Liebe in Schottland - Maren Frank - E-Book

Liebe in Schottland E-Book

Maren Frank

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Beschreibung

1. Platz im 3. Lesbischen LiteraturPreis Wie ein Blitz trifft es die junge Archäologiestudentin Nathalie, als sie auf einer Party die schöne Eileen kennenlernt. Zwar ist die Begegnung kurz, doch geht die attraktive Frau mit den smaragdgrünen Augen Nathalie nicht mehr aus dem Kopf. Und nicht nur die Liebe bereitet Nathalie Sorgen. Nachdem sie ihren Job verloren hat, braucht sie schleunigst einen neuen. Tatsächlich ergibt sich schon bald etwas, doch Nathalie ahnt nicht, was dabei alles auf sie zukommt ...

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Maren Frank

LIEBE IN SCHOTTLAND

Roman

Originalausgabe: © 2010 ePUB-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-016-5

Coverillustration:

Noch zehn Zentimeter mehr, und er sitzt mir auf dem Schoß, dachte Nathalie und versuchte etwas weiter nach rechts zu rutschen. Was nicht so leicht war an einem Konferenztisch. Besonders nicht, wenn die Sitznachbarin zur Rechten einen so stattlichen Umfang wie Gwendolyn Meisner hatte.

Eine Hand schob sich unterm Tisch auf Nathalies Oberschenkel. Sie hielt die Luft an, schielte nach unten und trat zu. Ihre Schuhe waren normale Halbschuhe mit kleinem Blockabsatz, und Bernhard Feldleben trug seine üblichen italienischen Ledertreter. Doch Nathalie hatte genug Wut in den Tritt gelegt, dass Bernhard unterdrückt aufstöhnte. Hoffentlich würde er jetzt endlich seine Finger von ihr lassen.

Walter Feldleben schaute in ihre Richtung. Einen Moment länger als nötig blieb sein Blick an seinem ältesten hängen. Nathalie mochte ihren Chef. Walter Feldleben war ein gutmütiger Sechzigjähriger mit einem Gesicht voller Falten. Ein Tribut ans Alter und die viele Sonne, die er als Archäologe bei seinen Ausgrabungen abbekommen hatte. Er steckte voller Tatendrang und verstand es, seine Leute zu motivieren. Jeder mochte ihn. Leider hatte er seinem Sohn Bernhard so gar nichts von alldem vererbt . . .

Herr Feldleben sprach weiter, führte aus, was sie in den nächsten Wochen planten. Nathalie hörte mit wachsender Begeisterung zu und konnte dabei fast vergessen, dass Bernhard ihr schon wieder auf die Pelle zu rücken versuchte. In zwei Wochen begann eine Ausgrabung in Mexiko. Walter Feldleben hatte bereits vor einigen Tagen durchblicken lassen, dass er sie, Nathalie, gern dabeihätte.

Mexiko! So weit war Nathalie noch nie gereist. Und diese Ausgrabung würde spannend werden, ganz sicher. Man hatte alte Tonscherben gefunden und vermutete in der Erde eine Kultstätte. Vielleicht würden sie sogar einen Inka-Tempel entdecken. Vorfreude kribbelte in ihr. Genau das war es, was sie wollte. Obgleich noch Studentin, fühlte sie sich bei Expeditionen wie eine Archäologin. Und wurde von den meisten auch genauso behandelt. Es ging locker und zwanglos zu, das enge Zusammenleben im Camp schuf schnell ein Gemeinschaftsgefühl, und die meisten ihrer Kollegen mochte Nathalie sehr gern. Dazu die Aussicht, etwas Großartiges zu entdecken, dabei zu sein, wenn Geschichte geschrieben wurde. Nun gut, diese Chance war recht gering, und – wenn überhaupt – würde man auch nur Walter Feldleben namentlich vermerken, aber das war ihr weniger wichtig. Sie würde dabei sein, mit eigenen Augen sehen, wie die Jahrhunderte oder vielleicht auch Jahrtausende alten Funde an die Oberfläche kamen. So ein Erlebnis war absolut unbezahlbar.

Als Walter Feldleben sie entließ, strebte sie rasch dem Ausgang zu, doch Bernhard klebte wie eine Klette an ihr. Er hielt gerade so viel Abstand, dass er sie nicht berührte. »Wir könnten uns ein Zelt teilen.«

»Nein«, knurrte Nathalie. Wann ging es endlich in diesen großen Kopf hinein, dass sie kein Interesse an Männern hatte? Sprach sie Mandarin, oder hatte Bernhard ein Hörproblem? Zuerst ruhig und geduldig, später knapp und klar hatte sie ihm erklärt, dass sie nicht vorhabe, sich mit ihm – oder irgendeinem anderen Mann – einzulassen. Doch das hatte er nur mit einem Lachen quittiert. Vielleicht sollte sie sich die Haare raspelkurz schneiden, schwarz oder wasserstoffblond färben, die Nase piercen lassen und ein Hundehalsband mit spitzen Stacheln um den Hals tragen. Außerdem ein Messer oder eine geladene Pistole im Gürtel haben. Nein, verwarf sie die Überlegung sofort wieder – so eine Frisur passte nicht zu ihr, ein Piercing tat bestimmt weh, und das Halsband wäre denkbar unpraktisch. Und solche scharfen Waffen durfte man bestimmt auch nicht öffentlich tragen, wenn man keine Polizistin oder ein Bodyguard war.

»Ich könnte dir einige Vergünstigungen verschaffen. Du willst doch sicher mehr tun, als uns nur Kaffee zu kochen und Ordnung im Camp zu schaffen?«

Bitte? Hatte sie sich verhört? Sie war Studentin der Archäologie, nicht Bernhards persönliche Putzfrau. »Darüber hast du sicher nicht zu entscheiden.« Warum redete sie überhaupt mit ihm darüber? Im Camp wurde jede Arbeit geteilt. Außerdem war Walter Feldleben dafür bekannt, dass er Studenten gern förderte und sie nicht als Hilfskräfte mitschleppte.

