Irre Verständlich - Matthias Hammer - E-Book

Irre Verständlich E-Book

Matthias Hammer

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Beschreibung

Wie gehe ich damit um, wenn jemand Stimmen hört? Was muss ich tun bei Selbstverletzungen? Woher weiß ich, ob jemand krank oder einfach nur unmotiviert ist? Dieses Buch liefert die Antworten. Wer mit psychisch kranken Menschen arbeitet, wird häufig mit Verhaltensweisen oder Symptomen konfrontiert, die fremd wirken und nur schwer zu verstehen sind. Das kann verunsichern und überfordern. Die Autoren vermitteln Hintergrundwissen, das uns die Logik psychischer Krankheiten verstehen lässt. Sie erklären, wie psychische Störungen entstehen und welche Bedingungen ihre Genesung beeinflussen. Wir erhalten das Handwerkszeug, das für den Umgang im Alltag hilfreich ist und erfahren, welche Selbsthilfestrategien wirksam sind. Diese Krankheitsbilder werden u. a. behandelt: - Psychosen - Depressionen - Bipolare Störungen - Persönlichkeitsstörungen - Angst- und Zwangserkrankungen Umfangreiches Download-Material hilft beim Lernen und unterstützt bei der praktischen Arbeit.

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Dr. Matthias Hammer arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Stuttgart nach langjähriger Tätigkeit in den Bereichen Psychiatrie, Rehabilitation psychisch kranker Menschen und Psychotherapie. Er leitet Seminare und Fortbildungen. www.matthias-hammer.de

Dr. Irmgard Plößl ist Psychologische Psychotherapeutin. Sie leitet die Abteilung für Berufliche Teilhabe und Rehabilitation des Rudolf-Sophien-Stifts in Stuttgart. Irmgard Plöß ist seit Jahren in der Weiterbildung aktiv, auch zusammen mit Matthias Hammer. www.irre-verstaendlich.de

Matthias Hammer, Irmgard Plößl

Irre verständlich

Menschen mit psychischer Erkrankung wirksam unterstützen

4. Auflage 2023

ISBN-Print: 978-3-96605-233-7

ISBN (PDF): 978-3-96605-253-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Hinweise

Bei den in diesem Buch vorgestellten therapeutischen Verfahren und praktischen Anwendungsmöglichkeiten haben die Autoren den aktuellen wissenschaftlichen Stand berücksichtigt. Autoren und Verlag können aber keine Garantie für die Vollständigkeit und Wirksamkeit der Inhalte geben.

Es konnten nicht alle Rechtinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Kann dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Weitere Bücher zum Umgang mit psychischen Erkrankungen unter: www.psychiatrie-verlag.de

© Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2012, 2015, 2020, 2023

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Michael Schmitz, www.grafikschmitz.de, Arnbruck, unter Verwendung eines Fotos von Helgi/ photocase.com

Typografiekonzeption: Iga Bielejec, Nierstein

Satz: Psychiatrie Verlag GmbH, Köln

Illustrationen: Claus Ast, Nierstein

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Vorwort zur 4. Auflage

Einleitung

TEIL 1

Warum werden Menschen psychisch krank?

Das Verletzlichkeits-Stress-Modell

Die Rolle der Stressbelastung

Die Funktion von Frühwarnzeichen

Wie verlaufen psychische Erkrankungen?

Wie können Selbsthilfe und Gesundung gefördert werden?

Empowerment und Recovery

Professionelle Zurückhaltung

Wie findet man Lösungen in komplexen beruflichen Alltagssituationen?

Das Klärungskarussell

Beispiele für Klärungsschritte

Wirkungsbewusstes Handeln

TEIL 2

Psychosen

Erleben einer Betroffenen

Was wir alle kennen

Informationen zu Psychosen

Was hilft im Alltag?

Depressionen

Bericht einer Betroffenen

Was wir alle kennen

Informationen zur depressiven Störung

Was hilft im Alltag?

Bipolare Erkrankungen

Erleben eines Betroffenen

Was wir alle kennen

Informationen zu Bipolaren Störungen

Was hilft im Alltag?

Persönlichkeitsstörungen

Erleben von Betroffenen

Was wir alle kennen

Informationen zu Persönlichkeitsstörungen

Was hilft im Alltag?

Borderline-Persönlichkeitsstörung

Bericht einer Betroffenen

Was wir alle kennen

Informationen zur Borderline-Persönlichkeitsstörung

Was hilft im Alltag?

Angststörungen

Berichte von Betroffenen

Was wir alle kennen

Informationen zu Angststörungen

Was hilft im Alltag?

Zwangsstörungen

Bericht eines Betroffenen

Was wir alle kennen

Informationen zu Zwangsstörungen

Was hilft im Alltag?

Traumasensibilität

Erleben eines Betroffenen

Was wir alle kennen

Informationen zu Trauma und traumaassoziierten Störungen

Was hilft im Alltag?

Umgang mit suizidalen Krisen

Erleben einer Betroffenen

Was wir alle kennen

Informationen über Suizidgefährdung

Was hilft im Alltag?

Mit zwei Augen sieht man besser

Anhang

Medien nicht nur für Klientinnen und Klienten und ihre Angehörigen

Quellen

Downloadmaterial

Liste von Frühwarnzeichen

Persönlicher Krisenplan

Liste positiver Aktivitäten

Vorlage für eine Fallbesprechung bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen

Entspannungsübung: Der Ort der Ruhe und Geborgenheit

Leitfaden für Gespräche mit suizidgefährdeten Menschen

Alle Materialien können Sie auf www.irreverstaendlich.de downloaden. Das Passwort finden Sie auf Seite 72.

Vorwort zur 4. Auflage

Wir möchten uns an dieser Stelle für alle Rückmeldungen zu »Irre verständlich« bedanken. Kolleginnen und Kollegen berichten, dass es in vielen Büros als Nachschlagwerk steht und neue Kolleginnen es zur Einarbeitung in die Hand gedrückt bekommen. Andere berichten, dass sie das Buch zur Vorbereitung auf Prüfungen im Studium oder in der Ausbildung nutzen. Viele Betroffene melden uns zurück, dass sie ihre Erkrankung besser verstehen und sich besser verstanden fühlen. Auch von Angehörigen kommt häufig die Rückmeldung, dass sie viele Hinweise für den Umgang im Alltag ebenfalls als nützlich empfinden. Wir freuen uns, dass der Zugang über ein einfühlendes Verständnis, Wissen über unterschiedliche Störungsbilder und daraus abgeleitetes hilfreiches Handeln im Alltag so nützlich sind für Kolleginnen und Kollegen. Die Auseinandersetzung dient zur Selbstklärung und zum Empowerment von Beschäftigten.

In der neuen Auflage haben wir die bisherige Struktur grundsätzlich beibehalten. Wir haben an einigen Stellen neue Themen und fachliche Diskussionen eingearbeitet und die Literatur aktualisiert und erweitert. Als Ergänzung und Vertiefung zum vorliegenden Band liegt inzwischen ein zweiter Band in der bewährten Logik vor: Irre verständlich: Methodenschätze. In ihm erarbeiten wir die Themen:

GesprächsführungUmgang mit EmotionenUmgang mit GedankenUmgang mit Motivation

Parallel haben wir eine Seminarreihe entwickelt, in der wir zu jedem Thema der beiden Bücher Fortbildungen anbieten. Entsprechende Hinweise finden Sie jeweils am Ende der Kapitel. Wir verweisen in diesem Buch auf das jeweilige Seminar, in dem Sie sich intensiver mit dem Thema beschäftigen und sich die beschriebenen Methoden aneignen können: www.irreverstaendlich.de/fortbildungen/

Interessierte können berufsbegleitend durch die Seminarbesuche die Zusatzqualifikation Irre verständlich erwerben.

Einleitung

Wir hatten gerade unsere erste Stelle im psychologischen Dienst einer psychiatrischen Einrichtung angetreten, als eine junge Klientin wutentbrannt und Türen knallend aus unserem Büro stürmte. Während wir uns noch ratlos ansahen, riss sie die Tür schon wieder auf und präsentierte uns frische, blutende Schnittwunden an ihrem Unterarm. Kurz darauf kamen zwei andere Klienten vorbei, um sich zu beschweren, dass sie unter den Eskapaden dieser Klientin leiden würden und außerdem den Eindruck hätten, dass man ihnen viel weniger Beachtung schenken würde als ihr. Zuletzt meldete sich noch die Kollegin aus der Ergotherapie und meinte, so ginge es nicht mehr weiter, die junge Klientin müsse ihre Gruppe verlassen.

