieder so aussehen wie vorher. Dieser Killer hat ihr ja das halbe Gesicht zermetzelt, nachdem er sie fast erstochen hat.« Gänsehaut erschien auf dem sichtbaren Stück ihrer schlanken Arme. »Mir graust bei dem Gedanken, dass er immer noch frei herumläuft. Und vielleicht in diesem Augenblick seine nächste Tat plant.«

Das konnte Gun ihr nachfühlen. Wenngleich sie selbst wünschte, diesen Kerl in die Finger zu bekommen. Dann konnte er mal erleben, was eine umfassend ausgebildete Sicherheitsfrau so alles draufhatte, wenn es darum ging, einen Verbrecher dingfest zu machen.

»Sobald Stefanie vernehmungsfähig ist, muss sie unbedingt aussagen. Mich rufen diese Ermittler von der Mordkommission beinahe täglich an und fragen nach. Aber sie ist nun mal deren einzige Chance, eine Täterbeschreibung zu erhalten.«

»Hast du ihnen etwa deine Nummer gegeben?«

»Irgendwie sind sie daran gekommen.« Sie seufzte und fuhr sich durch das schulterlange braune Haar. »Das wird sicherlich nicht leicht für Stefanie, wenn sie das dann in allen Details erzählen muss. Ich hoffe nur, sie erinnert sich . . .«

»Du meinst, sie könnte einen Gedächtnisverlust erlitten haben?«

»Nicht direkt eine Amnesie. Aber manchmal schaltet das Gehirn schreckliche Erlebnisse einfach weg. Das ist so eine Art Schutzmechanismus.«

»Und kommen diese Erinnerungen denn irgendwann zurück?« Gun dachte an ihre eigenen Kämpfe und die brenzligen Situationen, in denen sie schon gesteckt hatte. Mehr als nur einmal war sie dabei auch verletzt worden, hatte bisher eine Schlüsselbeinfraktur, drei Gehirnerschütterungen und mehr Rippenprellungen, als dass sich das Mitzählen noch lohnte, erlebt. Aber sie konnte sich an jede Einzelheit davon erinnern. Sogar an diesen wahnsinnigen Typen mit seiner Axt erinnerte sie sich. Bei den Albträumen, die sie nach diesem Einsatz gehabt hatte, war es auch nicht möglich, ihn zu vergessen. Dass sie kräftig mitgeholfen hatte, ihn hinter Schloss und Riegel zu bringen, gab ihr jedoch ein Gefühl von Genugtuung.

»Natürlich kann es sein, dass weitere Details auftauchen. Manche erinnern sich dann an jede Kleinigkeit, andere nur an das Erlebnis an sich. Für die ermittelnden Polizisten ist das natürlich nicht so leicht, wenn sie einen Zeugen der Tat haben, dieser sich aber kaum erinnern kann und ihnen somit keine Hilfe ist. Deshalb werde ich ganz sicher erst jemanden zu Stefanie Gardner lassen, wenn sie nicht nur physisch, sondern auch psychisch einigermaßen stabil ist. Solche Verhöre sind immer eine ziemliche Belastung.«

Gun sah wieder durch die Glasscheibe. In ihr regte sich ein Gefühl von Mitleid und noch etwas anderem. Doch beides verdrängte sie sofort. Stefanie Gardner war lediglich eine zu schützende Person, wie sie vor ihr schon unzählige andere beschützt hatte. Prominente bei öffentlichen Auftritten, Milliardärstöchter, die auf Partys gehen wollten, und wer sonst sie gebucht hatte.

Seit sie im Zeugenschutzprogramm arbeitete, war sie nicht mehr auf Aufträge angewiesen, sondern bekam sie zugetragen. Das war finanziell weitaus beruhigender, als vorher das ständige Hoffen, genügend Arbeit zu haben. Trotzdem träumte sie davon, eines Tages ihre eigene Sicherheitsfirma aufzubauen. Kein Ein-Frau-Unternehmen, wie sie es nach dem erfolgreichen Abschluss ihrer Ausbildung gewesen war, sondern einen richtig großen Laden, mit Mitarbeitern, die sie selbst auswählte, schulte und einarbeitete.

Dunkelheit. Steffi erschrak. War sie etwa blind? Nein, vorhin hatte sie ja auch etwas gesehen, wenn auch nicht sehr viel. Die Erinnerungen an ihr erstes Aufwachen kehrten zurück. Was hatten sie mit ihr gemacht? Sie gefesselt? Oder hatte es ihnen genügt, sie mit Medikamenten ruhigzustellen? Und wer waren sie überhaupt?

