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Wir sehnen uns nach dem Ruhestand, aber wenn er da ist, was dann? Gerhard Drexel, als Spitzenmanager im Dauereinsatz, stellte sich diese Frage am Tag eins nach seinem Berufsleben. Der erfolgsverwöhnte Workaholic fand eine überraschende Antwort. Es geht nicht um Aufhören, sondern um Transformation, nicht um Stillstand, sondern um eine neue Dynamik. Klarsichtig, faktenbasiert und inspiriert von den Lehren des großen Neurologen und Psychiaters Viktor Frankl, teilt Drexel in diesem Buch seine Erkenntnisse. Was ist der Sinn der späten Jahre? Wie finden wir eine Berufung nach dem Beruf? Was muss die Politik ändern, um den Ruhestand vom Problem in eine Chance zu verwandeln?
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Seitenzahl: 195
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Gerhard Drexel:
Irrtum Ruhestand
Alle Rechte vorbehalten
© 2025 edition a, Wien
www.edition-a.at
Cover: Bastian Welzer
Satz: Anna-Mariya Rakhmankina
Gesetzt in der Premiera
Gedruckt in Europa
1 2 3 4 5 — 28 27 26 25
ISBN: 978-3-99001-810-1
eISBN: 978-3-99001-811-8
GERHARD DREXEL
Wie die späten Jahre die besten werden
edition a
Was Sie erwartet
1 Warum der Ruhestand ein fataler Irrtum ist
Wie ich in den Ruhestand hineinstolperte
Das neue Lebensphasen-Modell
Der Ruhestand ist ein Grundlagen-Irrtum
Die wertschätzende Sicht auf das Altern
Die neue soziokulturelle Vitalität im Alter
2 Die falsch verstandene »Work-Life-Balance«
Der Paradigmenwechsel am Arbeitsmarkt
Arbeit und Leben sind kein Widerspruch. Auch im Alter nicht!
Von der Weisheit und den Fehlern der alten Griechen und Römer lernen
3 Die Pathologie des zu frühen Ruhestands
Der Ruhestand als permanente Unterforderung
Warum ein zu früher Ruhestand krank macht
Warum bei zu frühem Ruhestand Altersarmut droht
4 Die Überwindung des Ruhestands
Die Lösungsfokussierung
Das Vier-Zonen-Modell der Veränderung
Der Ruhestand als Entwicklungsgeschenk
5 Den Ruhestand »auflösen« durch persönliche Sinn- und Aufgabenfindung
Sprechen Sie nie von Pensionierung!
Seien Sie Ihr eigener Transformations-Manager!
Wählen Sie Ihre persönlichen Aufgaben und Arbeiten selbst aus!
Seien Sie offen für versteckte Sinn- und Aufgabenmöglichkeiten!
Führen Sie gelingende Beziehungen!
Lassen Sie sich von Vorbildern inspirieren!
6 Auswirkungen des zu frühen Ruhestands auf das Pensionssystem und die Volkswirtschaft
Warum unser Pensionssystem vor dem Kollaps steht
Warum ein zu früher Ruhestand Gift für die Volkswirtschaft ist
7 Ein Appell an die politisch Verantwortlichen
Wem ich danken möchte
Quellenverzeichnis
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich sage es gleich zu Beginn ganz offen heraus. Der Ruhestand ist ein fatales Konzept, ein dramatischer Fehler, ein existenzieller Irrtum. Zwar sehnen ihn viele herbei und freuen sich auf den neuen Lebensabschnitt, die wenigsten machen sich aber konkrete Gedanken darüber, was sie aus dieser neu gewonnenen Lebenszeit machen wollen.
