Irrwege - Sybille Baecker - E-Book

Irrwege E-Book

Sybille Baecker

4,5

Beschreibung

Kommissar Branders freies Osterwochenende ist mit dem Fund einer Leiche definitiv vorbei. Ein Jogger wurde mit zwölf Messerstichen brutal ermordet. Doch Brander und sein Team von der Tübinger Kriminalpolizei finden in dem soliden Leben des Ermordeten weder ein Motiv für die Tat noch eine Spur zum Täter. Die einzige mögliche Zeugin steht unter Schock, und der Trainingspartner des Opfers bringt Brander mit seiner Arroganz an die Grenzen seiner Geduld. Schon bald hat Brander das Gefühl, in einem Labyrinth zu stecken.

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Sybille Baecker wurde 1970 in Thuine geboren und wuchs in Gronau (Westfalen) auf. Sie studierte Betriebswirtschaftslehre in Münster und Neu-Ulm, anschließend war sie einige Jahre als IT Prozessingenieurin in einem amerikanischen Unternehmen tätig. Heute lebt sie in der Nähe von Tübingen und arbeitet als Pressereferentin eines Sportfachverbandes in Stuttgart. Sie veröffentlichte mehrere Kurzgeschichten. Im Emons Verlag erschienen ihre Kriminalromane »Irrwege« und »Körperstrafen«.www.lesezeit-sk-baecker.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

©2014 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-671-3 Schwaben Krimi Originalausgabe

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Für Frank

Ich habe es getan. Ich habe die Drecksau umgebracht. Er hatte es verdient zu sterben. Es war an der Zeit.

Ich war unruhig, als ich auf ihn wartete. Mein Herz schlug wild, und ich spürte die Anspannung in meinem Körper. Aber ich wusste, ich musste es tun.

Die Kälte und der Geruch der nassen Erde hingen in der Luft. Immer wieder gab es heftige Regenschauer. Reglos verharrte ich im Schutz eines Baumes und wartete. Ich hielt das Messer in meiner Hand, der glatte Griff lag fest zwischen meinen Fingern. Am Ende befand sich ein kleiner Knopf, mit dem ich die Klinge hervorspringen lassen konnte. Ein leichter Druck genügte, und schon sprang sie hervor, schnell, zielsicher. Mit dem Zeigefinger strich ich über die lange Klinge. Sie war dünn, fast zerbrechlich, und doch so stark. Ich hatte sie noch nie benutzt, und das blanke Metall blitzte jungfräulich im matten Licht. Selten hatte ich eine so schöne Klinge gesehen. Ich hatte die richtige Wahl getroffen. Ich löste die Sperre, ließ die Klinge wieder im Griff verschwinden und versteckte das Messer in meiner Hand.

Ich sah ihn schon von Weitem. Er lief schnell und kam ahnungslos direkt auf mich zu. Ich trat auf den Weg und lief ihm entgegen. Er konnte nicht ausweichen. Als wir auf einer Höhe waren, drückte ich auf den Knopf. Die Klinge schnellte hervor und mit ihr mein Arm. Mit aller Kraft rammte ich ihm das Messer in den Bauch. Es ging ganz schnell. Er taumelte, dann sank er auf die Knie und starrte mich mit ungläubigen Augen an. Er verstand nichts, das machte mich wütend. Aber es war auch mein Triumph. Ich stieß ihm das Messer in seinen verdammten Körper, immer wieder. Er sollte bluten.

Er kauerte am Boden, versuchte zu schreien, flehte, wimmerte. Ich sagte nichts, kein Laut kam über meine Lippen. Dann ging ich weg, ließ ihn im Morast liegen. Für ihn gab es keine Rettung mehr.

Es begann wieder zu regnen. Ein Wolkenbruch. Ich wurde nass bis auf die Haut. Das war gut. Der Regen reinigte alles. Meine Aufgabe war erfüllt, und ich hatte keine Spuren hinterlassen.

Der Schauer ging in einen sanften Regen über, und eine unendliche Ruhe kehrte in meinen Kopf zurück. Ich war in vollkommenem Frieden mit mir. Er war tot. Ich hatte ihn getötet.

Ein Mensch, der einen Mord begangen hat, dem kann niemand mehr etwas anhaben.

***

Der Notruf erreichte die Tübinger Polizeidirektion am Karsamstag um neunzehn Uhr siebenunddreißig. Ein Mann berichtete sehr aufgeregt einen Vorfall auf der Kreisstraße, die von der B28

Karsamstag

Andreas Brander hatte es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem gemacht. Er trug seine Lieblingsjogginghose und ein frisch gewaschenes T-Shirt. In seiner Linken hielt er ein Glas Whisky. Einen vierzehnjährigen Oban, ein Weihnachtsgeschenk seiner Eltern. Er atmete das rauchig-würzige Aroma ein, nippte am Glas und genoss den torfigen Geschmack. Im Hintergrund lief leise Bluesmusik von Muddy Waters, gemeinsam mit dem schottischen Single Malt war das der perfekte Anfang für einen entspannten Abend. Sein Blick schweifte von der goldbraunen Flüssigkeit über seinen Körper. Die lässige Kleidung versteckte den kleinen Bauchansatz, der sich in den letzten Jahren hartnäckig festgebissen hatte. Er schob das T-Shirt zurück, zog seinen Bauch ein und drückte abschätzend mit dem Zeigefinger in die Speckröllchen. Er sollte wieder mehr Sport treiben, sonst würde aus dem leichten Ansatz bald ein richtiger Bauch werden. Zu viel Arbeit, vielleicht war er auch ein bisschen träge geworden. Wann war er das letzte Mal joggen gegangen? Das war sicher ein halbes Jahr her, glaubte er sich zu erinnern. Dabei lag der älteste Naturpark Baden-Württembergs direkt vor seiner Tür. Er müsste lediglich seine Laufschuhe anziehen und loslaufen.

Die Doppelhaushälfte, die er mit seiner Frau gekauft hatte, lag am Ortsrand von Entringen am Ende einer Sackgasse. Über einen Feldweg konnte er leicht zu den Obstwiesen gelangen, und nach wenigen hundert Metern, die zwar stetig bergauf führten, aber durchaus zu bewältigen waren, wäre er schon im Schönbuch, umgeben von zahllosen Eichen und Buchen und munterem Vogelgezwitscher. Aber das Wetter war in den letzten Monaten nicht besonders einladend gewesen. Der vergangene Winter hatte viel Schnee gebracht, bis weit in den März hinein. Nachdem der Schnee endlich geschmolzen war, hatte sich ein kalter, ungemütlicher Dauerregen breitgemacht, der eher an Herbststürme als an Frühling erinnerte. Auch das trug nicht zu seiner sportlichen Motivation bei. Wenn es in den nächsten Tagen besser würde, könnte er sich am Montag vielleicht zu einer Runde durch den Wald überreden. Ja, warum eigentlich nicht?

Cecilia kam herein und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie ihn mit eingezogenem Bauch und kritischem Blick auf dem Sofa sitzen sah. Sie schien ihre frauliche Figur mit den sanften Rundungen über all die Jahre beinahe mühelos zu halten. Die ersten grauen Strähnen verbarg eine dunkle Tönung.

»Ceci, ich werde dick«, stellte Brander mit deprimierter Stimme fest und versuchte möglichst mitleiderregend auszusehen, »alt und dick.«

»Ja, du armer, alter, dicker Mann.« Sie setzte sich neben ihn und strich ihm mit einem spöttischen Lächeln über den Bauch.

»Das ist doch nicht zu fassen! Ich brauche Zuspruch! Du musst jetzt sagen, dass ich nicht dick bin und alt schon mal gar nicht. Du bist grausam.« Er zog das T-Shirt wieder über seinen Bauch und schob schmollend die Unterlippe hervor.

Statt einer Antwort küsste seine Frau amüsiert seine Stirn.

»Du bist früh dran«, stellte sie fest und nahm ihm das Glas aus der Hand.