Langsam drehte sie den Kopf und entdeckte ein Licht. Sie blinzelte. Immer noch tat jede Bewegung weh. Allerdings konnte sie sich bewegen, jedenfalls ihre Arme, doch um sich aufzurichten, fehlte ihr jegliche Kraft. Aber man hatte sie offensichtlich nicht gefesselt. Vermutlich, weil diese Leute wussten, dass sie ohnehin nicht in der Lage war, aus dem Bett aufzustehen.

Neuer Schrecken durchzuckte sie. War sie etwa gelähmt? All ihre Konzentration auf ihren rechten Fuß richtend, versuchte sie, ihn zu heben. Es gelangen ihr nur wenige Zentimeter, die ihr den Schweiß auf die Stirn trieben. Aber sie konnte mit den Zehen wackeln. Genauso beim linken Fuß. Erleichterung durchströmte sie. Sie war nicht gelähmt, spürte ihre Beine, konnte sie bewegen. Es lag einzig an dieser verdammten Schwäche, dass sie diese nicht über die Bettkante schwingen und aufstehen konnte.

»Sie sind wach.« Jemand trat an ihr Bett. Einzelheiten ließen sich keine erkennen, doch es war die Person mit der angenehmen tiefen Stimme. »Möchten Sie etwas zu trinken?«

»Ja«, brachte Steffi mühsam heraus. Ihre Kehle kratzte schon wieder vor Trockenheit.

Eine Tasse wurde ihr an die Lippen gehalten, und eine Hand stützte ihren Nacken. Ein sicherer Griff, starke Finger. Die gleichen, die sie nach ihrem ersten Aufwachen festgehalten hatten . . .

Steffi trank, zwang sich, Schluck für Schluck zu nehmen. Sie musste einen klaren Kopf bekommen. Und herausfinden, wo sie überhaupt war. Ein Zimmer in einem Krankenhaus schien das nicht zu sein. Dazu war es hier viel zu ruhig, es gab keine Durchsagen, keine Geräusche vom Flur, auch roch es ganz anders. »Wo bin ich?«

»In Sicherheit. Ich bin Gundula, aber bitte nennen Sie mich Gun, das machen alle hier.«

»Gun?« Sie hatte das Wort englisch ausgesprochen, so dass Steffis benebeltes Hirn es ihr mit Schusswaffe übersetzte. Ein etwas seltsamer Spitzname, besonders für eine Frau.

»Ja, Gun«, wiederholte sie. »Ich bin Ihr Bodyguard.«

»Bodyguard. Wie im Film.« Das erklärte wohl auch die ungewöhnliche Namensabkürzung. Und Bodyguard, wie aufregend! Sie dachte an Whitney Houston mit ihrer umwerfenden Stimme. Den Song »I will always love you« hatte sie wochenlang als Klingelton auf ihrem Handy gehabt. Und immer davon geträumt, dass einmal auch ihr jemand solch schöne Worte sagen würde. Jedenfalls jemand, mit dem sie nicht verwandt war. Natürlich war es schön, von ihrer Familie zu hören, dass sie sie liebten. Aber solche Worte mit glühender Leidenschaft von der Frau ihres Herzens geäußert, wären sicherlich etwas ganz anderes. Nur gab es diese Frau ebenso wenig wie solch einen Liebesschwur. Doch zumindest hatte sie nun einen Bodyguard. Was auch immer das zu bedeuten hatte.

»So ungefähr. Haben Sie Schmerzen? Ich kann die Ärztin holen.«

»Nein.« Ihr Kopf dröhnte zwar, und auch an ihrer Brust fühlte sie einen ziehenden Schmerz, aber sie wollte wach bleiben. Nicht schon wieder im Nebel versinken. Sie konzentrierte sich. Langsam gewöhnten sich ihre Augen ans Sehen, sie konnte Guns Silhouette erkennen. Die Frau musste riesig sein und hatte Schultern, als würde sie täglich im Fitnessstudio trainieren. Das Haar trug sie sehr kurz geschnitten, und vermutlich war es auch bei Tageslicht dunkel. »Was ist mit meinem Gesicht?«

Gun schwieg. Wusste sie mehr, als sie sagte?

Steffi fühlte, wie erneut die Panik nach ihr griff. Tränen bildeten sich in ihren Augen. Doch sie durfte nicht die Beherrschung verlieren. Dann würde man sie wieder nur ruhigstellen. Sie zwang sich, tief durchzuatmen. Keine Tränen, keine Panik und keine Versuche, aufzustehen oder ihr Gesicht zu betasten. Das alles konnte sie später machen. Jetzt musste sie sich zusammenreißen. Disziplin hieß das Zauberwort. Und Disziplin hatte sie doch gelernt. Sie konnte stundenlang auf zwölf Zentimeter hohen Pumps mit Pfennigabsätzen laufen und immer noch lächeln, auch wenn ihre Füße sich dabei anfühlten, als steckten sie in Folterwerkzeugen. Da sollte sie das hier doch wohl auch durchstehen können. »So schlimm?«