Vergeblich suchten wir in unseren psychologischen Fachbüchern nach Ratschlägen, was nun zu tun sei. Solche Alltagssituationen kamen dort schlicht nicht vor. Im Lauf der Jahre stellten wir dann immer wieder fest, dass wir nicht die Einzigen waren, die im Alltag ihre Probleme mit solchen schwierigen, überraschenden Situationen haben. Im Rahmen von Fortbildungen tauchten immer wieder Fragen von Fachkräften auf, die sich auf den Umgang mit schwierigen Alltagssituationen bezogen: Was mache ich, wenn jemand ausgeprägte Zwänge hat? Wie gehe ich damit um, wenn sich jemand für den Geschäftsführer von Apple hält? Was muss ich bei Selbstverletzungen tun? Wie bringe ich jemanden dazu, morgens aufzustehen? Woher weiß ich, ob jemand krank oder einfach nur unmotiviert ist?

Wir haben es selbst als hilfreich erlebt, einen verstehenden Zugang zu solchen schwierigen Alltagssituationen zu entwickeln. Hintergrundwissen über die Borderline-Persönlichkeitsstörung, über Zwänge oder über Psychosen führt dazu, dass viele Verhaltensweisen nachvollziehbarer und verständlicher erscheinen. Wir entwickelten einen forschenden, fragenden Zugang: Wie können wir noch mehr über ein bestimmtes Krankheitsbild erfahren, um Klientinnen und Klienten besser verstehen und gezielter unterstützen zu können? Rückblickend wurde uns klar, dass wir manchmal übereilt oder zu häufig mit einer Klinikeinweisung reagiert hatten, weil es uns an Verständnis für eine besondere Verhaltensweise und an Kenntnis spezifischer Bewältigungsmöglichkeiten für die jeweilige Störung fehlte. Störungsspezifisches Hintergrundwissen zu haben erleben wir heute als Entlastung, da es den Umgang mit den Klientinnen und Klienten im Alltag deutlich erleichtert.

Es gibt grundlegendes Wissen über psychische Erkrankungen, das unabhängig von der Art der Diagnose störungsübergreifend anwendbar und hilfreich ist. Dazu gehört das Wissen über die Entstehung psychischer Erkrankungen ebenso wie Informationen darüber, wie diese Erkrankungen bewältigt werden können und welche Faktoren den Verlauf günstig beeinflussen. Klärungsstrategien verhelfen zu Orientierung und Überblick in unübersichtlichen, komplexen Situationen und führen zu einer reflektierten Beziehungsgestaltung und zu wirkungsbewusstem Handeln, unabhängig von der Diagnose oder Art der psychischen Erkrankung. Solche störungsübergreifenden Strategien und Hintergrundinformationen, die im Alltag immer hilfreich sind, haben wir im ersten Teil dieses Buches dargestellt. Daneben ist aber spezifisches Wissen über die verschiedenen Krankheitsbilder erforderlich. Im zweiten Teil dieses Buches haben wir störungsspezifisches Wissen für verschiedene Erkrankungen dargestellt, sodass daraus Strategien für einen verstehenden, störungsspezifischen Umgang und hilfreiche Unterstützungsmöglichkeiten abgeleitet werden können.

Uns ist es ein Anliegen, die innere Logik von verschiedenen psychischen Erkrankungen mitfühlender verstehen zu lernen und mit einem wertschätzenden Blick den Umgang im Alltag zu gestalten. Die Informationen, die wir verwendet haben, stammen überwiegend aus psychotherapeutischen Fachbüchern. Wir empfanden es als Herausforderung, dieses Wissen nutzbar und fruchtbar zu machen für den Umgang im Alltag. Unser Anliegen war es nicht, den alltäglichen Umgang mit psychisch kranken Menschen psychotherapeutisch zu überfrachten oder jeden Alltagskontakt im Betreuten Wohnen, am Arbeitsplatz oder im stationären Bereich als therapeutischen Kontext zu definieren. Im Gegenteil: Unser Ziel ist es, dass die Berufsgruppen, für die dieses Buch geschrieben worden ist, mehr Klarheit in ihren jeweiligen beruflichen Rollen und in ihrem beruflichen Handeln erhalten, indem sie Beispiele aus ihrer alltäglichen Berufspraxis hier wiederfinden und Anregungen erhalten. Das Buch richtet sich ganz bewusst nicht an eine bestimmte Berufsgruppe oder einen konkreten Kontext, sondern an alle Fachkräfte, die psychisch erkrankte Menschen beruflich in Alltagssituationen begleiten: in der Sozialen Arbeit, der Heilerziehungspflege, der Ergotherapie oder Pflege. Auch Genesungsbegleitende und ehrenamtlich Tätige sind angesprochen. Wir haben uns bemüht, sowohl den stationären, klinischen als auch den gemeindepsychiatrischen, ambulanten oder rehabilitativen Kontext im Blick zu haben und dabei jeweils die Bereiche Wohnen, Arbeit und Unterstützung bei der Alltagsbewältigung und in der Freizeit zu berücksichtigen.

Unser Ziel ist es, psychologisches Wissen über die Entstehung von Störungen für den Umgang mit Betroffenen im Alltag nutzbar zu machen. Störungsspezifisches Wissen soll beispielsweise der Pflegekraft helfen, ihre Arbeit störungssensibler zu verrichten oder der Ergotherapeutin als hilfreiches Werkzeug dienen, um ihre Angebote an die Bedürfnisse und Schwierigkeiten der Klienten und Klientinnen anzupassen. Im Vorfeld haben wir die Gefahr gesehen, dass dabei ein »Kochbuch mit Patentrezepten« herauskommt. Aber genau das ist nicht unsere Absicht. Es geht nicht darum, alle Menschen mit einer bestimmten Diagnose in der immer gleichen Weise zu behandeln, sondern im Gegenteil jeden Einzelfall aufmerksam, achtsam und um Verständnis bemüht zu betrachten.

Die Kapitel im zweiten Teil des Buches sind deshalb alle so aufgebaut, dass sie zunächst einen Zugang zum Erleben der Betroffenen aus ihrer subjektiven Sicht ermöglichen. Daran schließt sich ein Bezug zum eigenen Erleben der Fachkräfte an. Denn psychische Erkrankungen sind nicht etwas völlig Fremdes, zu dem psychisch gesunde Menschen keinerlei Zugang hätten. Viele Symptome psychischer Erkrankungen sind nur extreme Ausprägungen von Erlebens- und Verhaltensweisen, die jeder Mensch aus seinem Leben kennt. Manches erleben wir nur in extremen Situationen, beispielsweise wenn wir mit Schicksalsschlägen konfrontiert sind. Anderes kennen wir auch aus unserem Alltag. Alles hat im Grunde seinen Sinn und seine Berechtigung und führt erst in extremer Ausprägung zu einer psychischen Erkrankung. Psychisch erkrankte Menschen zu verstehen ist daher auch durch den Bezug zum eigenen Erleben möglich.

Aufbauend auf diesem Selbsterfahrungsbezug werden dann die verschiedenen psychischen Erkrankungen erläutert. Dabei gehen wir sowohl auf das vordergründige Erscheinungsbild ein, das Fachkräften im Alltag zunächst begegnet, als auch auf Erklärungsmodelle, die die Entstehung und den Hintergrund psychischer Erkrankungen beleuchten. Diese Informationen bereiten den Boden für einen verstehenden Zugang, der Grundlage dafür ist, wie man seinen Umgang mit Betroffenen so gestalten kann, dass er als hilfreich erlebt wird. Es werden Anregungen für Verhaltensweisen und Strategien für Fachkräfte im alltäglichen Umgang dargestellt. Dort, wo die medikamentöse Behandlung eine zentrale Rolle spielt, kommt auch die Hilfe durch Medikamente zur Sprache. Wir gehen ebenfalls auf Hilfe zur Selbsthilfe ein, obwohl dieses Buch kein Selbsthilfebuch ist und sich nicht in erster Linie an Betroffene richtet. Es ist aber unserer Einschätzung nach eine wichtige Aufgabe von Fachkräften, Kenntnisse über störungsspezifische Selbsthilfestrategien zu haben, sie bei den Betroffenen anzuregen und Klientinnen und Klienten bei der Einübung und Anwendung von Selbsthilfestrategien zu unterstützen.

Einige Materialien, die Sie für die Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen nutzen können, finden Sie auf den Internetseiten www.irre-verstaendlich.de oder auf www.matthias-hammer.de. Die Materialien sind im Text mit einem solchen Verweis gekennzeichnet. Das Passwort finden Sie auf Seite 72 sowie Seite 272.

Während unserer langjährigen Tätigkeit in der Sozialpsychiatrie und der psychiatrischen Rehabilitation wurde uns immer wieder deutlich, welch enorm hohen Stellenwert die alltägliche Begleitung durch kontinuierliche Bezugspersonen für psychisch erkrankte Menschen hat. Zu Psychotherapeuten und Ärztinnen besteht meist nur ein sehr punktueller, oft auch nur kurzzeitiger Kontakt. Langfristige, tragfähige Beziehungen und Unterstützungsmöglichkeiten entstehen durch die alltägliche Begleitung durch Fachkräfte der ambulanten Dienste, durch Gruppenleitungen in Werkstätten, durch Integrationscoaches, Pflegekräfte oder Ansprechpartnerinnen beim Sozialpsychiatrischen Dienst, durch Wohngruppenbetreuungen oder Mitarbeitende ambulanter Dienste. Unser Anliegen ist es, diese wichtige Arbeit zu unterstützen, indem wir psychotherapeutisches Fachwissen kompakt und verständlich darstellen mit dem Schwerpunkt der Anwendung und Umsetzung in der alltäglichen Zusammenarbeit mit psychisch kranken Menschen. Wir möchten Handwerkszeug liefern, das die Logik psychischer Erkrankungen verständlich macht und im Alltag hilfreich ist. Wir wünschen allen Fachkräften viel Inspiration bei der Lektüre dieses Buches und viel Freude bei ihrer Arbeit.