Für die meisten Menschen kommt der Ruhestand – egal ob von langer Hand geplant oder unfreiwillig – von heute auf morgen: heute der letzte Tag am Arbeitsplatz, ab morgen früh der wohlverdiente Ruhestand. Und ob sie wollen oder nicht, die meisten Neo-Pensionisten denken sich nun bewusst oder vielmehr unbewusst:
»Das war’s!«
Sie unterliegen einem Denkfehler, der in der Psychologie »End-of-History-Illusion« genannt wird. Die Menschen glauben in der Regel, dass sie zwar in der Vergangenheit erhebliche persönliche Veränderungen durchgemacht haben, aber sie gehen davon aus, dass ihre Zukunft weitgehend gleich bleiben wird. Es wird sich nicht mehr viel tun. Es ist das Ende ihrer Geschichte. Das Arbeitsleben sei für immer abgeschlossen, neue Beschäftigungen und sinnstiftende Tätigkeiten im Alter ausgeschlossen. Die »End-of-History-Illusion« erklärt die menschliche Neigung, das eigene Entwicklungspotenzial und die persönliche Veränderungsbereitschaft zu unterschätzen. Der Neo-Rentner lässt sein Potenzial brachliegen und fügt sich dem gesellschaftlich verordneten Ruhestand. Bei den meisten Menschen erweist sich dieser Ruhestand als permanente Unterforderung und führt, wenn er nicht durch Arbeitsphasen unterbrochen wird, zu einem arhythmischen Leben. Das ist aber ungesund und macht unglücklich.
Die Bedeutung eines rhythmischen Lebens, eines Tages- und Wochenrhythmus, der aus Arbeits- und Ruhezeit besteht, war schon, wie Sie in Kapitel 2 erfahren werden, den alten Römern bewusst: Ihnen war bereits vor über zweitausend Jahren klar, dass »otium« und »negotium« – Freizeit und Arbeitszeit – in einer gesunden Balance zueinander stehen sollten. Wenn das nicht der Fall ist, wenn sich der Mensch im Alter vielmehr in einem permanenten Ruhestand befindet, führt dies in unzähligen Fällen zu einer Sinnkrise und, wie es der große österreichische Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut Viktor Frankl ausdrückt, zu einer »Sinnleere« sowie in der Folge häufig zu psychischen und physischen Erkrankungen. Kapitel 3 enthält mehrere Beispiele und Narrative, die dieses Phänomen untermauern.
Verschärfend wirkt sich die demografische Entwicklung aus. Wie in Kapitel 1 gezeigt wird, ist die Lebenserwartung bei Frauen und Männern in Österreich seit 1950 erfreulicherweise um über 17 Jahre gestiegen, das tatsächliche Pensionsantrittsalter seit Anfang der 1970er-Jahre hingegen bei 61 Jahren konstant geblieben. Die meisten Menschen sind, wenn sie ihre Pension antreten, nur dem Datum nach alt, nicht aber ihrer Einstellung nach. Sie sind alt geworden, aber jung geblieben. Ihr kalendarisches Alter ist ein anderes als ihr biologisches und gefühltes. Sie sind zumeist körperlich und geistig fit und gesund.
In den Kapiteln 4 und 5 möchte ich aufzeigen, dass diese »jungen Alten« an der Schwelle zur größtmöglichen Chancenrealisierung ihres Lebens stehen. Gut zu altern heißt, sich in dieser neuen Lebensphase neu zu entdecken und sie zum vielleicht spannendsten Teil des Lebens zu machen. So gelingt es möglicherweise dem ein oder anderen Neo-Pensionisten, seine Berufung nach dem Beruf zu finden.
Wie die späteren Jahre die besten werden können, verrät anhand zahlreicher psychologischer Ratschläge und Tipps das fünfte Kapitel. Der Ruhestand soll – weil er eben ein Irrtum ist – durch persönliche Sinn- und Aufgabenfindung aufgelöst, überwunden, perforiert werden, und zwar ganz nach dem Motto:
»Ich muss nicht arbeiten, sondern ich darf arbeiten.«
Es geht, wie Viktor Frankl es ausdrückt, um die bewusste Entscheidung zum Sinn im Alter. Es geht darum, auch in den späten Jahren aus freien Stücken eine sinnvolle Beschäftigung zu finden, eine sinnvolle Arbeit – bezahlt oder unbezahlt – zu verrichten, anstatt im Liegestuhl, auf der Parkbank oder in der Hängematte einem wunschlosen Unglück entgegenzusteuern. Es geht um die freie Entscheidung. Der permanente Liegestuhl führt direkt zur »Liegestuhl-Depression«, die selbstgewählte sinnstiftende Arbeit im Alter hingegen zu Erfüllung, Zufriedenheit und lebendigen Beziehungen.