»Vorsicht. Ich sitze am längeren Hebel.« Bernhard grinste schmierig.

Nathalie kochte vor Wut. »Lass mich einfach in Ruhe, ja?« Ohne ihn wäre diese Arbeit ein Traumjob. Hier hatte sie alles, wovon sie immer geträumt hatte. Und Walter Feldleben hatte schon durchblicken lassen, dass ihr nach Beendigung ihres Studiums eine Stelle als Archäologin sicher war. Kein Studentenjob mehr, sondern eine feste Stelle mit allem Drum und Dran. Das bedeutete interessante Ausgrabungen, Reisen in ferne Länder und ein gutes Gehalt. Mit dieser Aussicht tröstete sie sich stets, wenn Bernhard ihr mal wieder auf die Nerven ging.

»Ich meine es ernst, Nathalie. Entweder du kommst mit mir . . .«

»Oder was? Willst du mich entführen?« Trotz ihres Zorns hätte sie fast gelacht.

»Du wirst schon sehen, was du davon hast.«

»Du kannst mich mal«, zischte sie. Damit ließ sie ihn stehen und ging mit energischen Schritten zu ihrem alten Ford. In ihr brodelte es. Wie sollte das bloß in Mexiko werden? Aber die Aussicht, dorthin fliegen zu können und möglicherweise einer bedeutenden Entdeckung beizuwohnen, überwog den Ekel vor diesem Mann. Außerdem war sie ja mit Bernhard nicht allein, und sein Vater würde schon darauf achtgeben, dass er keinen Unsinn machte.

Und jetzt würde sie nicht mehr zulassen, dass er ihre Gedanken vergiftete. Jedenfalls für den Rest des Tages, beschloss Nathalie, während sie heimfuhr.

Im Treppenhaus erschnupperte sie köstliche Düfte. »Hm, ist das Koriander?« rief sie in den Flur, kaum dass sie die Wohnungstür aufgeschlossen hatte.

Eine Schürze mit der Aufschrift Chefkoch bei der Arbeit umgebunden, kam Tim auf sie zu und grinste breit. »Du kommst genau richtig, Mäuschen. Die Törtchen sind in fünf Minuten fertig.«

Nathalie lief das Wasser im Munde zusammen. Sie brachte ihre Tasche in ihr Zimmer und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Mit ärgerumschatteten Augen wollte sie nicht vor Tim treten.

Doch er merkte auch so, dass etwas nicht stimmte. »Was ist passiert?« fragte er, während er ein mit Sahnehäubchen gekröntes Törtchen vor sie stellte.

»Nichts.« Nathalie sog den Duft ein, der von dem noch warmen Backwerk ausging.

»He, ich bin dein Freund, mir kannst du nichts vormachen.«

Nathalie hieb die Gabel ins Kuchenstück, dass die Sahnehaube ins Wanken geriet. »Ach, nur das Übliche. Bernhard begreift es einfach nicht.«

»Dann erzähl ihm doch einfach, dass du nun mit mir zusammen bist und ich ein wüster Schläger bin, der ihn verprügeln wird, wenn er dich nur länger anschaut.«

»Du bist echt süß, weißt du das?« Gerührt griff Nathalie über den Tisch nach seiner Hand.

Er verzog leicht das Gesicht. »Das klingt nicht so, als ob dir mein Plan gefällt.«

»Ich komme schon allein klar. Aber danke«, fügte sie hinzu. Tim war wirklich ein Schatz. Er studierte Jura, konnte köstliche Kuchen backen, war schwul – und sicher nicht in der Lage, jemandem wie Bernhard Feldleben Angst einzujagen. Ganz davon abgesehen, dass sie niemandem glaubhaft hätten vermitteln können, tatsächlich ein Paar zu sein.

»Hi!« Polternd flog eine Tasche in irgendeine Ecke, und mit großen Schritten kam Patrick zu ihnen an den Tisch. »Boah, was ist das denn?«

»Gewürztörtchen nach neu entwickeltem Rezept.« Tim zauberte sogleich auch für ihn ein Törtchen mit Sahnehaube auf einen der Teller.

»Genau das, was ich jetzt brauche.«

»Auch Ärger gehabt?« fragte Nathalie mitfühlend. Sie merkte, wie sie sich entspannte. Die beiden Jungs taten ihr gut. Sie lebte schon seit fast drei Jahren mit ihnen in der WG. Es war wunderbar unkompliziert, aber eine Frau, so eine richtige Freundin und Gefährtin, konnten die beiden ihr natürlich nicht ersetzen.

Sie war jetzt schon seit über einem Jahr Single. Ihre letzte Beziehung war ziemlich kurz und auch die davor waren alle irgendwie nichts gewesen; zuerst eine schöne Zeit der Verliebtheit, aber die richtige, große Liebe, die hatte sie noch nicht erlebt. Sie hatte zwar eine Zeitlang geglaubt, die große Liebe gefunden zu haben, doch das hatte sich als Irrtum erwiesen.

Patrick schluckte einen großen Bissen Kuchen herunter. »Hammer!« Er richtete die Gabel auf Tim. »Du verschwendest echt dein Talent. Wenn ich nach dem Studium keinen Job finde, mache ich mit dir eine Konditorei auf, und wir werden stinkreich.«

Tim strahlte. »Ach, war doch nur ’ne Kleinigkeit.« Doch Nathalie wusste, wie sehr er sich über die Komplimente freute.