TEIL 1

Warum werden Menschen psychisch krank?

SANDRA ist beunruhigt: Seit zwei Wochen macht sie ein Praktikum in einem Sozialpsychiatrischen Dienst. Die junge Studentin hat sich mit einer Besucherin der Tagesstätte unterhalten, die ihr erzählte, dass sie erstmals an einer Psychose erkrankt sei in ihrer Zeit als Au-pair in England. Sie sei dort einfach nicht zurechtgekommen und völlig überfordert gewesen. Sandra war selbst nach dem Abitur ein halbes Jahr in England und es ging ihr nicht gut dort, sie litt unter Ängsten und überlegte, ob sie früher als geplant nach Hause zurückgehen sollte. Bedeutet das, dass sie auch eine Psychose hatte oder jederzeit eine bekommen kann? Wo ist der Unterschied zwischen ihr und der Besucherin der Tagesstätte? x

Zeitungen berichten immer wieder, dass endlich eine Erklärung für die Ursache psychischer Erkrankungen gefunden wurde. In den Schlagzeilen ist dann zu lesen, dass es sich um eine Viruserkrankung handelt, dass das Alter der Eltern bei der Geburt, Fehler in der Kommunikation zwischen Mutter und Kind oder die falsche Ernährung schuld seien an der Entstehung psychischer Erkrankungen. Und in regelmäßigen Abständen wird gemeldet, man habe jetzt das Gen entschlüsselt, durch das die Schizophrenie vererbt werde. Kennen wir also mittlerweile wirklich die Antwort auf die Frage, warum Menschen psychisch krank werden?

Menschen haben sich immer schon mit der Frage beschäftigt, wie psychische Erkrankungen entstehen. Die Erklärungsmodelle änderten sich im Laufe der Geschichte, aber im Wesentlichen gab es immer zwei Lager. Die einen führten eine psychische Erkrankung ausschließlich auf biologische oder genetische Einflüsse zurück. Wenn jemand psychisch krank war, nahm man an, dass er die Krankheit geerbt hätte oder andere körperliche Prozesse, wie beispielsweise eine Infektion oder eine Hirnschädigung oder Stoffwechselstörung, dafür verantwortlich wären. Entsprechend wurden Behandlungsmöglichkeiten vorrangig im medizinischen Bereich gesehen, man suchte nach geeigneten Medikamenten und bevor man diese hatte, versuchte man es teilweise mit kalten Bädern. Das andere Lager sah die Ursache psychischer Erkrankungen dagegen ausschließlich im psychosozialen Bereich. Man nahm an, dass Fehler im Erziehungsstil und in der Interaktion der Eltern und vor allem der Mutter mit dem Kind ursächlich sein könnten. Aber auch Schicksalsschläge, wie die Scheidung der Eltern, Misshandlungen, Traumata und Belastungen wie Armut und Migration, wurden als Auslöser psychischer Erkrankungen angesehen. Lange Zeit wurden die beiden Lager als Alternativen angesehen, als Entweder-oder. In unterschiedlichen gesellschaftlichen Phasen dominierte mal das eine Lager, mal das andere.

Aus diesem Entweder-oder wurden schließlich Erklärungsmodelle, die ein Sowohl-als-Auch möglich machen. Man stellte fest, dass es sich nicht um Alternativen handelt, sondern dass beide Faktoren – biologische und psychosoziale – eine Rolle spielen und zusammenwirken müssen, wenn psychische Erkrankungen entstehen.

Das Verletzlichkeits-Stress-Modell

Die meisten psychischen Erkrankungen haben mehr als eine Ursache.

Wir wissen heute, dass psychische Erkrankungen meist mehr als eine Ursache haben und die Folge komplexer Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren sind. Man spricht deshalb auch von multifaktoriellen oder systemischen Modellen. Wie sich diese einzelnen Komponenten zu einem ganzheitlichen Prozess verbinden, ist noch nicht in allen Einzelheiten klar. Wir wissen aber, dass alle Faktoren sich gegenseitig beeinflussen können. Wenn beispielsweise bei einem Menschen genetisch bedingt eine Überempfindlichkeit in bestimmten Verarbeitungsstrukturen des Gehirns besteht, so hat dies Auswirkungen auf sein Verhalten. Er wird möglicherweise schreckhafter und ängstlicher sein als andere Menschen. Auch die andere Richtung ist möglich: Psychosoziale Einflüsse können biologische Veränderungen bewirken. Dass unser Gehirn durch soziale Lernprozesse und Gewohnheiten verändert werden kann, ist vielfach belegt. Diese wiederum können die Empfindlichkeit für Umwelteinflüsse verändern. Selbst Gene können durch Umwelteinflüsse an- oder abgeschaltet werden. Auf diese Weise entstehen komplizierte Wechselwirkungen zwischen Umweltreizen und dem Organismus.

Einseitige Modelle können also ein komplexes Geschehen wie eine psychische Erkrankung meist nicht erklären. In der Praxis haben sich daher Konzepte bewährt, die die Wechselwirkung von Umwelt und biologischen Faktoren berücksichtigen und die in der Lage sind, viele verschiedene psychische Erkrankungen erklären zu können. Diese Modelle nennt man Vulnerabilitäts-Stress-Modelle oder auch Verletzlichkeits-Stress-Modelle. Diese multifaktoriellen Störungsmodelle wurden zunächst für schizophrene Erkrankungen entwickelt (Zubin & Spring 1977). Sie besitzen aber mittlerweile Gültigkeit für die Erklärung der meisten Arten von psychischen Erkrankungen.

Vulnerabilität oder Verletzlichkeit ist die Neigung eines Organismus, an einer bestimmten Krankheit zu erkranken. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Anfälligkeit oder Erkrankungsbereitschaft.

Wenn zur Verletzlichkeit noch Stressfaktoren hinzukommen, kann eine psychische Erkrankung entstehen.

Die Verletzlichkeit allein führt aber noch nicht zu einer psychischen Erkrankung. Erst im Zusammenwirken mit Stressfaktoren (kritische Lebensereignisse, biologische, psychologische oder soziale Stressoren) wird eine kritische Grenze überschritten und aus der Verletzlichkeit wird eine psychische Erkrankung. Dies geschieht, wenn nicht genügend Schutzfaktoren bzw. Ressourcen zur Verfügung stehen. Vor dem Überschreiten der Schwelle zur akuten Krise treten zunächst Frühwarnsymptome auf. Die Überschreitung der kritischen Grenze führt im weiteren Verlauf zum Auftreten von störungsspezifischen Symptomen, es besteht die Gefahr der akuten Zuspitzung zu einer psychischen Krise bzw. einem Rückfall. Durch geeignete Bewältigungsstrategien oder mithilfe von Schutzfaktoren kann eine Krise aber auch abgefangen werden. Wegen dieser verlaufsbeeinflussenden Rolle der Bewältigungsstrategien wurde das Modell erweitert zum sogenannten Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungs-Modell (Nuechterlein & Dawson 1984). Abbildung 1 zeigt eine Darstellung dieses Modells.

Manche Menschen sind anfälliger für psychische Erkrankungen als andere, sie haben eine höhere Erkrankungsbereitschaft und sind vulnerabler oder verletzlicher. Die Ursachen dieser erhöhten Vulnerabilität können biologisch oder psychosozial sein, sie können angeboren sein oder im Laufe des Lebens erworben werden. Angeboren sind natürlich in erster Linie genetische Veranlagungen, aber auch andere Einflüsse vor der Geburt zählen dazu, z. B. Erkrankungen der Mutter während der Schwangerschaft.

