Vermisst in den Highlands - Sybille Baecker - E-Book

Vermisst in den Highlands E-Book

Sybille Baecker

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Beschreibung

Spurensuche in der Einsamkeit der schottischen Highlands. Alison Dexter, Privatdetektivin in Inverness, hat sich eine Auszeit genommen, da steht eine alte Bekannte vor ihrer Tür: Violet Thompson. Die Millionärsgattin, mit der Alison mehr Abneigung als Freundschaft verbindet, steckt in Schwierigkeiten. Doch bevor Alison ihr Geheimnis erfährt, verschwindet sie spurlos. Violets Mann lässt dies seltsam kalt. Alison forscht nach und folgt einer Spur in die einsamen Highlands. Als sie dort überfallen wird und die Polizei wenig später ihren ausgebrannten Wagen findet, wird der Fall persönlich. Denn im Kofferraum liegt eine verkohlte Leiche.

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Seitenzahl: 478

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Sybille Baecker ist gebürtige Niedersächsin und Wahlschwäbin. Sie liebt das Ländle, ihr Herz schlägt aber auch für die Highlands und die rauen Küsten Schottlands, die sie immer wieder gern und ausgiebig bereist. Ebenso hegt sie ein Faible für den Scotch Whisky. Die Fachfrau für »Whisky & Crime« ist Autorin der erfolgreichen Krimiserie um den Kommissar und Whiskyfreund Andreas Brander. 2020 wurde sie mit dem Arbeitsstipendium des Autorinnennetzwerkes Mörderische Schwestern ausgezeichnet.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Anhang findet sich ein Rezept.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/travellight

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-175-1

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für Frank

Und für alle, die Lust auf eine spannende Reise

Wherever I wander, wherever I rove,

The hills of the Highlands forever I’ll love.

Robert Burns, »My Heart’s in the Highlands«

Dunkelheit lag über dem Wasser. Mond und Sterne hielten sich hinter einer Wolkendecke verborgen. Lediglich das Blinken der Leuchttürme, die sich an der Küste entlangzogen, wies die Richtung. Das Wasser schwappte schmatzend an den Korpus des kleinen Motorbootes, das von seinem Außenbordmotor mit aller Kraft vorangetrieben wurde. Wellen brachen sich am Bug, salzige Gischt spritzte über die Reling.

In der hinteren Hälfte hockten vier Menschen auf dem Boden, zusammengekauert und eng aneinandergedrängt. Sie zogen die Köpfe zwischen die Schultern, erschauerten, wenn wieder kalte Tropfen ins Heck und auf ihre Körper spritzten. Es waren drei Mädchen und ein Junge, keine Kinder mehr, aber doch nicht alt genug, um als erwachsen zu gelten. Mehr als die Kälte war es jedoch die Ungewissheit, die sie zittern ließ.

Ein fünfter – ein Mann, groß und breitschultrig, die rotblonden Haare unter einer Strickmütze verborgen – saß auf dem Plastiksitz im geschützten Cockpit und lenkte mit der Routine jahrelanger Seefahrt das Boot. Seit Kindertagen war er auf dem Meer unterwegs, kannte jede Gefahrenstelle an der Küste. Das Steuerrad wirkte in seinen Händen wie ein Spielzeug.

Die Augen suchten im fahlen Schein des Buglichts das Meer ab, bemüht darum, die Fahrt für seine Passagiere so ruhig wie möglich zu gestalten. Er wollte verhindern, dass ihm jemand ins Boot kotzte oder sich über die Reling beugte und dabei über Bord ging.

Als sie der Küste näher kamen, schaltete er die Positionslichter aus, auf den letzten Meilen auch das Buglicht. Er kannte den Küstenverlauf, steuerte zielsicher auf das kleine alte Hafenbecken zu. Hier gab es kein Leuchtfeuer.

Er drosselte das Tempo, fand die Einfahrt des Hafendamms und tuckerte gemächlich in den schützenden Bereich. Trotz der Schwärze der Nacht sah er die Beckenmauern. Reusen, Kanister und Berge von Netzen lagen auf dem Kai. Im Hintergrund erhoben sich die Silhouetten von drei Häusern schemenhaft gegen den dunklen Himmel, fernab jeder Zivilisation.