»Okay, da war gerade was mit Ärger. Hast du wieder welchen mit diesem Feldwiesel, Nathalie?«

»Feldleben.« Nathalie seufzte. »Demnächst soll es zu Ausgrabungen nach Mexiko gehen, und Bernhard Feldleben hat mir ganz großzügig sein Zelt angeboten – natürlich mit ihm zusammen.«

»Idiot«, kommentierte Patrick. »Übrigens, wie wäre es, wenn ich dich als Ablenkung und Aufmunterung nachher entführe? Feine Leckereien inklusive.«

»Haben wir doch schon.« Nathalie wies mit der Gabel auf das Törtchen. »Eine tolle Kreation, Tim, mein Kompliment. Unbedingt das Rezept merken.«

»Also ich meinte eigentlich den achtzigsten Geburtstag meiner Oma . . .«

»Wieso fragst du nicht Susanne?« Das war Patricks neue Freundin. Eine hübsche junge Frau, bei der Nathalie im Geheimen ein bisschen bedauerte, dass sie für sie nicht in Frage kam.

»Hat Schluss mit mir gemacht. Heute Mittag.«

»Oh Patrick, das tut mir leid.« Mitfühlend drückte Nathalie seine Hand. Irgendwie schien keiner von ihnen so recht von Aphrodite gesegnet zu sein; Patrick sah wirklich gut aus, er war auch für Nathalie ein hübscher Anblick, und sie konnte sich vorstellen, dass Heterofrauen sich in ihn verliebten. Aber das große Glück blieb bisher auch ihm verwehrt. Genauso Tim, der ebenfalls gerade erst mit seinem Freund Schluss gemacht hatte.

»Danke.« Patrick schielte nach der Platte mit den restlichen Törtchen. »Kann ich bitte noch eins haben?«

»Klar.« Strahlend holte Tim ihm das Gewünschte.

Patricks Appetit schien der Liebesfrust nicht zu beeinträchtigen. Er verspeiste auch das zweite Törtchen und ließ in Nathalie leise Neidgefühle aufkommen. Wie schaffte der Kerl es nur, solche Sachen zu futtern und dabei so schlank zu bleiben? Das war wirklich unfair. Sie selbst hingegen versagte sich oft die süßen Versuchungen, und weil Tims neueste Kreationen sie doch immer schwach werden ließen, schwitzte sie, wenn es ihre Zeit erlaubte, im Fitnessstudio, um weiterhin in Größe achtunddreißig zu passen.

»Also wegen heute Abend«, nahm Patrick den Faden wieder auf. »Ich mag da nicht ohne Begleitung hingehen.«

»Ich könnte doch mitkommen. Wenn Nat nicht will«, fügte Tim hinzu.

Nathalie kicherte. »Da wird sich die Omi aber freuen.«

»He, he, das sähe sie ganz cool. Meine Oma hatte bis vor einigen Jahren noch einen Lehrstuhl an der Universität inne: Physik. Wenn ich mit einem Mann auftauche, würde sie das gar nicht stören. Aber sämtliche andere Verwandten würden mich nerven. Außerdem bin ich nicht schwul.«

»Ja, leider«, kommentierte Tim und blinzelte ihm zu. Nathalie vermutete, dass er im Geheimen ein wenig in Patrick verliebt war. Patrick schien das zu wissen, überging die kleinen Anspielungen aber. Vielleicht weil er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte.

»Mir ist echt nicht nach Seniorenparty«, sagte Nathalie. Auch wenn die Beschreibung seiner Oma spannend klang. Und wann bekam man sonst schon die Gelegenheit, mit einer Physikerin zu sprechen, die diesen Beruf schon erlernt hatte, als es für Frauen noch gar nicht so selbstverständlich gewesen war, zu studieren?

»Wir müssen ja nicht lange bleiben. Es gibt feine Leckereien – also bloß jetzt nichts mehr essen –, eine Liveband wird spielen. Und ich würde auf ewig in deiner Schuld stehen.«

»Spinner.«

»Soll ich auf die Knie fallen?« Theatralisch rutschte er nun tatsächlich auf den Boden und reckte ihr die Arme entgegen.

Tim kicherte, und auch Nathalie musste lachen.

»Okay. Aber nur, weil du es bist«, gab sie sich geschlagen. »Und keine Knutschereien, klar?«

Er stand auf und klopfte sich die Hosenbeine ab. »He, hab’ ich das jemals versucht?«

Nein, das hatte er in der Tat nicht; zu keiner Zeit hatte Patrick probiert, sich ihr zu nähern. Er sah sie ebenso wie Tim als Freund an.

»Zieh dir was Hübsches an. Elegant, aber nicht zu scharf.«

Sie streckte ihm die Zunge heraus, und er lachte.

~*~*~*~

Nathalie pfiff leise durch die Zähne, als sie vor dem Haus standen. Das war ja schon fast eine Villa. Zweistöckig, mit Stuckverzierungen, der Vorgarten so gepflegt, dass da sicherlich ein professioneller Gärtner am Werk gewesen war. Hier wohnten nicht gerade arme Leute.

»Nette Hütte, wie?« Patrick grinste sie von der Seite her an. Er hatte sich chic gemacht, trug seinen besten – und einzigen – Smoking.

Unwillkürlich schaute Nathalie an sich herunter. War der nachtblaue Hosenanzug wirklich geeignet? Wenn sie allein schon auf den Parkplatz schaute, erblickte sie dort zahlreiche Wagen, die mindestens das Zehnfache von ihrem kosteten.

»Du siehst toll aus«, sagte Patrick, als hätte er ihre Gedanken gelesen, bot ihr seinen Arm, und sie hakte sich bei ihm ein.

Bereits auf dem Kiesweg scholl ihnen Musik entgegen. Die Tür wurde von einem livrierten Mann geöffnet, den man ohne weiteres auch in ein Fünf-Sterne-Hotel hätte stellen können. Vielleicht arbeitete er üblicherweise auch dort.

In der Eingangshalle – Flur konnte man das wirklich nicht mehr nennen – stand eine Gruppe Frauen im mittleren Alter, alle in feinsten Designerkostümen, und redete laut miteinander. Die Gesprächsfetzen, die Nathalie aufschnappte, ließen sie fast die Augen verdrehen. Das konnte ja was werden . . . Bei Haute Couture konnte sie nicht mitreden, auch hatte sie den neuen Masseur in der Südstraße noch nicht ausprobiert; dass er neu war, wusste sie auch nicht, denn bisher war sie noch nie zu einer Massage gegangen.

