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»Schwabenbrand« - ein spannender Krimi um Rache, Verrat und die dunklen Seiten der Familiengeschichte Im Ammertal wird in einer abgebrannten Scheune die Leiche eines Mannes entdeckt – doch die Todesursache ist zweifelhaft: Starb das Opfer bereits vor dem Feuer? Kurz darauf wird ein Schnapsbrenner als vermisst gemeldet. Die Spuren führen Kommissar Brander und sein Team zu einem inhaftierten Gangsterboss und schwäbischen Whiskybrennern. Aber ob der Fall mit einem Glas Whisky zu lösen ist? Ein raffiniert konstruierter Kriminalfall, der Hochspannung bis zur letzten Seite garantiert. Trotz des ernsten Themas kommt auch der Humor nicht zu kurz, besonders wenn sich Brander bei einer Whiskyverkostung mit seinem Kumpel Karsten Beckmann entspannt.
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Seitenzahl: 446
Veröffentlichungsjahr: 2025
Sybille Baecker ist gebürtige Niedersächsin und Wahlschwäbin. Sie liebt das Ländle, ihr Herz schlägt aber auch für die Highlands und die rauen Küsten Schottlands, die sie immer wieder gern und ausgiebig bereist. Ebenso hegt sie ein Faible für den Scotch Whisky. Die Fachfrau für »Whisky & Crime« ist Autorin der erfolgreichen Krimiserie um den Kommissar und Whiskyfreund Andreas Brander. 2020 wurde sie mit dem Arbeitsstipendium des Autorinnennetzwerkes Mörderische Schwestern ausgezeichnet.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
www.emons-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: stock.adobe.com/Aziz
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept
von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
E-Book-Erstellung: Geethik Technologies Pvt Ltd
Printed in Europe 2025
ISBN 978-3-98707-309-0
Schwaben Krimi
Neuausgabe
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Mordsbrand« im Silberburg-Verlag.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen
insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß
§ 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Für Frank
Er erwachte mit Schmerzen. Dunkelheit umgab ihn. Nur ein fahler Lichtstrahl fiel durch einen schmalen Spalt. Der Boden unter ihm war kalt. Kalt war auch die Luft. Kalt und feucht. Seine Glieder waren steif und verkrampft, Magen und Speiseröhre brannten, das Hämmern in seinem Kopf war so quälend, als wollte er zerspringen. Er konnte kaum die Augen öffnen, erkannte nur schemenhaft die Wände. Seine Kehle war völlig ausgetrocknet, der Geschmack in seinem Mund erbärmlich, als hätte er in einen stinkenden Kadaver gebissen. Übelkeit stieg in ihm auf. Er krümmte sich.
Da war etwas neben ihm, etwas Hartes. Holz. Er tastete. Ein Stuhl. Er wollte sich hochziehen, schaffte es nur auf alle viere. Wieder ein Beben, sein Leib krampfte und zitterte zugleich. Er kroch mühsam ein kleines Stück vorwärts, erbrach sich. Tränen schwammen in seinen Augen. Er konzentrierte sich auf den schmalen Lichtstrahl, der auf den Boden fiel, spürte die eisigen Steine unter seinen Händen.
Er rang nach Luft, hörte Stimmen, Murmeln und schrilles Kreischen. In weiter Ferne und doch ganz nah. Er sah Farben, dunkles Flimmern vor seinen Augen, rot, braun, schwarz, wusste nicht, ob seine Lider geöffnet waren oder geschlossen. Die Erde drehte sich zu schnell, zog unter ihm hinweg. Wieder wurde sein Körper von einem unkontrollierbaren Zucken erfasst. Er kam nicht mehr auf die Beine. Stützte sich mühsam auf Hände und Knie. Lachte und weinte zugleich. Vielleicht laut. Vielleicht nur in seinem Kopf. Verzweifelt. Die Kälte kroch aus dem Boden in seinen Körper. Über die Finger in seine Arme, über die Füße die Beine entlang. Drang tiefer in ihn hinein. Das Zittern wurde stärker. Die Arme knickten weg. Er lag. Das Gesicht auf den harten Steinen. Das Atmen wurde schwer, sein Brustkorb wollte sich nicht mehr heben. Er versuchte sich hochzudrücken. Aber sein Wille erreichte Arme und Beine nicht mehr. Er war müde. So müde. Die Kälte kroch weiter. Er röchelte. Luft. Er brauchte Luft. Konnte nicht atmen. Ein kurzes, inneres Erzittern, ein letztes Aufbegehren, kaum sichtbar, bis die Kälte auch sein Herz erreichte.
Das Gebäude der Polizeidirektion Tübingen befand sich in einer Sackgasse. Kurz hinter dem roten Backsteingebäude des Regierungspräsidiums erhob sich der hohe Plattenbau aus den siebziger Jahren mit blasser blaugrauer Fassade und ausladender Antenne auf dem Dach. Die gelben Fensterrahmen verstärkten den Eindruck, vor einem verblichenen, hochkant gestellten Schwimmbad zu stehen. Gleich links neben dem hohen viereckigen Bau gab es einen kleinen Ableger, dreistöckig, in ähnlich anmutendem Stil und mit überdimensionierter Antenne. Wahrlich keine Schönheiten.
Ein Kunstobjekt in Form einer modernen Pyramide in dezentem Grau stand im Zentrum der Einfahrt, trug jedoch nicht dazu bei, dem Ort eine einladendere Atmosphäre zu verleihen.
Das Büro von Kriminalhauptkommissar Andreas Brander lag in der ersten Etage. Der Fünfundvierzigjährige saß an seinem Schreibtisch, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und starrte grübelnd vor sich hin, während seine Kollegin Persephone Pachatourides ihrem Zorn mit griechischem Temperament verbalen Auslauf verschaffte. Energisch blies sie sich gerade eine ihrer schwarzen Locken aus dem Gesicht. Obwohl sie ein Jahr älter war als Brander, hatte sich noch kein graues Haar in ihrer Mähne hervorgewagt. Bei Brander selbst waren die kurzen grauen lediglich deshalb kaum sichtbar, da er ohnehin nur noch eine geringe Haarpracht besaß.
Auf dem Besucherstuhl saß der Kollege Hendrik Marquardt, vornübergebeugt, die gut trainierten Unterarme auf den Oberschenkeln abgelegt, und ließ die Knöchel seiner Finger knacken. Das Hemd spannte sich an den breiten Schultern.
Es war eine Frage der Zeit, wie lange sie in dieser Besetzung noch zusammenarbeiten würden. Zu wenig Zeit, fand Brander, während er versuchte, die Gedanken in seinem Kopf zu sortieren, um nach den positiven Aspekten zu suchen und sich nicht ganz und gar in ohnmächtiger Wut zu verlieren. Vergeblich.
»Verdammt noch mal, Andi, jetzt sag du doch auch mal was!«, verlangte Peppi, während ihre Arme wild durch die Luft fuchtelten. »Sind wir Menschen oder Marionetten? Wie stellen die sich das vor? Welcher Stubenhocker hat sich diesen Scheiß ausgedacht?«
»Die werden sich schon was dabei gedacht haben«, gab Brander schwach von sich.
»Gar nichts haben die sich gedacht! Das waren doch irgendwelche Theoretiker, die von unserer Arbeit keinen blassen Schimmer haben. Hat mit dir mal jemand gesprochen? Hat dich irgendjemand irgendwann jemals gefragt, was du für sinnvoll hältst? Mich hat keiner gefragt. Aber das lass ich mit mir nicht machen!«
»Du bist Beamtin, du hast gar keine andere Wahl«, erinnerte Hendrik Marquardt die Kollegin an den Eid, den sie geschworen hatte. »Du wirst sowieso eine der Ersten sein, die gehen darf. Du hast keine Familie, keine Kinder. Eine unabhängige Frau …«
»Ich habe eine Eigentumswohnung in Tübingen. Die habe ich mir nicht gekauft, um jeden Tag auf der B 27 stundenlang im Stau zu stehen.« Peppi schnaufte zornig. »Esslingen! Wenn ich in Esslingen arbeiten wollte, hätte ich mich dahin beworben!«
»So schlimm ist Esslingen ja nun auch wieder nicht«, versuchte Hendrik, ein wenig Optimismus zu verbreiten.