»Das weiß ich nicht. Aber Sie haben überlebt. Und Ihre Verletzungen müssen erst mal heilen. So etwas dauert doch auch seine Zeit.«

Ja, sie lebte. Darüber sollte sie sich freuen. Und nicht daran denken, wie sie aussah. Trotzdem drängten sich ihr immer wieder schreckliche Bilder in den Kopf. Sie versuchte sie zur Seite zu schieben. Kontrolle über ihre Fantasie zu gewinnen. Gun anzusehen, half, lenkte sie ab. »Sie waren bei mir, nicht wahr? In den letzten Tagen.«

»Ja«, bestätigte Gun. Sie klang erstaunt. »Erinnern Sie sich etwa? Wir nahmen an, Sie seien bewusstlos gewesen.«

»Ihre Stimme. Mir kommt Ihre Stimme so vertraut vor.« Sie hatte eine so angenehme Stimme, der Steffi gern zuhörte. Tief und voll, mit einem warmen Klang. Es tat gut, sie zu hören.

»Ach so.« Nun schien Gun ein wenig verlegen zu sein. »Ja, ich habe mit Ihnen gesprochen. Und Ihnen manchmal auch etwas erzählt. Meine Güte, Sie wissen doch nichts davon, oder?«

Gegen ihren Willen musste Steffi lächeln. »Waren es so schlimme Dinge?«

»O nein, natürlich nicht. Ich hab einfach drauflos geplappert«, gab sie zu. »Dass ich mich ärgere, weil es schon wieder regnet und ich doch nach Dienstschluss endlich wieder draußen trainieren wollte. Oder wie teuer die Pistolenhalfter in meiner Größe immer sind.«

»Gibt es dafür keine Outlet-Stores?«

»Ich fürchte nicht. Sind halt nicht so gängig.«

»Wenn ich das nächste Mal in London oder New York bin, halte ich Ausschau danach, versprochen. Dort gibt es Boutiquen mit so viel abgefahrenen Klamotten, da sind bestimmt auch Pistolenhalfter dabei.«

»In einer Designerboutique?«

»Na klar. Vor einigen Jahren waren Klamotten im Tarnanzug-Look total in. Da haben die Stores die abgefahrensten Sachen angeboten.«

Gun schüttelte den Kopf. Sie schien Probleme mit der Vorstellung zu haben, dass Leute uniformähnliche Kleidung trugen, obwohl sie nicht dem Militär angehörten.

»Das sind halt so Trends«, fügte Steffi hinzu.

»Daraus mache ich mir nichts.«

Das hatte Steffi sich schon gedacht.

»Schlafen Sie noch ein bisschen. Es ist mitten in der Nacht. Und wenn etwas ist: ich bin hier, ich bin wach und passe auf Sie auf.«

Gun klang so nett und beruhigend. Tatsächlich fühlte sich Steffi sofort ein klein wenig besser. Sie schloss die Augen und ließ sich wieder in die Dunkelheit fallen.

Jasmin kam früh, der dicke Zeiger der Wanduhr stand gerade erst auf der Sechs. »Guten Morgen«, grüßte sie und lächelte in die Runde.

Gun hatte sich den Stuhl nah an das Bett herangezogen. Stefanie war vor gut einer Stunde aufgewacht, und sie hatten miteinander geredet. Belangloses Zeug, über Filme und Musik, aber es hatte sie abgelenkt.

»Wie geht es Ihnen?«, wollte Jasmin wissen.

»Ging mir schon mal besser.« Stefanies volle Lippen pressten sich kurz zusammen.

»Ich weiß, so herumzuliegen ist sicherlich nervig und langweilig, aber das Schlimmste haben Sie schon hinter sich. In ein paar Tagen können Sie aufstehen.«

»Und mein Gesicht?«

Die Ärztin zögerte einen Moment. »Darum werden sich die plastischen Chirurgen kümmern.«

Gun überlegte, ob Jasmin etwas verschwieg.

Stefanie hakte nicht nach. Sie war wirklich erstaunlich gefasst. So viel Beherrschung und Disziplin hätte Gun ihr nicht zugetraut. Bewunderung keimte in ihr auf. Stefanie war wohl doch kein so verhätscheltes Modepüppchen, wie sie anfangs geglaubt hatte. Dass sie nicht auf den Mund gefallen war, hatte sie bereits gemerkt. Es gefiel ihr, wie schlagfertig Stefanie antworten konnte.