In Kapitel 5 rate ich:
»Seien Sie Ihr eigener Transformations-Manager!«
Wir müssen unser Leben nach dem Erreichen des Pensionsantrittsalters selbst in die Hand nehmen und gestalten. Dann schiebt sich zwischen die Phase der Berufstätigkeit und der bisher zwangsläufig folgenden Phase des Ruhestands eine neue Lebensphase: Ich bezeichne sie als die Lebensphase der »post-operativen Tätigkeit«. So können die späten Jahre die besten werden.
In den beiden letzten Kapiteln 6 und 7 wird das Thema Ruhestand auf die gesellschaftliche Ebene ausgeweitet. Der Ruhestand ist nämlich nicht nur für den einzelnen Menschen ein fundamentaler Irrtum, sondern auch für die gesamte Gesellschaft. In Kapitel 6 versuche ich, anhand von Fakten und der untrüglichen demografischen Entwicklung ideologiebefreit die pathologischen Auswirkungen eines zu frühen allgemeinen Pensionsantrittsalters aufzuzeigen. Wir steuern auf eine dramatische Entwicklung hin: Das derzeitige Pensionssystem ist nicht mehr finanzierbar und akut gefährdet. Es steht vor dem Kollaps.
Ein zu früher kollektiver Ruhestand führt darüber hinaus zu einer Verschärfung des Arbeits- und Fachkräftemangels und zu einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. Er ist Gift für die Volkswirtschaft. Die Konjunktur bricht ein oder, in unserem Fall, die bereits eingebrochene Konjunktur kann sich nicht erholen.
Das Schlusskapitel 7 enthält eine Reihe von politisch erforderlichen Empfehlungen. Das Steuersystem muss grundlegend geändert werden, um das freiwillige Arbeiten nach Erreichen des Pensionsantrittsalters zu attraktivieren. Es wird aber auch kein Weg daran vorbeiführen, das gesetzliche Pensionsantrittsalter zu erhöhen und an die gestiegene Lebenserwartung anzupassen.
Woran die politisch Verantwortlichen vermutlich bisher nicht gedacht haben: Das längere Arbeiten ist nicht nur aus demografischen und volkswirtschaftlichen Gründen dringend geboten, sondern für die meisten Menschen eine Notwendigkeit, auch in ihren späten Jahren ein glückliches und sinnerfülltes Leben zu führen – vorausgesetzt, sie können selbstbestimmt über die Art ihrer Beschäftigung und das Ausmaß ihrer Tätigkeit entscheiden.
Dieses Buch soll nicht nur eine neue Sichtweise auf den Ruhestand vermitteln, sondern auf das Alter allgemein. Es soll mit Vorurteilen und Mythen aufräumen und durch Fakten Klarheit schaffen. Vor allem aber soll es Ihnen, liebe Leserin oder lieber Leser, eine Motivation und Anleitung sein, um Ihre späten Jahre zu den besten zu machen.
»Es ist mein erster Ruhestand. Ich übe noch.«
Loriot
Ich wusste mit fünfzig Jahren, mit 55 Jahren, mit sechzig Jahren und auch mit 64 Jahren, dass ich Ende Dezember 2020 als 65-Jähriger aus dem Vorstand der SPAR Österreich ausscheiden würde. In den Statuten des Familienunternehmens ist seit jeher festgeschrieben, dass für Vorstandsmitglieder eine Altersklausel von 65 Jahren gilt, das heißt – um es genau zu sagen – der 31. Dezember nach Erreichen der Altersgrenze. Und ich sage es gleich vorweg: Das ist auch gut so, damit die talentierten Nachwuchs-Führungskräfte eine Chance erhalten, in den Vorstand berufen zu werden, bevor sie selbst bereits das Pensionsalter erreichen.