Er lenkte nach Steuerbord, suchte seinen Landungsplatz nah bei den Steinstufen, die hinauf zum Kai führten. Obwohl sich niemand im Boot regte, spürte er die Erleichterung seiner Passagiere, dem Festland endlich so nah zu sein.

Er vertäute das Boot und stieg auf die erste Stufe. Mit einem Handzeichen gab er dem Jungen zu verstehen, dass er aussteigen sollte. Eines der Mädchen war schneller als er und sprang auf. Sie ergriff die Hand des Kapitäns, machte einen beherzten Schritt vom Boot auf die Stufen. Dort blieb sie stehen und half den anderen an Land.

Keiner sprach auch nur ein Wort. Ein Stummfilm in Schwarz-Grau. Sie stolperten barfuß die feuchten Stufen hinauf. Lediglich ein unruhiges Atmen war zu hören. Obwohl es Sommer war, waren die vier unterkühlt. Auf dem Meer wehte ein kalter Wind, und in der Nacht gab es keine wärmende Sonne.

Oben am Kai scheuchte er sie eilig voran auf das alte Haus zu. Hinter den zugezogenen Vorhängen ließ sich ein Lichtstrahl ahnen. Sie wurden erwartet.

EINS

Inverness

The Victorian Market lag in unmittelbarer Nähe des Invernesser Bahnhofs, man musste lediglich die Academy Street überqueren, um zu der Einkaufspassage aus dem 19. Jahrhundert zu gelangen. Zahlreiche Läden, die Souvenirs, Süßwaren und Delikatessen anboten, dazwischen kleine Cafés, säumten die überdachten Wege. Lichterketten strahlten unter den Arkaden wie verfrühte Vorboten der Weihnachtszeit. Aus der Foodhall strömten den Besuchern die Gerüche der verschiedenen Speisen entgegen.

Kurz vor dem Ausgang zur Queensgate hatte erst vor wenigen Wochen ein Café eröffnet: The Ness Café. Kleine Bistrotische mit Rattan-Stühlen, alles in dunklem Grün und Cremeweiß gehalten, waren im Lokal verteilt. Vor dem Café standen drei weitere Sitzgruppen in der überdachten Mall. Zwei Tische waren besetzt, an dem dritten nahm soeben ein Mann Platz.

Er war schlank, trug eine helle, elegante Anzughose, dazu ein weißes Hemd, die Ärmel hatte er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Die kurzen rotblonden Haare waren adrett frisiert, der Bart gestutzt. Am Mittelfinger seiner linken Hand glänzte ein breiter goldener Ring mit einem dunklen Stein, rechts zierte eine klassische Rolex sein Handgelenk. Nicht zu protzig, aber alles in allem war nicht zu übersehen, dass der Mann Geld hatte.

Alison Dexter hatte den Gast bemerkt, ignorierte ihn jedoch geflissentlich, während sie einen Tisch abräumte. Sie brachte das Tablett mit dem benutzten Geschirr nach hinten und wäre gern dortgeblieben, aber Liz Owens, Alisons neue Chefin und Inhaberin des Cafés, zitierte sie schon herbei.

»Alison, da ist ein neuer Kunde.« Liz stand am Tresen, stellte einen Latte macchiato und eine Tasse Assam Tea auf ein Tablett. »Bring das vorher an Tisch zwei.«

Tisch zwei war der Nachbartisch, an dem der neue Gast Platz genommen hatte. Alison servierte dem Ehepaar die Getränke – schlammfarbene Outdoorhosen mit bunten Funktionsshirts ließen vermuten, dass es Touristen waren. Dann wappnete sie sich innerlich und wandte sich dem Mann zu.

»Hallo, Sam.«

»Ali-Schatz.« Samuel Dexter mimte den Überraschten. »Was machst du hier?«

»Wonach sieht’s denn aus?« Sie wollte sich eine Strähne ihrer langen dunklen Haare aus der Stirn streichen – allerdings war da nichts, da sie die Haare zu einem strengen französischen Zopf geflochten hatte. Liz bestand auf diese Frisur, damit sich nicht versehentlich ein Haar auf einen Kuchenteller verirren konnte.

Sam zog eine leidende Grimasse. »Ich hatte gehofft, es ist nur ein böses Gerücht.«

»Jetzt weißt du, dass es keins ist«, knurrte Alison.

»Du arbeitest wahrhaftig in diesem Café?« Er ließ den Arm raumgreifend kreisen.