Forschen Schrittes kam Lily herein und strahlte Stefanie fröhlich an. »Guten Morgen!«, rief sie, als läge Stefanie nicht einen Meter entfernt vor ihr im Bett, sondern befinde sich drei Räume weiter. »Ich bin Lily, Ihre Krankenschwester. Aber sagen Sie nicht Schwester Lily, sondern einfach nur Lily, ja? Das machen alle hier. Ich bin jedenfalls für Sie zuständig, werde Sie gleich waschen, Fieber messen, Ihnen Frühstück bringen – mögen Sie lieber Marmelade oder Honig? Kaffee dürfen Sie leider noch keinen, aber wir haben Früchtetee, Mineralwasser, und wenn Sie einen besonderen Wunsch haben, schau ich, dass ich ihn Ihnen erfüllen kann.«

»Wer ist denn noch hier?«, fragte Stefanie, nachdem der Redeschwall kurz stoppte; irgendwann musste auch Lily Luft holen.

»Oh, im Moment nur Jasmin, Gun, Sie und ich. Aber wir haben natürlich noch mehr im Team. Die lernen Sie später kennen, jetzt bin nur ich für Sie wichtig.« Sie lächelte Gun an. »Du kannst ruhig gehen, sicher bist du müde. Jetzt bin ich ja da.«

»Ja, nicht zu überhören«, murmelte Gun, allerdings so leise, dass Lily sie nicht verstehen konnte.

»Danke, dass Sie bei mir waren«, sagte Stefanie.

»Ist mein Job.« Gun lächelte ihr kurz zu und ging. Sicher wollte Stefanie nicht, dass sie dabei blieb, während die Verbände gewechselt wurden und was immer sonst zu machen war.

Sie holte sich zwei belegte Brötchen und aß, während sie an ihrem Laptop saß und nach Stefanie G. googelte. Schon die ersten Links waren Treffer. Stefanie Gardner, einundzwanzig Jahre alt, modelte ursprünglich nur, um sich ihr BWL-Studium zu finanzieren. Ein kometenhafter Aufstieg, dann kamen Namen von Designern, die Gun allesamt nichts sagten.

Sie klickte auf Bildersuche und schnappte nach Luft. Die Frau sah einfach atemberaubend aus. Glänzend wie das Gefieder eines Raben fiel ihr das schwarze Haar bis zu den Hüften. Dazu der Kontrast ihrer hellen Haut und der leuchtenden dunkelblauen Augen. Und ihr Gesicht . . . Hinreißend traf es wohl am besten. Sie besaß hohe Wangenknochen, eine gerade Nase und so ebenmäßige Züge, als hätte ein Künstler sie gemeißelt.

Gun vergrößerte das nächste Bild, eine Porträtaufnahme, die die Schönheit ihrer Züge noch mehr zur Geltung brachte. Weitere Bilder zeigten sie im Profil und als Ganzkörperaufnahme. Ihre Figur war natürlich ebenfalls perfekt, endlos lange Beine, eine schmale Taille, aber obwohl sie superschlank war, erschien sie nicht so abgemagert wie manch andere Models. Sie hatte Kurven – kleine, feste Brüste und sanft gerundete Hüften.

Narben im Gesicht wären für jeden schlimm, aber für eine Frau, die allein mit ihrer Schönheit ihr Geld verdiente und darauf angewiesen war, einen makellosen Körper zu haben, musste es die Hölle sein.

Gun klickte auf die Porträtaufnahme zurück. Einem plötzlichen Impuls folgend, speicherte sie das Bild in ihrem Bilderordner ab.

Nachdem die endlos plappernde Blondine endlich fort war, schloss Steffi die Augen. Sie war immer noch schrecklich müde ? Nachwirkungen der Medikamente und des Blutverlustes, wie die hübsche Ärztin ihr erklärt hatte. Sie solle sich ausruhen, ausgiebig schlafen.

Leicht gesagt, wenn einem so vieles durch den Kopf ging. Steffi versuchte nicht an den Überfall zu denken; dabei verstärkten sich ihre Schmerzen nur. Und wenn sie an ihre Familie dachte, kamen ihr die Tränen. Sicher machte ihre Mutter sich schreckliche Sorgen, ebenso ihr Vater und ihre Schwester. Hoffentlich konnten sie bald zu ihr. Hatte man sie überhaupt schon informiert?

Steffi tastete nach dem Klingelknopf.

Keine Minute später stürmte Lily hinein, die blonden Locken wild um ihre Schultern tanzend. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde gern telefonieren, ginge das wohl?« Auf dem Nachttischchen stand kein Apparat, allerdings sah der Raum auch nicht wie ein typisches Krankenzimmer aus. Mit den zartgelb gestrichenen Wänden und dem Tisch und dem Schrank wirkte er mehr wie ein Pensionszimmer der mittleren Preisklasse. Da sie noch nicht aufstehen durfte, hatte sie sich noch nicht umsehen können und wusste nicht, wo sie überhaupt gelandet war.