»Womit?«

»Mit deiner Midlife-Crisis. Du wirst in zwei Monaten zweiundvierzig«, stellte sie nüchtern fest. »Aber du wirst es schaffen. Du wirst dir vornehmen, wieder regelmäßiger Sport zu treiben, dich gesünder zu ernähren, und vielleicht kaufst du dir eine Harley.«

»Ich liebe deinen psychologischen Scharfsinn!«, antwortete Brander und verzog das Gesicht. »Bist du bei deinen Patienten auch so unsensibel?«

»Nein, aber die zahlen auch besser.« Sie beugte sich über sein Gesicht und knabberte an seiner Unterlippe. Er zog sie näher zu sich. Der dezente Duft ihres Parfums stieg ihm in die Nase, und ihre dunklen Haare kitzelten auf seiner Stirn. Er strich die Strähnen zärtlich zur Seite. Zwölf Jahre waren sie verheiratet. Sie hatten schon einige Krisen hinter sich, da sollte seine angebliche Midlife-Crisis keine große Belastungsprobe für sie darstellen.

Das Läuten des Telefons störte ihre Zärtlichkeiten.

»Das kann nicht für mich sein.« Cecilia kuschelte sich an ihn.

»Für mich auch nicht.«

»Hast du nicht Bereitschaft?«

Brander verdrehte die Augen. Er hatte die Bereitschaft kurzfristig für den erkrankten Kollegen Böhl übernommen, unter dem Versprechen, dass es an diesem Wochenende keinen Anruf geben würde. Das war natürlich völlig utopisch. Dennoch hatte Brander die Hoffnung gehabt, sie würden ihn nicht anrufen.

»Das ist bestimmt für dich, eine deiner Freundinnen.«

»Wir sind nicht zu Hause«, entschied Cecilia.

Genau, wenn es tatsächlich so wichtig war, sollten sie ihn doch auf dem Handy anrufen, versuchte er sein Gewissen zu beruhigen. Sie ließen das Telefon klingeln. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Eine Stimme, die Brander sehr gut kannte, hinterließ eine Nachricht.

»Kommissar Brander? Hier ist Sabrina. Ich weiß, wir haben versprochen, dich nicht anzurufen. Aber… komm schon, geh ans Telefon.«

Sabrina war Polizistin in der Tübinger Dienststelle, und obwohl sie sich schon lange duzten, sprach sie ihn noch immer mit »Kommissar Brander« an. Er spürte einen unangenehmen Stich im Magen. Wie gerne hätte er diesen Abend ungestört mit Cecilia genossen, aber schon jetzt ahnte er, dass er seine Frau wieder einmal enttäuschen musste. Er schob sie sanft ein Stück zur Seite.

»Tut mir leid. Sie hatten wirklich versprochen, nicht anzurufen. Vielleicht kann ich die Sache an jemand anderen weitergeben.«

Brander ging zum Telefon und wählte die Nummer seiner Dienststelle.

»Brander hier. Ich war nicht schnell genug am Telefon«, log er.

Konzentriert lauschte er dem anderen Ende der Leitung. Sein Blick war auf die Wand vor ihm geheftet, auf die er mit der freien Hand unbestimmte Muster zeichnete. Auf der Stirn bildeten sich kleine Falten. Hin und wieder unterbrach er die Stimme am anderen Ende mit einem kurzen »Ja« oder »Okay«. Schließlich fragte er mit einem frustrierten Seufzer nach dem »Wo?«. Der gemeinsame Abend mit Cecilia war definitiv vorbei. Er legte auf und sah sie an, wie er sie schon so oft bedauernd angesehen hatte. »Ich muss noch mal kurz weg. Ein schlimmer Unfall auf der Landstraße nach Reusten. Ein Toter.«

»Ein Unfall? Ist das neuerdings Sache der Kripo?«

Eine durchaus berechtigte Frage.

»Die SchuPo hat uns angefordert. Der Tote hat Stichverletzungen…« Brander kratzte sich am Kopf. War es wirklich notwendig, dass er rausfuhr? »Süße, ich mach es wieder gut.« Mit schlechtem Gewissen verließ er das Zimmer, um sich Jeans und Pullover anzuziehen. Cecilia kam in den Flur, als er seine Regenjacke von der Garderobe nahm. Er sah die Enttäuschung in ihren Augen und auch den stillen Vorwurf »Warum immer du?«. Sie fragte jedoch nur, ob es spät werden würde.

»Ich glaube nicht. Ich ruf dich an, wenn ich mehr weiß.« Er zog sie an sich und gab ihr einen Kuss. »Bin gleich wieder da.«

In der Garage stand sein vierzehn Jahre alter Peugeot. Er hätte sich mittlerweile ein besseres Auto leisten können. Doch er hing an dem Wagen. Mit ihm waren sie damals auf Hochzeitsreise gefahren– nach England, drei Wochen Regen und Linksverkehr. Das hatte sie zusammengeschweißt, alle drei, Cecilia, Brander und den Peugeot. Eine kleine Sentimentalität, die von seinen Freunden und Kollegen mit wohlgemeintem Spott bedacht und von seinem Auto mit treuen Diensten belohnt wurde. Er setzte rückwärts auf die Straße. Vor fünf Jahren hatten sie die alte Doppelhaushälfte gekauft. Cecilia hatte einige Jahre zuvor mit zwei Kollegen eine Gemeinschaftspraxis für Psychotherapie in Tübingen eröffnet. Als sich die Praxis erfolgreich in der Olgastraße etabliert hatte, hatte Brander seine Versetzung von der Landeshauptstadt Stuttgart in die altehrwürdige Universitätsstadt Tübingen beantragt. Durch Zufall waren sie bei einer Radtour auf dieses Haus in Entringen gestoßen, einem Ort mit knapp dreitausendfünfhundertEinwohnern, der zur Ortsgemeinschaft Ammerbuch gehörte und nur wenige Kilometer von Tübingen entfernt war.

Nie hätte er gedacht, dass er sich in so einem kleinen Ort wohlfühlen könnte. Ein Ort, in dem man die Leute kannte, die man morgens beim Bäcker traf, und in dem sogar Nicht-Schwaben sich in ihrer Freizeit als Obstbauern versuchten. Aber sie hatten sich schnell eingelebt und über den Sportverein gleich ein paar neue Bekanntschaften geschlossen, obwohl Brander nur sehr unregelmäßig ins Training ging. Die Entringer waren gesellig, engagierten sich im Sport- oder Musikverein oder in der Kirche, organisierten Achtzigerjahre Partys und Straßenfeste. Dieses aktive Gemeindeleben gefiel Brander. Dazu kam die herrliche Kulisse des Schönbuchs zur einen Seite und das Ammertal zur anderen. Und wenn es ihnen doch einmal zu ländlich wurde, waren sie in wenigen Minuten in Tübingen, um ins Kino oder Theater zu gehen und sich vom Charme der historischen Altstadt verzaubern zu lassen.

Der Unfallort war keine zehn Minuten Autofahrt von seinem Haus entfernt. Vielleicht war es nur eine Bagatelle, die rasch erledigt war, hoffte Brander, während er den Herdweg entlangfuhr. Am Ende bog er auf die B28, die Entringen längs durchschnitt, und fuhr Richtung Herrenberg. Kurz nach dem Ortsausgangsschild bog er links auf die schmale Kreisstraße, die sich am Hartwald vorbei nach Reusten schlängelte. Schon von Weitem sah er die Strahler, die die Kollegen aufgestellt hatten, um den Unfallort auszuleuchten. Branders Hoffnungen auf einen Bagatellfall schwanden, als er kurz hinter dem kleinen Bahnübergang der Ammertalbahn die Straßensperre erreichte und durch die Scheibe das geschäftige Treiben der Beamten sah. Als hätte sich auch das Wetter gegen ihn verschworen, ging der beständige Nieselregen kurzzeitig in einen heftigen Schauer über. Brander fluchte und stieg aus dem Wagen. Polizeihauptmeister Schäffler begrüßte ihn.

»Was ist passiert?«, fragte Brander und zog den Kragen seiner Jacke dichter um den Nacken.