Ein junger Mann kam auf sie zu und begrüßte Patrick mit einem Wortschwall. Nathalie bekam so halb mit, dass es sich bei ihm wohl um seinen älteren Bruder handeln musste. Sie tappte neben Patrick in den Saal. Im hinteren Teil befand sich eine Bühne, auf der eine Band spielte. An der Fensterseite waren lange Tische aufgebaut – das versprochene Buffet. Sah gut aus, musste Nathalie zugeben. Und die Leckereien waren normal, nichts Ekliges wie Schnecken oder Austern, sondern verlockend aussehende, hübsch angerichtete Häppchen mit feinsten Zutaten.

Da blieb ihr Blick an einer Frau hängen, die allein an einem der Fenster stand. Sie war schlank und groß, hatte ihren Kopf jedoch so weit dem Fenster zugewandt, dass Nathalie durch den Lichteinfall nur ihr Profil erkennen konnte. Die Art, wie sie hinausschaute, ihre Körperhaltung, ihr kastanienbraunes Haar, das in sanften Wellen bis auf die Schultern fiel, das alles hatte irgend etwas, das Nathalie in seinen Bann schlug.

Sie war völlig fasziniert, und wie von selbst bewegten sich ihre Beine auf diese Erscheinung zu. Sollte sie die Frau ansprechen? Aber wie? Wahrscheinlich war sie ohnehin in Begleitung hier.

Noch während sie überlegte, wandte die Frau sich ihr zu, und Nathalie schaute in ein ebenmäßiges Gesicht. Hohe Wangenknochen, faszinierende grüne Augen, weiche Lippen, die Nathalies Hals unverzüglich trocken werden ließen und sie zum Schlucken veranlassten. Hoffentlich hatte diese Schönheit das nicht mitbekommen!

Sie wagte nicht, ihren Blick weiter auf Wanderschaft zu schicken, ließ ihn statt dessen auf dem schönen Gesicht verweilen. Ihr Blick wurde erwidert, wanderte über ihren Körper und verursachte ein Kribbeln in ihrem Bauch. »Ich bin mit Patrick hier.« Nein! Warum fiel ihr denn nichts Gescheiteres ein? Jetzt hatte sie bestimmt alles verdorben. Sie hätte sich selbst in den Hintern beißen mögen. Von allem, was man in solch einer Situation sagen konnte, hatte sie das allerfalscheste von sich gegeben.

»Ich nicht.«

»Bitte?«

Die weichen Lippen verzogen sich zu einem weiße Zähne freigebenden Lächeln. »Ich bin nicht mit Patrick hier.«

Ja, logisch war sie das nicht. Konnte nicht endlich Hirn vom Himmel fallen? Bitte ganz, ganz viel. Oder wenigstens Antworten, aber bitte gescheite.

Das Lächeln blieb, der Augenausdruck konnte sogar als freundlich gedeutet werden. Oder sah Nathalie nur das, was sie gern sehen wollte?

»Ach, da steckst du. Oh, hallo Eileen.« Patrick nickte der brünetten Schönen zu und nahm Nathalie an die Hand. Wie paralysiert schritt sie neben ihm her. Sie nahm kaum wahr, dass sie an etlichen elegant aussehenden Leuten vorbeigeführt wurde, Patricks Oma gratulierte und schließlich am Buffet landete. Mit ihren Gedanken war sie immer noch ganz woanders, sah in edelsteingrüne Augen und fühlte das hinreißendste Lächeln aller Zeiten auf sich gerichtet.

Wo war die Schöne abgeblieben? Nathalie konnte sie nirgends entdecken. Eileen hatte Patrick sie genannt. Toller Name, tolle Frau. Ob sie eine Verwandte war? Oder auch nur Begleitung? Schätzungsweise mochte sie Mitte bis Ende Dreißig sein. Vielleicht auch schon Vierzig, aber das war ja egal. Nathalie hätte am liebsten alles über sie erfahren. Doch Patrick, den sie nach ihr hätte fragen können, stand nun bei seiner Oma, die kein bisschen nach achtzigjähriger Großmutter aussah, sondern trotz ihres zum Knoten gesteckten schlohweißen Haares frisch und tatendurstig wirkte. Hätte die Begegnung mit Eileen nicht dermaßen ihr Gehirn vernebelt, Nathalie hätte sich liebend gern mit Patricks Oma unterhalten.

Geistesabwesend knabberte sie an Frischkäseschiffchen, die mit Schnitzen von geräuchertem Lachs garniert waren. Irgendwie lief alles wie ein Film an ihr vorbei, als könne sie zwar sehen, was geschah, aber nicht selbst aktiv werden. Sie nippte am Champagner, naschte feinste Häppchen, tanzte mit Patrick, als er sie dazu aufforderte, doch in ihrem Kopf wirbelte nur die Begegnung mit Eileen.

Immer wieder sah sie sich bei den Gästen um, doch ohne Erfolg. Vielleicht hatte sie die Party bereits verlassen. Oder war nur mit ihrer Begleitung zugange, die sie von allem anderen abschirmte.

Auch als sie nach Hause fuhren, stand Nathalie das schöne Gesicht noch deutlich vor Augen. Sie warf einen Seitenblick zu Patrick, der auf dem Beifahrersitz mehr lag als saß, die Augen geschlossen hatte und leise schnarchte. Er hatte dem Champagner und was immer es dort sonst noch an Alkoholika gegeben hatte, wohl ziemlich gut zugesprochen. Weil sie fahren musste, hatte Nathalie selbst nur ein halbes Glas Champagner getrunken und war lieber auf Orangensaft umgestiegen.

Sobald er ausgeschlafen und nüchtern war, würde sie Patrick nach Eileen fragen. Sie musste diese Frau unbedingt wiedersehen. Immerhin bestand eine winzige Chance, dass sie trotz ihrer Schönheit und dieser faszinierenden Ausstrahlung Single war.