»Ich fürchte nicht. Sie sind doch im Zeugenschutzprogramm, einfach so dürfen Sie da nicht telefonieren.«

Steffi seufzte. Natürlich, wie hatte sie auch erwarten können, dass irgendetwas reibungslos funktionierte. »Wo bin ich hier eigentlich?« Da alle Deutsch sprachen, war sie wohl zumindest noch in München oder Umgebung. Doch das Fenster befand sich hinter ihr, so dass sie nicht nach draußen sehen konnte, um zumindest einen kleinen Anhaltspunkt zu erhalten. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie sich wohl nicht mehr mitten in der Stadt befand. Es war still, kein Hupen, kein Hundegebell, keine Polizeisirenen. Auch sonst drangen keine Geräusche in ihr Zimmer.

»Da weiß ich gar nicht, ob ich Ihnen das sagen darf. Ihr Unwissen soll Sie ja schützen. Wenn Sie wissen, wo Sie sind, dann kann es ja passieren, dass Sie es irgendwem unabsichtlich erzählen, und der erzählt es weiter und der dann auch, und irgendwann erfährt es der Killer.«

»Schon verstanden.«

»Aber ich kann Ihnen einen Fernseher organisieren. Oder lieber was zu lesen? Sagen Sie mir einfach, was Sie wollen.«

Mit ihren Eltern sprechen. Oder zumindest mit irgendwem, der ihr vertraut war. Hier fühlte sich alles so fremd an. Ein Verdacht beschlich sie. War sie wirklich bei den Guten? Alles, woran sie sich von dem Überfall erinnerte, waren die Schreie, das Blut, das aufblitzende Messer und die nah an ihrem Ohr geflüsterten Worte: »Jetzt wirst du sterben.«

Steffi schauderte. Sie dachte an die anderen Mädchen. Wer war an jenem Abend alles im Haus gewesen? Beim Versuch, sich zu erinnern, verstärkte sich der Kopfschmerz erneut.

»Stefanie?« Lilys Stimme brachte sie in die Gegenwart zurück.

»Ja?«

»Möchten Sie etwas zu lesen oder einen Fernseher aufs Zimmer?«

»Eine Zeitung oder ein paar Zeitschriften wären schön«, sagte Steffi. Sie wusste ja nicht einmal, welches Datum war und was aktuell in der Welt passierte.

»Ich kümmere mich sofort darum.« Mit diesen Worten rauschte Lily hinaus, die blonden Locken hinter ihr her wehend wie eine in Unordnung geratene Flagge.

Steffi starrte an die Decke. Ab und zu warf sie einen Blick zur Wanduhr, sah dem Minutenzeiger zu, der kaum merklich voranrückte.

Mit einem Stapel Papier in den Händen kam Lily zurück.

»Haben Sie einen Kiosk aufgekauft?«

Die Krankenschwester kicherte. »Nicht ganz. Aber ich wusste ja nicht, was Sie mögen. Hier ist jedenfalls die Zeitung von heute, außerdem habe ich Ihnen einige Magazine gebracht.« Sie platzierte die Druckwerke auf dem Nachttisch.

»Danke.« Steffi schnappte sich die Tageszeitung. Ganz oben las sie das Datum: »3. Mai«. Also fehlten ihr fünf ganze Tage! Ihre Eltern mussten halb wahnsinnig sein vor Sorge. Oder hatte man sie vielleicht gar nicht informiert? Im Normalfall hatte Steffi sich bei ihnen eher sporadisch gemeldet, meist am Wochenende, und wenn sie es einrichten konnte, war sie zu ihnen gefahren. Doch in den vergangenen Monaten hatte sie so gehäuft Aufträge erhalten, dass die Besuche sehr selten geworden waren. SMS und Telefonate ersetzten Mamas Umarmung nicht.

»Ich lasse Sie dann wieder allein. Sie klingeln bitte einfach, wenn noch etwas ist.«

Steffi nickte nur und widmete sich der Zeitung. Von dem Überfall stand nichts drin, allerdings war dieser aus Reportersicht vermutlich längst nicht mehr aktuell.

Sie las, bis Schwester Lily nach etwa zwei Stunden erneut kam, ein Tablett in den Händen. »Jasmin hat gesagt, dass Sie ruhig versuchen sollen, etwas zu essen.«

Steffi beachtete das Tablett nicht weiter. »Können Sie bitte wenigstens meinen Eltern eine Nachricht senden, dass es mir gut geht?« Das stimmte zwar nicht, aber zumindest war sie am Leben.

»Ich weiß nicht, ob das so gut wäre. Aber ich werde das mal mit Gun besprechen. Allerdings schläft sie im Moment wohl noch.« Lily ergriff den Teller und hielt ihn ihr unter die Nase. »Na kommen Sie, versuchen Sie einen Löffel voll. So schlecht schmeckt die Suppe echt nicht, wir essen sie auch.«

Um endlich wieder ihre Ruhe zu haben und weil sie tatsächlich ein wenig Hunger verspürte, nahm sie den Löffel, ließ sich von Lily in eine sitzende Position bringen und begann zu essen. Es konnte nicht schaden, zu Kräften zu kommen. Je eher, desto besser. Auf keinen Fall würde sie hier weiter herumliegen und darauf warten, dass etwas geschah.