»Wir sprechen uns wieder, wenn du ein halbes Jahr zwischen Tübingen und Esslingen hin- und hergependelt bist. Du wirst dich freuen, wenn dein Kind bei der Tagesmutter wartet, während du auf der Aichtalbrücke im Stau stehst und die Aussicht auf die Alb genießt. Und du, Andi? Du hast dich extra von Stuttgart nach Tübingen versetzen lassen, weil Ceci hier arbeitet, und demnächst darfst du täglich nach Esslingen kutschieren. Da wärst du doch besser in Stuttgart geblieben. Von Entringen ist das ja noch eine viel elendere Fahrerei.« Peppi streckte die Hände zur Decke. »Ich könnte kotzen!«
Die Reorganisation der Polizei Baden-Württemberg hatte die Polizeidirektion Tübingen hart getroffen. Sie hatten mit Einschnitten gerechnet, nachdem erste Informationen im Rahmen einer Kick-off-Veranstaltung in Balingen an die Beamten gegeben worden waren, aber keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass die Veränderungen so gravierend sein würden. Insgeheim hatten sie alle gehofft, dass der Standort Tübingen verschont bleiben würde. Eine utopische Wunschvorstellung bei der Zielvorgabe, dass die insgesamt vierunddreißig Polizeidirektionen in Baden-Württemberg auf gerade mal zwölf Regionaldirektionen reduziert werden sollten.
An diesem Morgen hatten sie erfahren, dass ein Großteil der Kriminalpolizei Tübingen nach Esslingen umziehen würde. Wenn es wenigstens Reutlingen gewesen wäre, die Entfernung hätte man noch ohne großes Murren akzeptieren können. Aber Peppi hatte recht, für die Fahrt von Entringen nach Esslingen würde Brander täglich mindestens eine Stunde pro Weg im Auto sitzen, bei dem Verkehrsaufkommen in der Region waren anderthalb Stunden realistischer. Mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, konnte er vollends vergessen.
Ein Umzug wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht günstig. Zum einen hatte er vor einigen Jahren in Entringen eine Doppelhaushälfte gekauft, in der Cecilia und er sich sehr wohlfühlten. Zum anderen konnte er eine erneute Umstellung unmöglich der fünfzehnjährigen Nathalie zumuten, für die er und seine Frau vor wenigen Monaten die Pflegschaft übernommen hatten. Das Mädchen brauchte Beständigkeit in seinem Leben.
»Es ist ja nicht nur die Fahrerei«, fuhr Peppi energisch fort. »Unsere Arbeit lebt doch davon, dass wir die Menschen hier kennen. Wenn es vor einer Kneipe eine Schlägerei gab, dann wissen wir, bei welchem unserer Pappenheimer wir an die Tür klopfen müssen, um herauszufinden, wer es war. Wie soll das denn funktionieren, wenn wir kaum noch vor Ort sind?«
»Erzähl das nicht uns, erzähl das denen da oben«, kam es frustriert von Hendrik.
»Jetzt macht euch mal nicht verrückt. Es ist doch noch nichts entschieden«, bemühte Brander sich, den eigenen Pessimismus zu vertreiben. »Ein kleiner Teil der Kripo bleibt schließlich hier.«
»Ja, und das sind ausgerechnet wir drei.« Peppi verzog grimmig den Mund. »Weißt du was? Ich gründe meine eigene Polizeidienststelle, und dann können die mich alle mal.« Mit der Idee entlockte sie Hendrik ein Schmunzeln. »Polizeiposten Persephone Pachatourides. Ich würde mich glatt bei dir bewerben.« Er richtete sich auf, ließ die steifen Schultern kreisen. »Ich brauche jetzt erst einmal einen Kaffee. Darf ich der zukünftigen Polizeipostenleiterin eine Tasse mitbringen?«
»Ja, bitte. Schleim dich ruhig schon mal bei mir ein. Wer weiß, was noch alles kommt.«
***
Brander hatte pünktlich Feierabend gemacht. Der Frust vom Vormittag war geblieben, hatte sich wie ein Schwammtuch auf seine Gehirnzellen gelegt und alle anderen Gedanken aufgesaugt. Dienst nach Vorschrift, so gut es ging. Dann wechselte er Jeans und Hemd gegen atmungsaktive Radbekleidung, ließ Tübingen samt Polizeidirektion hinter sich und fuhr in Rekordzeit über die Landwirtschaftswege nach Entringen. Zu Hause angekommen fand er Nathalie, die im Wohnzimmer auf dem Sofa lag und durch das Fernsehprogramm zappte.
»Bist du allein?«, wunderte sich Brander.
»Cecilia ist einkaufen«, kam es mürrisch von dem Mädchen. Cecilia. Anscheinend hatten die beiden sich gestritten, sonst hätte Nathalie von »Ceci« gesprochen. »Und sie hat dir erlaubt, hier abzuhängen und Fernsehen zu gucken?«
»Mhm.« Sie wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen.
Und ich glaub noch an den Weihnachtsmann, dachte Brander schlecht gelaunt. »Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«
»Mhm.« Der Blick blieb auf den Bildschirm geheftet. Lüge Nummer zwei. Brander zwang sich zur Ruhe. Er hatte Sorgen, er war wütend und übellaunig, und jetzt log Nathalie ihn so naiv an, als wäre er ein Volltrottel, dem man auch sagen könnte, die Erde sei ein Zauberwürfel.
»Nathalie, würdest du mir bitte ins Gesicht sehen und meine Fragen noch einmal beantworten?«
Sie verdrehte genervt die Augen. »Ey, könnt ihr mich hier nicht einfach mal in Ruhe chillen lassen? Mann, ey!«
»Ey, kannst du vielleicht mal aufhören, mich anzulügen?«, konterte Brander.
»Oh, fuck. Lass doch nicht immer den Kackbullen raushängen. Solltest auch mal ’n bisschen chillen.«
Brander biss die Zähne zusammen, um das Mädchen nicht anzubrüllen. Sie hatten Regeln aufgestellt, und seit Tagen hatte Nathalie es sich anscheinend in den Kopf gesetzt, diese bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu ignorieren. Er ging zum Fernsehapparat, schaltete das Gerät aus und wandte sich dem Mädchen wieder zu.
Nathalie hatte sich aufgerichtet, blickte ihn mit zusammengepressten Lippen und einer Mischung aus Trotz und Schuldbewusstsein an. »Sorry …«
»Für den Kraftausdruck ziehe ich dir zwei Euro vom Taschengeld ab, für die Lügerei übernimmst du am Wochenende ohne Murren den Spüldienst. Und jetzt machst du deine Hausaufgaben. Wenn ich geduscht habe, will ich sehen, wie weit du bist.«
Schmollend erhob sich die Fünfzehnjährige und schlurfte aus dem Zimmer. Brander konnte noch hören, wie sie im Flur ein übellauniges »Bootcamp Brander« von sich gab. Er seufzte mehr oder minder zufrieden. So schlecht hatte er die Situation doch gar nicht gemeistert.
Cecilia war überrascht, als sie wenig später nach Hause kam und ihren Mann im Badezimmer vorfand.
»Was machst du schon hier?«
»Hab früh Feierabend gemacht und unser ›Pflegel‹-Kind beim Fernsehgucken erwischt.« Er rubbelte sich mit dem Handtuch über die kurzen Haare.
»Sie ist heute unausstehlich«, seufzte Cecilia. Sie trat zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Soll ich die Glatze noch ein bisschen polieren?«
»Vorsicht. Meine Laune tendiert gerade gegen null«, entgegnete Brander, dem an diesem Tag der Humor fehlte, über sein lichter werdendes Haupthaar zu lachen.
»Ist was passiert?«
»Stress bei der Arbeit.«
Cecilia sah ihn fragend an, aber er schüttelte nur den Kopf. Er wollte jetzt nicht über die Umbrüche in der Polizeidirektion reden.
Brander schlief schlecht. Seine Sorgen ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er wusste, dass es sinnlos war, sich mit Spekulationen um den Schlaf zu bringen, dennoch konnte er das Karussell in seinem Kopf nicht abstellen. Irgendwann fiel er in einen unruhigen Schlaf, aus dem er nur wenige Stunden später wieder erwachte. Es war Viertel nach drei, und er war hellwach. Er horchte in die Dunkelheit. Es war so still, dass er das leise Brummen des Kühlschranks unten in der Küche hören konnte. Er stieg aus dem Bett und schlich aus dem Schlafzimmer. Eine Holzstufe knarrte unwillig unter seinen Füßen, verstimmt über die unzeitgemäße Störung. Er ging in die Küche, schloss die Tür und kochte Tee. Dann setzte er sich mit der Zeitung vom Vortag an den Küchentisch.
Er blätterte durch die Seiten, ohne auch nur einen einzigen Bericht zu erfassen. Um zehn vor vier schlurfte Cecilia in die Küche und sah ihn aus verschlafenen Augen müde an. Wortlos ließ sie sich neben ihn auf einen Stuhl nieder, nippte an seinem inzwischen kalt gewordenen Tee.
»Was ist los?«
»Nichts.«
Cecilia sank gegen seine Schulter und griff nach seiner Hand. »Sprich mit mir, sonst bringst du mich auch um meinen Schlaf.«
»Das glaub ich nicht. Du kannst immer schlafen«, neckte Brander sie, was sie zumindest veranlasste, einen Mundwinkel leicht zu heben.