»Wir wurden vor etwa einer Stunde gerufen, von dem jungen Mann dort. Martin Uhl.« Schäffler wies auf einen dunkelhaarigen Mann, der für das ungemütliche Wetter viel zu leicht bekleidet schien. Er stand neben einem Rettungswagen, in den die Rettungsassistenten soeben eine Trage mit einer Frau schoben. »Die Frau auf der Trage heißt Julie Badura. Sie ist Uhls Freundin und hat ihn von ihrem Handy aus zu Hause angerufen. Sie leben gemeinsam in Entringen. Sie konnte ihm noch mitteilen, wo sie ist. Was dann passierte, wissen wir nicht. Sie saß im Auto, als wir eintrafen, und ist nicht ansprechbar, vermutlich schwerer Schock. Der Wagen war von innen verschlossen. Wir mussten die Beifahrertür aufbrechen, um sie aus dem Auto zu holen. Der Notarzt hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.«

Der Polizeihauptmeister deutete mit dem Kopf zu einer anderen Stelle. Erst jetzt erblickte Brander hinter zwei Kollegen eine Person, die am Boden lag.

»Ich dachte erst, die Frau hätte ihn angefahren, aber dann entdeckte ich einige Stichverletzungen am Körper des Mannes. Der Notarzt traf kurz nach uns ein und konnte nur noch seinen Tod feststellen. Ich hab alles absperren lassen und die Zentrale informiert.«

Brander nickte und ließ seinen Blick über die Unfallstelle gleiten. Eine eigentümliche Stimmung herrschte um ihn herum. Er sah die Kollegen, die sich mit eingezogenen Köpfen durch einen Regenschleier bewegten, Geräusche und Stimmen drangen gedämpft an seine Ohren, und die Strahler tauchten das Bild in ein gespenstisches Licht. Neben der Leiche knieten zwei Personen, und Brander erkannte in einer von ihnen die hagere Gestalt von Manfred Tropper, ein Kollege von der Spurensicherung.

»Wer hat die Spurensicherung informiert?«

Schäffler zuckte die Achseln. »Ich dachte, die Zentrale hätte es gleich weitergegeben.«

Brander nickte verstimmt. Es wäre seine Aufgabe gewesen, die Spurensicherung zu informieren. Er würde mit Sabrina reden müssen. So sehr er Eigeninitiative schätzte, es gab Juristen, die nur darauf warteten, sich auf einen Formfehler stürzen zu können. »Wissen wir schon, wer der Tote ist?«

»Ein Jogger, vermutlich hier aus der Gegend. Er hatte keine Papiere bei sich. Wir haben ein Taschentuch und einen Schlüssel in seinen Taschen gefunden, sonst nichts.«

»Danke, Schäffler.« Brander ging zu dem Polo, neben dem der Tote lag. Tropper hob den Blick, als er Branders Beine neben sich bemerkte.

»Hallo, Andi, ich dachte, du hättest frei über Ostern.«

»So kann man sich irren. Und was zur Hölle machst du schon wieder hier? Ich hab die Spurensicherung nicht informiert.« Es war nicht das erste Mal, dass Tropper vor ihm an einem Tatort eintraf.

»Ich hab ein bisschen Polizeifunk gehört«, flachste Tropper.

»Schaff dir endlich mal wieder eine Freundin an.«

»Soll ich wieder gehen?«

»Ja, geh und warte darauf, dass ich offiziell die Spurensicherung anfordere.«

Er wusste, dass ihm Tropper seine griesgrämige Äußerung nicht übel nahm. Sie kannten sich schon einige Jahre, hatten an mehreren Fällen gemeinsam gearbeitet und sich im Laufe der Zeit auch privat angefreundet. Letzteres war auf den Umstand zurückzuführen, dass sie beide eine Leidenschaft für schottischen Whisky hegten.

»Kannst du mir schon etwas sagen?«

Tropper stand auf, streckte seine vom langen Knien schmerzenden Glieder. »Der Tote hat etliche Stichverletzungen und viel Blut verloren. Mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit wurde er nicht überfahren. Ich konnte zumindest auf die Schnelle keine Spuren entdecken, die darauf hindeuten. Ich vermute, dass das Opfer bereits auf der Straße lag und die Fahrerin deswegen gebremst hat. Ziemlich heftig sogar, dabei kam der Wagen von der Straße ab.« Tropper zeigte auf die Fahrertür des Polos. Im Licht der aufgestellten Strahler waren am Fenster blutige Fingerabdrücke zu erkennen. »Den Blutspuren zufolge könnte das Opfer versucht haben, sich an der Autotür hochzuziehen, ist aber wieder abgerutscht. Wie gesagt, das sind nur erste Vermutungen. Was vielleicht auch interessant sein dürfte, sind seine total verdreckten Hosen.« Tropper sah zum Himmel, blinzelte, als ihm ein Tropfen direkt ins Auge fiel. Der Regen war wieder stärker geworden.

»Ein beschissenes Mistwetter ist das. Ich habe schon Abdeckungen angefordert. Uns gehen zu viele Spuren verloren.«

Brander nickte. Sein Blick wanderte auf den vor ihnen liegenden Toten hinunter. Es war ein grausiger Anblick, eine Mischung aus Schmutz, Blut, Regenwasser und mittendrin ein Mensch. Das leblose Gesicht zur Seite gewandt, einen Arm kraftlos nach vorne gestreckt. Auf Branders Oberarmen breitete sich eine Gänsehaut aus. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und er schüttelte sich.

»Ich habe noch eine Vermutung«, fuhr Tropper fort und hatte wieder Branders Aufmerksamkeit. »Ich glaube nicht, dass das hier der Tatort ist.«

»Warum?«

»Schau dich mal um. Hier vorne ist eine größere Blutlache.« Tropper deutete auf einen dunklen Fleck, einen halben Meter vom Opfer entfernt. »Und siehst du, da zieht sich eine Spur. Vielleicht hat sich das Opfer da entlanggeschleppt. Ich weiß es nicht. Das könnte auf jeden Fall eine Erklärung für die verdreckte Kleidung sein.« Es folgte ein erneuter Blick zum Himmel. »Verfluchter Regen.«

Brander ging von der Leiche in Richtung des dunklen Flecks und blickte weiter Richtung Wald. »Ich brauche eine Taschenlampe.«

Einer der umstehenden Polizisten reichte ihm seine Lampe. Brander leuchtete die Fahrbahn weiter bis zum Straßenrand, folgte der Spur aus Blut und Schlamm, die sich bis zum Grünstreifen zog.

»Du könntest recht haben, Freddy. Entweder der Regen verwischt das Blut, sodass es Richtung Straßenrand läuft, oder das Opfer kam aus dem Wald.«

»Genau das ist meine Vermutung. Aber der Scheißregen macht uns sämtliche Spuren kaputt, verdammte Scheiße«, fluchte Tropper.

Brander sah seinen Kollegen an. »Was ist los? Vor fünf Minuten hattest du noch bessere Laune. Es soll heute noch die ganze Nacht regnen. Wir müssen der Spur schnell folgen.«

Tropper schüttelte den Kopf. »Andi, es ist dunkel, es regnet schon seit Stunden. Was sag ich, seit Tagen! Alles ist matschig und schlammig. Wie willst du da etwas finden? Mit bloßem Auge siehst du da gar nichts.«

»Ein Hund?«, überlegte Brander.

»Einen Versuch wäre es wert.« Troppers Gesicht entspannte sich wieder ein wenig.

»Schäffler, kannst du uns einen Hund besorgen?«

Schäffler nickte und machte sich auf den Weg, die Hundestaffel zu alarmieren.

Die Türen des Rettungswagens wurden geschlossen. Brander lief eilig herüber.

»Brander, Kripo Tübingen«, stellte er sich vor. Der junge Mann, der gerade auf den Beifahrersitz des Rettungswagens steigen wollte, sah ihn fragend an.

»Herr…?« Schäffler hatte ihm den Namen gesagt, aber Brander hatte ihn sich nicht gemerkt.

»Martin Uhl«, half ihm sein Gegenüber ungeduldig. »Ich bin der Lebensgefährte von Frau Badura.«

Brander kramte in seinen Taschen nach einem Notizblock und einem Kugelschreiber. »Wie kritisch ist der Zustand von Frau Badura?«, wandte er sich an den Rettungsassistenten im Krankenwagen, während er noch immer suchte.