Gun sah Lilys Gesicht an, dass es ein Problem gab. »Was ist los?«, fragte sie und streckte sich. Sie hatte noch geschlafen, als es an ihrer Tür klopfte.

»Stefanie Gardner möchte mit ihren Eltern sprechen«, kam die Blondine sofort auf den Punkt. Das war erstaunlich – und zeigte umso mehr, dass die Lage als ernst eingestuft werden musste.

»Hm«, machte Gun, um Zeit zum Überlegen zu gewinnen. Aufgrund ihrer Verletzungen war Stefanie momentan wohl kaum in der Lage, aufzustehen und nach einem Telefon zu suchen; ganz davon abgesehen, waren alle Leitungen natürlich entsprechend abgesichert. Doch sie sollte nicht in Panik geraten, wenn man ihr den Kontakt zu allen Familienangehörigen und Freunden verbot. Andererseits durfte man es ihr auch auf keinen Fall erlauben. Schwierig. Wirklich verdammt schwierig.

»Gun, bitte sag irgendwas, das ich ihr dann sagen kann.« Lily trat von einem Fuß auf den anderen.

Gun lag auf der Zunge, dass sie da doch auch nichts machen konnte, aber damit wäre weder Lily noch Stefanie geholfen. »Ich rede mal mit ihr, ja? Aber lass mich erst mal was anziehen.« Sie trug nur ein langes T-Shirt, hatte sich nicht mal Schuhe oder Socken übergestreift. Kein Wunder, es hatte ja auch an die Tür gehämmert, dass sie erwartet hatte, Rauch im Flur zu sehen.

Lilys Blick wanderte an Gun herab. »Oh . . . ja, okay. Tolle Beine übrigens. Du kommst dann gleich, ja?«

»Natürlich, Lily.« Gun seufzte. Auch wenn die Bezahlung hier toll war, so hatte sie doch vorher weit stressfreiere Arbeitstage gehabt. Klar, da hatte es immer wieder Angriffe gegeben, aber gegen einen Typen mit Schlagstock oder Messer halfen die sieben asiatischen Kampftechniken, in denen Gun Meisterin war. Ein Feind mit Waffe ließ sich entsprechend entwaffnen, eine öffentliche Person schützte sie notfalls auch mit ihrem Körper. Aber hier konnte sie gar nicht aktiv werden, und das störte sie enorm.

»Beeil dich bitte.«

»Los, zisch ab.« Gun klatschte einmal in die Hände. Lily kicherte und stob davon.

Im Schnelldurchgang machte Gun sich für ihre Schicht fertig. Ihr kurzes Haar erwies sich einmal mehr als ausgesprochen praktisch. Es noch mit den Fingern in Form zupfend, schritt sie den Flur entlang.

Als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, wandte Stefanie den Kopf. Ihr Gesicht wurde immer noch von Verbänden bedeckt, doch ihre Augen leuchteten wach.

Gun setzte ein Lächeln auf. »Lily hat mich schon informiert. Ich weiß, dass das für Sie sicherlich schlimm ist, niemanden Vertrautes hier zu haben und auch nicht mit ihren Eltern sprechen zu dürfen, aber leider geht es im Moment nicht anders.«

»Und wann kann ich dann endlich telefonieren?«, fragte Stefanie.

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, niemand könnte das.« Vage hob sie die Schultern. »Wenn der Killer gefasst wird und sicher ist, dass keine Hintermänner existieren, können Sie direkt Kontakt zu Ihren Eltern aufnehmen, und sofern medizinisch nichts dagegen spricht, auch zu ihnen fahren. Aber jetzt würden Sie damit nicht nur sich selbst, sondern auch Ihre Familie in Gefahr bringen.«

Stefanie zog ihre Unterlippe zwischen ihre perfekten weißen Zähne und nagte darauf herum. Die Erklärung schien sie ein wenig besänftigt zu haben.