Mein Übergang in den vermeintlichen »Ruhestand« konnte – aufgrund der intern bekannten Altersklausel – gut geplant werden. Ich konnte mich seit Jahren gut darauf einstellen. Natürlich auch meine Kollegen, Mitarbeiter und Geschäftspartner. Der Übergang in die neue, unbekannte Ära war dennoch heftig. Als es dann so weit war, Anfang des Jahres 2021, erinnerte ich mich an das launige Gespräch mit dem Manager einer großen Brauerei, der einige Jahre vorher seinen Ruhestand angetreten hatte. Er sagte damals zu mir: »Ich komme nun in den Ruhestand. Das ist der gefährlichste aller Lebensabschnitte.« Auf meine Frage nach dem Warum antwortete der angehende Neo-Pensionist:
»Diesen Lebensabschnitt hat noch keiner überlebt.«
Und ich erinnerte mich an ehemalige Mitarbeiter und Bekannte, die in den Jahren davor ihren Ruhestand angetreten hatten. Sie stellten sich, ausgesprochen oder nur angedeutet, folgende Fragen:
»Gehört man im Ruhestand zum alten Eisen?«
»Gehört man weggeräumt?«
»Traut man einem noch etwas zu?«
Beinahe jeder hatte Selbstzweifel, Statusängste und ein schwer definierbares mulmiges Gefühl.
Auf der anderen Seite gibt es nicht wenige, die jahrelang auf ihre Pensionierung hinfiebern, dabei vielleicht komplett ausbrennen, um dann von einem Tag auf den anderen nichts mehr zu tun. Zu Beginn ihres Ruhestands betrachten sie die Freiheit von Arbeit als neu gewonnene Lebensqualität. In Rente zu gehen, ist für sie zunächst wie ein Urlaub ohne Ende.1
Aus wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir aber, dass die Bedeutung der Arbeit für das eigene Wohlbefinden unterschätzt wird, solange man noch arbeitet.2 Nach einer gewissen Phase des Auskostens der neuen Freiheit wird nämlich bald deutlich, dass Urlaub und Freizeit stark an Wert verlieren, wenn sie sich nicht mehr mit Phasen der Arbeit abwechseln. Auch Urlaub und Freizeit haben einen abnehmenden Grenznutzen.
Der Übergang von der Erwerbstätigkeit in die nachberufliche Phase führt in vielen Fällen zu einem Pensionsschock. So vielfältig die Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die individuellen Ausprägungen des Pensionsschocks. Ich denke hier an einen mir bekannten österreichischen Top-Banker, der nur wenige Wochen vor seiner geplanten Pensionierung ein schweres Burn-out erlitt, von dem er sich erst nach etwa einem Jahr erholte: ein verfrühter Pensionsschock im Angesicht des nahenden Ruhestands. Ich denke aber auch an den Geschäftsführer eines bekannten österreichischen Markenartikel-Unternehmens, der zeitgleich mit Antritt seines Ruhestands in eine existenzielle Sinnkrise fiel. Von einem Tag auf den anderen verfügte er plötzlich über so viel freie Zeit – und wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Er wurde erfüllt von einer großen inneren Leere, von einem Gefühl der Sinnlosigkeit und des Nicht-mehr-gebraucht-Werdens. In der heutigen Gesellschaft manifestiert sich der Pensionsschock sehr häufig als Sinnkrise. Wie später zu zeigen sein wird, können derartige existenzielle Krisen nur dann verhindert werden, wenn der einzelne Mensch nach wie vor, also auch in der Pensionierungszeit, im Angesicht von Werten, von Aufgaben und von Sinnmöglichkeiten steht.3 Pensionierungen haben sehr oft eine Reduktion des Selbstwertgefühls zur Folge. Der plötzliche Verlust von Funktion und Aufgaben und des gewohnten inner- und außerbetrieblichen Umfelds führt bei vielen Neo-Pensionisten zu Selbstwertzweifeln und Statusängsten:
»Werde ich
noch
gebraucht?«
»Kann ich
noch
etwas Sinnvolles tun?«
»Kann ich
noch
etwas bewirken?«
Der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid empfiehlt, sich in dieser Phase des Übergangs mit dem unscheinbaren Wörtchen »noch« anzufreunden. Es ist die Zeit des »Noch«4, die untrüglich auf den fortschreitenden Prozess verweist. So ergeht es auch mir (immer wieder), seit ich aus dem operativen Management ausgeschieden bin. Ich werde regelmäßig gefragt:
»Gehst du
noch
skifahren?«
»Machst du
noch
längere Autofahrten?«
»Liest du
noch
die Fachzeitschriften?«
»Gibst du
noch
Interviews?«
»Gehst du
noch
auf den jährlichen Branchenkongress?«
Und dann wird man, als vermeintlicher Neo-Pensionist, oft mehrmals in der Woche mit der Frage aller Fragen konfrontiert: »Wie kommst du persönlich mit dem Ruhestand zurecht?«
Meine Antwort darauf ist immer die gleiche und sehr präzise: »Ich fühle mich nicht im Ruhestand! Ich bin auch nicht im Ruhestand!« Und ich füge hinzu: »Mir gefällt der Ausdruck Ruhestand nicht. Ich bin nicht mehr im operativen Management, sondern als Aufsichtsratsvorsitzender jetzt selbstständig. Das genieße ich, weil ich nicht mehr so stark im Hamsterrad laufen muss.« Und manchmal sage ich dazu mit einem Augenzwinkern: »Während meiner operativen Zeit als Vorstand fühlte ich mich oft wie ein Friseur: jede Stunde ein anderer Termin. Das ist nun anders.«5
Ich freue mich, dass seit meinem Ausscheiden aus dem operativen Management Anfang des Jahres 2021 nach und nach eine Reihe neuer Aufgaben auf mich zugekommen ist: eine Honorarprofessur mit Lehrverpflichtung an der Universität Innsbruck, die mir viel Freude bereitet, Einladungen für Fachvorträge und Podiumsdiskussionen sowie meine selbst gewählte Tätigkeit als Autor. All diese neuen Aufgaben und Tätigkeiten sind für mich erfüllend und sinnstiftend. Einen tatsächlichen Ruhestand könnte ich mir gar nicht vorstellen. Deshalb meine persönliche Conclusio:
Der Ruhestand ist ein Irrtum – und zwar ein fataler Irrtum (Abbildung 1).
Abbildung
1
: Der Ruhestand ist ein fataler Irrtum.
»Mein Ruhestand kommt später.«
Henning von Vieregge
Wir befinden uns in einer fundamentalen gesellschaftlichen Zeitenwende. Heutzutage haben wir beim Pensionsantritt noch etwa ein Viertel unseres Lebens vor uns, bei günstigen Umständen sogar noch ein Drittel oder mehr.
Historisch gesehen ist das völlig neu. Wer das begreift und für sich nutzt, steht mit einem Alter von sechzig bis 65 Jahren an der Schwelle zur größtmöglichen Chancenrealisierung seines Lebens.6
Wir leben immer länger und bleiben dabei gesünder. Deshalb ist es so wichtig, die höhere Lebenserwartung auch beruflich zu unserem Vorteil zu nutzen und selbst zu bestimmen, ob – und falls ja – wie lange und was wir arbeiten. Wie schaut es nun mit der höheren Lebenserwartung konkret aus?
Die Daten der Statistik Austria geben eine klare Antwort (Abbildung 2).
Im Jahr 1950 betrug die Lebenserwartung in Österreich bei Männern 61,9 Jahre, 2023 waren es bereits 79,4 Jahre: eine Steigerung um 17,5 Jahre an Lebenserwartung!
Bei den Frauen in Österreich sieht es noch besser aus. Ihre Lebenserwartung war im Jahr 1950 bereits deutlich höher als jene der Männer. Sie lag bei 67 Jahren und stieg bis zum Jahr 2023 auf 84,2 Jahre. Die Lebenserwartung der Frauen erhöhte sich seit 1950 somit um 17,2 Jahre.