Zu Hause angekommen weckte Nathalie Patrick. Zuerst mit leisem Rufen, dann mit nachdrücklichem Rütteln an seiner Schulter. »Wir sind da. Los, raus, oder willst du im Auto übernachten?«

»Hm?« brummte er.

Nathalie stöhnte leise und schubste ihn erneut. »Du kannst gleich weiterschlafen, aber erst, wenn wir oben sind.«

»Lass mich«, murrte er und versuchte sich auf die andere Seite zu drehen, was der Gurt natürlich verhinderte.

Mit einem Seufzen zog Nathalie ihr Handy, rief Tim an und bat ihn, herunterzukommen. Gemeinsam schafften sie Patrick in den zweiten Stock, verfrachteten ihn ins Bett, zogen ihm nur die Schuhe aus und öffneten das Fenster, um die Alkoholausdünstungen herauszulassen.

»War wohl ’ne nette Party«, meinte Tim, als er mit Nathalie zusammen ins Wohnzimmer trat.

»Ich bin verliebt!« platzte sie heraus.

»Echt? So richtig Liebe auf den ersten Blick? Mensch, Süße, das ist klasse. Los, erzähl, wer ist die Glückliche?«

»Ich kenne bloß ihren Vornamen . . .«

»Na und? Als ich mich in Florian verliebt habe, wusste ich auch rein gar nichts von ihm.« Er seufzte, und seine braunen Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an. »Florian.« Der Name kam als personifizierte Sehnsucht heraus, und Nathalie tat es unverzüglich leid, vom Thema »Liebe auf den ersten Blick« angefangen zu haben. Tim war ganz offensichtlich noch längst nicht über seinen Ex hinweg.

»Bei mir ist das noch weit extremer.« Sie erzählte ihm von der kurzen Begegnung, verschwieg auch nicht, dass sie gesagt hatte, sie sei mit Patrick da, was ganz sicher jedes Interesse an ihr, das Eileen hätte haben können, im Keim erstickt hatte.

»Also so schlimm finde ich das jetzt aber nicht«, meinte Tim, nachdem sie geendet hatte. »Klar, hätte besser laufen können, aber wenn du Patrick über sie ausfragst, kann er vielleicht ein neuerliches Treffen arrangieren. Dabei erklärst du ihr dann, dass du Patrick wirklich nur aus Freundschaft begleitet hast und zwischen euch absolut nichts läuft.«

»Ich weiß doch noch nicht mal, ob sie lesbisch ist!«

»Na, das merkst du doch. Du vermutest es ja sowieso, nicht?«

»Ja.« Jedenfalls hatte die Art, wie Eileen sie angesehen hatte, auf Interesse hingedeutet, das über normales Abchecken anderer Partygäste weit hinausging. Doch durch ihren dämlich Fauxpas war dieser Funke aus den faszinierenden grünen Augen verschwunden.

»Also, wo ist dann das Problem? Du triffst dich mit ihr, erklärst ihr alles – und Happy End, ihr fallt euch in die Arme.«

»Ha, ha«, meinte sie sarkastisch.

»Ach Mäuschen, wieso denn so pessimistisch? Gut, es besteht die Möglichkeit, dass deine Süße schon in festen Händen ist, aber wenn du es nicht versuchst, woher willst du dann wissen, dass es nicht funktioniert? Du hast doch absolut nichts zu verlieren. Und ’ne Menge zu gewinnen, wenn du es probierst.«

Da war was dran, das musste sie zugeben.

»Ich sehe es arbeiten in deinem Kopf.«

Nathalie grinste Tim an. »Ja, okay, ich frage Patrick. Sobald er ansprechbar ist.«

»So ist es richtig, Mäuschen.« Tim gähnte herzhaft. »Sorry, aber der Tag war echt lang.«

»Ja, bei mir auch.« Und morgen früh warteten erst die Uni und dann ihre Arbeit bei Feldleben. Sie sollte zusehen, dass sie ins Bett kam.

Eileen spukte ihr immer noch im Kopf herum, viel mehr, als gesund war. Sie sah diese glitzernden grünen Augen vor sich, die vollen Lippen, und prompt stellte sie sich vor, wie es wäre, sie zu küssen.

Obwohl es spät war, ging Nathalie ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Der Versuch, die Bilder abzuwaschen, war natürlich ein Ding der Unmöglichkeit, das war ihr schon bewusst. Aber das Gefühl, wie das heiße Wasser über ihren Körper strömte, glich einem Streicheln. Mit geschlossenen Augen konnte Nathalie sich fast vorstellen, dass es nicht nur Wasser war, das sie berührte.

Sie fühlte, wie ihre Brustwarzen sich aufrichteten. Mit einer Hand nahm sie den Duschkopf und hielt ihn dicht über die schwellenden Spitzen. Das von dort ausgehende Prickeln setzte sich bis zu ihrem Schoß fort.

Langsam ließ sie den Wasserstrahl über ihren Bauch wandern. Die freie Hand glitt zwischen ihre Schenkel. Ihre Finger spürten Feuchtigkeit, die nicht allein vom Wasser stammte.

Sie richtete den Wasserstrahl auf ihre Scham, ließ ihn wandern, um den Druck nicht zu stark werden zu lassen. Doch die Sehnsucht nach Befriedigung gewann über den Vorsatz, es hinauszuzögern. Sie drehte den Wasserstrahl stärker, spreizte dann mit zwei Fingern die weichen Schamlippen.

Das Wasser traf nun genau ihre ungeschützte Klitoris. Im ersten Moment war das Gefühl so heftig, dass Nathalie die Hand schützend davor schob. Langsam bewegte sie ihre Finger etwas weiter auseinander, ließ das Wasser hindurch und genoss das Gefühl, das dabei entstand. Nässe sammelte sich in ihrem Schoß. Sie ließ die Finger nun tiefer wandern, umkreiste die empfindliche Öffnung. Mühelos schlüpfte der Mittelfinger in sie. Sie verstärkte von innen den Druck und biss sich auf die Unterlippe, um vor Lust nicht zu stöhnen. Die Erlösung kam rasch, ließ ihre Beine zittern.