»Dies ist eben das normale Vorgehen im Zeugenschutzprogramm«, fuhr Gun fort. Mitgefühl regte sich in ihr. Zu gern hätte sie Stefanie etwas wirklich Tröstendes gesagt. »Und es hat sich bewährt. Außerdem laufen die Ermittlungen auf Hochtouren.«

»Aber was soll ich denn die ganze Zeit machen? Ich finde es schrecklich, nur hier herumzuliegen und zu warten.« Sie warf einen Blick auf den Zeitschriftenstapel auf dem Nachtschrank. »Und kommen Sie mir bitte nicht mit Lesestoff oder Fernseher.«

Gun konnte gut nachempfinden, was Stefanie nun fühlte. Letztes Jahr war sie bei einem Einsatz selbst verletzt worden – ein gebrochener Knöchel, eine Rippenfraktur und ein verstauchtes Handgelenk bildeten die Folge einer Auseinandersetzung mit wütenden Fans nach einem Fußballspiel, dessen Schiedsrichter sie beschützte. Im Grunde war sie glimpflich davongekommen, musste jedoch mehrere Tage das Bett hüten und erinnerte sich nur zu gut daran, wie schrecklich das für sie gewesen war. Da hatte sie auch nichts aufzuheitern vermocht, selbst als sie den Gehgips bekam, hatte sie sich noch furchtbar unbeweglich gefühlt.

»Wie wäre es dann mit Karten?«, schlug sie vor.

»Karten?«

»Spielkarten«, erklärte Gun. »Ich kenne mindestens ein halbes Dutzend Kartenspiele. Wir stellen einfach einen Tisch nah genug an Ihr Bett und legen los.«

»Müssen Sie nicht die Bösen jagen oder davon abhalten, hier hereinzukommen?«

Gun grinste. »Nee, so weit kommen die gar nicht erst. Und ich bin ja nicht die Einzige von der Sicherheit. Unten stehen immer zwei meiner Kollegen. Hier ist alles überwacht, auch mit Kameras.«

»Und dann müssen Sie mich dennoch bewachen? Meine Güte!«

»Sicher ist sicher«, beschied Gun. »Also, ich hole jetzt die Karten. Nicht weglaufen, ja?«

»Sehr witzig.« Doch um Stefanies Mundwinkel zuckte es leicht.

Steffi fühlte sich beim Aufwachen deutlich besser als am vorhergehenden Tag. Bis tief in die Nacht hinein hatte sie mit Gun Karten gespielt. Nicht gerade etwas, das ihren normalen Freizeitbeschäftigungen entsprach, aber zu ihrer Überraschung hatte es ihr weit mehr Spaß gemacht als gedacht und sie wunderbar abgelenkt.

Dennoch stand ihr nun deutlich wieder die Frage im Kopf, was mit ihr war und wie es weitergehen sollte. Als Model würde sie nicht mehr arbeiten können, wenn sie Narben zurückbehielt. Und womöglich sah ihr Gesicht so schlimm aus, dass sie sich gar nicht mehr unter Leute trauen würde.

Außerdem wusste sie immer noch nicht, wo sie gelandet war und wer diese Leute überhaupt waren. Stimmte es, was sie ihr erzählten?

Jasmin, die hübsche Ärztin, kam, mit Lily im Schlepptau. Beide kümmerten sich mit routinierten Handbewegungen um sie.

Anschließend wusch Lily ihr die Haare in einer Art Wanne, die so geformt war, dass Stefanie nicht aufstehen musste.

»Wann darf ich denn hier raus? Aus dem Bett, meine ich«, fragte sie. Nichts allein zu können, war schrecklich für sie.

»Das muss Jasmin entscheiden. Aber ich denke, dass Sie das bald dürfen. Ihre Wunden heilen gut, Ihre Werte sind auch in Ordnung.« Sie befestigte ein Handtuch wie einen Turban auf Steffis Kopf. »Und nachher kommt eine Polizistin und würde gern mit Ihnen sprechen. Sind Sie schon bereit, eine Aussage zu machen?«

»Ja, kein Problem.« Das würde es hoffentlich beschleunigen, hier herauszukommen.

Doch zu ihrer Bestürzung musste Steffi kurz darauf feststellen, dass sie keine große Hilfe war. Die Polizistin war eine Frau in den Vierzigern mit freundlichem Gesicht und ruhiger Stimme. Sie legte ein Diktiergerät auf den Nachttisch und fragte, ob es okay sei, wenn sie ihr Gespräch aufzeichnete.

»Es macht nichts, wenn Sie den Täter noch nicht genau beschreiben können«, sagte sie. »Erzählen Sie mir einfach, an was Sie sich erinnern.«

Steffi befeuchtete sich die Lippen und rief sich den Abend ins Gedächtnis. »Wir saßen im großen Wohnzimmer zusammen, Michelle, Ronja und ich. Oder nein, halt, Ronja kam erst später, sie hatte noch ein Shooting in einer Videothek. Sie hatte DVDs dabei, die hatte der Besitzer ihr geschenkt, und wir wollten einen der Filme schauen, warteten nur noch auf Juliane, sie war eine Tante besuchen gefahren. Ich hatte Popcorn gemacht. Und dann waren sie plötzlich da.«

»Sie? Also waren es mehrere?«

»Ich glaube, aber ich weiß es nicht genau.« Sie griff sich an die immer noch von einem Verband bedeckte Stirn. »Ja, es müssen zwei gewesen sein, mindestens. Denn einer hielt Michelle fest, und dann wurde ich angegriffen. Was ist mit ihr? Und mit Ronja und Juliane?«