»Da müssen Sie den Arzt fragen. Aber der ist bereits unterwegs zum nächsten Einsatz. So wie es aussieht, erfahren Sie von der Frau im Moment gar nichts.«

Brander verzog genervt das Gesicht. Schließlich fand er seinen Notizblock. Einem unbekannten Gesetz folgend, befand er sich immer in der Tasche, die er als Letzte durchsuchte.

»Herr… äh…«

»Uhl«, wiederholte sein Gegenüber noch gereizter als zuvor.

»Herr Uhl. Sie haben die Polizei alarmiert?«

»Ja, aber das habe ich doch Ihrem Kollegen gerade eben schon alles erzählt. Muss das jetzt noch einmal sein?« Er warf einen nervösen Blick auf den Rettungswagen. »Hören Sie, ich war nicht dabei. Ich war zu Hause. Meine Freundin hat mich angerufen. Sie hat mir gesagt, wo sie ist, und das war es. Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist. Ich weiß nicht, was mit dem Mann passiert ist. Ich weiß nicht, was hier überhaupt passiert ist. Ich will jetzt mit ihr ins Krankenhaus fahren! Sie braucht mich jetzt.«

Er betrachtete Martin Uhl. Seine Kleidung war vom Regen durchnässt, auf der Hose waren einige Schlammspritzer, auch die dünne Jacke hatte einige dunkle Flecken. Er zitterte vor Kälte. Brander steckte den Notizblock wieder zurück in die Tasche seiner Regenjacke.

»Wir haben Ihre Personalien. Fahren Sie mit Ihrer Freundin ins Krankenhaus. Wir melden uns bei Ihnen.«

Während der Mann in den Wagen stieg, fiel Brander noch etwas ein. »Ach, Herr Uhl?«

Uhl atmete hörbar laut aus.

»Wie sind Sie eigentlich hierhergekommen?«

»Mit dem Rad. Es steht dort drüben am Baum.«

Brander nahm sein Handy, um den längst überfälligen Anruf beim Staatsanwalt zu tätigen. Er wusste, dass Klaus Lehmann an diesem Wochenende Dienst hatte, und er verspürte wenig Lust, diesen kleinkarierten Paragrafenreiter zu informieren. Lehmann würde in zwei Jahren in Pension gehen und schien sich mit stets korrekter Kleidung – Brander hatte ihn noch nie ohne Anzug und Krawatte gesehen– und steifer Haltung das Ziel gesetzt zu haben, bis zum letzten Tag dem Bild des biederen deutschen Beamten entsprechen zu wollen. Die Verbindung war kaum zustande gekommen, als der Staatsanwalt auch schon am Apparat war. Wahrscheinlich sitzt er den ganzen Tag mit dem Telefon in der Hand an seinem Schreibtisch und wartet auf einen Anruf, dachte Brander gehässig und erklärte dem Staatsanwalt in Stichworten, was er bisher wusste.

»Brauchen Sie mich vor Ort?«

Alles, nur das nicht, betete Brander und sagte: »Nein.«

»Ich erwarte morgen früh Ihren Bericht.«

»Die Hunde sind da«, rief Schäffler und zeigte auf einen Kombi, neben dem zwei grün gekleidete Menschen standen: dunkelgrüne Regenjacken und Regenhosen, die in ebenso dunkelgrünen Gummistiefeln steckten, dazu grüne Mützen.

»Kaminski«, stellte sich die Frau vor und reichte Brander mit festem Griff die Hand zur Begrüßung. Sie stellte ihren Kollegen vor und öffnete die Heckklappe ihres Wagens, hinter der ihnen ein Schäferhund und eine undefinierbare zottelige Mischung aufgeregt entgegenhechelten.

»Susi und Max.«

Bei der Erwähnung ihrer Namen spitzten die Hunde die Ohren und stellten für einen Moment das Hecheln ein. »Warten!«, sagte Frau Kaminski und schloss die Klappe wieder.

Brander erklärte den Hundeführern sein Anliegen, dann rief er Tropper hinzu.

»Wir haben versucht, die Spur in den Wald zu verfolgen«, erklärte dieser, »aber es ist zu dunkel, man kann kaum etwas erkennen. Wir vermuten, dass sich das Opfer nicht auf dem Hauptweg zur Straße geschleppt hat. Eher mitten durch das Unterholz. Es ist auch schwer zu sagen, wie weit er sich mit den Verletzungen noch schleppen konnte.«

»Ich verstehe Sie richtig, wir sollen eine Spur zurückverfolgen?« Frau Kaminski zog die Stirn zweifelnd in Falten. »Das wird keine leichte Aufgabe.«

»Bringen Sie uns auf den richtigen Weg, damit wäre uns schon sehr geholfen«, versuchte Brander ihre Bedenken zu mildern.

»Wo ist der Tote?«

Brander führte sie zu der Leiche, und Tropper leuchtete mit der Taschenlampe in das fahle Gesicht mit den erschlafften Zügen. Die Hundeführerin schreckte zurück und wandte den Blick ab.

Brander räusperte sich. »Kein schöner Anblick«, sagte er mitfühlend.

»Ja… es ist nur…« Zögernd warf sie einen zweiten Blick auf den Toten. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Das kann unmöglich…«

Branders Mitgefühl wurde von einem kräftigen Adrenalinschub verscheucht. »Sie kennen den Mann?«

»Ich…« Die Hundeführerin zog abschätzend die Lippen zusammen, während sie den Toten betrachtete. »Er sieht aus wie Richard.«

»Richard? Welcher Richard?«, fragte Brander ungeduldig und beglückwünschte sich zu dem Entschluss, die Hundestaffel alarmiert zu haben.

»Richard Eppler. Er lebt in Pfäffingen, genau wie ich.« Sie überlegte. »Ich glaube, irgendwo in der Siedlung am Bahnhof. Er läuft viel, sehr, sehr viel. Und da ich mit den Hunden oft draußen bin, kennt man sich halt.« Sie schüttelte nochmals den Kopf und wandte sich ab. »Wir sollten mit der Suche beginnen.«

Brander blickte in die dem Wald entgegengesetzte Richtung. Die Wolken verdeckten Mond und Sterne, und lediglich der beleuchtete Tatort spendete etwas Licht. Die Felder und Wiesen ließen sich nur schemenhaft erahnen. Er kannte die Gegend, wusste, dass dort zwischen den Feldern der Segelflugplatz des Flugsportvereins lag und etwa fünfhundert Meter nordöstlich des Hartwaldes die Eisenbahnstrecke der Ammertalbahn verlief. Es gab einige Landwirtschaftswege, die bei schönem Wetter gerne von Spaziergängern, Freizeitsportlern und Reitern benutzt wurden. An klaren Tagen hatte man eine herrliche Aussicht über die Landschaft, bis hin zur Sankt-Remigius-Kapelle, die sich auf einem Hügel über die Umgebung erhob. Über die Feld- und Landwirtschaftswege waren es nur wenige Kilometer bis Pfäffingen. Es war gut möglich, dass ihr Opfer von dort zum Hartwald gelaufen war, bevor es auf seinen Mörder traf. Brander riss sich aus seinen Gedanken und suchte Manfred Tropper.

»Was meinst du, Freddy, finden sie den Tatort?«

»Schwer zu sagen. Es sind nicht die besten Bedingungen. Vielleicht wären Bluthunde besser gewesen.« Tropper zwinkerte ihm zu.

»Haha.« Brander verdrehte die Augen. »Wir müssen herausfinden, ob es sich bei unserem Toten tatsächlich um diesen Richard Eppler handelt.«

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, fast zweiundzwanzig Uhr. Er rief Cecilia an, sah ihr trauriges Gesicht vor sich. Sie hatten sich beide auf ein paar gemeinsame Tage gefreut. Aber sein freies Wochenende war definitiv vorbei.