Erworbene biologische Faktoren, die die Vulnerabilität erhöhen können, sind körperliche Traumata, Erkrankungen, Geburtskomplikationen oder der Einfluss von Drogen. Aber auch psychosoziale Faktoren können die Vulnerabilität erheblich erhöhen. Dazu zählen beispielsweise kritische Lebensereignisse, frühe Stresserfahrungen und psychische Traumatisierungen. Schwerwiegende und sich wiederholende psychosoziale Einflüsse können Spuren im Gehirn hinterlassen, Verarbeitungsprozesse im Gehirn können sich dadurch verändern und die Menschen reagieren künftig sensibler und mit einer erhöhten Erkrankungsbereitschaft auf Belastungen. Negative Lebenserfahrungen können also biologische Narben (Aldenhoff 1997) hinterlassen. Eine Erkrankungsbereitschaft bildet sich aus, wenn angeborene und erworbene biologische Faktoren auf der einen Seite sowie psychosoziale Entwicklungsbedingungen auf der anderen Seite ungünstig zusammenkommen. Dabei ist die Art der Vulnerabilität von Mensch zu Mensch verschieden. Unterschiedliche psychische Störungen, wie z. B. Depressionen, Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, Zwangsstörungen, schizoaffektive Störungen oder verschiedene Persönlichkeitsstörungen sind durch störungsspezifische Verletzlichkeiten mit verursacht. Es ist davon auszugehen, dass dies ebenfalls auf eine Vielzahl organischer Erkrankungen zutrifft, zum Beispiel Diabetes, Allergien oder Bluthochdruck. Manche Menschen reagieren bei Überschreiten ihrer kritischen Grenze mit psychischen Erkrankungen, werden beispielsweise depressiv, erleben eine akute Psychose oder entwickeln eine Persönlichkeitsstörung. Andere Menschen zeigen dagegen keine Erkrankungsbereitschaft für eine psychische Erkrankung, sondern reagieren auf fortdauernde Überlastung eher mit körperlichen Symptomen, beispielsweise bekommen sie ein Magengeschwür. Welche Faktoren bei den einzelnen Erkrankungen eine Rolle spielen, können Sie im jeweiligen Störungskapitel nachlesen.

ABBILDUNG 1

Entstehungsmodell psychischer Krisen (nach Jensen u. a. 2010/2023)

Menschen erleiden bei der Überschreitung ihrer kritischen Grenze also Symptome gemäß ihrer individuellen Verletzlichkeit, man könnte auch sagen, sie reagieren an ihrer »Sollbruchstelle«. Vermutlich verfügt jeder Mensch über eine solche »Sollbruchstelle« und reagiert mit entsprechenden Symptomen, diese können körperlicher oder psychischer Natur sein.

Die Rolle der Stressbelastung

Unter Stressbelastung versteht man die Summe aller Faktoren, die uns belasten.

Die spezifische Vulnerabilität stellt die Ursache einer psychischen Erkrankung dar, die Stressbelastung ist dagegen einer der konkreten Auslöser einer akuten Erkrankungsepisode. Besonders belastend sind traumatische Erfahrungen, in denen sich Betroffene hilflos ausgeliefert fühlen (vgl. das Kapitel zur Traumasensibilität). Lange Zeit hat man unter Belastungen vor allem die sogenannten kritischen Lebensereignisse verstanden, also beispielsweise Scheidung oder Trennung, Tod naher Angehöriger, Krankheit oder Verlust des Arbeitsplatzes. Heute weiß man, dass auch die vielen alltäglichen Belastungen eine Rolle spielen, die wir oft zu wenig beachten, weil sie für sich allein genommen eher nebensächlich sind und erst in der Summe und über längere Zeit hinweg eine erhebliche Belastung darstellen. Zu den täglichen Belastungen – auch Alltagsstressoren genannt – zählen beispielsweise Lärm, Zeitdruck, Stau oder überfüllte U-Bahnen auf dem Weg zur Arbeit oder ständige Ablenkungen im Großraumbüro.

Stresserleben lösen nicht nur unangenehme Ereignisse, sondern alle aufwühlenden Lebensereignisse. Dazu zählen manchmal auch positive Erlebnisse, beispielsweise sich zu verlieben, eine neue Wohnung zu beziehen oder eine lang ersehnte Reise anzutreten. Auch solche positiven Ereignisse können dazu beitragen, dass die Schwelle zur akuten Erkrankung überschritten wird. Das bedeutet natürlich nicht, dass positive Ereignisse vermieden werden sollten. Lediglich die Wachsamkeit für mögliche Frühwarnzeichen sollte erhöht sein.

Auch die völlige Vermeidung von Stress und Anforderungen ist keine Lösung, da dauernde Unterforderung ihrerseits eine Belastung für den Organismus darstellt und Krisen auslösen kann. Jeder Mensch muss daher für sich selbst herausfinden, wo sein optimales Belastungsniveau jeweils liegt. Siegel (2006) bezeichnet diese Zone zwischen Über- und Untererregung als »Toleranzfenster«. Innerhalb dieses Toleranzfensters können Informationen gut verarbeitet und Belastungen toleriert und bewältigt werden. Bewegen wir uns innerhalb dieses Fensters, erleben wir einen Zustand des Gleichgewichts. Wird dieses Fenster der optimalen Erregung verlassen, erleben wir uns aus dem Gleichgewicht. Dies kann durch Übererregung und Überforderung geschehen (Angst, Unruhe, inneres Getriebensein, Schlaflosigkeit etc.), aber auch durch Unterforderung und Untererregung (emotionale Taubheit, Antriebslosigkeit, Leere, Langeweile etc.).

Das Wegmodell (Hammer 2009, 2020) kann symbolisch diesen Zusammen dargestellen (s. Abbildung 2). Die Straße oder der befestigte Weg symbolisiert dabei unser Leben in Balance. Gleichgewicht ist dabei keine starre Größe, sondern ein Prozess des ständigen Wechsels von Anspannung (kontrollierter Stressreaktion), Entspannung (Stressbewältigung) und Erholung. Unser Weg verläuft also nicht geradlinig durch die Landschaft. Dennoch haben wir, trotz immer wieder neuer Stressbelastungen, festen Boden unter den Füßen. Wir haben die Kontrolle über unsere Richtung, unser Tempo und unser Ziel.

-5 bis 0 entspricht einem unterforderten Erleben; 1 bis 5 entspricht einem Erleben im optimalen Belastungsniveau mit einem Wechsel von Anspannungs- und Entspannungsphasen; 6 bis 10 entspricht einem erhöhten Stresserleben.

ABBILDUNG 2

Das Weg-Modell (Hammer 2009, 2020)

Diese Kontrolle können wir jedoch verlieren. Durch längerfristige Überforderung und Übererregung kommen wir links vom Weg ab und verlassen unser Toleranzfenster. Dann erleben wir die Stressreaktion zunehmend als unkontrollierbar. Wir fühlen uns nach längeren Phasen der Überforderung hilflos, und die Stressreaktion wird chronisch. Die Zeiten von Regeneration und Erholung werden kürzer und unzureichend. Es treten deutliche Stresssymptome auf. Dies sind die körperlichen und psychischen Signale dafür, dass eine Überforderung und ein Ungleichgewicht vorhanden sind. Im Modell wird das symbolisch durch einen Zaun dargestellt. Werden diese Signale von uns ignoriert, wird eine kritische Grenze überschritten. Durch längerfristige starke Stressbelastungen kann es zu Störungen kommen. Erste Krankheitssymptome treten auf, oder es kommt zu einem Rückfall in bereits bekannte oder bestehende Erkrankungen (zum Beispiel Suchtverhalten, psychische Erkrankungen, Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems). Es besteht die Gefahr »abzustürzen«, man gerät durch Überforderung aus dem Gleichgewicht. Dieser Bereich wird daher in der Abbildung als eine Klippe dargestellt.

Auf der rechten Seite des Weges befindet sich in unserem Modell ein Sumpfgebiet. Je mehr wir nach rechts vom Weg abkommen, desto größer wird die Gefahr zu »versumpfen«. Unterforderung, soziale Isolation, Vermeidung und langfristige Untätigkeit führen zu Symptomen der Energielosigkeit, Lust- und Antriebslosigkeit, Leere, zu Ängsten, Depression und Ähnlichem. Gerät man durch Unterforderung aus dem Gleichgewicht, gibt es in vielen Fällen keine so deutlichen Signale, die einen aufhalten könnten. Man gerät fast unmerklich immer tiefer in den Sumpf.

Unsere Gefühle und Körperempfindungen melden uns, wo wir uns gerade befinden. Wir können diese Sprache unseres Körpers und unserer Seele kennenlernen, indem wir auf diese Signale hören, indem wir sie wahrnehmen und einschätzen lernen.

Wie viel Stress Menschen gut bewältigen können und wann es zu einer akuten psychischen Erkrankung kommt, hängt davon ab, wie groß die individuelle Vulnerabilität ist. Bei einer hohen Vulnerabilität ist das Toleranzfenster bzw. die Straße nicht so breit, wie bei Menschen mit einer geringen Vulnerabilität. Bei Menschen mit einer geringen Vulnerabilität führt erst starker Stress zu einer psychischen Erkrankung. Bei Menschen mit einer stark ausgeprägten Vulnerabilität genügt bereits eine geringe Stressdosis, um die kritische Grenze zu erreichen bzw. den WEG zu verlassen und eine psychische Erkrankung auszulösen. Bei Menschen, bei denen keine Vulnerabilität für eine psychische Erkrankung vorliegt, ist die Wahrscheinlichkeit gering, eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Eine psychische Erkrankung wird ausgelöst, wenn eine Person mit einer angeborenen Verletzlichkeit mit so starken Belastungen konfrontiert wird, dass die erlebte Stressreaktion eine kritische Grenze überschreitet.