»Nein, ich bringe den Leuten ihren Kaffee, weil ich zufällig gerade in der Gegend war und mir das so viel Spaß macht.«

»Ali-Schatz, was ist denn mit deiner Detektei?«

Alison biss die Zähne zusammen. Bis vor wenigen Wochen hatte sie versucht, sich als private Ermittlerin zu etablieren. Doch nachdem sie durch ihre Schnüffelei das Leben ihrer Schwester Jeana in Gefahr gebracht hatte, hatte sie beschlossen, diese Arbeit zu beenden. Aber das ging ihren Ex-Mann nichts an. Sie war froh, den Job in diesem kleinen Café bekommen zu haben. Sie brauchte den Lohn dringend, um ihre Miete zu zahlen.

»Möchtest du etwas bestellen?«

»Ich möchte, dass du aufhörst, hier zu arbeiten.«

»Wenn du nichts bestellen möchtest, muss ich dich leider bitten zu gehen.« Alison bemühte sich, leise zu sprechen. Eine Szene war das Letzte, was sie wollte. Liz war eine strenge Chefin.

Sam zog befremdet die Stirn in Falten, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Einen Espresso, bitte.«

»Kommt sofort.« Alison wandte sich ab. Sie spürte, wie sein Blick ihr folgte, als sie zum Tresen ging.

»Was war los?«, fragte Liz, als sie ihr die Bestellung weitergab.

»Nichts. Der Kunde war etwas unentschlossen.«

»Es sah so aus, als ob ihr euch kennt.«

Alison zuckte die Achseln. Sie kannte ihre Chefin kaum, da würde sie ihr nicht von ihrer gescheiterten Ehe mit Multimillionär Samuel Dexter erzählen.

Liz stellte den frisch gebrühten Espresso samt einem Glas gekühltem Leitungswasser auf das Tablett und legte sorgfältig ein Amicelli auf den Unterteller. »Versuch’s mal mit einem Lächeln. Der Mann sieht nach Geld aus. Vielleicht gibt er dir ein gutes Trinkgeld.«

Alison hob nur kurz die Augenbrauen und nahm das Tablett auf.

»Bitte denk dran: Der Kunde ist König«, wisperte Liz ihr mahnend zu.

Sams Miene drückte deutliches Missfallen aus, als sie mit seinem Getränk aus der Tür trat. Das war untypisch für ihn, stellte Alison fest. Normalerweise sah er das Leben als großen Spaß an, und es gab kaum ein Problem, das man nicht mit einer spöttischen Bemerkung oder der richtigen Summe Geld vom Tisch fegen konnte.

»Was trägst du eigentlich für eine biedere Frisur? Die passt überhaupt nicht zu dir«, stellte er fest, kaum dass sie an seinem Tisch stand.

»Seit wann interessiert es dich, wie ich meine Haare trage?« Alisons Ton war beißend, während sie sich ein schmallippiges Grinsen abrang, da Liz sie vom Tresen aus beobachten konnte.

»Ich hatte schon immer einen Blick für dich, Ali-Schatz. Und das hier passt nicht zu dir. Warum rufst du mich nicht an, wenn du Geld brauchst?« Das Lächeln, das sich auf seine Lippen legte, changierte zwischen Spott und aufrichtiger Großzügigkeit.

Alison stellte die Getränke vor ihm ab. »Trink einfach deinen Espresso und geh, okay?«

Das Lächeln verschwand. Sams blaue Augen zeigten eine Härte, mit der er sie nur selten bedachte. »Ali-Schatz, so geht das nicht. Du trägst meinen Namen. Es kann nicht angehen, dass die Frau –«

»Ex-Frau.«

»Es kann nicht angehen, dass eine Dexter als Servicekraft in einem Café arbeitet. Spiel meinetwegen wieder Detektivin, aber das hier«, er machte erneut eine ausschweifende Armbewegung, »das geht gar nicht.«

Spiel Detektivin. Seine Worte stachen ihr ins Herz. »Dies ist ein freies Land. Ich kann arbeiten, wo ich will.«

»Ist das so?« Er hob arrogant die Augenbrauen.

Alison spürte, wie die Gäste an den Nachbartischen die Ohren spitzten. Sie beugte sich zu ihm vor, stützte sich mit der Hand auf dem Tisch ab. »Genauso ist es!«, zischte sie ihm kaum hörbar ins Gesicht.