***

Richard Eppler war in einer kleinen Reihenhaussiedlung in Pfäffingen gemeldet. Die Kollegen der Polizeiinspektion hatten auf Betreiben von Brander versucht, ihn telefonisch zu erreichen, und eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Eine Streife wurde nach Pfäffingen geschickt, aber auch auf mehrmaliges Läuten an der Haustür öffnete niemand. Die Rollläden seines Hauses waren nicht heruntergelassen, und es brannte kein Licht.

Diese Informationen bekam Brander gegen dreiundzwanzig Uhr, während er zum Schutz vor den wiederkehrenden Schauern in einem Einsatzwagen saß. Er hatte seinen Notizblock vor sich und zeichnete eine Skizze der Szenerie, die sich ihm am Unfallort geboten hatte. Eine Methode, die er sich angewöhnt hatte und die ihm half, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Schließlich funkte er Sabrina in der Zentrale an.

»Kannst du jemanden ins Krankenhaus schicken, der sich um Julie Badura kümmert? Sie ist vermutlich unsere einzige Zeugin.«

»Wen willst du haben?«

Er dachte einen Augenblick nach. »Schick Anne Dobler, die hatte die letzten zwei Tage frei und brennt sicher auf Arbeit. Und ruf auch noch Hendrik und Jens an. Ich brauche sie morgen früh zur Besprechung.«

»Und Peppi?«

Seine frisch verliebte Kollegin Peppi. Er schnalzte mit der Zunge. »Das erledige ich.«

Die Suche mit den Hunden dauerte fast zwei Stunden, aber schließlich waren sich die Hundeführer und die Kollegen von der Spurensicherung einig, den Tatort eingrenzen zu können. Susi und Max hatten ihre Aufgabe gemeistert und lagen hechelnd und zufrieden in dem trockenen Heck des Kombis, dessen Scheiben von der Feuchtigkeit ihres Fells beschlugen.

Der Tatort war nur knappe hundertfünfzig Meter von der Straße entfernt. Die Absperrung wurde erweitert. Brander folgte den Kollegen von der Spurensicherung, um sich ein Bild vom Ort des Geschehens zu machen, konnte aber in der Dunkelheit nur wenig erkennen.

»Wer auch immer es war, er hat sich einen verdammt guten Tag ausgesucht, um wenig Spuren zu hinterlassen. Kann mal jemand diesen verdammten Regen abstellen?«, schimpfte Tropper. »Das muss hier alles abgedeckt werden, sonst können wir da bald gar nichts mehr finden. Und lauf nicht so achtlos daher!«, schrie er einen Polizisten an, der ein paar Schritte von ihm entfernt ging. Er hatte nun vollends schlechte Laune. »Wir brauchen mehr Abdeckung. THW oder Feuerwehr. Das hat sonst keinen Zweck. Verdammter Scheißregen.«

Brander grinste ihn von der Seite an. »Na, so kenn ich dich ja gar nicht. Wo bleibt denn dein Humor?«

»Ist doch wahr. Ich hol mir hier draußen den Tod bei dem Sauwetter«, brummte Tropper. Die Nässe hatte längst einen Weg durch den Plastikanzug in seine Kleidung gefunden, und es war abzusehen, dass er noch einige Stunden länger im Regen beschäftigt sein würde.

»Ein Toter reicht uns. Und du bist doch ein zäher Bursche.« Brander stieß Tropper kumpelhaft in die Seite und überließ ihn seiner Arbeit. Während er zur Straße zurückging, hörte er noch, wie Tropper einen Kollegen beauftragte, für mehr Licht und heißen Kaffee zu sorgen. Es waren wirklich nicht die besten Bedingungen für den Beginn der Ermittlungen.

Als er auf die Straße trat, wurde die Leiche für den Abtransport vorbereitet.

»Der Tote hatte einen Schlüssel bei sich. Wo ist der?«, wandte sich Brander an Polizeihauptmeister Schäffler.

»In Troppers Wagen.«

Brander nahm die Plastiktüte mit dem Schlüssel an sich. »Sag Freddy, dass ich den Schlüssel des Toten mitgenommen habe. Ich fahre zu der Wohnung von diesem Richard Eppler. Wenn der Schlüssel passt, wissen wir wenigstens, wer der Tote ist.«

»Meinst du, dass er es ist?«

Brander zuckte wortlos mit den Schultern und ging zu seinem Wagen.

Er fuhr dieselbe Strecke zurück, die er gekommen war, doch statt in Entringen von der B28 in das Wohngebiet abzubiegen – der Gedanke tauchte kurz in seinem Kopf auf, er hätte Cecilia wenigstens einen Gutenachtkuss geben können–, durchquerte er den Ort und fuhr die wenigen Kilometer weiter nach Pfäffingen. Er bog rechts ab, überquerte den Bahnübergang und fuhr Richtung Bahnhof. Die Adresse, die Sabrina ihm aus der Zentrale durchgegeben hatte, war nicht schwer zu finden. Er parkte seinen Wagen hinter einem Streifenwagen, stieg aus und sah sich auf der unbeleuchteten Straße um. Das Quietschen einer Gartenpforte machte ihn auf zwei Polizisten aufmerksam.

»Ich suche die Wohnung von Richard Eppler«, erklärte er den jungen Kollegen, nachdem er sich vorgestellt hatte.

»Das ist gleich hier vorne«, sagte einer der Beamten und wies auf ein Reihenhaus. »Aber es scheint niemand zu Hause zu sein. Wir sind jetzt zum zweiten Mal hier, um es zu versuchen.«

»Wir haben gerade mit einem Mann gesprochen, der ein paar Häuser weiter wohnt. Der war mit seinem Hund Gassi.« Der andere Beamte deutete auf das Haus, von dem sie gekommen waren. »Aber er konnte nicht viel über Eppler sagen. Er hat gesehen, dass Eppler morgens seine Treppe gefegt hat und nachmittags joggen gegangen ist.«

Eppler war joggen gegangen. Brander sah das Bild des toten Joggers vor sich. »Hat er ihn auch zurückkommen sehen?«

»Er konnte sich nicht erinnern.«

»Wir haben einen Schlüssel bei dem Toten gefunden. Ich will ausprobieren, ob er zu Epplers Wohnung passt.«

Die beiden Beamten folgten Brander zu dem schmalen Reihenhaus mit kleinem Vorgarten, der aus einem handtuchgroßen gepflegten Rasenstück und einigen akkurat geschnittenen Sträuchern bestand. Zwei Stufen führten zu einer schlichten Eingangstür. Brander klingelte und lauschte in die Stille auf der anderen Seite. Er versuchte es ein zweites Mal. Drinnen blieb alles still. Er hatte nichts anderes erwartet.

»Taschenlampe?«

Einer der Beamten reichte ihm eine kleine Stablampe. Er holte die Plastiktüte mit dem Schlüssel aus seiner Jackentasche und bemerkte, dass er keine Schutzhandschuhe bei sich hatte. Vorsichtig öffnete er die kleine Tüte und zog das Plastik zurück, sodass er den Schlüssel nicht berühren musste. Als er den Schlüssel in das Türschloss steckte und umdrehte, fiel ihm auf, dass er gespannt den Atem anhielt. Er entließ die Luft aus seinen Lungen und drückte die Tür auf.

»Alarm, Alarm!«, kreischte ihnen eine schrille, helle Stimme aus der Wohnung entgegen. Brander wich erschrocken einen Schritt zurück und stieß dabei gegen die zwei Beamten, die dicht hinter ihm gestanden hatten. Ein Kollege stolperte die Treppe hinunter. Die Tür fiel wieder ins Schloss.

»Was war das denn?« Brander kratzte sich verlegen am Kopf und warf verstohlen einen Blick in die Umgebung. Hoffentlich hatte niemand diese Aktion beobachtet.

»Vielleicht ein Trick, um Einbrecher fernzuhalten?«

Der Schlüssel, den sie bei dem Toten gefunden hatten, passte zu diesem Haus. Die Hundeführerin hatte sich nicht geirrt. Brander öffnete ein zweites Mal die Tür. Wieder ertönte ein »Alarm, Alarm!« aus dem Inneren der Wohnung. Er stieß die Tür ein Stück weiter auf und leuchtete mit der Taschenlampe in den Flur. An der rechten Seite, nicht weit vom Eingang entfernt, stand ein Käfig, in dem ein großer schwarzer Vogel mit orange-gelbem Schnabel saß. »Alarm, Alarm!«, schrie er erneut.