Sie schloss die Augen. »Lenk nicht ab.«
Brander legte den Arm um ihre Schultern, genoss die Wärme ihres Körpers. Er neigte den Kopf, vergrub die Nase in ihren braunen Haaren und roch ihren vertrauten Duft.
»Die Polizeidirektion Tübingen wird aufgelöst.«
Jetzt war es raus. Laut ausgesprochen stand der Satz im Raum, wurde dadurch realer als am Vortag.
»Und was bedeutet das?«
»Genaues wissen wir noch nicht. Fest steht, dass ein Großteil der Kripo nach Esslingen kommt. Ein Teil der Landespolizeidirektion zieht nach Reutlingen.«
»Esslingen …« Cecilia gähnte. »Die haben einen schönen mittelalterlichen Weihnachtsmarkt.«
»Da freu ich mich jetzt schon drauf«, entgegnete Brander sarkastisch. Es war noch nicht einmal März.
Cecilia richtete sich wieder auf. »Ist es definitiv, dass du nach Esslingen kommst?«
»Nein, bis jetzt ist gar nichts definitiv.«
»Dann halten wir uns erst einmal an die Fakten. Ein Teil kommt nach Esslingen. Ein anderer Teil nach Reutlingen. Wer bleibt in Tübingen? Die Kripo vor Ort abzuziehen ist das eine, aber irgendjemand muss die Arbeit ja weiterhin machen.«
»Eine abgespeckte Kriminalinspektion soll bleiben, und vermutlich soll ein Kriminaldauerdienst eingerichtet werden, sodass jederzeit Kollegen schnell vor Ort sein können.«
Cecilia saß eine Weile schweigend neben ihm und dachte über seine Worte nach.
»Was ist deine größte Sorge?«, fragte sie schließlich.
Brander leerte seine Tasse. »Ich weiß es nicht. Im Moment ist in meinem Kopf nur ein riesiger Gedankenwust, den ich nicht sortiert kriege. Ich fühle mich wohl in Tübingen. Wir sind ein starkes Team, das sehr gut zusammenarbeitet. Und vor allem sehe ich keinen Sinn in der ganzen Umstrukturierung. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass unsere Arbeit durch diese Maßnahmen besser werden soll.«
Von irgendwoher drang eine Melodie an ihre Ohren.
»Dein Handy?«, fragte Cecilia.
»Ja.« Wo hatte er das verfluchte Ding hingelegt? Vier Uhr morgens. Das konnte nur seine Dienststelle sein.
Er stand auf, folgte dem Geräusch in den Flur zu seiner Radtasche. Als er sein Handy endlich herausgenommen hatte, war das Gespräch auf die Mailbox umgeleitet worden. Er drückte die Rückruftaste. Eine Minute später war die Nacht für ihn definitiv beendet.
»Ich muss zum Dienst. Brauchst du den Wagen?«
Cecilia verzog bedauernd das Gesicht. »Eigentlich …«
Brander winkte ab. Er könnte sich von einem Kollegen abholen lassen, oder er schwang sich einfach auf sein Fahrrad. Die Bewegung würde ihm guttun. Er wählte die Nummer seiner Kollegin. »Peppi, koordinier du bitte alles in der Dienststelle. Ich komme direkt zu der Scheune.«
Eilig zog er seine Radkleidung an.
***
Das Thermometer hatte ein Grad unter null angezeigt. Die Luft drang kühl in seine Lungen, dennoch geriet er ins Schwitzen, als er den Landwirtschaftsweg an den Bahnschienen entlang Richtung Tübingen fuhr. Zum Glück hatte er einen guten Scheinwerfer, der den Weg vor ihm breit ausleuchtete und vor gefrorenen Pferdeäpfeln warnte.
Als er Unterjesingen durchquerte, meinte er bereits den Geruch von verbranntem Holz zu riechen, was aber auch aus den Schornsteinen der Häuser kommen konnte. Am Ortsausgang entdeckte er in der Ferne die aufgestellten Scheinwerfer und Blaulichter der Feuerwehr auf dem Weg Richtung Schwärzloch. Dunst und Qualm hingen im dunklen Tal, die Luft wurde rauchiger, je näher Brander seinem Ziel kam. Die Feuerwehr hatte weiträumig abgesperrt. Ein junger Feuerwehrmann bremste ihn.
»Kripo Tübingen, Kriminalhauptkommissar Andreas Brander«, stellte er sich vor und wollte an der Absperrung vorbei.
Der Feuerwehrmann hielt ihn zurück. »Das kann ja jeder sagen.« Der Mann musterte Branders Radlerdress und Fahrrad.
Brander suchte in seiner Jacke nach dem Dienstausweis.
»Andreas Brander. Rufen Sie einen von meinen Kollegen, die kennen mich.« Ungeduldig deutete er auf die zwei uniformierten Polizisten hinter dem Feuerwehrmann, im selben Moment fand er seinen Ausweis und hielt ihn dem Mann vor die Nase.
»In Ordnung. Ich wollte nur sichergehen …«
»Können Sie mir schon was sagen?«
»Meine Kollegen haben in der abgebrannten Scheune einen Toten gefunden. Das ist alles, was ich weiß.«
Brander schob sein Rad unter der Absperrung durch. Die Feuerwehr hatte den Brandort mit mehreren Strahlern ausgeleuchtet. Vor wenigen Stunden hatte dort offensichtlich noch ein alter Holzbau gestanden. Der lehmige Boden um den zusammengefallenen Schuppen war von den Löscharbeiten schlammig und aufgeweicht. Verkohlte Holzbalken waren auseinandergezogen worden. Die Glut dampfte in der kühlen Morgenluft.
»Wo ist Ihr Einsatzleiter?«
»Drüben beim vorderen Löschfahrzeug.«
Brander folgte dem Fingerzeig des Feuerwehrmannes. Der Qualm biss ihm in die Augen und verursachte ein unangenehmes Halskratzen. Er hustete und spuckte auf die Erde, während er sein Fahrrad abstellte und sich einen Weg über den teils gefrorenen, teils aufgeweichten Boden zum Einsatzleiter suchte. Nachdem er gerade so ins Schwitzen gekommen war, kroch ihm nun die kalte Februarluft unter die Radkleidung und ließ ihn frieren.
Der Einsatzleiter war ein kräftiger Mann, etwas kleiner als Brander, mit zwei wachen blauen Augen, die ihn aufmerksam musterten. Vermutlich waren sie im gleichen Alter, schätzte Brander, Mitte, Ende vierzig.
»Hagen Sandberg«, stellte er sich vor. »Der Notruf ging um zwei Uhr achtundfünfzig ein. Es hieß, eine Scheune sei explodiert und es gebe einen Mordsbrand.« Sandberg zog die Augenbrauen hoch. »Na ja, für den Brand hätte die Hälfte meiner Truppe gereicht. Wir hatten das Feuer schnell unter Kontrolle. Die größte Gefahr war eigentlich, dass die Flammen auf die Nachbarscheune übergreifen, aber wir waren rechtzeitig zur Stelle.«
»Wann haben Sie die Leiche entdeckt?«
»Die Scheune war zusammengefallen, und wir mussten die Balken auseinanderziehen, damit es nicht unterschwellig weiterbrennt. Dabei hat einer meiner Leute den Toten entdeckt. Er muss mitten in der Scheune gewesen sein.«
»Ich würde gern mit dem Mann sprechen, der den Toten entdeckt hat.«
»Dem geht’s nicht so gut.«
»Ist er noch hier?«
»Ja, drüben beim DRK.«
Der junge Mann hatte keine Farbe im Gesicht. Selbst die Lippen waren weiß. Er saß im Heck des Krankenwagens, den Körper vorgebeugt, die Füße auf den Boden gestellt. Sein Atem ging stoßweise, und er starrte stumpf vor sich hin. Ein Sanitäter hatte ihm eine Decke um die Schultern gelegt und einen Thermobecher mit heißem Tee in die Hand gedrückt. Er hielt den Becher mit beiden Händen umklammert.
»Riechen Sie das?«, fragte er, ohne Brander anzusehen.
»Verbranntes Fleisch. Alles schwarz. Verkohlt … Keine Beine … keine …« Die Atmung wurde hektisch und flach.
»Ganz ruhig, atmen Sie tief durch, Herr …«, versuchte Brander den Mann zu beruhigen.
»Koch. Valerius Koch.«
»Herr Koch. Atmen Sie tief durch. Können Sie den Kopf heben? Schauen Sie mich an.« Brander stand vor ihm, hob die Hand in einer einladenden Geste. Es war besser, dass der Mann zu ihm hochschaute, in ein lebendiges Gesicht, statt in den dunklen Matsch zu seinen Füßen.