Sie starrten sich in die Augen, wie Gladiatoren in der Arena. Die Erkenntnis, dass sie sich nicht auf dieses Duell hätte einlassen sollen, kam Alison zu spät. In einer flinken Bewegung hatte er die Espressotasse umgekippt. Sie sprang zurück. Die dunkle Brühe lief über den Tisch, ein paar Spritzer waren auf seinem Hosenbein gelandet.

»Das ist ja wohl eine Unverschämtheit!« Er deutete empört auf die Flecken auf seiner Hose. »Können Sie denn nicht aufpassen?«

Aus den Augenwinkeln sah sie Liz von der Theke zum Schaufenster schauen und im nächsten Moment zur Tür eilen.

»Die Reinigung bezahlen Sie mir, Fräulein«, wetterte Sam weiter. »Sie sind ja völlig unfähig!«

»Bitte entschuldigen Sie«, rief Liz besorgt von der Tür. »Ach je, das tut mir so leid! Natürlich übernehmen wir die Reinigungskosten.«

In Alisons Ohren rauschte das Blut. Was zog ihr Ex da für eine miese Show ab? Sie drehte sich zum Nachbartisch um.

»Ich bringe Ihnen gleich einen neuen«, erklärte sie dem verdutzten Paar, als sie das noch halb volle Glas Latte macchiato nahm, sich in einer schwungvollen Bewegung wieder Sam zuwandte und ihm das Glas über das Hemd schüttete.

Ihr Ex schnappte nach Luft, als das Mixgetränk durch das Hemd auf seine Haut drang.

»Damit sich die Reinigung auch lohnt.« Sie wollte sich umdrehen und zurück in den Laden gehen, aber Liz packte ihren Arm.

»Bist du noch bei Trost, Alison? Du wirst dich auf der Stelle bei dem Herrn und bei den anderen Gästen entschuldigen, und dann packst du deine Sachen. Du bist entlassen. Fristlos. Die Rechnung für die Reinigung ziehe ich dir vom Gehalt ab.«

Hinter Liz’ Rücken warf Samuel Dexter ihr ein diabolisches Grinsen zu.

»Was für ein Arsch.« Grace MacKeith versuchte, ein Kichern zu unterdrücken. Vergeblich. Sie prustete los.

»Schön, dass dich mein Ex so amüsiert«, schnaubte Alison frustriert ins Telefon.

»Entschuldige.« Grace musste sich räuspern, um sich wieder in die Gewalt zu bekommen. »Aber der Trick war nicht schlecht, das musst du zugeben.«

»Grace! Ich hätte gern etwas Mitgefühl. Ich habe meinen Job wegen diesem Scheißkerl verloren! Wenn sich das herumspricht, bekomme ich auch in keinem anderen Café oder Pub einen Job! Ich habe kein Geld mehr. Ich weiß nicht, wie ich meine Miete zahlen soll. Ich weiß nicht, wie es überhaupt weitergehen soll!«

»Ali, jetzt übertreib mal nicht. Du findest wieder einen Job.«

Natürlich würde sie eine andere Arbeit finden. Aber es war nicht nur das. Sie starrte auf die Bilder, die an der Wand ihres kleinen Wohnzimmers hingen. Neben Fotos von Grace – sie waren Freundinnen seit Kindertagen – hingen dort zahlreiche Bilder von ihrer jüngeren Schwester Jeana, die gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Joyce das JJ’s, einen kleinen Pub mit Bed & Breakfast, in Thybster führte.

Alison war mit Jeana in dem Dorf aufgewachsen. Ein kleines Nest mit kaum dreihundert Einwohnern, wenige Meilen östlich von Thurso an der Küste zum Pentland Firth gelegen. Ihre Eltern waren Hippies und hatten ihnen alle Freiheiten der Welt gelassen. An Jeanas achtzehntem Geburtstag hatten sie ihr und Alison »Francis Cottage«, den Hof, auf dem sie groß geworden waren, übergeben und sich auf den Weg zu einer indischen Kommune gemacht, um sich selbst wieder zu finden. Seither waren sie nicht mehr nach Schottland zurückgekehrt.

Es war die Lebenslust gewesen, die Alison von Thybster fortzog. Sie hatte Informatik studiert und dann einen Job im technischen Kundensupport einer britischen Bank in Edinburgh angenommen. Dort lernte sie Samuel Dexter kennen.