»Ein Papagei«, stellte Brander fest. Er suchte nach einem Lichtschalter und schaltete das Licht im Flur ein.

»Nein, nein, das ist ein Beo«, belehrte ihn einer der beiden Kollegen. »Beos sind keine Papageien, sondern gehören zu den Staren. Ich habe da mal einen Bericht im Fernsehen gesehen. Das sind ganz begabte Vögel. Die plappern alles nach, was sie hören. Können prima Geräusche imitieren und werden bis zu fünfzehn Jahre alt. Ursprünglich kommen sie aus Indien, Südwestindien, Himalajageb…«

Mit einem unmissverständlichen Blick bereitete Brander dem ornithologischen Vortrag des jungen Kollegen ein Ende. Sie betraten den kleinen Flur und betrachteten das Tier, das neugierig zurückstarrte. Auf einem Schränkchen gegenüber dem Käfig lag eine Brieftasche. Brander öffnete sie. »Eppler, Richard Ludwig« stand neben dem Foto im Personalausweis. Er betrachtete das Passbild, versuchte, sich an das Gesicht des Toten zu erinnern.

»Schwer zu sagen, aber er könnte es sein.«

Vom Flur aus führte eine Tür in ein geräumiges Wohnzimmer mit offenem Zugang zur Küche. Alles war aufgeräumt. Kein Glas, keine Tasse stand herum, die Kissen auf dem Sofa waren nicht zerdrückt. Zwei Zeitungen lagen akkurat übereinander auf dem Wohnzimmertisch.

Brander ließ die beiden Polizisten in den unteren Räumen zurück und ging die schmale Treppe hinauf in die obere Etage. Dort befanden sich drei Türen. Die erste Tür führte ins Schlafzimmer. Er warf einen kurzen Blick in den Raum. In der Mitte stand ein Ehebett, die Decken waren aufgeschlagen, jedoch schien es nicht benutzt worden zu sein. Der geräumige Kleiderschrank war geschlossen. Es lagen keine Kleidungsstücke im Raum herum. Nichts deutete darauf hin, dass in diesem Raum ein Mensch lebte und schlief, stellte Brander verwundert fest. Er öffnete den Kleiderschrank, um sich zu vergewissern, dass er sich irrte. Hosen und Hemden waren ordentlich auf Bügel gehängt, T-Shirts und Pullover in die Regale geräumt.

Hinter der zweiten Tür befand sich das Badezimmer. Auch hier herrschte peinlichste Ordnung. Das Waschbecken war sauber, keine Kalkflecken auf dem Badezimmerspiegel. Die Handtücher hingen an den dafür vorgesehenen Halterungen. Ein Zahnputzbecher, eine Zahnbürste. Eppler hatte zwar ein Doppelbett, aber er lebte offensichtlich allein. Wenn er hier überhaupt lebte– alles wirkte so steril, so ordentlich konnte ein Mensch doch gar nicht sein.

Brander öffnete die dritte Tür. Ein Arbeitszimmer. Er schaltete das Licht ein. Auf der gegenüberliegenden Seite war ein Fenster, das zur Straße lag, davor stand ein großer Schreibtisch mit einem Flachbildschirm und einem zugeklappten Laptop darauf. Zwei weitere Computer befanden sich unter dem Schreibtisch. Er setzte sich an den Schreibtisch, blätterte durch den Papierstapel, der ebenso akkurat abgelegt war wie im Wohnzimmer die Zeitungen. Zahlen, Zeichnungen, einzelne Worte. Computerlatein. Lediglich dass die Zettel von Hand beschrieben worden waren, deutete darauf hin, dass hier tatsächlich ein Mensch gearbeitet hatte.

Während er die Seiten durchblätterte, spielte er gedankenverloren mit einem Kuli. Das Firmenlogo auf dem Werbeartikel war nur noch schwer zu erkennen: »Digital Solu…s«. Im Spiegelbild des Fensters sah er sich am Schreibtisch sitzen, und ihn beschlich das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden. Er versuchte, aus dem Fenster auf die nächtliche Straße zu sehen, erblickte aber nur die Reflexion seiner Person und des Raumes. Er stand auf, schaltete das Licht aus und kehrte zum Fenster zurück. Die Straße lag leer vor ihm, nicht einmal eine Katze streunte durch die Dunkelheit, und auch der Regen schien für einen Moment eine Pause eingelegt zu haben. Es war das Stillleben einer Nacht.

Er schaltete das Licht wieder ein und sah sich weiter um. An einer Seite befand sich ein Regal mit Büchern und Aktenordnern. In den oberen Reihen stand eine ganze Serie von Computerbüchern, darunter waren zwei Reihen mit Büchern und Zeitschriften zum Thema Sport: Laufen, Schwimmen, Radfahren und einige ernährungswissenschaftliche Bücher. Ganz unten im Regal standen mehrere Aktenordner mit persönlichen Unterlagen. »Versicherungen«, »Verträge und Garantien« las er auf den Aktenrücken.

An der Rückseite des Zimmers und der Wand zu seiner Linken hingen unzählige eingerahmte Urkunden: Berlin Marathon, Hamburg Marathon, Opel-Ironman Triathlon, Rennsteig-Lauf Thüringen, Ironman Hawaii. Er nickte anerkennend und wandte sich wieder dem Schreibtisch zu. Die Schreibtischschubladen waren abgeschlossen. Er sah sich nach einem Schlüssel um, fand ihn aber nicht.

»Der Eppler scheint ein Ordnungsfetischist zu sein.« Einer der Beamten war in die obere Etage gekommen.

»Ja, es ist alles sehr aufgeräumt. Schon fast zu ordentlich. Wir brauchen ein Foto von Eppler.«

»Unten im Wohnzimmer stehen ein paar Bilder.«

Sie gingen hinunter und verglichen die Bilder mit dem Foto in Epplers Personalausweis. Ein Bild zeigte ihn mit einer Frau im gleichen Alter.

»Könnte seine Schwester sein oder eine Freundin«, überlegte Brander und nahm das Bild an sich. »Ich bin mir sicher, dass unser Toter Richard Eppler ist. Die Spurensicherung muss sich hier mal genauer umschauen.« Er zog sein Handy aus der Jackentasche und rief die Dienststelle an, um einen richterlichen Beschluss für eine Hausdurchsuchung zu bekommen.

»Ich dachte, Sie hätten bereits…«

»Ja, ja«, unterbrach Brander den Kollegen und steckte das Handy wieder in die Tasche.

»Sie hatten gar keine Genehmigung…«, bemerkte jetzt auch der zweite Beamte.

Brander murmelte etwas von »…in Verzug« und ging zur Haustür. Sie hatten gerade die Wohnung verlassen, als ein Auto die Auffahrt zu Epplers Nachbarhaus hinauffuhr. Eine Frau stieg aus, ging schnell zu ihrer Haustür und blickte dabei misstrauisch auf die Polizisten im Vorgarten von Richard Eppler.

»Guten Abend. Warten Sie bitte einen Augenblick!«, rief Brander ihr zu.

Sie blieb vor ihrer Haustür stehen, spielte nervös mit den Schlüsseln in ihrer Hand. Brander stieg über einen niedrigen Zaun in den angrenzenden Vorgarten.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie hier mitten in der Nacht überfalle. Brander, Kripo Tübingen.« Er zeigte ihr seinen Ausweis. Sie warf einen flüchtigen Blick darauf, den Türgriff in der Hand.

»Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?«

»Ist etwas passiert?«

Obwohl sie nicht direkt in seine Richtung sprach, roch Brander die Alkoholfahne.