Unter großen Mühen hob sein Gegenüber den Blick. Der Junge war noch keine zwanzig.
»So ist es gut«, lobte Brander. »Ich muss gar nicht viel von Ihnen wissen. Aber erst einmal müssen Sie atmen, okay? Tief einatmen, und dann die Luft wieder raus aus den Lungen.« Er machte es dem jungen Mann vor. Die flache Atmung war nicht ungewöhnlich bei Menschen, die unter Schock standen. Leider trug dies jedoch nicht zur Verbesserung des Befindens bei, sondern konnte die Panik noch verstärken. Es dauerte einige Atemzüge, die Brander gemeinsam mit Koch durchführte, bis dieser schließlich etwas ruhiger wurde.
»Erzählen Sie mir, was Sie getan haben«, forderte Brander ihn auf.
»Die Scheune hat gebrannt. Wir haben gelöscht«, begann der Feuerwehrmann stockend. »Wir hatten den Brand unter Kontrolle. Dann ist die Scheune eingestürzt. Wir haben weiter gelöscht … Dann hat nichts mehr gebrannt … Um sicherzugehen, haben wir begonnen, das Holz auseinanderzuziehen. Und dann, unter dem Balken … Ich hab es erst nicht erkannt. Ich wusste nicht, was es war.« Koch bewegte noch immer fassungslos den Kopf. »Wir haben das freigeräumt. Da war nur der Körper … keine Beine … nur der Körper … Ich hab wohl aufgeschrien.« Es klang ein wenig beschämt.
»Das ist ganz normal. Sie haben ja nicht mit so einem Anblick gerechnet. Sie haben den Körper also freigeräumt. Das heißt, Sie haben das verbrannte Holz zur Seite geschoben?«
»Ja.«
»Haben Sie irgendetwas an der Lage des Körpers verändert?«
»Nein … nein, den haben wir nicht angefasst. Der war ja tot. Mir wurde schwindelig. Ich musste da weg. Ich … es tut mir leid. Ich hab so was noch nie gesehen. Das ist gruselig.« Er schüttelte sich.
»Ja, das ist es wohl«, stimmte Brander mitfühlend zu. Er ahnte, dass der junge Feuerwehrmann dieses Bild nicht so schnell wieder aus seinem Kopf bekommen würde.
Brander hatte gerade das Gespräch beendet, als Manfred Tropper mit den Kollegen von der Kriminaltechnik am Brandort eintraf. Kurz darauf rollte der silberne Daihatsu der Rechtsmedizinerin Margarete Sailer zum Ort des Geschehens.
»Ich hab sie informiert«, erklärte Tropper, bevor Brander fragen konnte. »Sie schimpft immer mit mir, wenn sie erst von der Leiche erfährt, wenn sie auf ihrem Seziertisch liegt. Wir würden zu viele Spuren vernichten. Guten Morgen, Maggie.«
»Guten Morgen, Jungs«, grüßte diese gut gelaunt zurück. »Ist die Grillsaison also eröffnet?«
»So kann man es auch nennen.« Brander reichte der Ärztin die Hand.
»Ziemlich früh dieses Jahr. Wir starten eigentlich immer erst am achten März.«
»Was?«
»Die Grillsaison. Der achte März ist Internationaler Frauentag. Und an diesem Tag stehen unsere Männer draußen in der Kälte und grillen, und wir Frauen sitzen im warmen Wohnzimmer, schauen einen romantischen Film und lassen uns mit kulinarischen Köstlichkeiten vom Grill verwöhnen.«
»Wie kannst du jetzt ans Grillen denken?« Brander verzog das Gesicht.
»Na ja, mein Liebster lässt die Steaks ganz gern mal anbrennen. Das riecht ähnlich.«
»Maggie!«
Die Medizinerin lachte amüsiert, als sie Branders empörtes Gesicht sah. »Was hast du überhaupt für einen sexy Dress an? Da bleibt ja nichts verborgen.« Sie grinste anzüglich.
Tropper feixte.
»Nur für dich«, gab Brander zurück. »Könnten wir uns jetzt vielleicht auf unsere Arbeit konzentrieren?«
»Aber natürlich. Du solltest dich bei den Chippendales bewerben.«
Brander ersparte sich eine Antwort und deutete wortlos in Richtung des Brandopfers. Seine Finger waren steif von der Kälte.
Peppi und Hendrik stießen wenig später zu ihnen. Brander informierte die Kollegen über die Situation.
»Wer hat den Brand gemeldet?«, erkundigte sich Peppi, während sie den Kriminaltechnikern bei der Arbeit zusahen.
»Keine Ahnung.« Brander rieb sich fröstelnd über die Arme. Er hätte sich wärmer anziehen sollen.
»Weiß der Besitzer, ob da vielleicht hin und wieder ein Penner in seiner Scheune übernachtet hat?«, fragte Hendrik.
»Ich weiß nur das, was ich euch gerade gesagt habe. Kümmert euch darum. Ich fahr in die Dienststelle und zieh mir was Wärmeres an. Ich frier mir hier nämlich den Allerwertesten ab.«
»Na, das wäre aber schade«, ertönte es hinter ihm. Margarete Sailer gesellte sich mit rußverschmierter Kleidung und schwarzen Striemen im Gesicht zu der Runde. Auch in ihren kurzen Haaren hatte sich Asche verfangen.
»Hör auf mit deinen sexistischen Bemerkungen und verrate mir lieber, was du schon herausgefunden hast.«
»Sexistisch. Wir sind aber sensibel heute Morgen. Soll ich mal sexistisch werden?«
»Maggie, mir ist kalt, fasse dich bitte kurz!«
»Okay, okay. Viel kann ich euch noch nicht sagen. Das Opfer ist höchstwahrscheinlich männlich. Er ist verbrannt, das ist offensichtlich. Da sind Überreste von Reifen, die vermutlich relativ nah am Körper lagen. Die haben dafür gesorgt, dass lokal eine ziemlich hohe Brandtemperatur entstand, dadurch ist ein Großteil der Extremitäten, also Arme und Beine, fast völlig verbrannt. Aber der Torso scheint einigermaßen brauchbar. Wir haben eine Hälfte des Schädels gefunden. Er ist leider teilweise zertrümmert, was durch den Einsturz der Scheune verursacht sein könnte. Ob das Opfer bereits tot war oder durch Rauchgasvergiftung oder Feuer starb, kann ich noch nicht sagen. Ich schau, ob ich heute noch eine Obduktion dazwischenschieben kann. Ansonsten muss ich dich leider auf morgen vertrösten.«
»So schnell wie möglich, bitte.«
»Ja, ich weiß, es brennt.« Sie zwinkerte ihm grinsend zu und ließ ihn mit seinen Kollegen allein.
***
Der Kollege Karl-Heinz Borowski hatte sich krankgemeldet. Er hatte ohnehin schon seit Längerem gesundheitliche Probleme durch einen Bandscheibenvorfall. Die Nachrichten vom Vortag über die zu erwartenden Umstrukturierungsmaßnahmen hatten sicher nicht zu einer Verbesserung beigetragen.
Brander hatte sich mit Peppi, Hendrik und der Kollegin Anne Dobler zu einer Besprechung in einem Konferenzraum eingefunden.
»Wir wissen nicht viel zum gegenwärtigen Zeitpunkt: Das Opfer ist höchstwahrscheinlich männlich. Alter und Herkunft unbekannt. Todesursache unklar«, fasste Brander die spärlichen Informationen zusammen. »Erste Ergebnisse der Rechtsmedizin sind frühestens heute Abend zu erwarten, wahrscheinlich eher morgen. Habt ihr noch was Neues?«
»Die erste Meldung ging heute Nacht um zwei Uhr achtundfünfzig telefonisch ein, es folgten drei weitere Anrufe«, berichtete Peppi. »Jedoch ist der erste Anruf der markanteste, denn der Anrufer hat seinen Namen nicht genannt. Laut Protokoll war er männlich, klang relativ jung und aufgeregt. Und«, die Kollegin lächelte süffisant, »er hat vergessen, die Rufnummernunterdrückung einzuschalten. Wir haben seine Handynummer. Die Anfrage läuft schon.«
»Gut. Noch was?«
»Ich habe mit dem Besitzer der Scheune gesprochen, Tobias Rößner«, meldete sich Hendrik zu Wort. »Ihm ist nicht bekannt, dass irgendwelche Leute in seiner Scheune übernachtet hätten. Das Tor war mit einem einfachen Vorhängeschloss verriegelt. Einen Schlüssel hat er zu Hause verwahrt, einen zweiten hatte er in einem Blumenkübel, der hinter der Scheune stand, versteckt. Bisher wurden weder der Blumenkübel noch der Schlüssel entdeckt. Rößner selbst war vor drei Tagen, also am Montag, zum letzten Mal an der Scheune, da hat er nichts Ungewöhnliches feststellen können.«
»Wer wusste von dem Versteck des Schlüssels?«
»Laut Aussage von Rößner nur er, seine Frau und ein befreundeter Landwirt, der aber zurzeit seinen Urlaub auf den Kanaren verbringt.«
»Was war in der Scheune gelagert?«
»Ein Haufen alter Holzbretter, zwei ausgemusterte Kleiderschränke, ein paar alte Autoreifen.«
»Also nichts von größerem Wert«, resümierte Brander.