Die Funktion von Frühwarnzeichen

Die meisten Betroffenen erleben vor dem Ausbruch einer psychischen Erkrankung sogenannte Frühwarnzeichen. Diese Signale kann man symbolisch verstehen, wie ein Ampelsignal, das auf Rot umschaltet. Das rote Ampelsignal bedeutet, dass man anhalten soll und solange die Ampel rot ist, in diese Richtung nicht mehr weiterfahren darf. Analog dazu signalisieren körperliche oder psychische Frühwarnzeichen, dass der Organismus durch zu viele Stressbelastungen aus dem Gleichgewicht geraten und überfordert ist.

Frühwarnzeichen treten in der Regel Tage oder Wochen vor dem Ausbruch oder Rückfall einer Erkrankung auf. Durch rechtzeitiges Erkennen der Frühwarnzeichen, durch wirksame Entlastung und angemessene Unterstützungsangebote kann es gelingen, die kritische Grenze nicht zu überschreiten. Abbildung 3 zeigt den Zusammenhang zwischen Vulnerabilität, Stressbelastung und Frühwarnzeichen. Zum Zeitpunkt 2 gelingt es der Person, unter der kritischen Grenze zu bleiben.

ABBILDUNG 3

Zusammenhang zwischen Vulnerabilität, Stressbelastung und Frühwarnzeichen (Plößl & Hammer 2010)

Ein Krisenplan ist eine hilfreiche Strategie, um Rückfällen vorzubeugen.

Für psychisch kranke Menschen ist es daher wichtig, ihre Frühwarnzeichen genau zu kennen, da sie individuell sehr unterschiedlich sind. Auch sollte jeder möglichst genau wissen, was er selbst bei einer beginnenden Krise tun kann, um sich zu entlasten, und wodurch andere ihn unterstützen können. Wenn diese Punkte – Frühwarnzeichen, Selbsthilfemöglichkeiten und Unterstützungsmöglichkeiten – schriftlich festgehalten werden, spricht man von einem Krisenplan. Das ist ein Leitfaden, um beim Auftreten von Frühwarnzeichen rasch das Richtige zu tun (Bäuml 2008). Das Vorgehen wurde ursprünglich für Menschen mit Psychosen entwickelt und wird im störungsspezifischen Kapitel zu Psychosen im zweiten Teil dieses Buches ausführlich dargestellt.

Aber auch für andere psychische Erkrankungen ist die Erarbeitung von Frühwarnzeichen und Strategien zur Rückfallprophylaxe in einem Krisenplan äußerst hilfreich (siehe auch S. 73 f.). In den jeweiligen störungsspezifischen Kapiteln gibt es Hinweise dazu.

Um sich kurzfristig bei einer drohenden Krise zu entlasten und um zu verhindern, dass die Schwelle zur akuten Erkrankung überschritten wird, ist es in der Regel sinnvoll, Stressbelastungen zu reduzieren und sich Unterstützung zu holen.

Wie verlaufen psychische Erkrankungen?

Die Vulnerabilität ist kurzfristig nicht veränderbar. Langfristig ist sie aber auch nicht unbeeinflussbar, sie kann im Laufe des Lebens größer und ebenso wieder kleiner werden. Sie ist kein unabänderliches Urteil für eine lebenslange Erkrankung oder Belastung. Das Gehirn ist ein plastisches Organ, das sich zeitlebens entwickeln und den Veränderungen anpassen kann, allerdings über längere Zeit hinweg. So kommen Genesungsprozesse in Gang. Eine große Rolle spielt dabei die Übung: Durch häufiges, wiederholtes Verhalten verändern sich Hirnstrukturen und passen sich an. Nicht einmalige Einsicht, sondern wiederholte Ausführung ist dabei hilfreich. So können beispielsweise regelmäßige Arbeit oder Tagesstruktur, Entspannungsübungen und ein gesundheitsförderndes Verhalten langfristig helfen, die Vulnerabilität zu reduzieren.

Das Verletzlichkeits-Stress-Bewältigungs-Modell veranschaulicht uns demnach nicht nur, wie es zur Entstehung von psychischen Erkrankungen kommen kann, sondern auch, wodurch der Verlauf beeinflusst wird. Hierbei kommt es ebenfalls auf eine ganze Fülle von individuellen Bedingungen an. Aus der Diagnose allein lässt sich nicht sicher ableiten, wie der Verlauf im Einzelfall sein wird. Krisen können wiederholt auftreten, es kann aber auch bei einer einzigen Episode bleiben. Außerhalb von Krisen können Krankheitssymptome in abgeschwächter Form weiterhin bestehen, sie können aber auch vollkommen verschwinden, beispielsweise weil die betroffene Person wirksame Strategien anwendet, um ihre Stressbelastung zu reduzieren. Wenn es zu wiederholten Krisen kommt, können die Zeiträume zwischen den Krisen unterschiedlich lang sein: Teilweise treten nur alle paar Jahre Krisen auf, teilweise mehrmals pro Jahr.

Der langfristige Verlauf kann ganz unterschiedlich sein, abhängig von der Ausprägung der persönlichen Verletzlichkeit, von weiteren Stressfaktoren und zur Verfügung stehenden Schutzfaktoren und Bewältigungsmöglichkeiten. Das Verletzlichkeits-Stress-Bewältigungs-Modell legt nahe, dass Bewältigungsversuche, aber auch Therapie- und Rehabilitationsangebote auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen.

Auf der Ebene der Verletzlichkeit ist die medikamentöse Therapie angesiedelt. Auch langfristig wirksame Veränderungen im Alltagsverhalten und -erleben können die Verletzlichkeit reduzieren.

Zur Bewältigung von Stressproblemen sind die Bewältigungserfahrungen und Selbstheilungsbemühungen der Betroffenen relevant. Störungsspezifischen Selbsthilfestrategien kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Aber auch psychosoziale Therapieangebote können helfen, drohende Krisen abzuwenden, das individuell optimale Belastungsniveau herauszufinden und beizubehalten und langfristig die Vulnerabilität zu verringern. Zu solchen psychosozialen Therapieangeboten zählen beispielsweise die unterschiedlichen Unterstützungsformen im Bereich des Wohnens und der Arbeit, ambulante Dienste und Beratungsstellen. Medikamentöse Therapiemöglichkeiten sind als Ergänzung zu Psycho- und Soziotherapiemöglichkeiten zu sehen.

Alle Akteure sind Teil eines Unterstützerteams, wenn es darum geht, Krisen abzuwenden und gesundheitliche Stabilität zu fördern: die Betroffenen selbst ebenso wie Angehörige und die Fachkräfte im Bereich des Wohnens, der Arbeit oder der medizinischen Versorgung.

Durch die Einführung des Verletzlichkeits-Stress-Bewältigungsmodells hat sich für psychisch kranke Menschen manches positiv verändert. Sie müssen sich nicht Versagen vorwerfen, wenn sie weniger Stress aushalten können als andere, wissen sie doch jetzt, dass dies an ihrer höheren Verletzlichkeit liegt. Angehörige und Betroffene können sich entlasten von Schuldgefühlen angesichts der komplexen, durch viele Faktoren bedingten Erkrankung. Und doch dient das Modell im Einzelfall nur als Rahmen, der für jedes Individuum mit Inhalt gefüllt werden muss. Denn die Fragen vieler Betroffener, warum gerade sie erkrankt sind, was sie hätten tun können, um die Erkrankung zu verhindern und welchen Sinn sie möglicherweise in ihrem Leben hat, können durch ein allgemeines Modell nicht beantwortet werden. Die meisten psychisch kranken Menschen suchen für sich nach Antworten auf diese Fragen und sollten darin von den Fachkräften unterstützt werden. Dies ist Teil der Krankheitsbewältigung. Dabei kann das Modell eine wichtige neutrale und entlastende Grundlage sein, die Bezüge zur individuellen Biografie muss aber jeder Einzelne selbst herstellen. Fachkräfte sollten dabei mit angemessener Zurückhaltung unterstützen und durchaus auch einräumen, dass wir vieles über die Entstehung und den Verlauf psychischer Erkrankungen noch nicht wissen. Das Verletzlichkeits-Stress-Modell ist ein sehr plausibles und bereits seit Langem bewährtes Modell, aber es bleibt eben ein Modell, das auch wieder verändert oder abgelöst werden kann.

SANDRA jedenfalls hat erkannt, dass ihre Ängste während ihres Aufenthalts in England ein Zeichen von zu hohen Anforderungen waren. Angst kann auftreten, wenn viele neue Situationen vollkommen allein bewältigt werden müssen. Nach einiger Zeit wurden die Ängste immer schwächer und sie kam gut damit zurecht. x

Wie können Selbsthilfe und Gesundung gefördert werden?