Einige Jahre hatte sie an seiner Seite gelebt, sich von ihm in die »High Society« einführen und von seinem Charme blenden lassen. Nach drei Jahren hatte sie die Scheidung eingereicht und war nach Inverness gezogen.

Sie verzichtete auf jegliche Unterhaltszahlung und versuchte seither, auf eigenen Füßen zu stehen. Aber irgendwie wollte ihr das nicht gelingen. Als private Ermittlerin war sie gerade so über die Runden gekommen, finanzielle Rücklagen hatte sie nicht bilden können.

»Mir geht’s nicht gut«, seufzte sie ins Telefon.

»Das weiß ich.« Diesmal schwang aufrichtige Anteilnahme in Grace’ Stimme mit. »Komm ein paar Tage nach Thurso. Alles am Telefon zu besprechen ist blöd. Wie soll ich dich denn da in den Arm nehmen?«

Die Worte ihrer Freundin milderten Alisons inneren Aufruhr ein wenig. »Ich weiß nicht … die Sache mit Jeana. Ich hatte gehofft, mit etwas Abstand komme ich besser damit klar.« Sie konnte sich einfach nicht verzeihen, dass sie ihre Schwester in Gefahr gebracht hatte.

»Du musst aufhören, dich selbst zu zerfleischen. Jeana gibt dir keine Schuld, und sie würde sich sehr freuen, dich zu sehen.«

»Meinst du?«

»Muss ich dir das wirklich bestätigen? Das weißt du doch selbst. Pack jetzt deine Tasche, setz dich ins Auto und komm her! Wein, Bier, Cider oder Whisky? Was willst du trinken?«

»Am besten alles.«

Grace lachte. »Gut, dass ich morgen freihabe. Ich gehe jetzt einkaufen. Fahr vorsichtig.«

***

Elani saß mit den zwei anderen Mädchen wartend in ihrem Zimmer. Der Mann, der sich »Boss« nannte und sie in der Nacht an Land gebracht hatte, hatte sie in die obere Etage des alten Hauses geführt und ihnen verboten, das Zimmer zu verlassen. Es war ein großes, lang gezogenes Gebäude aus dickem angegrauten Sandstein mit kleinen Fenstern, die Rahmen weiß gestrichen.

Von dem langen Flur gingen mehrere Türen ab. Es gab zwei Bäder und mehrere Schlafzimmer. Der Geruch frischer Farbe hing in der Luft. Anscheinend waren die Räume erst vor Kurzem hergerichtet worden.

Boss hatte ihnen Seife und neue Kleidung gegeben. Keine von ihnen konnte sich erinnern, wann sie zuletzt saubere Unterwäsche getragen hatte.

Nachdem sie geduscht hatten, hatte er Essen in das Zimmer gebracht. Es war gutes Essen – kein vertrockneter Brotkanten, nicht der kalte Dosenfraß, den sie auf ihrer wochenlangen Odyssee hatten runterwürgen müssen, um nicht zu verhungern. Es gab einen Eintopf mit frischem Gemüse, Hühnchen und Brot. Sie waren gierig darüber hergefallen, hatten jeden Tropfen von den Tellern gekratzt.

Dann hatte Boss gesagt, dass Johnny, der Junge, der eigentlich Jomo hieß, aber so nicht genannt werden wollte, in einem anderen Zimmer schlafen müsse. Elani, die als Einzige ein wenig Englisch sprach, übersetzte, weil Johnny nicht verstand, was Boss wollte. Johnny hatte bei ihnen bleiben wollen, aber Boss hatte sich nicht erweichen lassen und ihn in ein anderes Zimmer gebracht.

Elani spürte leichte Verachtung für die Feigheit des Jungen. Wovor fürchtete er sich? Sie hatten das wilde Meer überlebt, meterhohe Wellen, Seekrankheit, Hunger, Durst. Und nun waren sie angekommen. Der Mann hatte ihnen Essen gegeben und Kleidung, sie würden die Nacht in einem richtigen Bett schlafen! Nun würde alles gut werden.

Am Morgen hatte Boss Frühstück gebracht: Toastbrot, Eier, Pilze, Tomaten, Bohnen, Würstchen und Speck. Ein Festmahl! Er hatte sie ermahnt, die Vorhänge nicht zur Seite zu ziehen und nicht hinauszuschauen.