Hendrik nickte.
»Gibt es Anzeichen dafür, dass ein Kapitalverbrechen vorliegt?«
Peppi klickte grübelnd auf dem Knopf ihres Kugelschreibers herum. »Es könnte ein Obdachloser gewesen sein, der es sich in der Scheune gemütlich gemacht und ein Feuerchen entfacht hat, weil ihm kalt war. Er schläft ein, das Feuer brennt weiter, entzündet die Reifen, hohe Rauchentwicklung, der Qualm dringt in seine Lungen, er erstickt. Der Schuppen fackelt ab«, entwarf sie ein Szenario.
»Aber warum dann der anonyme Anruf?«, meldete sich Anne Dobler zu Wort. Die junge Kollegin war blass im Gesicht, und dunkle Ringe zeichneten sich deutlich unter ihren Augen ab.
»Ja.« Brander nickte nachdenklich. »Beginnen wir zunächst einmal mit der Anwohnerbefragung.«
»Anwohnerbefragung? Da wohnt doch keiner«, warf Hendrik wenig begeistert ein.
»Schwärzlocher Hof, Ortsrand Tübingen, Ortsrand Unterjesingen«, präzisierte Brander seinen Auftrag. »Vielleicht hat irgendein Anwohner zufällig etwas gesehen: einen Betrunkenen, der Richtung Scheune lief, ein Auto auf den Landwirtschaftswegen, Radfahrer – was weiß ich …«
Er wandte sich Anne zu, die nicht den Eindruck erweckte, als wäre stundenlanges Von-Tür-zu-Tür-Laufen heute die richtige Arbeit für sie. »Wann musst du Louis von der Tagesmutter abholen?«
»Spätestens um vier, aber ich … entschuldigt …« Mit einer Hand vor dem Mund stürmte die Kollegin aus dem Zimmer.
Brander sah fragend zu Hendrik. »Ist Anne krank?«
»Die Nachrichten von der Umstrukturierung schlagen ihr ein wenig auf den Magen. Sie hat die halbe Nacht auf dem Klo verbracht. Ich hab ihr gesagt, sie soll zu Hause bleiben, aber du kennst sie ja.« Der Siebenunddreißigjährige und seine sechs Jahre jüngere Kollegin lebten zusammen und hatten gemeinsam einen zweijährigen Sohn. Seit einem Dreivierteljahr arbeitete Anne wieder stundenweise an zwei Tagen in der Woche in der Kriminalinspektion 1 – eine Tatsache, die ihrem Lebensgefährten nicht besonders gut gefiel.
»Ich kann verstehen, dass es ihr schlecht geht. Für sie ist die Situation ja total beschissen. Bei zehn Wochenstunden wäre sie länger mit dem Auto unterwegs als im Dienst«, kam es von Peppi.
Hendrik verzog grimmig das Gesicht. »Ja, so kann unser geschätzter Herr Innenminister sein Ziel auch erreichen, mehr Beamte auf die Straße zu bekommen.«
»Und da sollst du motiviert Dienst schieben, anstandslos Überstunden machen und für Ordnung und Gerechtigkeit sorgen. Wenn ich könnte, würde ich zum Streik aufrufen. Dass Beamte nicht streiken dürfen, gibt es nur noch in Deutschland, oder? Das ist so eine –«
»Schluss mit dieser Diskussion«, unterbrach Brander die Frustreden seiner Kollegen. »Wir haben anderes zu tun.«
Peppi blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du steckst wohl mit denen unter einer Decke?«
»Ganz blöder Kommentar, Peppi!« Brander warf seiner Kollegin einen strengen Blick zu. Es gab Grenzen.
***
Drei Stunden später knallte Peppi Brander eine Mappe auf den Schreibtisch.
»Was ist das?«
»Mein Urlaubsantrag. Ich habe exakt einhundertelf Überstunden allein aus dem vergangenen Jahr, die ich jetzt gern abfeiern möchte. Ich mache Feierabend. Wir sehen uns in drei Wochen wieder.«
Brander lehnte sich mit einem schweren Seufzer zurück.
»Peppi, setz dich bitte.« Er deutete auf den Besucherstuhl neben seinem Schreibtisch. »Ich kann deinen Frust verstehen …«
»Kannst du das? Nein, das kannst du nicht. Du bist so tiefenentspannt, dich tangiert die ganze Reform überhaupt nicht. Du –«
»Mich tangiert die Situation genauso wie dich!«, unterbrach Brander die Kollegin energisch. »Denkst du, ich finde das alles nicht genauso zum Kotzen? Aber ich lasse es nicht ständig raus. Es ist doch überhaupt nichts entschieden. Wenn wir wissen, wie es weitergeht, können wir immer noch genug Frust schieben. Und jetzt bitte ich dich, reiß dich verdammt noch mal zusammen!«
Auf Peppis Gesicht erschien ein triumphierendes Lächeln. »Na, endlich mal eine Gefühlsregung. Schlag die Mappe auf. Darin sind die Informationen über unseren nächtlichen anonymen Brandmelder. Er heißt Leon Breitmayr, ist sechzehn Jahre alt und wohnt im Paul-Löffler-Weg. Fahren wir hin, oder soll ich ihn einbestellen?«
Brander sah die Kollegin kopfschüttelnd an. »Du bist doch eine …«
»Eine hervorragende Ermittlerin, ich weiß. Und? Was machen wir?«
»Wir fahren hin.«
Der Paul-Löffler-Weg befand sich in einem Wohngebiet im Nordwesten Tübingens. Die schmale gewundene Straße war zugeparkt, und alle paar Meter wies ein Schild darauf hin, dass hier entweder ein Privatparkplatz oder die Einfahrt Tag und Nacht frei zu halten sei. Peppi manövrierte den Dienstwagen in eine kleine Parklücke am Anfang der Straße.
»Paul Löffler, Tübinger Heimatforscher und Ehrenbürger«, las sie auf dem Straßenschild. »Kennst du Paul Löffler?«
»Nein.« Brander eilte den Weg entlang.
»Man lernt doch nie aus.« Peppi folgte ihm die Straße entlang zu den Mehrfamilienhäusern, die sich dicht an den Hang drängten.
Ein Mann in Jeans und Sweatshirt öffnete die Tür. Kaffeeduft strömte ihnen aus der Wohnung entgegen, aus einem Zimmer ertönte das eingespielte Lachen einer Sitcom im Fernsehen.
»Kriminalpolizei Tübingen. Andreas Brander, das ist meine Kollegin Frau Pachatourides. Wir würden gern mit Herrn Leon Breitmayr sprechen«, stellte Brander sich vor.
»Kriminalpolizei?« Der Mann riss überrascht die Augen auf und kratzte sich im Nacken. »Leon ist mein Sohn. Hat er etwas angestellt?«
»Wir haben nur ein paar Fragen an ihn. Ist er zu Hause?«
»Ja, er ist krank. Er ist ziemlich erkältet.« Vater Breitmayr führte sie durch den Flur ins Wohnzimmer, in dem der Sohn in Decken gehüllt mit glasigen Augen und roter Nase auf dem Sofa lag. Er hatte ein schmales Gesicht, und die dünnen Arme ließen die schmächtige Gestalt des Heranwachsenden erahnen. Auf einem Flachbildschirm flimmerte eine amerikanische Serie, auf die auch Branders Pflegekind ganz versessen war.
»Leon, hier sind zwei Beamte von der Kriminalpolizei, die haben ein paar Fragen an dich.«
Der Schreck, der dem Jungen in die Glieder fuhr, war nicht zu übersehen, da nützte auch das eilig vors Gesicht gehaltene Taschentuch nichts.
Breitmayr stellte den Fernsehapparat aus. »Setzen Sie sich, bitte.«
Brander ließ sich auf einen Sessel dem Jungen gegenüber nieder, während Peppi es vorzog, stehen zu bleiben.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten?«, kam es von Vater Breitmayr, der unschlüssig ebenfalls im Raum stehen geblieben war.
»Nein, danke. Leon, wir haben nur ein paar Fragen. Es geht um gestern Nacht.«
Die Augen des Jungen huschten nervös von Brander zu seinem Vater, der stirnrunzelnd auf seinen Sohn niedersah.