Um FRITZ macht sich das Team der Werkstatt schon seit Monaten Sorgen. Seine psychische Erkrankung scheint zwar stabil zu sein, aber die körperliche Erkrankung, unter der er zusätzlich leidet, verschlimmert sich zusehends. Alle Teammitglieder sind sich sicher, dass er ärztliche Hilfe benötigt und in diesem Zustand nicht mehr länger alleine wohnen und demnach in ein Wohnheim ziehen sollte. Fritz möchte nichts von alledem wissen. Freundlich, aber konsequent erklärt er, ärztlichen Rat habe er bereits oft genug gesucht, die könnten ihm auch nicht helfen, das stetige Fortschreiten der Erkrankung müsse er einfach aushalten. Keinesfalls wolle er in ein Wohnheim ziehen, sein letztes bisschen Freiheit sei ihm sehr wichtig. Die Fachkräfte sind sich einig, dass man Fritz nicht zwingen kann, sehen seinen Zustand aber mit großer Sorge. Eines Tages erklärt Fritz seinem Gruppenleiter, er werde umziehen, und zwar zu Egon, seinem Kollegen aus einer anderen Abteilung. In dessen Wohnung sei noch ein bisschen Platz. Egon habe ein Auto und könne ihn sicherlich unterstützen, wenn es ihm noch schlechter gehen sollte. Er sei auch bereit, zum Arzt zu gehen, wenn Egon das für angebracht halte, schließlich wolle er ihm nicht unnötig zur Last fallen.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind verblüfft, verunsichert und auch ein wenig gekränkt. Was ihnen nicht gelungen war – Fritz zu einem Umzug und zu ärztlicher Unterstützung zu bewegen – gelang Egon nun scheinbar mühelos. Zugleich fragten sie sich, ob die beiden in der Lage sein würden, gut aufeinander aufzupassen, schließlich war auch Egon psychisch krank. Aber Egon und Fritz fragten ja nicht um Erlaubnis, sie teilten ihren Entschluss lediglich mit und waren so freundlich, diesen den Fachkräften sogar zu erläutern. »Wissen Sie«, sagte Egon, »wenn ich den Fritz unterstützen kann, tut mir das auch gut. So bin ich auch noch zu etwas nütze.« x

Empowerment und Recovery

Empowerment ist in aller Munde. Der Begriff taucht in vielen Leitbildern auf, und fast alle Mitarbeitenden würden von sich selbst sagen, dass sie empowermentorientiert arbeiten und die Ressourcen ihrer Klientinnen und Klienten stärken möchten. Und sicherlich entscheiden wir heute nicht mehr über die Köpfe unserer Klientinnen und Klienten hinweg, wir beziehen sie ein und berücksichtigen ihre Wünsche. Wir achten darauf, ihnen keine Dinge abzunehmen, die sie auch selbst tun könnten. Aber ist das alles schon Empowerment? Und ist Recovery nur ein anderes Wort für Empowerment? Klienten wie Fritz, die eine professionelle Hilfe ablehnen, die wir für erforderlich halten und sich dann mit einem ungewöhnlichen Lebensentwurf selbst helfen, lassen uns spüren, dass Empowerment eine neue Haltung, ein verändertes Rollenverständnis von uns verlangt und nicht einfach eine zusätzliche Methode ist, die wir in unser Repertoire aufnehmen sollten.

Empowerment bedeutet Stärkung der Eigenmacht, Selbstbefähigung oder Selbstermächtigung.

Recovery bedeutet Gesundung, Genesung oder Wiedererlangung von Gesundheit. Dabei ist mit Gesundung nicht gemeint, dass gar keine Symptome oder Krisen mehr auftreten, sondern dass auch mit der Erkrankung ein erfülltes, zufriedenes und hoffnungsvolles Leben möglich ist.

Empowerment und Recovery sind nicht in erster Linie ein anzustrebendes Ziel, sondern sie sind immer ein Prozess, der in jedem individuellen Einzelfall anders verläuft. Es gibt aber bestimmte Grundsätze und Haltungen, die Fachkräften in der Praxis helfen können, so gut wie möglich im Sinne der Selbstbefähigung und der Förderung von Genesung zu arbeiten. Im Folgenden sollen einige davon genannt werden:

Fördern Sie die Entscheidungsfähigkeit Ihrer Klientinnen und Klienten und akzeptieren Sie dann auch deren Entscheidungen.

Vollständige und verständliche Informationen geben Um Empowerment zu unterstützen, müssen wir zunächst sicherstellen, dass unseren Klienten alle notwendigen Informationen zur Verfügung stehen und zwar in einer verständlichen Form. Es ist unsere professionelle Aufgabe, Sachverhalte so darzustellen und zu erklären, dass sie auch für Laien verständlich sind und Grundlage einer Entscheidung bilden können. Wenn Klientinnen und Klienten dann eine Entscheidung treffen, gilt es, diese zu akzeptieren und wirklich mitzutragen im Sinne echter Unterstützung und nicht im Sinne von »man werde schon sehen, wohin das führt«. Der Grundsatz, dass Klientinnen und Klienten letztlich selbst am besten wissen, was gut für sie ist, fördert unseren professionellen Respekt vor ihren Entscheidungen und hilft uns, sie darin zu unterstützen, diese Entscheidungen auch umzusetzen.

Das bedeutet nicht, gleichgültig alle Wünsche hinzunehmen. Sicherlich sind Fachkräfte bisweilen mit gutem Grund skeptisch gegenüber manchen Entscheidungen und Plänen ihrer Klientinnen und Klienten, sodass sie versucht sind, diese vor einem Misserfolg oder Scheitern bewahren zu wollen. Die Rolle der professionellen Fachkräfte ist es, sich als Unterstützung und Klärungshilfe bei der Entscheidungsfindung anzubieten (vgl. dazu Hammer & Plößl 2020, S. 239 und 246). Dazu gehört, kritische Einwände und Hinweise zu geben und einzubringen. Empowerment bedeutet letztlich aber auch, den Klientinnen und Klienten das Recht auf Irrtum und Risiko zuzugestehen und ihre Entscheidungen zu respektieren.

Wahlmöglichkeiten eröffnen Selbstbestimmtes Entscheiden ist nur dann sinnvoll und motivierend, wenn es echte Alternativen sind, zwischen denen wir wählen können und wenn attraktive Alternativen nicht von vorneherein ausgeschlossen sind. Judi Chamberlin (2007, S.23) bringt es auf den Punkt: Es gehe nicht darum, »ob man Hamburger oder Hotdogs essen oder Kegeln gehen wählen kann. Wer lieber Salat essen oder in die Bibliothek gehen möchte, hat leider Pech gehabt!« Achten Sie einmal darauf, wie häufig Sie die Wahlmöglichkeiten Ihrer Klientinnen und Klienten von vorneherein beschränken, sicherlich oft aus fürsorglichen Erwägungen heraus, um ihnen die Entscheidung zu erleichtern. Tatsächlich wird aber bereits dadurch das Selbstbestimmungsrecht eingeschränkt, beispielsweise wenn Fritz von vorneherein nur das Wohnheim oder alternativ betreutes Wohnen als Wahlmöglichkeit angeboten werden. Natürlich gibt es viele Möglichkeiten, die aus rechtlichen, finanziellen oder sonstigen Gründen zunächst im individuellen Fall und in der individuellen Situation nicht offenstehen. Unsere Aufgabe ist dann, gemeinsam zu überlegen, ob es dennoch denkbar sein könnte, eine dieser Möglichkeiten zu wählen oder ob es Alternativen geben könnte. Fritz leuchtet durchaus ein, dass er mehr Unterstützung im Alltag bräuchte. Er entscheidet sich aber gegen das Wohnheim und für eine selbstorganisierte Unterstützung durch einen Freund.

Zugleich bewahrt der Respekt vor den persönlichen Entscheidungen auch vor einem schweren Fehler, der sich im Zusammenhang mit Empowerment einstellen kann, nämlich der Verpflichtung zu Empowerment. Es muss die Entscheidung der Klientinnen und Klienten bleiben, wie selbständig sie in einer bestimmten Phase ihres Lebens agieren können und wollen. Die Entscheidung, Verantwortung vorübergehend abgeben und sich entlasten zu wollen, müssen wir ebenfalls respektieren, auch wenn sie nicht dem klassischen Bild von Empowerment entspricht.

Ressourcenorientierung Unser Blick ist im Alltag oft mehr auf die Defizite als auf die Ressourcen gerichtet. In gewisser Weise muss das auch so sein, denn Tagessätze beispielsweise von der Agentur für Arbeit oder dem Träger der Eingliederungshilfe bekommen wir ja nicht wegen der Ressourcen, sondern wegen der Defizite unserer Klientinnen und Klienten. In Fallbesprechungen ist es aber immer wieder überraschend, wie wenig wir über ihre Stärken und Ressourcen wissen. Es lohnt sich deshalb, darüber nachzudenken und auch gezielt danach zu fragen.