»Ich müsste Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Sie trat plötzlich unruhig von einem Bein auf das andere. »Ja, ich muss nur kurz zur Toilette. Kommen Sie rein.«

Die Frau führte ihn in die Küche und ließ ihn einige Minuten allein. Brander blieb im Raum stehen. An einer Seite befand sich eine Küchenzeile mit Hängeschränken, vor dem Fenster war die Spüle, in der ein Teller und zwei schmutzige Tassen lagen, einer mit dem Abdruck von rotem Lippenstift. An der Wand stand ein kleiner Tisch mit zwei wackeligen Stühlen. Auf dem Tisch lag eine aufgeschlagene Frauenzeitschrift. Nach der Sterilität in Epplers Wohnung atmete Brander erleichtert auf. Die Frau kehrte in die Küche zurück, und Brander bemerkte, dass sie sich die Zähne geputzt hatte. Sie setzten sich an den Tisch, und Brander zog seinen Notizblock aus der Tasche seiner Regenjacke. Er schätzte die Frau auf Anfang dreißig. Sie hatte kurze, stark blondierte Haare, ihr Make-up war etwas verwischt, wahrscheinlich hatte sie geschwitzt. Sie war nicht besonders groß, hatte eine kräftige Statur. An den Fingern trug sie mehrere Ringe mit großen Steinen.

»Wie heißen Sie?«

»Irene Staudinger.« Sie bemühte sich noch immer, nicht in seine Richtung zu sprechen.

»Sie wohnen allein?«

Ihre Antwort kam zögernd. »Ja… das heißt… manchmal vermiete ich ein Zimmer an Studenten. Aber zurzeit wohne ich allein.«

»Kennen Sie Ihren Nachbarn Richard Eppler?«

»Richard? Natürlich.« Der Ansatz eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht.

»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

Sie zögerte wieder, sah nachdenklich zum Fenster. »Heute Nachmittag. Es muss so gegen sechzehn Uhr gewesen sein. Ich kam gerade vom Einkaufen, und er ging zum Joggen. Warum fragen Sie? Ist etwas passiert?«

»War er allein?«

»Ja, er läuft oft allein.«

»Sie haben nicht gesehen, dass Herr Eppler vom Joggen wieder nach Hause kam?«

»Nein. Ich war schon um achtzehn Uhr in Tübingen verabredet. Als ich fuhr, war er noch nicht zurück.«

»Wissen Sie, ob Herr Eppler allein lebt?«

Brander bemerkte ein leichtes Flackern in ihren Augen. Sie stand auf, ging zur Spüle, drehte sich zu ihm. »Ja«, sagte sie, kam zurück und setzte sich, leicht erblasst, wieder an den Tisch. »Er lebt allein. Ist denn was passiert?«

»Frau Staudinger, in welcher Beziehung stehen Sie zu Herrn Eppler?« Warum reagierte sie so unruhig auf seine Fragen?

Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch, verdeckte Mund und Nase mit beiden Händen und holte tief Luft.

»Wir sind Nachbarn. Gute Nachbarn.« Sie stand wieder auf und ging zum Kühlschrank. »Möchten Sie etwas trinken? Wasser, Saft oder vielleicht einen Kaffee?«

»Ein Glas Wasser wäre nett, danke.« Brander lehnte sich zurück und beobachtete die Frau, die mit fahrigen Händen eine Flasche Mineralwasser öffnete und ihm kurz darauf ein Glas reichte. »Wo waren Sie heute Abend?«

»Ich war mit Freunden in Tübingen. Im Sudhaus, Vollmondtanz.« Sie schien sich an ihren Alkoholgenuss zu erinnern und fügte schuldbewusst hinzu: »Ich habe vielleicht zwei, drei Bierchen getrunken, über den ganzen Abend verteilt, mehr nicht.«

»Dafür bin ich nicht zuständig«, wehrte Brander ab. In der ehemaligen Brauerei und späteren Möbelfabrik im Süden Tübingens war er schon ewig nicht mehr gewesen. Das letzte Mal zu einer Lesung, erinnerte er sich, aber das war schon länger als ein Jahr her, und den Namen des Autors hatte er vergessen. Aber er kannte das bunte künstlerische und alternative Programm des Kulturzentrums, das in den späten Achtzigern das Sudhausgelände bezogen hatte. Neben Kabarett, Theater und Ausstellungen gab es dort auch viele Konzerte und Partys, wie den monatlichen Vollmondtanz.

»Wissen Sie, ob er Familie hat? Eltern, Geschwister?«

»Seine Eltern leben nicht mehr. Er hat noch eine Schwester. Dagmar oder Dörte oder so«, überlegte sie, dann schüttelte sie den Kopf. »Mir fällt der Name gerade nicht ein. Irgendwas mitD. Sie ist verheiratet. Ich glaube, sie lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Stuttgart.«

Brander notierte sich ihre Angaben.

»Was ist mit Richard?«

»Wir suchen Herrn Eppler. Eine Routine-Angelegenheit.« So ein Blödsinn, schimpfte Brander innerlich mit sich selbst, aber was sollte er sagen? Er fragte sich, ob die Frau eine Beziehung mit Eppler hatte. Trotz ihrer üppigen Figur war sie eine attraktive Frau, und die Nervosität, die seine Fragen bei ihr verursachten, stimmten ihn nachdenklich.

»Vielleicht ist er im Büro? Er arbeitet manchmal am Wochenende.«

»Samstagnachts?«

Sie nickte. »Er macht irgendwas mit Computern. Da muss er manchmal am Wochenende oder nachts arbeiten, wenn die Computer nicht gebraucht werden. So hat er es mir mal erklärt.«

»Wissen Sie, wie die Firma heißt?«

Sie zog die Stirn in Falten. »Ich glaube, Digital Solutions. In Böblingen.«

Der Kugelschreiber mit dem abgenutzten Logo auf Epplers Schreibtisch stammte also von seinem Arbeitgeber. Brander leerte sein Glas und stand auf.

»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie mich bitte an.« Er legte seine Visitenkarte auf den Tisch. »Und wenn Sie das nächste Mal trinken, nehmen Sie sich besser ein Taxi.« Er war Polizist, er musste sie wenigstens ermahnen.

Es war fünf Uhr morgens. Die Müdigkeit steckte ihm in den Knochen, seine Gelenke fühlten sich steif, seine Muskeln schwer an. Er brauchte dringend etwas Schlaf. Wo war die Zeit geblieben? Er rief Sabrina in der Zentrale an, damit sie prüfte, ob Eppler bei Digital Solutions war. Auf dem Rückweg zum Tatort erfuhr er, dass Eppler – laut Angabe des Sicherheitsdienstes, der das Gebäude bewachte– nicht in der Firma war. Er gab Tropper das Foto, das er aus Epplers Wohnung mitgenommen hatte, und machte sich auf den Heimweg. Richard Eppler, ging es ihm durch den Kopf, ein sauberer, penibel-ordentlicher Mensch, lag nun mit völlig verdreckter Kleidung und erstochen auf einem Tisch in der Rechtsmedizin. Wer hatte seine Ordnung zerstört?

Ostersonntag

Nach nur drei Stunden erwachte Brander mit Kopfschmerzen und schweren Augenlidern. Er fühlte sich verkatert, obwohl er seinen Whisky am Vorabend fast unberührt auf dem Wohnzimmertisch zurückgelassen hatte. Mühsam öffnete er die Augen und drehte sich zur anderen Seite. Das Bett neben ihm war leer. Cecilia war bereits aufgestanden. Brander erhob sich stöhnend, streckte sich und schlurfte ins Badezimmer. Aus dem Spiegel starrte ihm sein übernächtigtes Gesicht entgegen. Die zerzausten Haare standen in alle Richtungen. Er dachte an seinen Vater, der mit vierzig schon fast glatzköpfig gewesen war. Der Gedanke munterte ihn ein wenig auf. Brander rieb sich die müden Augen, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er duschte, verteilte ein paar Tropfen Aftershave auf dem unrasierten Kinn und ging in die Küche. Cecilia sah ihn munter an.