»Leon war zu Hause«, erklärte dieser.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden wir ganz gern allein mit Ihrem Sohn sprechen.«
Breitmayr warf einen beunruhigten Blick auf seinen Jungen, dann verließ er das Wohnzimmer.
Brander wandte sich Leon wieder zu. »Du warst also zu Hause?«
»Ja … also …«, krächzte der Junge heiser. Seine Augen wanderten unsicher zwischen Brander und Peppi hin und her. »Nee, ich war mit ’nem Kumpel unterwegs.«
»Und dein Vater weiß nichts davon?«
Leon nickte.
»Hast du dich gestern Nacht heimlich rausgeschlichen?«
»Nee, hab gesagt, ich wär um elf zu Hause gewesen. Vater hat Nachtschicht, da kriegt er das nicht mit.«
Das war doch mal eine ehrliche Antwort. »Und deine Mutter?«
»Wohnt nicht bei uns.«
»Du kannst dir denken, warum wir hier sind?«
Wieder ein Nicken. »Wegen dem Feuer. Meine Telefonnummer. Sie haben das zurückverfolgt.« Der Junge hustete und griff nach seiner Teetasse. Der Kaffee des Vaters stand daneben. Er würde ihn wohl kalt trinken müssen.
»Du hast die Feuerwehr darüber informiert, dass eine Scheune brennt. Warum hast du deinen Namen nicht genannt?«
Der Junge starrte in seine Tasse. »Weiß nicht.«
»Du sagst, du warst mit deinem Kumpel unterwegs. Was habt ihr da draußen zwischen den Feldern gemacht?«
»Nix.«
»Bisschen kalt, um nichts zu machen, oder? Hast du dich dabei so erkältet?«
»Wir haben Sterne geguckt, gequatscht.«
»Wie heißt dein Kumpel?«
»Max.«
»Max – und weiter?« Brander forderte mit einer Handbewegung den Nachnamen des Freundes.
»Maximilian Vöcking. Wir haben nix gemacht. Das gab ’nen Knall, dann hat’s gebrannt, und wir haben die Feuerwehr angerufen. Ist das strafbar?«
»Warum hast du deinen Namen nicht am Telefon genannt?«
»Hab ich doch schon gesagt. Weiß nicht … nur so halt. War blöd, ich weiß.«
Brander fragte sich, was der Junge zu verbergen hatte. Er hatte nicht den Mut, ihm in die Augen zu sehen, drehte angelegentlich die Tasse zwischen seinen Händen.
»Wann habt ihr den Brand entdeckt?«
»Weiß nicht. So um drei vielleicht.«
»Ihr habt das Feuer entdeckt und sofort den Notruf abgesetzt?«
Der Junge bewegte den Kopf in einer leichten Kreisbewegung, die man mit viel Phantasie als ein halbherziges Ja interpretieren konnte.
Brander betrachtete Leon Breitmayr einen Moment lang schweigend, dann erklärte er: »Da war noch ein Mensch in der Scheune.«
Leon riss erschrocken die Augen auf. Er begann mit den Fingern seiner Rechten an seiner Unterlippe zu zupfen.
»Hast du das verstanden? Ein Mensch war in der Scheune.« Brander musterte den Jungen eindringlich.
»Das wussten wir doch nicht. Wir haben nur das Feuer gesehen«, beteuerte Leon, seine heisere Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Und was ist mit dem …?«
Spätestens am nächsten Tag würde es ohnehin in der regionalen Zeitung stehen. Brander fand es besser, die Information dem Jungen direkt zu geben und ihm dabei ins Gesicht zu sehen: »Der Mann ist tot.«
Leon schluckte hart und starrte zum Fenster. Ein paar Grünpflanzen standen auf der Fensterbank. Dahinter lag der kleine Garten noch im Winterschlaf.
»Hör zu, Leon«, mischte sich Peppi ein. »Wir beschuldigen dich nicht, dass du die Scheune in Brand gesteckt hast, aber wir müssen wissen, was du gesehen hast.«
»Ich hab nix gesehen. Die Scheune hat gebrannt, wir haben die Feuerwehr gerufen und sind weg. Wir wussten doch nicht …« Leon verstummte und rieb sich verstohlen mit den Handballen über die Augenwinkel.
»Habt ihr mit euren Handys Fotos von der brennenden Scheune gemacht?«, hakte Brander nach.
»Nein«, kam die zögerliche Antwort.
»Sicher?«
»War doch zu dunkel. Das wird dann eh nix.«
»Zeigst du mir mal dein Handy?«
»Warum das ’n? Ich hab keine Fotos gemacht!«
Die Tür wurde geöffnet, und Vater Breitmayr erschien an der Schwelle. »Muss das sein? Ich weiß nicht, was Leon angestellt hat, aber Sie sehen doch, dass er krank ist.«
Brander erhob sich aus seinem Sessel. »Ihr Sohn könnte ein wichtiger Zeuge bei einem Brand sein.« Er wandte sich wieder dem Sofa zu. »Leon, ich möchte, dass du morgen um zehn Uhr zu mir in die Polizeidirektion kommst und deine Aussage machst.«
»Ich muss doch zur Schule.«
»Du bekommst von uns eine Entschuldigung. Und jetzt hätte ich gern noch die Adresse und Telefonnummer von deinem Kumpel.«
Leon Breitmayr gab ihm die Daten.
Sie erreichten Maximilian Vöcking weder persönlich noch telefonisch und hinterließen ihm eine Nachricht, dass er sich ebenfalls am nächsten Tag um zehn Uhr in der Polizeidirektion einfinden sollte.
»Was hältst du von dem Jungen?«, erkundigte sich Peppi, während sie den Wagen durch die Dreißigerzone kutschierte.
»Ich weiß nicht, irgendwas hat er zu verbergen.«
»Ich kann mir denken, was. Mit seinem Kumpel Sterne gucken und quatschen. Wie oft hast du das in deiner Jugend gemacht?«
»Ständig. Mach ich heut noch.«
»Klar.« Peppi lachte laut auf.
»Da gibt’s gar nichts zu lachen. Eine sternenklare Nacht, ein guter Kumpel und dazu ein kräftiger Malt … perfekt.« Bei dem Gedanken seufzte Brander zufrieden.
Bis zum Abend erhielten sie weder Ergebnisse von den Kriminaltechnikern noch von der Rechtsmedizin. Als Brander sich mit dem Rad auf den Heimweg machte und an der abgebrannten Scheune vorbeikam, lag noch immer der Geruch von verbranntem Holz und Gummi in der Luft. Er ahnte, dass einiges an Arbeit vor ihnen lag. Vielleicht war es ganz gut so – es lenkte von den Sorgen um die bevorstehenden Veränderungen ab.
Als Brander am nächsten Morgen in die Dienststelle kam, traf er Hendrik Marquardt im Flur. Obwohl der Kollege einer der Frühaufsteher der Abteilung war, sah er müde aus.
»Schlecht geschlafen?«, erkundigte sich Brander.
»Frag nicht.«
»Geht es Anne immer noch nicht besser?«
»Sie macht sich fürchterliche Sorgen wegen der Umstrukturierung. Sie isst kaum was – und wenn, geht’s gleich wieder retour. Und zu allem Überfluss hat Louis auch noch die halbe Nacht gespuckt.«
»Klingt eher nach einer Magen-Darm-Geschichte.«
Hendrik deutete ein Nicken an. »Ich hab die zwei heute Morgen erst einmal wieder ins Bett geschickt. Werde heute Mittag mal vorbeischauen.«
»Sag ’nen Gruß. Bist du gerade auf dem Sprung?«
»Ja, ich fahr mit den Kollegen raus zur Anwohnerbefragung. Bisher sind die Ergebnisse ziemlich mau.«
»Reicht ja, wenn einer was gesehen hat.«
Hendrik lachte trocken. »Optimist.«
In seinem Büro hatten in der Nacht die ersten Berichte der Kriminaltechniker den Weg auf seinen Schreibtisch gefunden. Brander blätterte flüchtig durch die Seiten. Dann machte er sich mit seiner Tasse auf den Weg in Richtung Kaffee-Ecke. Er brühte sich einen Kaffee, ignorierte den Hinweis des Automaten, dass der Satzbehälter darum bat, geleert zu werden, und marschierte stattdessen in Manfred Troppers Büro. Der Kriminaltechniker saß mit gebeugtem Rücken vor seinem Monitor.
»Morgen, Andi«, grüßte er. »Hast du unsere Berichte schon gelesen?«
»Nur überflogen. Ich wollte deine persönliche Meinung hören, bevor ich damit zu Schmid gehe.«
»Na, der Herr Staatsanwalt wird doch wohl schon von seiner persönlichen Quelle informiert worden sein«, spielte Tropper auf die Beziehung zwischen Marco Schmid und Peppi an, die mehr als nur Freundschaft war.