Eine Orientierung darüber, in welchen Bereichen sich Ressourcen verstecken können, bietet der folgende Kasten. Fragen Sie Ihre Klientinnen und Klienten danach, worauf sie stolz sind, was sie gerne noch einmal erleben würden oder woran sie sich gerne erinnern (zu Ressourcenorientiertem Fragen vgl. Hammer & Plößl 2020, S. 55). Fragen Sie sich selbst, was Sie an Ihrem Klientinnen und Klienten bewundern oder womit er Sie schon einmal überrascht hat. Und versuchen Sie als Fachkraft, nicht immer in der überlegenen Rolle zu bleiben. Lassen Sie zu, dass die, die Sie unterstützen, etwas besser können oder wissen als Sie! Und achten Sie unbedingt darauf, in Teambesprechungen aus Zeitgründen nicht immer nur über schwierige Fälle zu sprechen, sondern auch positive und überraschende Verläufe zu bemerken und zu würdigen.

Was sind Ressourcen? (nach Knuf 2020, S. 34 f.)

Äußere Ressourcen Soziale Kontakte oder materielle Möglichkeiten, z. B. Familie, Freunde, Nachbarn, finanzielle Rücklagen, Rente, Wohnung, CD-Sammlung, Auto, Führerschein etc.

Innere Ressourcen Fähigkeiten und Eigenschaften der Person, die unterstützend und hilfreich sein können, z. B. eigene Interessen; Hobbys; Dinge, die Spaß machen; intellektuelle Fähigkeiten; Sprachkenntnisse; wichtige positive Erfahrungen; Humor; sympathisches Auftreten etc.

Sinnquelle Wodurch erlebt eine Person Sinn und Bedeutsamkeit in seinem Leben? Wofür lohnt es sich, all diese Ressourcen auch einzusetzen? Beispielsweise Religion, Familie, eigene Kinder etc.

Entscheidungen respektieren Eine eigene Meinung zu haben, diese anderen gegenüber zu vertreten und sich nicht so leicht umstimmen zu lassen, gilt bei psychisch gesunden Menschen als Zeichen von Charakterstärke und Persönlichkeit. Bei Menschen mit psychischen Erkrankungen wird dasselbe Verhalten leicht als Widerstand ausgelegt, während Folgsamkeit gegenüber professionellen Behandlungsvorschlägen wünschenswert erscheint (sogenannte Compliance).

Stärken Sie kritisches Denken und Durchsetzungsvermögen bei Ihren Klientinnen und Klienten.

Um die Selbstbefähigung Ihrer Klientinnen und Klienten zu fördern, ist es wichtig, sie darin zu bestärken, ihre eigene Meinung wahrzunehmen und zu vertreten. Auch wenn Klienten wütend oder ärgerlich reagieren, ist dies immerhin als Zeichen dafür zu werten, dass sie gegen Gefühle der Hilflosigkeit ankämpfen und Verantwortung für ihre Situation übernehmen. Insofern sind auch Wut und Ärger Möglichkeiten, Selbstbefähigung auszudrücken, die Fachkräfte respektieren und beachten sollten.

Hoffnung vermitteln Studien haben immer wieder eindrücklich gezeigt, wie wichtig es für den Genesungsprozess eines psychisch erkrankten Menschen ist, noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu haben, Hoffnung darauf, dass sich sein Zustand wieder bessern wird. Einige Studien konnten sogar zeigen, dass Hoffnung – auf Seiten der Betroffenen, aber auch auf Seiten der Angehörigen und der Fachkräfte – die Prognose stärker beeinflusste als die Dauer oder Schwere der Erkrankung (Schaub 1993, Ciompi u. a. 1979, Dauwalder u. a. 1984, Knuf 2004). Einerseits verwundert das nicht: Wer die Hoffnung aufgegeben hat und niemanden mehr hat, der ihn ermutigt, wird nur schwer aus einem seelischen Tief wieder herauskommen. Andererseits ist es gerade bei psychischen Erkrankungen mit ihrem phasenhaften Verlauf und immer wieder erlebten Rückschlägen oft schwer für die Betroffenen, die Hoffnung zu bewahren. In solchen Phasen sind sie darauf angewiesen, dass andere stellvertretend für sie Hoffnung haben und an eine Besserung glauben.

Die Hoffnung auf Besserung zu bewahren, ist professionelle Aufgabe aller Fachkräfte.

Betroffene, die von einer psychischen Erkrankung genesen sind, berichten immer wieder, wie wichtig in manchen Phasen diese stellvertretende Hoffnung durch Angehörige oder Bezugspersonen für sie war (Schaub 1993). Anlass zur Hoffnung gibt es genug, schließlich zeigen alle großen internationalen Verlaufsstudien, dass auch schwere psychische Erkrankungen nach vielen Jahren noch eine Wendung zum Besseren nehmen können und sich der Zustand der Betroffenen in der Regel nicht fortschreitend verschlechtert (Amering & Schmolke 2012). Dennoch fällt es vielen Fachkräften schwer, mit zunehmender Berufserfahrung nicht einen gewissen Pessimismus zu entwickeln. Zu oft erlebt man Rückschläge bei Klientinnen und Klienten, die sich zuvor positiv entwickelt hatten und in deren Förderung man selbst viel Energie gesteckt hatte. Diese Rückschläge nicht als Anlass zu nehmen, die Hoffnung aufzugeben und diese resignative Haltung nicht auf andere Personen, die Unterstützung suchen, zu übertragen, ist eine entscheidende Kompetenz guter Fachkräfte. Es ist nicht die Aufgabe der Klientinnen und Klienten, uns durch ihr Verhalten Anlass zur Hoffnung zu geben. Es ist unsere Aufgabe als Fachkräfte, durch eine ehrlich hoffnungsvolle und zuversichtliche Grundhaltung positive Entwicklungen anzuregen und zu unterstützen (Hans 2019).

Gemeinsam Ziele entwickeln Nur für motivierende Ziele machen wir uns wirklich auf den Weg. Wenn die Alternativen, die sich uns bieten, nur mäßig attraktiv erscheinen, haben wir möglicherweise keine Lust, uns anzustrengen und für ein Ziel zu engagieren. Ganz ähnlich geht es häufig unseren Klientinnen und Klienten.

MANFRED vernachlässigte an seinem Arbeitsplatz in der Werkstatt immer wieder seine Körperpflege. Alle Hinweise der Gruppenleiter halfen nur kurzfristig, schnell fiel er wieder in sein altes Verhaltensmuster zurück. Doch seit er auf einem ausgelagerten Arbeitsplatz in einer Firma arbeitet, in der es ihm wirklich gut gefällt, duscht er täglich und erscheint frisch und gepflegt zur Arbeit. Er möchte keinesfalls seine netten Kolleginnen und Kollegen verärgern. x

Was aus professioneller Sicht wichtig erscheint, ist nicht immer das, was Klientinnen und Klienten wichtig ist. Wir sollten aus ihrer gelegentlichen Weigerung, professionelle Vorgaben zu erfüllen, nicht automatisch folgern, dass sie dazu nicht in der Lage wären. Egons Engagement für seinen Kollegen Fritz hätten ihm die Fachkräfte niemals zugetraut. Immer wieder überraschen Klienten uns mit ihren Fähigkeiten, wenn es um Dinge geht, die sie wirklich wollen.

Versuchen Sie, Empowerment nicht zu behindern!

Die Empowerment-Bewegung war ursprünglich eine Befreiungsbewegung in den USA und keine Therapiemethode. Die Aufgabe professioneller Fachkräfte besteht vor allem darin, Prozesse der Selbstvertretung und der Selbstbefähigung nicht zu behindern. Das Beispiel von Fritz und Egon zeigt dies anschaulich: Es ist schwer vorstellbar, dass jemand aus dem Team Egon vorgeschlagen hätte, sich doch ein bisschen mehr um Fritz zu kümmern und ihn bei sich aufzunehmen. Nachdem Egon und Fritz dies aber selbst vorgeschlagen haben, ist es Aufgabe der professionellen Fachkräfte, ihnen diesen Vorschlag nicht wieder auszureden, sondern sie darin nach Kräften zu unterstützen.

Empowermentprozesse nicht zu behindern bedeutet auch, den Zugang zu Informationen für unsere Klientinnen und Klienten offen zu halten und ihnen Möglichkeiten zu eröffnen, ihre Rechte kompetent zu vertreten, einzufordern und Entscheidungsprozesse mitzugestalten.

Ein gutes Beispiel dafür sind die Werkstatträte, die, gut ausgebildet, demokratisch durch eine Wahl legitimiert und rechtlich in ihren Mitbestimmungsrechten klar abgesichert, Prozesse in Werkstätten positiv mitgestalten und beeinflussen. Die rechtliche Verankerung allein reicht jedoch nicht: Betroffene dürfen nicht nur formal einbezogen werden, um dem Gesetz Genüge zu tun. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass Entscheidungen besser werden, wenn Betroffene sie gleichberechtigt mitgestalten. Beispielsweise werden bei Übereinkünften zum Personal oder zur Angebotsgestaltung deutlich weniger Fehler gemacht, wenn Betroffene von Beginn an einbezogen sind und nicht erst das Ergebnis der Überlegungen professioneller Fachkräfte zur Absegnung präsentiert bekommen.