Einen Moment noch blieb Nathalie in der Dusche stehen, ließ nun ganz normal das Wasser über sich strömen. Dann stellte sie es ab und griff nach dem Handtuch. Das drängende Verlangen in ihr war fürs erste zwar befriedigt, die Sehnsucht nach der wunderschönen Fremden jedoch keineswegs.

~*~*~*~

»Patrick! Los, aufstehen!«

»Raus mit dir!« unterstützte Tim das Wecken.

Rigoros zog Nathalie dem Schlafenden das Kopfkissen weg. Ein Murren war die Folge, aber wach war er immer noch nicht. Trotz des gekippten Fensters roch es deutlich nach Alkohol.

»Patrick, willst du zu spät kommen?« Er studierte Chemie im sechsten Semester. Und auch wenn bald die Semesterferien begannen, so war er bisher doch stets sehr gewissenhaft in die Uni getrabt.

Tim packte ihn unter den Achseln und zog ihn in eine sitzende Position. Patrick schüttelte den Kopf wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. »Boah, mir dröhnt der Schädel!«

»Du kriegst gleich ein Aspirin«, versprach Tim ihm. »Aber erst ab unter die Dusche. Soll ich dir beim Ausziehen helfen?«

Nathalie kicherte, auch wenn das unfair war, aber irgendwie waren die beiden schon süß. Der eine derangiert mit zu allen Seiten abstehenden Haaren, der andere bereits fertig angezogen, rasiert und mit ordentlicher Frisur.

»Nee. Will nur schlafen.« Patrick wollte sich zurück ins Bett fallenlassen, doch das verhinderte Tim mit festem Griff. Er legte sich einen Arm von Patrick über die Schulter, packte ihn um die Taille und zog ihn beherzt auf die Beine. So tappte das ungleiche Gespann hinüber ins Badezimmer.

Nathalie vernahm unterdrückte Proteste, den Aufschrei, dass das Wasser viel zu kalt sei, und schließlich kam Tim allein heraus, einige Wasserspritzer auf seinem weißen T-Shirt.

»Er duscht gerade«, erklärte er überflüssigerweise. »Aber ich glaube, du fragst ihn besser erst heute Nachmittag nach Eileen.«

Nathalie nickte. »Muss jetzt sowieso los.« Sie war ziemlich spät dran und hatte sich nach einer Nacht mit wenig Schlaf – denn immer wieder hatte sich das Bild von faszinierend grünen Augen, weichen Lippen und kastanienbraunem Haar, in das sie am liebsten ihre Finger vergraben hätte, in ihren Kopf geschlichen – auch ziemlich mühsam aus den Federn gequält. Dank starkem Kaffee war sie nun allerdings sehr munter.

~*~*~*~

Die Stunden an der Uni vergingen wie im Flug. Nathalie fuhr direkt durch zu Feldleben. Kaum war sie aus dem Auto ausgestiegen und trat auf den klotzartigen grauen Bau zu, kam Walter Feldleben ihr entgegen. Seine Miene verhieß nichts Gutes.

»Kommen Sie bitte mal mit, Nathalie«, sagte er. Der sonst so warme Ausdruck war aus seinen Augen verschwunden.

Sie folgte ihm in sein Büro, verschränkte die Finger zu Knoten. Was war geschehen, dass der Chef sie sprechen wollte? Es musste etwas Schlimmes sein, sonst hätte sich nicht diese steile Falte zwischen seine Augenbrauen gegraben.

»Setzen Sie sich doch.« Er deutete auf einen der Bürostühle, nahm selbst hinter dem massiven Eichenholzschreibtisch Platz. »Kaffee?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Mund war ganz trocken, aber sie glaubte nicht, dass sie irgend etwas hinunterbekommen könnte. Nicht, bevor sie nicht wusste, was los war. Eine ungute Vorahnung sagte ihr, dass es mit ihr selbst zu tun hatte und sie gleich etwas hören würde, das grundlegende Veränderungen nach sich zog.

»Nathalie, wie Sie wissen, schätze ich Sie sehr. Sie sind klug, fleißig, schrecken auch vor harter Arbeit nicht zurück«, begann Walter Feldleben. Er hatte sich leicht zu ihr vorgebeugt, die Hände locker gefaltet auf der Schreibtischplatte aufliegend.

»Und?« fragte Nathalie vorsichtig, nachdem er schwieg.

Herr Feldleben seufzte. Seine Augen nahmen einen bedauernden Ausdruck an. »Mir wurde zugetragen, dass Sie sich an meinem Unternehmen bereichert haben. Natürlich bin ich dem Fall sofort nachgegangen.« Er griff in die oberste Schreibtischschublade und hielt ihr auf der ausgestreckten Hand eine tönerne Figurine hin. Nathalie kannte das Artefakt ? über Ostern hatte sie an einer Ausgrabung in Südfrankreich teilgenommen, bei der die Figur mit entdeckt worden war. Noch hatte man sie nicht genau zu datieren vermocht, aber es war anzunehmen, dass sie von einem archaischen Volk stammte, vielleicht sogar aus der Zeit der Cro Magnon, den Vorfahren der heutigen Menschen. »Diese Figur wurde in Ihrem Spind gefunden. Möchten Sie mir etwas sagen, Nathalie?«

Nathalie schluckte, schüttelte schwach den Kopf. In ihren Ohren summte es, schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, und für einen Moment fürchtete sie, das Bewusstsein zu verlieren. Das konnte doch nur ein Alptraum sein! Walter Feldleben konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass sie ein wertvolles Artefakt gestohlen hatte.

»Nathalie?«

Seine Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück. Schmerz zuckte in ihren Händen auf, und sie registrierte, dass sie die Fingernägel fest in die Handballen gebohrt hatte.