Er war gegangen, und sie hatten gegessen, hatten herumgealbert und leise gekichert, wie Schulmädchen. Sie hatten es geschafft! Sie waren in Europa. In Schottland! Nun würden sie Arbeit bekommen und gutes Geld verdienen. Oder sie fanden einen reichen Mann, der sie heiraten würde. Sie würden nie wieder Hunger leiden. Sie könnten in einem Haus leben. Vielleicht könnten sie ihre Familien nach Europa holen.

Von unten drangen Stimmen zu ihnen herauf. Die des Mannes, und da waren noch zwei andere. Sie klangen laut und aufgeregt. Elani schlich zur Tür, presste das Ohr an das Holz. Die Menschen stritten. Das gefiel Elani nicht. Sie wünschte sich, sie sprächen langsamer und nicht so wild durcheinander, dann würde sie besser verstehen. Aber es waren zu viele Worte, die sie nicht kannte.

Ein Wort wiederholte sich. Sie kniff die Augen zusammen, als könnte sie dadurch besser hören. Das Wort. Da war es wieder.

»Virgin«, Jungfrau.

Der Klang zwickte sie hart in den Magen, ihr Puls schlug schneller. Sie zwang sich, weiter zu lauschen. Vielleicht hatte sie das Wort falsch verstanden. »Virgin.« Da war es wieder. Und »money«.

Money. Sie hatten kein Geld. Die Menschen hatten ihnen alles abgenommen: Geld, Schmuck, Smartphones, Papiere. Sie hatten nichts. Nicht einmal die Kleidung, die sie jetzt trugen, gehörte ihnen.

Unwillkürlich umfasste Elani den kleinen Anhänger, der an einem Lederband um ihren Hals hing. Es war ein unförmiger Stein mit einem Loch. Nichts Wertvolles. Sie hatte ihn in ihrer Heimat gefunden. Er hatte im Dreck gelegen, unbeachtet im Straßenstaub, so wie sie selbst, um jeden Naira bettelnd.

Sie schielte unter gesenkten Lidern zu den Mädchen, die mit ihr gekommen waren. Zara und Najuma waren zwei Jahre jünger als sie und so hübsch. Elani selbst fand sich nicht schön. Sie hatte breite Schultern und nur einen kleinen Busen, dazu kurzes lockiges Haar, das einfach nicht wachsen wollte. Zara und Najuma hatten langes schwarzes Haar, glänzend wie das Gefieder eines Kormorans in der Sonne, auch ihre Haut war glatter als Elanis. Sie konzentrierte sich wieder auf den Streit in der unteren Etage, presste angestrengt die Lippen zusammen. Worte flogen hin und her.

»Elani, was ist?«, fragte Najuma.

»Scht!« Die Menschen redeten zu schnell. Sie verstand einzelne Worte, aber keine Sätze, nicht die Bedeutung. Doch ihr Herz verstand, es schlug aufgeregt in ihrer Brust. Sie löste sich vom Türblatt, ihr Atem ging schwer. Sie sah ihre beiden Genossinnen an. Sie waren so jung.

Virgin. Jungfrau.

»Wir müssen weg«, wisperte Elani.

»Aber wir sind doch gerade erst angekommen.« Die Mädchen verstanden nicht. Wie auch. Sie sprachen die Sprache nicht.

Unten wurde es leise. Eine Tür schlug zu.

ZWEI

Thurso

Thurso Beach hatte schon bessere Tage gesehen. Noch immer war ein Abschnitt der Strandpromenade abgesperrt, weil dort ein Stück der Betonplatte bereits vor Monaten abgebrochen war. Die Gemeinde hatte die Reparatur noch nicht beauftragt.

Alison spazierte barfuß im Sand am Ufer des Pentland Firth. Sie hatte die Hosenbeine hochgekrempelt, und die seichten Wellen umspülten ihre Knöchel. Sie genoss die sanfte Berührung des kalten Wassers, während die Sonne von einem strahlend blauen Himmel ihr Gesicht wärmte. Keine Wolke am Firmament. Möwen schaukelten auf den Wellen. Der Wind wehte ihr die Haare aus dem Gesicht.