Um Hindernisse für Empowerment aus dem Weg zu räumen, sollte die Abschaffung komplizierter Hilfeplanungsprozesse ein politisches Ziel unserer Arbeit sein. Die Steuerung der Prozesse durch die Nutzenden gelingt nur, wenn diese in der Lage sind, das Instrument der Hilfeplanung zu verstehen und für sich zu nutzen.

Empowermentprozesse lassen sich generell nur bedingt planen, Rückschläge und spontane Fortschritte sind jederzeit möglich. Entwicklungen verlaufen oftmals nicht linear und planbar, sondern sprunghaft. Gerade Empowermentprozesse sind nicht selten das Ergebnis eher unkonventioneller Lösungen und unvorhergesehener Entwicklungen. Eine spontane Entwicklung hin zu mehr Selbständigkeit sollte nicht deshalb behindert werden, weil sie so nicht im Hilfeplanverfahren vorgesehen war!

Professionelle Zurückhaltung

Zu viel professionelle Aktivität erstickt Empowermentprozesse. Angemessen ist eher eine Haltung, die Andreas Knuf als »passive Aktivität« bezeichnet (Knuf 2020, S. 87). Fachkräfte halten sich im Hintergrund, greifen aber mit Rat und Hilfe ein, wo Prozesse anders nicht in Gang kommen oder professionelle Unterstützung ausdrücklich gewünscht wird. Sie nehmen sich wieder zurück, wenn ihre Aktivität nicht mehr benötigt wird. Viele nutzergesteuerte Aktivitäten – von der Selbsthilfegruppe über die eigene Zeitschrift oder das Radioprogramm bis zur Interessenvertretung – konnten nur in Gang kommen, weil Fachkräfte in der Anfangsphase tatkräftig unterstützten und danach immer wieder flankierend zur Verfügung standen, wenn sie gebraucht wurden, den Betroffenen selbst aber die Steuerung überließen.

Das angemessene Ausmaß an praktischer Hilfe und Unterstützung, an Rat und Anregung sowie an Zurückhaltung und Ermutigung muss bei jedem Menschen neu herausgefunden werden und kann sich auch über die Zeit verändern. So kann vorübergehend ein höheres Ausmaß an Unterstützung erforderlich sein, beispielsweise in einer psychischen Krise. Es darf dann aber nicht vergessen werden, diese Unterstützung auch wieder zu reduzieren, wenn dies möglich erscheint. Pauschale Aussagen wie »Ich lasse meine Klienten immer alle Anträge selber ausfüllen« sind deshalb falsch und unterstützen nicht das Empowerment. Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte:

Weder fürsorgliche Belagerung der Klientinnen und Klienten noch desinteressiertes Ignorieren fördern die Selbstbefähigung, sondern das stetig neue Aushandeln der angemessenen Unterstützung im Dialog mit dem Klienten.

Gesundung ist möglich – jederzeit!

Zu jedem Zeitpunkt im Krankheitsprozess kann es zu positiven Entwicklungen kommen. Manchmal geht es nach einer schweren Krise plötzlich besser als je zuvor. Manchmal bleiben Rückfälle, die sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit eingestellt hatten, plötzlich aus. Manchmal vollzieht sich die Veränderung zum Positiven hin ganz langsam, fast unbemerkt. Fachkräfte sollten nie vergessen, dass positive Entwicklung jederzeit möglich ist, auch nach langer psychischer Erkrankung und dass Prognosen für den Einzelfall deshalb äußerst schwierig und wenig nützlich sind. Vor allem aber sollten wir bedenken, dass unsere Klientinnen und Klienten nie entweder nur krank oder nur gesund sind. Immer sind beide Anteile gleichzeitig vorhanden, mal überwiegen die Krankheitsanteile, dann wieder die gesunden Anteile. Auch Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen führen in manchen Bereichen ein sehr gesundes Leben und können nicht auf die Rolle des Kranken reduziert werden. Dabei ist jeder Gesundungsweg anders und Gesundung ist meist kein linearer, vorhersagbarer Prozess.

FRITZ UND EGON wohnten viele Jahre zusammen, erlebten keine schwereren psychischen Krisen in dieser Zeit und waren sehr zufrieden mit ihrem Wohnmodell. Als die körperliche Erkrankung von Fritz weiter voranschritt, zog er auf eigenen Wunsch in ein Wohnheim um. x

Zur Vertiefung

Irre verständlich-Seminar »Kommunikation und Gesprächsführung«

Irre verständlich-Seminar »Motivation«

Informationen hierzu finden Sie unter

www.irreverstaendlich.de/fortbildungen/

Wie findet man Lösungen in komplexen beruflichen Alltagssituationen?

Haben Sie auch schon einmal festgestellt, wie unglaublich vielfältig die Situationen sind, denen Sie in Ihrem Arbeitsalltag begegnen? Die Fragen und Problemstellungen reichen von der Auszahlung des Mittagessensgeldes über die Klärung von Versicherungszeiten, Informationen über therapeutische Angebote bis hin zu existenziellen Fragestellungen, suizidalen Krisen und tiefschürfenden Gesprächen. Bei manchen Fragestellungen stellt sich schnell heraus, dass wir die falsche Ansprechperson sind, bei anderen Fragen fühlen wir uns zuständig, sind aber nicht immer ausreichend informiert.

Manchmal müssen wir abwarten, manchmal weiter vermitteln an zuständige Kolleginnen und Kollegen, manchmal zur Selbsthilfe ermuntern und manchmal ist es auch erforderlich, selbst anzupacken und zu helfen. Und nicht selten wissen wir zunächst einmal gar nicht, was zu tun ist. Das muss kein schlechtes Zeichen sein: Die Haltung des Nicht-Wissens und gemeinsamen Klärens und Herausfindens sollten auch erfahrene Fachkräfte immer wieder einnehmen.

Alltägliches berufliches Handeln wird bestimmt durch unsere jeweilige Rolle, den institutionellen Kontext, gesetzliche Rahmenbedingungen, Arbeitsaufteilungen im Team, Arbeitszeiten, Erwartungen der Menschen, die Hilfe suchen, unsere Beziehungen zu ihnen und vieles mehr. Nicht selten treten unsichere und unklare Situationen auf, in denen von Fachkräften hohe Problemlösefähigkeiten und Klärungskompetenzen verlangt werden.

Das Klärungskarussell

Um in solchen Situationen den Überblick zu behalten, wird im Folgenden ein Modell vorgestellt, das eine Orientierungshilfe sein kann. Dieses Klärungsmodell dient dazu, sowohl rein reflexhafte als auch allzu routinierte Handlungen zu vermeiden und reflektiert und wirkungsbewusst zu handeln.

Das Klärungskarussell besteht im Kern aus vier Klärungsschritten:

1. Selbstklärung und Beziehungsklärung,

2. Rollenklärung,

3. Auftragsklärung,

4. Kontextklärung.

Die einzelnen Schritte sollen im Folgenden näher erläutert werden.

Selbstklärung und Beziehungsklärung

Hier geht es darum, sich auf der Gefühlsebene selbst zu fragen:

Was löst die Person, die Hilfe sucht, in mir aus?Was wäre jetzt für mich stimmig?Wie ist meine Beziehung zu der Klientin, zu dem Klienten?

Nicht immer empfinden wir das, was wir unserer Rolle oder unserem Auftrag entsprechend empfinden sollten. Manchmal sind wir genervt oder ungeduldig, wo wir doch vermeintlich Mitleid empfinden sollten. Es ist nicht schlimm, wenn unsere Emotionen nicht immer so sind, wie wir sie uns im Idealfall vorstellen. Wir sollten sie nur aufmerksam wahrnehmen und darüber nachdenken, was sie uns über die Situation, über unser Gegenüber und über uns selbst sagen.

Rollenklärung

Hier sollten wir einen sachlichen Blick auf das System werfen, in dem wir uns bewegen und dessen Teil wir sind:

In welcher Rolle begegne ich der Person, die Hilfe sucht?Welche Rolle habe ich in ihrem Unterstützungssystem?Gibt es Überschneidungen von Zuständigkeiten?

Es ist ein Unterschied, ob man Klientinnen und Klienten privat in der Freizeit trifft oder in einer beruflichen Situation; es ist ein Unterschied, ob man Gruppenleiter, Krankenschwester oder Heimleiterin ist; und es spielt eine Rolle, ob man eine therapeutische Beziehung mit einem konkreten therapeutischen Auftrag hat, z.B. für die Arbeits- oder Beschäftigungstherapie, oder ob man nicht direkt für die Klientin oder den Klienten zuständig ist.

Auftragsklärung

Wir haben es im Arbeitsalltag meistens gleich mit mehreren Aufträgen zu tun:

Eigenauftrag: Welchen Auftrag erteile ich mir selbst?Auftrag der Person, die Hilfe und Unterstützung sucht: Welchen Auftrag erteilt mir die Klientin, der Klient?