Abbildung2: Lebenserwartung in Österreich
Quelle: Statistik Austria
* Lebens- bzw. Restlebenserwartung in Jahren
Im Durchschnitt verzeichnen wir eine Erhöhung der Lebenserwartung von Männern und Frauen um 17,35 Jahre – und das alles in einer vergleichsweise kleinen Zeitspanne von nur 73 Jahren (1950–2023). Dieses Plus an Lebenserwartung beträgt also etwas mehr als 208 Monate: Das ergibt pro Jahr (!) unglaubliche drei Monate mehr an Lebenserwartung. Kaum zu glauben, aber wahr! Anders ausgedrückt: Pro einzelnem Tag, den wir (er)leben, erhöht sich unsere Lebenserwartung um sechs Stunden.7 Und nochmals anders formuliert: Während Sie, liebe Leserin und lieber Leser, 60 Minuten in diesem Buch lesen, erhöht sich Ihre Lebenserwartung um 15 Minuten. Eine wichtige Zusatzbemerkung: Gemeint ist die durchschnittliche Lebenserwartung in Österreich, nicht unbedingt Ihre eigene. Diese kann höher oder niedriger sein.
Wenn das kein Auftrag – oder sagen wir lieber keine Einladung – für uns alle sein soll, aus der gewonnenen Lebenszeit mehr zu machen, dann haben wir das Chancenpotenzial des heutigen Lebens nicht erkannt.
Was leiten wir für uns daraus ab?
Das bisher übliche Lebensphasen-Modell mit der bekannten Dreiteilung des Lebens in Ausbildung, Arbeit und Ruhestand (Abbildung 3) ist für ein achtzig- bis bald hundertjähriges Leben nicht mehr zutreffend. Phasen des Arbeitens, des Lernens und des Ausruhens werden sich zwischen zwanzig und achtzig Jahren immer wieder abwechseln.8 Die weithin gewohnte Dreiteilung des Lebens wird schließlich zugunsten eines flexibleren Lebensphasen-Modells weichen.9
Abbildung
3
: Das bisherige Drei-Phasen-Lebensmodell
Abbildung
4
: Das Vier-Phasen-Lebensmodell (nach Leopold Stieger)
Abbildung
5
: Das adaptierte Vier-Phasen-Lebensmodell
Professor Leopold Stieger, der sich selbst viel mit den Auswirkungen der Pension beschäftigt hat, spricht von einem Vier-Phasen-Lebensmodell (Abbildung 4).10
Wir sind die erste – oder vielleicht schon zweite – Generation, bei der nach der Berufstätigkeit nicht der Ruhestand folgt. Es hat sich eine neue Lebensphase aufgetan – sozusagen dazwischen geschoben –, die wir zu unserer Freude, Erfüllung und Sinnstiftung produktiv nutzen können. Das ist die Phase zwischen sechzig/65 Jahren und achtzig/85 Jahren. Es sind im wahrsten Sinne »gewonnene Jahre«, die oft auch als Silberjahre bezeichnet werden.11Diese Silberjahre bieten die Chance für unzählig viele Lebensentwürfe. Arbeit, ob bezahlt oder unbezahlt, bleibt ein Teil des Lebens. Der Ruhestand kommt später.12
Leopold Stieger nennt diese gewonnenen Jahre die Phase der »Freitätigkeit«.13 Nach der Berufstätigkeit folgt die Freitätigkeit. Wichtig ist aus Stiegers Sicht, dass beide Lebensphasen mit »Tätigkeit« zu tun haben.
Der Zusatz »frei« könnte im Sinne von »gratis« missverstanden werden. Neben unbezahlter Arbeit, sogenannter Engagementarbeit, soll genügend Platz für bezahlte Arbeit sein: Vollzeit, Teilzeit oder geringfügig.
Aus diesem Grund bezeichne ich diese Ära der gewonnenen Jahre als Phase der »post-operativen Tätigkeit« (Abbildung 5). Post-operativ deshalb, weil sich diese Phase nahtlos an die Phase der Berufstätigkeit, das heißt des operativen Arbeitens, anschließt. Es ergeben sich dann die folgenden vier Lebensphasen:
Phase 1/Ausbildung: 0–22/28 Jahre
Phase 2/Berufstätigkeit: 22/28–60/65 Jahre
Phase 3/post-operative Tätigkeit: 60/65–80/85 Jahre
Phase 4/Ruhestand: 80/85–…
Die Phase 1 zieht sich im Vergleich zu früher durchaus in die Länge. Die jungen Menschen haben heute im Durchschnitt längere Ausbildungszeiten und treten deshalb tendenziell erst später in das Erwerbsleben ein.