»Kommen Sie, trinken Sie einen Schluck Wasser. Ich will nicht, dass Sie mir hier umkippen.«

Ein Glas wurde an ihre Lippen gepresst. Wie mechanisch ferngesteuert hob Nathalie eine Hand, hielt es fest und trank. Kühl rann es durch ihre enge, trockene Kehle.

»Geht es wieder?« Walter Feldlebens Stimme klang besorgt. Seine Hand lag auf ihrer Schulter.

Nathalie blinzelte, schaute hoch. Er stand über sie gebeugt, musterte sie. Seine ohnehin faltige Stirn lag nun in noch stärkeren Runzeln. Sie wusste nicht, ob sie ihrer Stimme schon trauen konnte. Das Schwindelgefühl war auch noch nicht ganz verschwunden. Aber sie musste nachdenken, etwas sagen. Um klarzustellen, dass sie nicht gestohlen hatte. Allein, dass er es von ihr glaubte, tat schon weh. »Was Sie da gerade gesagt haben . . .«

Er seufzte, nahm die Figur wieder zur Hand und drehte sie langsam. »Ich weiß ja, wie verlockend es für Sie gewesen sein muss. Mein Gott, wenn ich daran denke, wie oft ich kurz davor war, ein Artefakt einzustecken, es mitzunehmen und ganz für mich allein zu haben. Und wie schwer es mir jedes Mal fiel, Stücke an ein Museum zu geben. Ist immer noch so, bei jeder neuen Ausgrabung wünsche ich mir, etwas davon für mich behalten zu können. Aber ich habe dennoch nie etwas gestohlen.«

Ich doch auch nicht! wollte Nathalie schreien. Ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an, und wieder flackerten schwarze Punkte vor ihren Augen auf.

»Ich sehe es als Ausrutscher an. Bedauerlich natürlich. Aber ein Ausrutscher, den man nicht an die große Glocke hängen muss«, fuhr Feldleben fort und stellte die Figur auf dem Schreibtisch ab, nahm dann selbst wieder dahinter Platz. »Daher werde ich die Polizei nicht informieren. Es ist ja nichts geschehen, das Artefakt ist zurück und unbeschädigt. Und für Sie hoffe ich, dass Sie daraus gelernt haben.«

»Aber . . .«, begann Nathalie, doch ihr Chef hob die Hand.

»Bitte, Nathalie, keine Erklärungsversuche. Für mich ist die Sache damit abgeschlossen. Nur eines, und das können Sie sich vermutlich bereits denken.« Er atmete einmal tief ein und stieß die Luft mit einem Seufzen aus. »Ich kann Sie unmöglich weiter beschäftigen. Da ich weiß, wie wenig Geld man als Student hat – ja, kaum zu glauben, aber ich war auch mal jung«, er lachte kurz auf, »zahle ich Ihnen den kompletten Lohn für diesen Monat. Und Sie haben mein Wort, dass niemand davon erfahren wird.« Er stand auf, und auch Nathalie erhob sich.

Noch immer wie in Trance ergriff sie seine ausgestreckte Rechte.

»Sie sind sehr talentiert, klug und ehrgeizig. Machen Sie Ihren Weg. Aber nicht auf der schiefen Bahn, ja?« Sein Lächeln wurde traurig. »Es tut mir wirklich leid, Ihnen jetzt die Kündigung zu geben. Am liebsten würde ich Sie behalten. Aber es geht nicht. Wir alle müssen mit den Konsequenzen unseres Handelns leben. Und so sehr ich es auch bedauere, Sie zu verlieren, so muss ich Sie nun bitten, zu gehen und nie wieder hierher zurückzukehren.«

Nathalie schluckte. Sie hatten einen Verdacht, aber den konnte sie nicht aussprechen. Niemals würde Walter Feldleben sich gegen seinen ältesten Sohn stellen. Und welche Beweise hatte sie schon? Nur sie allein wusste, dass sie die Figur nicht genommen hatte. Ihr Wort würde gegen das von Bernhard stehen. Und sie traute ihm zu, dass er weitere Beweise fingierte. Womöglich landete die ganze hässliche Geschichte dann sogar wirklich vor Gericht.

»Holen Sie jetzt Ihre Sachen. Dann kommen Sie wieder her. Bis dahin habe ich die Kündigung fertig.«

Nathalie tat wie geheißen, auch wenn sie am liebsten direkt nach Hause gefahren wäre. Sie räumte ihren Spind leer, stopfte ein Teil nach dem anderen in die große Umhängetasche aus Seeleinen.

»He, Nat!« Gwendolyn kam winkend auf sie zu gelaufen. »Wo warst du denn, sonst bist du doch immer so pünktlich? Na, ist ja auch egal. Du, ich muss gleich eine Auflistung fürs Museum machen, kannst du mir dabei wohl bitte helfen? Du weißt doch, diese Computersachen, die kann ich nicht, und . . .«

»Nein«, unterbrach Nathalie den Redeschwall. Gwendolyn war nett, sie hatte immer gern mit ihr zusammengearbeitet, doch jetzt wollte sie niemanden sehen. Und auch mit niemandem reden.

Gwendolyn zuckte zurück. »Was ist denn mit dir los?«

»Nichts«, presste Nathalie durch die zusammengebissenen Zähne und hoffte, die Fassung so lange wahren zu können, bis sie im Auto saß.

»Was machst du denn da?« wollte Gwendolyn wissen und reckte sich, um an Nathalie vorbei in den Spind schauen zu können.

Zum Glück hatte Nathalie nicht sehr viel hier deponiert. Sie grabschte nach der Wasserflasche aus bruchsicherem Metall und quetschte sie mit in die Tasche. »Bin in Eile«, murmelte sie und lief an der erstaunten Gwendolyn vorbei zurück ins Büro.

Walter Feldleben gab ihr zusammen mit der Kündigung ihren kompletten Lohn für diesen Monat in bar auf die Hand. Das war großzügig, aber am liebsten hätte sie ihm das Geld vor die Füße geworfen und ihn angeschrien, was für ein mieses Schwein sein Ältester war.