Die Polizisten senkte für einen Moment die Augenlider. »Michelle hat es nicht geschafft. Der Killer hat sie ins Herz gestochen. Sie muss sofort tot gewesen sein.«

Steffi fühlte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Michelle war die Einzige gewesen, mit der sie so etwas wie eine Freundschaft verband. Auch wenn sie zusammen in dem zur Verfügung gestellten Haus der Agentur wohnten, so lebten sie doch die meiste Zeit ziemlich aneinander vorbei. Michelle jedoch hatte sie sehr gemocht mit ihrer liebevollen, sanften Art, immer schlichtend, wenn es Streit gab.

»Es tut mir sehr leid«, sagte die Beamtin.

Mühsam schluckte Steffi. Sie wollte vor ihr nicht weinen. »Und Ronja und Juliane?«

»Juliane kam erst, als das Haus bereits von Polizisten umstellt war, man ließ sie gar nicht hinein. Ihr Zuspätkommen hat ihr das Leben gerettet.«

Was hatten sich alle immer über Julianes Trödelei aufgeregt, ihre Unzuverlässigkeit. Und nun verdankte sie genau dieser Schwäche ihr Leben.

»Ronja wurde nur leicht verletzt. Einer der Täter muss sie wohl bewusstlos geschlagen haben, vermutlich hielt er sie für tot. Leider kann sie daher auch keinerlei Aussagen machen, denn wie es aussieht, haben die Täter sie zuerst ausgeschaltet, so dass sie überhaupt nichts von den weiteren Geschehnissen mitbekommen hat.«

»Es ging alles so schnell«, sagte Steffi. »Ich weiß auch gar nicht, wie sie hineingekommen sind. Geklingelt hat es, glaube ich, nicht. Ich weiß nur noch, dass ich im Wohnzimmer war, und plötzlich stürmte dieser Mann auf mich zu, ganz in Schwarz gekleidet, mit einer Skimaske vor dem Gesicht.« Sie schauderte, als das Bild in ihrem Gedächtnis auftauchte.

»Wie standen Sie zu den anderen jungen Frauen? Waren Sie mit ihnen befreundet, oder gab es Rivalitäten?«

»Eigentlich weder noch.« Wieder dachte sie an Michelle mit ihren sanften Augen und dem wunderschönen Lächeln. »Natürlich gab es Zickereien, aber das ist wohl normal, wenn man auf recht engem Raum zusammenlebt und dabei mehr oder weniger Konkurrentin ist.«

»Aber Sie waren alle recht gut im Geschäft, nicht wahr?«

»Wir waren alle bei der gleichen Agentur unter Vertrag. Aber das wissen Sie ja sicher.«

Lächelnd nickte die Polizistin. »Manchmal liefern scheinbar unbedeutende Details wichtige Hinweise. Daher ist es gut, wenn ich so viel wie nur möglich von Ihnen erfahre. Gab es vor dem Überfall besondere Vorkommnisse? Drohbriefe vielleicht, oder Anrufe?«

»Nein, nichts dergleichen, zumindest nicht, dass ich wüsste. Wenn eines der anderen Mädchen so etwas bekommen hätte, hätte sie es bestimmt gemeldet oder darüber gesprochen.«

»So wunderschöne junge Frauen müssen doch Verehrer in Scharen angezogen haben.«

»Klar gab es Männer, die sich für die Mädchen interessierten. Juliane hatte eine Zeitlang auch einen festen Freund. Aber wir waren immer viel unterwegs, das ist nicht ideal für Beziehungen.«

»Also keine rachsüchtigen Expartner?«

»Nein, ich denke nicht.«

»Gut. Zurück zum Überfall, bitte versuchen Sie, sich weiter zu erinnern.«

»Ich habe ihn gesehen. Den Mann, der mich angegriffen hat. Als er auf mich einstach, riss ich ihm die Skimaske vom Gesicht. Kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, habe ich ihn sehen können.« Das Bild stand ihr nun so klar vor Augen, als sei der Täter zum Greifen nah.

»Beschreiben Sie ihn.« Zusätzlich zum Diktiergerät zückte die Polizistin nun Block und Kugelschreiber.

»Er muss so um die dreißig sein, schätze ich. Blondes Haar. Aber nicht hellblond, etwa so wie Ihres.«

»Das ist gefärbt«, erklärte sie und grinste kurz.

Steffi schmunzelte. »Er hatte es allerdings viel kürzer als Sie. Und irgendwie strubbelig, aber das kann auch durch die Skimaske gewesen sein.«

»Wissen Sie noch seine Augenfarbe?«

»Blau, glaube ich«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »Aber ich bin nicht sicher, kann auch Grün gewesen sein.«