Das Ende der Phase 2 habe ich deshalb mit 60/65 Jahren angeführt, weil diese Altersstufen in Österreich über viele Jahrzehnte dem gesetzlichen Pensionsantrittsalter entsprochen haben. Bei Männern sind es 65 Jahre, bei Frauen waren es lange sechzig Jahre. Bis zum Jahr 2033 wird dieses gesetzliche Pensionsantrittsalter für Frauen sukzessive auf 65 Jahre erhöht und damit den Männern angeglichen. Für Deutschland muss das Ende der Phase 2 folgerichtig mit 65 bis 67 Jahren angeführt werden. Hier erfolgt in Monatsschritten von 2012 bis zum Jahr 2029 eine Anhebung von 65 auf 67 Jahre.
Hingegen soll das Ende der Phase 3 – der post-operativen Tätigkeit – mit achtzig/85 Jahren als symbolischer, aber durchaus realistischer Wert gesehen werden. Es gibt leider unzählige »Ausreißer« nach unten, aber glücklicherweise auch viele individuelle Beispiele, bei denen selbst mit 95 Jahren die post-operative Phase keinesfalls beendet ist.
Als Beispiel darf ich meinen Vater Luis Drexel erwähnen. Er war 65 Jahre, als er altersbedingt als Vorstandsvorsitzender der SPAR Österreich ausschied. Mit diesem Alter begann seine post-operative Tätigkeit. Er übernahm die Funktion des Aufsichtsratsvorsitzenden und übte diese Tätigkeit mit großem Erfolg bis zu seinem 77. Lebensjahr aus. Seine Aufgaben als Gesellschafter, Unternehmer und Verwalter des familieneigenen Home-Office behielt er bis zu seinem Tod im Jahr 2019, mit stolzen 95 Jahren. Ich erinnere mich an ihn als stets glücklich und erfüllt arbeitenden Menschen. Erst im Alter von neunzig Jahren reduzierte er seine tägliche Bürozeit auf den Vormittag. Zum Mittagessen kam er nach Hause und genoss eine erweiterte Mittagspause mit meiner Mutter.
Am Nachmittag arbeitete er mit Vergnügen zu Hause in seinem Büro weiter. Erst mit 93 Jahren verlegte er sein Büro von der SPAR-Zentrale Dornbirn endgültig nach Hause. Und noch eine Erinnerung: Er arbeitete bis zu seinem Tod mit 95 Jahren von Montag bis Freitag. Er sagte, für die Erholung und die Regeneration gibt es das Wochenende.
Für meinen Vater war Ruhestand ein Irrtum – ohne, dass er dies so ausgedrückt hätte. Er lebte einfach vor, dass der Mensch dann ein glückliches und erfülltes Leben hat, wenn er bis ins hohe Alter im Angesicht von Aufgaben und Tätigkeiten steht.
Natürlich weiß ich, dass das Beispiel meines Vaters eine Ausnahme darstellt. Es soll dennoch zeigen, was am oberen Ende der Altersskala möglich ist. Vorausgesetzt, man bleibt gesund und besitzt den nötigen Willen.
Dem entgegengesetzt steht die Geisteshaltung, die in Österreich über Jahrzehnte in die falsche Richtung gegangen ist. Das Motto war: »Wenn du ehestmöglich ohne Abzüge in Pension gehen kannst, dann bist du der Hero.«14 Politik und Wirtschaft haben ihren Teil dazu beigetragen. In vielen Unternehmen sind die Menschen reihenweise mit der »Aktion 55« oder »Aktion 58« in Frühpension gedrängt worden.
Welch dramatisch negative Auswirkungen ein zu früher Ruhestand auf den Einzelnen und auf die Gesellschaft hat, möchte ich in den Kapiteln 3 und 6 im Detail analysieren.
Zuerst möchte ich aber meine Überzeugung darlegen und begründen, warum der Ruhestand ein großer Irrtum ist.