»Schmid war zwei Tage bei einer Fortbildung, der kommt erst heute zurück«, wusste Brander.
Tropper fuhr sich mit den hageren Fingern durch die grauen Haare. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die Informationen in meinem Bericht größtenteils eher Mutmaßungen aus Erfahrungswerten. Laut Auskunft des Besitzers befand sich nichts Hochentzündliches in der Scheune, keine Maschinen, bei denen es einen Kurzschluss hätte geben können, oder so was. Es gab kein Unwetter mit Blitzeinschlag, und es war unter null Grad in der Nacht. Also theoretisch nichts, was das Feuer hätte auslösen können. Unsere Brandexperten sind sich allerdings sicher, dass Brandbeschleuniger verwendet worden ist, sonst hätte die Scheune nicht so schnell lichterloh gebrannt.«
»Aber das ist im Moment nicht bewiesen?«
»Wir arbeiten daran. Was bemerkenswert ist, sind die vier Autoreifen, die unmittelbar um den Toten herum gelegen haben müssen. Lagen die da schon, oder wurden sie da hingelegt? Und was ebenfalls interessant ist, sind die Faserspuren, die wir an der Stelle gefunden haben, an der der Tote lag. Die könnten von einem Teppich stammen.«
»Mit ›Teppich‹ meinst du tatsächlich einen Teppich oder eine Decke?«, hakte der Westfale Brander nach, da die Schwaben gern auch für eine Wolldecke das Wort »Teppich« benutzten.
»Da möchte ich mich im Moment noch nicht festlegen. Rößner sagt, dass es in der Scheune keinen Teppich und keine Decke oder Ähnliches gab. Das heißt, der Tote hat es selbst mitgebracht, oder aber ein möglicher Täter hatte Decke und Benzin oder was auch immer dabei.«
Brander rieb sich über die Stirn. Teppich, Autoreifen, Feuer. Es gab eine Methode, die von kriminellen Organisationen hin und wieder verwendet wurde, um Leichen möglichst rückstandslos verschwinden zu lassen: Man wickelte den Toten in einen Teppich ein, bedeckte ihn zusätzlich mit Autoreifen, häufte Holz oder anderes brennbares Material an und steckte alles zusammen in Brand. Das Gummi der Reifen entwickelte eine so hohe Brandtemperatur, dass die Leiche bestenfalls vollkommen mit Haut und Knochen verbrannte. Mit etwas Glück fand man vielleicht noch einen Goldzahn in der Asche des Verstorbenen.
»Hat Maggie die Infos schon?«
»Ja, die Obduktion ist für heute Vormittag angesetzt. Ich fahre nachher rüber. Kommst du mit?«
»Nein. Wie ich Maggie kenne, lädt sie dich hinterher auf eine Currywurst ins X ein.«
»Damit ist zu rechnen.« Tropper lächelte vor sich hin. »Ich mag ihren schwarzen Humor.«
»Hast du sonst noch etwas, was uns weiterhelfen kann?«
»Die chemischen Analysen laufen, und ein Brennstoff-Spürhund ist heute vor Ort. Ich bin mir sicher, dass wir etwas finden werden.«
***
Brander nahm ein Blatt aus seinem Schreibtisch und spitzte den Bleistift. Er skizzierte die Umrisse eines menschlichen Torsos, Ansätze von Armen und Beinen dazu. Anstelle der Extremitäten kamen die Autoreifen, je einer links und rechts des Körpers, zwei Reifen unterhalb. Um den Körper herum zeichnete er eine Scheune. Rechts oben in die Ecke, mit etwas Abstand, ein paar Sterne – Leon und Max, die Jugendlichen, die den Brand zuerst gemeldet hatten. Fehlte noch Rößner, der Besitzer der Scheune. Er hatte noch nicht persönlich mit dem Mann gesprochen, und ihm fiel kein passendes Symbol ein. Nachdenklich sah er auf seine Skizze.
Wer war der Tote? Warum war er in der Scheune gewesen, und wie war er dort hineingekommen? Wie war das Feuer entstanden? Handelte es sich um einen unglücklichen Unfall? Ein Obdachloser, der Schutz vor der Kälte gesucht hatte und eingeschlafen war? So etwas kam immer mal wieder vor. Oder gab es eine weitere Person, die den Brand gelegt hatte? Er hoffte, dass die Aussagen von Leon Breitmayr und seinem Freund etwas Licht in die Recherchen bringen würde.
Leon Breitmayr und Maximilian Vöcking erschienen fünf Minuten vor zehn in der Polizeidirektion. Max war ähnlich schmächtig wie Leon und kämpfte mit seinen sechzehn Jahren noch mit Pubertätsakne. Dafür war er von der Erkältung, die Leon erwischt hatte, verschont geblieben. Brander beorderte beide gemeinsam in sein Büro.
»Und? Was könnt ihr mir zu der Nacht, in der ihr das Feuer entdeckt habt, erzählen?« Erwartungsvoll sah er in die Gesichter der Jungen.
Leon und Max tauschten einen Blick miteinander, dann begann Max zu berichten: »Also, wir waren vorgestern abends unterwegs, haben ein bisschen gefeiert bei einem Kumpel, dem seine Eltern waren nicht da. So gegen zwei sind wir da weg.«
»Wie heißt der Kumpel?«, unterbrach Brander den Jungen.
»Raphi.«
»Raphi?«
»Raphael Wenzel.«
»Und wo wohnt dieser Kumpel?«
Leon nannte ihm eine Adresse in der Schwärzlocher Straße.
»Okay, ihr habt also gegen zwei Uhr die Party verlassen?«
»Ja, zwei oder halb drei, genau weiß ich das nicht mehr. Aber wir hatten noch nicht so richtig Bock auf Nachhausegehen«, fuhr Max fort. »Also sind wir ’n bisschen rumgelaufen. War ziemlich klarer Himmel, arschkalt, aber klarer Himmel. Da kann man gut Sterne gucken. Wir interessieren uns da beide für. Astronomie und so. Aber in der Stadt, da siehste ja nix. Zu viele Lichter. Darum sind wir hinten am Bauhof raus und den Weg da an den Schienen lang. Da hat man ein bisschen mehr gesehen. Und dann gab’s irgendwie so ’ne Art Knall, nicht so richtig, so dumpf irgendwie, also, ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. So pfffuuuhhhh.« Er stieß die Luft laut aus den Lungen und breitete zur Untermalung der Lautstärke des Geräusches die Arme aus. »Und dann haben wir das Feuer gesehen. War voll krass, voll die grellen Flammen und so … Wir sind näher ran, und dann haben wir erst erkannt, dass da ’ne Scheune brennt. Wir sind noch ’n Stück ran, und dann …« Max verstummte.
»Und dann?«, hakte Brander nach.
»Na ja«, fuhr Leon zögernd fort. »Dann haben wir da einen gesehen. Da stand einer.«
Brander spürte einen Adrenalinschub in seinen Adern. »Da stand einer«, wiederholte er. »Wer stand da? Ein Mann, eine Frau? Was genau habt ihr gesehen?«
»Weiß nicht, wir waren ja noch gar nicht so nah dran. War wie so ’n Schatten. Einfach eine schwarze Gestalt. Die stand da und hat sich nicht bewegt. Wir wussten nicht so genau, was wir tun sollten. Der stand da vor der brennenden Scheune und hat nix gemacht.«
»Das war echt krass«, meldete sich Max wieder zu Wort.
»Da brennt’s total, und der steht da und bewegt sich nicht. Ich mein, wenn das meine Scheune gewesen wäre, ich wäre da rumgesprungen und hätte geguckt, wo die Feuerwehr bleibt.«
»Ja, und dann haben wir gedacht, der hat vielleicht ’nen Schock, und sind zu der Scheune hin. Das hat total gequalmt und geknistert und so. War irre heiß. Und als wir dann da hinkommen, da war der Typ weg.« Leon hob beide Hände, als könnte er es immer noch nicht fassen. »Einfach weg. Wir haben geguckt und gerufen, aber da war keiner mehr. Das war echt tierisch heiß. Wir sind dann ein Stück von der Scheune wieder weg und haben die Feuerwehr angerufen.«
»Und ihr habt nicht gesehen, in welche Richtung die Person verschwunden ist?«
»Nee, der war einfach weg. Das war voll unheimlich«, antwortete Max.
»Vielleicht … vielleicht ist der ja in die Scheune rein«, schlug Leon vor. »Sie sagten doch, dass da einer drin war?«
»Das müssen wir untersuchen«, entgegnete Brander, obwohl er diese Option für eher unwahrscheinlich hielt.
»Okay, Leon, du hast die Feuerwehr gerufen. Das war richtig so. Um wie viel Uhr dein Anruf kam, wissen wir. Wann habt ihr den Brand entdeckt?«, fuhr Brander fort.