»Guten Morgen. Frühstück ist gleich fertig.«

Er bekam einen flüchtigen Kuss und ließ sich auf seinem gewohnten Platz am Küchentisch nieder. Auf dem Teller vor ihm saß ein dicker bunter Schokoladenhase und grinste ihn fröhlich an. Er sinnierte darüber, warum Osterhasen bunt waren und nicht braun oder grau wie die Feldhasen. In der Mitte des Tisches prangte ein Korb mit gekochten Eiern, die sie am Tag zuvor gemeinsam gefärbt hatten. Langsam setzten sich die kleinen Rädchen in seinem Kopf in Bewegung. Es war Ostersonntag, und sie waren nachmittags bei seinen Eltern zum Kaffee eingeladen. Während sein Gehirn allmählich aufwachte, drängten sich sofort die Gedanken an den Toten in den Vordergrund. Cecilia kam mit frisch gebrühtem Kaffee und setzte sich zu ihm.

»Wann bist du heute Nacht nach Hause gekommen?«

»Heute Morgen, es muss halb sechs gewesen sein. Ich muss nachher auch wieder ins Büro.« Er wollte diese unangenehme Nachricht so schnell wie möglich loswerden. Cecilia zog missmutig beide Augenbrauen hoch.

»Muss das wirklich sein?«

»Ein Mann ist ermordet worden. Ziemlich seltsame Geschichte.« Brander stellte den grinsenden Schokoladenhasen neben seinen Teller und nahm sich eines der aufgebackenen Brötchen. »Ceci, es tut mir leid.«

»Mir auch.« In ihrer Antwort schwang kein Vorwurf mit, es war eine nüchterne Feststellung. Und gerade das machte es ihm noch schwerer. Sie öffnete das Glas selbst gemachter Erdbeermarmelade, ein Geschenk von ihrer Nachbarin.

»Was ist mit deinen Eltern?«

»Ich glaube nicht, dass ich es schaffe. Du weißt ja, wie es bei uns am Anfang einer Ermittlung immer zugeht.«

»Deine Eltern werden enttäuscht sein.«

Wieder eine Tatsache. Aber er konnte es nicht ändern. Ein Mörder richtete sich nicht nach seinem privaten Terminkalender. Er spürte Cecilias Frustration und auch seine eigene Unzufriedenheit. Natürlich hätte er den Tag lieber mit seiner Familie verbracht, anstatt im Leben fremder Menschen herumzustochern und Dinge ans Licht zu befördern, die ihn selbst nach fast zwanzig Jahren Dienstzeit oft noch zutiefst berührten. Aber er war nun einmal Polizist.

»Ich werde sie nachher noch anrufen. Fährst du trotzdem zu ihnen?«

»Was soll ich sonst an einem total verregneten Ostersonntag machen? Außerdem backt deine Mutter den besten Apfelkuchen der Welt.« Das Lächeln kehrte auf Cecilias Gesicht zurück.

Brander atmete auf. Auch dieses Mal hatte ihr Verständnis für seine Arbeit die Oberhand über die Enttäuschung gewonnen. Wie viele Male würde dies noch bis zu seiner Pensionierung gelingen? Er spielte kurz mit dem Gedanken, ob er den Fall nicht an einen Kollegen abtreten konnte, verwarf die Idee aber gleich wieder. Jetzt, da er einmal damit angefangen hatte, würde ihm die Geschichte sowieso keine Ruhe mehr lassen. Stattdessen fasste er einen anderen Plan.

»Wenn wir den Fall aufgeklärt haben, nehme ich mir ein paar Tage frei, und wir fahren weg. Vielleicht an den Bodensee, was meinst du?«

Sie sah ihn an. Es blitzte kurz in ihren Augen, als hätte sie einen plötzlichen Einfall.

»Ich möchte nach Rom«, sagte sie zu seiner Überraschung.

»Nach Rom? Was willst du in Rom?«

»Rom ist schön, alt, romantisch und italienisch. Und außerdem kannst du dann nicht mal eben geschwind wieder die Bereitschaft für einen Kollegen übernehmen.«

»Das ist allerdings ein gutes Argument. Also, wenn du gerne möchtest, dann fahren wir nach Rom.«

»Fliegen– wir fliegen nach Rom.«

Er musste lächeln. Cecilia hatte schon ganz konkrete Pläne und diesen Augenblick dafür schamlos ausgenutzt. Sie besiegelten ihren Reiseplan mit einem Kuss, während Brander sich noch fragte, wie seine Frau auf die Idee kam, mit ihm ausgerechnet nach Rom fliegen zu wollen.

Um halb zehn erreichte Brander die Tübinger Polizeidirektion in der Konrad-Adenauer-Straße. Er parkte seinen Wagen auf seinem Stammparkplatz gegenüber dem Plattenbau, der mit seiner verblassten schwimmbadblauen Fassade und den gelben Fensterrahmen geduldig auf ihn zu warten schien. Das Gebäude war Mitte der siebziger Jahre erbaut worden und konnte sich ohne falschen Stolz eines der hässlichsten Gebäude Tübingens nennen. Die überdimensionale Antenne, die vom Dach in den Himmel ragte, war für den Funkverkehr zwar zwingend notwendig, trug aber nicht zur Verschönerung des Anblicks bei. In den fünf Jahren, die Brander inzwischen in Tübingen arbeitete, hatte er sich an den Anblick zumindest gewöhnt, gefallen würde ihm das Gebäude sicherlich niemals. Auch dem Innenleben der Dienststelle hätte ein frischer Anstrich und neue Möbel sicherlich nicht geschadet. Im Flur vor seinem Büro stieß er mit Tropper zusammen, der sich einen Kaffee holen wollte.

»Hast du die Nacht durchgearbeitet? Du siehst ja übel aus.«

»Danke für die Blumen.« Tropper schenkte ihm ein müdes Grinsen. »Ich komme gerade von der Rechtsmedizin. Hast du einen Moment Zeit?«

Sie gingen in den kleinen Aufenthaltsraum und setzten sich mit einer Tasse Kaffee an einen schmalen Tisch.

»Ich habe mir die Leiche schon einmal etwas genauer angesehen und mit dem Rechtsmediziner gesprochen. Wir können mit sehr großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es sich bei dem Toten um Richard Eppler handelt. Das Foto, das du mir gegeben hast, das passt. Auch Alter und Größe entsprechen den Angaben aus seinem Personalausweis.« Tropper nahm einen Schluck Kaffee, stand auf und holte die Zuckerdose aus dem Schrank. Er gab zwei Löffel Zucker in die Tasse und rührte um.

»Einen Autounfall können wir definitiv ausschließen, es gibt keine Spuren eines Zusammenstoßes.« Er trank einen weiteren Schluck von seinem Kaffee und nickte zufrieden.

»Das macht es nicht leichter.«

»Selbstmord war es auch nicht.«

Brander zog die Augenbrauen hoch, und auf seiner Stirn bildete sich eine Furchenlandschaft, die an einen frisch gepflügten Acker erinnerte.

»Das war ja wohl klar, oder? Habt ihr eine Tatwaffe gefunden?«

»Nein, nichts. Es wird nicht leicht sein, den Tathergang zu rekonstruieren, obwohl wir mit Sicherheit den Tatort gefunden haben. Die Hunde waren gut. Aber der verdammte Regen hat einfach eine Menge Spuren vernichtet.« Tropper starrte gedankenverloren vor sich hin. »Er hat sich von Baum zu Baum durch den Wald geschleppt. Ich frage mich, wie er es überhaupt geschafft hat. Er hat Unmengen von Blut verloren.«

»Er war Sportler, Ausdauersportler. In seiner Wohnung waren einige Urkunden von Wettkämpfen, Marathon, Triathlon, Ironman. Der Bursche war zäh«, erklärte Brander.

»Das stimmt, verdammt durchtrainiert.«

»Um zehn Uhr treffen wir uns im großen Konferenzraum. Kannst du dabei sein?«

Tropper nickte. Er stand auf, reckte die Arme zur Decke und gähnte laut. »Die Obduktion ist um elf angesetzt. Und Epplers Wohnung will ich mir auch noch ansehen.«

»Mach langsam, Freddy. Mehr als arbeiten können wir auch nicht. Und ich hab nichts davon, wenn du zusammenklappst.«

»Das sagst ausgerechnet du! Du willst doch alle Untersuchungsergebnisse am liebsten schon vor dem Beginn einer Ermittlung auf dem Tisch haben.«