»Wer sich im Alter keine Aufgaben gibt, gibt sich selbst auf.«
Marcus Tullius Cicero
Der bekannte Psychotherapeut Wolfgang Schmidbauer ist sich ganz sicher. Für ihn ist Ruhestand ein fatales Konzept: »Der Mensch braucht den Rhythmus von Arbeit und Ruhe. Nur Ruhe ist ungesund.«15 Diese Ansicht markiert einen klaren Paradigmenwechsel. Arbeit, egal ob bezahlte oder unbezahlte, wird nicht länger als etwas empfunden, das mit dem Alter abgeschüttelt wird, sondern als etwas, das im Leben hält.16
Der Philosoph Ernst Tugendhat kam im Jahr 2006, damals 76-jährig, zu der Schlussfolgerung, dass »man eigentlich nur sinnvoll weiterleben kann, wenn man eine neue Tätigkeit findet.«17
Und Cicero, der berühmte römische Philosoph, Redner, Anwalt und Staatsmann, stellte bereits vor knapp 2.100 Jahren fest: »Wer sich im Alter keine Aufgaben gibt, der gibt sich selbst auf.«
Pater Johannes Pausch, mein Freund und geistig-spiritueller Lehrer, drückt es so aus: Der Mensch braucht, gerade im Alter, die Balance zwischen Arbeit und Ruhe. Er braucht den Rhythmus aus Arbeitszeit und Ruhephasen, er braucht den guten Tagesrhythmus. Für Benedikt von Nursia, den Gründer des Benediktinerordens, war bereits vor 1.500 Jahren klar, dass es für seine Mönche keinen Ruhestand gibt. Von jedem einzelnen Mönch wurde erwartet, individuell nach den jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten bis ins hohe Alter zu arbeiten. Dies gilt bei den Benediktinern bis heute, aber mit der Einschränkung, dass die Arbeit »mit gutem Maß« verrichtet wird. Es soll nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig sein. Am wichtigsten ist der Rhythmus zwischen Arbeits- und Ruhezeit. Ein Zuviel vom einen schadet dem anderen.
Wichtig sind deshalb die Pausen zwischen den Phasen des Arbeitens beziehungsweise des Tätigseins. In der heutigen Gesellschaft sind viele Menschen erschöpft, weil sie keine Pausen machen. Ihre Erschöpfung ist derart groß, dass oft Depression und Burn-out die Folgen sind. Sie sind ausgebrannt und wollen oder können deshalb nicht mehr arbeiten. Ihr Ausgelaugt-Sein ist das Resultat eines jahrelang geführten arhythmischen Lebens. Der nötige Rhythmus zwischen Arbeits- und Ruhezeit wird in der Phase der Berufstätigkeit oft sträflich verletzt.
Warum sollten dann für die Lebensphase der nachberuflichen Zeit andere Regeln gelten? Gerade in dieser Zeit braucht es ebenso den Rhythmus von Arbeit und Ruhe. Wenn die Menschen in ihrer Zeit ab sechzig oder 65 Jahren nur noch ruhen, führen sie ein arhythmisches Leben. Sie ruhen den ganzen Tag vor sich hin. Nur Ruhe zu haben, ist aber ungesund, wie Wolfgang Schmidbauer zu Recht feststellt.
Pater Johannes Pausch geht noch einen Schritt weiter und sagt: »Wenn Leute mit sechzig Jahren als Gesunde in (Früh-)Pension gehen, ist es ein Nicht-Verstehen. Es wird nicht verstanden, welche Möglichkeiten das Leben in den späteren Jahren bietet.« Das gute Leben besteht nämlich aus einem Rhythmus zwischen Arbeits- und Ruhezeit, aus einer Balance. Ganz besonders auch im Alter.
Klarstellen möchte ich an dieser Stelle, dass hier Arbeit im weitesten Sinne des Wortes zu verstehen ist: bezahlte Arbeit, unbezahlte Arbeit, Engagementarbeit, ehrenamtliche Tätigkeit, Betreuungsarbeit und vieles mehr.
Viktor Frankl sagt, der Mensch brauche ein