Doch alles, was sie tat, war, stumm das Geld und das Kündigungsschreiben einzustecken. Der Blick, mit dem Herr Feldleben sie ansah, brachte ihre Beherrschung ganz nah an die Grenze. Sie schluckte, ignorierte das Brennen in ihren Augen, die Trockenheit in ihrer Kehle und die heiße Wut.

Ihr ehemaliger Chef sagte nichts, auch wenn sie für einen winzigen Moment den Eindruck gewann, dass er ihr am liebsten die Kündigung entrissen hätte. Einige Sekunden lang stand sie starr da, sah ihn an, entdeckte eine Mischung der verschiedensten Gefühle in seinen Augen.

Aber er sagte nichts, tat nichts. So schulterte sie ohne ein Wort ihre Tasche und ging schnurstracks zu ihrem Auto. Sie drehte sich nicht um, als Gwendolyn ihr zurief, wo sie denn jetzt hinwolle, sie müsse doch die Liste fertigmachen und käme allein damit nicht zurecht, wieso sie ihr denn nicht wie sonst helfe.

Unter dem Scheibenwischer ihres Wagens steckte ein Zettel. Ich hab dir doch gesagt, ich sitze am längeren Hebel, stand darauf zu lesen. Keine Unterschrift, die Buchstaben auf einem Computer geschrieben, doch Nathalie hatte keinen Zweifel über die Identität des Verfassers. Sicher beobachtete er sie nun, lachte sich ins Fäustchen und wartete darauf, dass sie ausflippte, herumschrie, heulte.

Aber zumindest die Genugtuung würde sie ihm nicht gönnen. Sie zerknüllte den Zettel und warf ihn ins Gebüsch, dann stieg sie ein und fuhr los.

Sie fühlte sich wie betäubt. Zu rasch war ihre Welt eingestürzt, es war noch keine Zeit gewesen, das gesamte Ausmaß der Katastrophe zu überblicken und zu analysieren. Wut und Trauer kamen erst, als sie die Treppe hochstieg. Mit jedem Schritt schienen sie zuzunehmen, bauten sich in ihr auf. Sie durfte nicht losschreien, nichts zertrümmern.

Vor ihren Augen verschwamm das Schlüsselloch. Sie benötigte drei Versuche, bis sie endlich in der Wohnung war. Alles ruhig. Gut. Patrick gab mehrfach die Woche Nachhilfe, Tim jobbte als Taxifahrer. Wenn sie Glück hatte, würden die beiden erst heute Abend kommen.

Sie setzte sich in ihrem Zimmer aufs Bett, zog die Knie eng an den Körper und umschlang sie mit den Armen. Es war still, nur ab und zu drang das Geräusch eines vorbeifahrenden Wagens bis zu ihr hoch.

Sie konnte immer noch nicht fassen, was geschehen war. All ihre Träume zerstört, von einer Minute auf die andere. Was sollte sie denn jetzt machen? Sie brauchte einen Job. Walter Feldleben hatte sie gut bezahlt, aber so viel, dass sie davon ein dickes Polster hätte anlegen können, war es nun auch nicht gewesen. Letzten Monat hatte ihr Wagen in die Werkstatt gemusst, was ihre Ersparnisse direkt aufgefressen hatte.

Ihre Eltern wollte sie auf gar keinen Fall anpumpen. Vielleicht würde sie ja etwas Adäquates finden. Walter Feldleben war schließlich nicht der einzige Archäologe Deutschlands. Bestimmt gab es noch andere, die eine fleißige Hand gebrauchen konnten. Dann hätte sie ein Einkommen, würde gleichzeitig etwas lernen, und in der Vita machten sich Teilnahmen an Ausgrabungen auch sehr gut.

Die Tür klapperte. »Jemand da?« erklang Tims Stimme.

Nathalie antwortete nicht. Sie wollte mit niemandem sprechen, auch nicht mit Tim.

»Nathalie?« Es wurde gegen ihre Tür geklopft. »Bist du da? Ich hab dein Auto unten gesehen. Oder schläfst du?«

Typisch Tim. Schläfst du etwa schon? fragte er auch, wenn er einen spät abends weckte. Aber sie wollte nicht antworten. Nicht reden, nicht die Wunden noch tiefer aufreißen.

Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. »Nat?«

Nathalie hielt die Luft an. Bitte Tim, geh! flehte sie in Gedanken. Er sollte sie nicht sehen. Jedenfalls jetzt noch nicht, später wäre die Konfrontation ja unvermeidlich. So war das nun mal, wenn man zusammenwohnte. Auch wenn ihre WG gut funktionierte. Und weit besser als das Zusammenleben mit Sandra. Sandra . . . Nathalies Gedanken drifteten ab. Sandra war ihre erste große Liebe gewesen. Als sie beide das Abi in der Tasche hatten, waren ihre Pläne noch größer als ihre Naivität gewesen. Rasch hatten sie eine hübsche kleine Wohnung gefunden und sich gefreut, jeden Tag nebeneinander aufzuwachen, gemeinsam zur Uni zu fahren, miteinander zu lernen, zu kochen, romantische Abende zu verbringen . . .

Der Alltag hatte sie schneller eingeholt als ein Hund den Briefträger. Es hatte nicht funktioniert, ebenso wie ihre Liebe nicht die erste Phase mit der rosaroten Brille überlebte. Sie hatten sich ohne großen Streit getrennt; es war mehr eine Erlösung für beide gewesen, denn die Streitereien hatten sie vor ihrer Trennung zur Genüge gehabt.

Sandra hatte die Wohnung behalten, Nathalie war ausgezogen, und über einen Aushang am Schwarzen Brett der Uni hatte sie diese WG gefunden. Da nicht die Gefahr bestand, dass sie sich in einen Mann verliebte, hatte sie es probiert. Tim war ihr direkt sympathisch gewesen, ebenso Patrick, der kurz darauf einzog.