»Vielleicht fünf oder zehn Minuten vorher.«
»Habt ihr sonst noch etwas gesehen? Stand da vielleicht irgendwo ein Auto, ein Fahrrad, ein Motorrad?«
Die beiden schüttelten die Köpfe.
»Habt ihr etwas gehört? Das Starten eines Motors?«
»Kann mich nicht erinnern. Du?« Leon sah zu Max.
»Nee.«
»Habt ihr Hilferufe gehört?«
Die beiden Jungen beeilten sich, auch diese Frage zu verneinen.
»Und diese Person, die ihr gesehen habt, könnt ihr euch da an etwas erinnern? War die Person groß oder klein? Dick? Dünn?«
»Eher groß. Ein großer schwarzer Schatten«, erklärte Leon mit Bestimmtheit.
»Lange Haare, kurze Haare?«
»Weiß nicht. Ich konnte da echt nix Genaues erkennen. Wir waren zu weit weg.«
»Habt ihr gewartet, bis die Feuerwehr kam?«
»Ja, aber die haben uns weggeschickt. Mir war eh saukalt. Ich war da schon fett erkältet, und der Scheißqualm hat voll in den Augen gebrannt. Ich wollt nach Hause.«
»Habt ihr Fotos gemacht?«
Leon senkte verlegen die Augenlider, während sein Kumpel sein Handy hervorzog. »’n Video. Ist aber nix geworden. Da erkennt man nix.« Er tippte mit dem Finger auf das Display und streckte es dann in Branders Richtung. Brander erkannte einen hellen, flackernden Fleck, hörte Knistern, Schritte auf Asphalt, Ausrufe der Jungen. »Krass, Alter … ey, guck ma … das stürzt gleich ein …« Nach einer halben Minute stoppte das Bild.
»Wir würden uns das Video gern runterladen. Vielleicht können unsere Techniker da noch mehr rausholen.«
Max nickte. »Okay.«
Brander öffnete seine Schreibtischschublade, zog einen Stadtplan hervor und entfaltete ihn vor den Jungen auf seinem Schreibtisch. »Wo genau habt ihr gestanden, als ihr diese Person bei dem Feuer entdeckt habt?«
Leon studierte die Karte einen Moment lang, dann deutete er mit dem Zeigefinger auf die Stelle. Es war ein Landwirtschaftsweg, der die Alte Ammer kreuzte.
»Da, wir haben da auf der Brücke gestanden.«
»Und die Person stand wo genau?«
»Na ja, da ist die Scheune, und irgendwo links davon, da hat er gestanden.«
»Ist euch vielleicht sonst noch jemand begegnet auf dem Weg zu der Scheune oder später, auf eurem Rückweg?«
»Nee.«
Ein großer schwarzer Schatten. Branders Blick wanderte nachdenklich zwischen den Jungen hin und her. Hatten sie die Person gesehen, die die Scheune in Brand gesteckt hatte?
»Gut, das war es erst einmal. Falls euch noch etwas einfällt, meldet euch bei uns.«
»Wenn die Jungs die Wahrheit gesagt haben, gibt es also eine weitere Person, die den Scheunenbrand zumindest gesehen hat«, stellte Peppi fest, nachdem die beiden wieder gegangen waren.
»Warum sollten sie nicht die Wahrheit sagen?« Brander sah verwundert zu seiner Kollegin.
»Um von sich abzulenken.«
»Die hatten doch schon Gewissensbisse, weil sie nicht umgehend die Feuerwehr angerufen haben, nachdem sie den Brand entdeckt hatten, sondern erst einmal ein Filmchen gedreht haben.«
»Vielleicht hatten sie aus ganz anderen Gründen Gewissensbisse«, beharrte Peppi. »Ist dir aufgefallen, wie schnell sie die Frage verneint hatten, ob sie Hilferufe gehört hatten?«
Brander bewegte abwägend den Kopf. »Als die Jungs bei der Scheune ankamen, hat sie schon lichterloh gebrannt. Da wird der Mann bereits tot gewesen sein.«
»Es sei denn, Leons These stimmt, und diese Person, die sie gesehen haben, ist tatsächlich hineingelaufen.«
»Warum hätte die Person das tun sollen?«
»Um irgendetwas zu retten«, schlug Peppi vor.
»Was? Ein paar alte Autoreifen?«
»Keine Ahnung.«
Brander skizzierte die Umrisse der Scheune auf einem Zettel, zeichnete ein Strichmännchen hinein. Er hielt das Blatt hoch in Peppis Richtung. »Hier unten ist der Eingang, und die Leiche lag hier oben im hinteren Drittel. Der Mann hätte quer durch die brennende Scheune rennen müssen, und dann hätte er so unglücklich zusammenbrechen müssen, dass er inmitten der Autoreifen landet und Arme und Beine dadurch fast komplett verbrennen.«
»Möglich wäre es.«
Brander hob zweifelnd die Augenbrauen und studierte dann nachdenklich den Stadtplan. »Wenn der Mann geflüchtet ist, muss er Richtung Tübingen gelaufen sein. Andernfalls hätte er den Weg kreuzen müssen, über den die beiden zur Scheune liefen.«
»Er kann ebenso gut querfeldein über den Acker Richtung B 28 gelaufen sein«, warf Peppi ein.
»Ja, auch das wäre möglich. Dann bestünde zumindest theoretisch die Möglichkeit, Fußspuren in der gefrorenen Erde zu finden.«
***
Staatsanwalt Marco Schmid erschien wenige Minuten vor der nächsten Besprechung in Branders Büro. Er trug einen gut sitzenden dunkelgrauen Anzug, darunter ein helles Hemd, die dazu passende Krawatte steckte in der Tasche des Jacketts. Brander konnte sich nicht erinnern, den Staatsanwalt je in Jeans und Pulli gesehen zu haben.
»Da lasse ich mal zwei Tage die Tübinger Stadtmauern hinter mir, und schon beschert ihr mir ein Brandopfer. Ich hatte andere Pläne fürs Wochenende.« Beim letzten Satz wanderte sein Blick zu Peppi, die unschuldig die Hände hob.
»Du kannst dir vorstellen, wo das hier enden wird, wenn die Herren da oben die Kripo aus Tübingen abziehen«, prophezeite sie.
»Sodom und Gomorrha.« Schmid wandte sich Brander zu. »Wie ist der Stand der Ermittlungen?«
»Die Identität des Toten konnte noch nicht geklärt werden, ebenso wenig, ob es sich bei dem Brand um einen Unfall oder um Brandstiftung handelt. Wir haben zwei Jugendliche, die behaupten, sie hätten eine Person an der brennenden Scheune stehen sehen, die dann aber verschwunden ist. Sie konnten leider keine näheren Angaben zu dieser Person machen.«
Der Staatsanwalt zog enttäuscht die Mundwinkel nach unten. »Das ist nicht viel.«
»Vielleicht kann Freddy etwas Licht ins Dunkel bringen. Er war bei der Obduktion und wird uns hoffentlich gleich ein paar interessante Details verraten. Kommen Sie mit zur Sitzung?«
Schmid nickte. »Meine Verabredung zum Kaffee ist ja dienstlich verhindert.«
»Der Kaffee der Kriminalinspektion 1 ist fast so gut wie der vom Ranitzky«, behauptete Peppi und schob Schmid vor sich zur Tür hinaus.
Die Bilder, die Tropper aus der Rechtsmedizin mitgebracht hatte, ließen die Lust auf Kaffee und Kuchen schwinden: ein verkohlter Torso, dessen Extremitäten zu großen Teilen fehlten, dazu ein teilweise zertrümmerter Schädel. Auf den ersten Blick ließ sich nicht sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war, lediglich die Größe des Oberkörpers zeigte, dass es kein Kind sein konnte.
»Bei unserem Toten handelt es sich um eine männliche Person, Alter unbestimmt, vermutlich aber in den mittleren Jahren, vierzig plus«, begann Manfred Tropper seinen Bericht. »Die Körpergröße schätzen die Rechtsmediziner zwischen eins achtzig und eins neunzig. Genauer lässt sich das leider nicht eingrenzen. Das Wichtigste, was sie feststellen konnten, ist, dass der Mann bereits tot war, bevor sein Körper Opfer des Feuers wurde. Da hatten wir wirklich Glück. Der Oberkörper ist zwar äußerlich stark verkohlt, aber die Organe waren teilweise noch in mehr oder weniger brauchbarem Zustand – zumindest für die rechtsmedizinischen Untersuchungen. Es fanden sich keinerlei Rußpartikel in Lunge oder anderen Organen. Unser Opfer hat kein Kohlenmonoxid eingeatmet.«
Also hatte jemand das Opfer dorthin geschafft, resümierte Brander, während der Kriminaltechniker fortfuhr.