Sie blieb stehen und ließ den Blick über den Firth schweifen. Links von ihr führte der Weg die Küste entlang von Thurso zum Scrabster Harbour. Die Fähre von Stromness steuerte gerade auf den Kai zu. Es hatte den Anschein, als tuckere das Schiff gemütlich zwischen Inseln und Festland vor sich hin, aber Alison wusste, dass die See zwischen Hoy und dem Fährhafen auf dem Festland tückisch war. Das Zusammentreffen von Nordsee und Nordatlantik sorgte in der Meerenge für schwierige Strömungen und Windverhältnisse, häufig genug gab es dadurch Verspätungen oder Ausfälle von Fährfahrten.

Sie schaute zu den Orkney-Inseln hinüber. Die Silhouette der Felsküste von Hoy zeichnete sich in der Ferne deutlich gegen den Himmel ab, die Felsnadel – der »Old Man of Hoy« – war an diesem Tag gut zu erkennen. Ein Stück weiter östlich ragte die hohe Steilküste von Dunnet Head aus dem Wasser, der nördlichste Zipfel des Festlandes.

Alison sog die salzige Luft tief in ihre Lungen. Sie hatte Grace’ Einladung angenommen, in aller Eile ein paar Kleidungsstücke in eine Tasche geworfen und war am Freitagabend noch nach Thurso gefahren. Ihre Freundin hatte Wort gehalten und eine beachtliche Auswahl an Alkoholika eingekauft. Einen guten Teil davon hatten sie in den vergangenen Tagen vernichtet.

Ausnahmsweise war es einmal von Vorteil, nicht zur Arbeit gehen zu müssen, dachte sie. So konnte sie ihren Kater in Ruhe pflegen. Grace hatte an diesem Montagmorgen ihre Schicht bei der Thurso Police angetreten. Sie war Police Sergeant und trug Verantwortung für die Koordination von vier Police Officers. Alison beneidete sie nicht.

Ein Seehund streckte seine Nase aus dem Wasser, schaute sich um und tauchte wieder ab. Vermutlich auf der Jagd nach einem kleinen Mittagssnack, was Alison daran erinnerte, dass sie noch nicht einmal gefrühstückt hatte. Sie beschloss, in den Ort zu gehen, um eine Kleinigkeit zu essen. Innerlich schimpfte eine Stimme, warum sie nicht nach Thybster zum Pub ihrer Schwester fuhr.

Wie lange würde es noch dauern, bis sie Jeana wieder unbefangen gegenübertreten konnte? Ohnehin war es nicht fair, so nah bei ihr zu sein und nicht bei ihr vorbeizuschauen.

Ihr Smartphone klingelte, das Display zeigte keine Nummer an. Alison überlegte, den Anruf zu ignorieren, aber ihre Neugier war stärker.

»Aye?«

»Ich bin’s, Hamish. Leg bitte nicht auf«, schickte er dem Gruß eilig hinterher.

Der Klang seiner vertrauten dunklen Stimme entfachte ein sehnsüchtiges Ziehen in ihrem Körper. Hatte sie gerade noch in den Ort gehen wollen, wandte sie sich nun wieder dem Meer zu. Hamish Brannigan. Fast drei Jahre hatte sie eine Affäre mit ihm gehabt – ein verheirateter Mann mit zwei Kindern. Und nun, nachdem seine Frau von ihnen wusste und die Scheidung eingereicht hatte, konnte sie vor lauter Schuldgefühlen nicht mehr mit ihm zusammen sein.

Was war nur mit ihr los? Sie war sechsunddreißig – wenn sie eine Familie gründen wollte, blieben ihr nicht mehr allzu viele Jahre.

Sie bemühte sich um einen neutralen Ton. »Wieso rufst du mit unterdrückter Nummer an?«

»Weil du meine Anrufe sonst nicht annimmst. Wo bist du gerade?«

»Bei Grace. Und du?«

»Was denkst du wohl?«

In Inverness vor ihrer Wohnungstür. Sie seufzte. »Hamish, ich brauche Abstand. Ich muss erst einmal mit mir selbst wieder klarkommen, das hatten wir besprochen. Eine Pause, bis ich wieder ich selbst bin.«

»Ich wollte nur einen Tee mit dir trinken.«

»Auch dazu ist es noch zu früh. Ruf mich bitte nicht mehr an, schon gar nicht mit unterdrückter Nummer, sonst kann ich bald keine Telefonate mehr annehmen und muss mir eine neue Nummer zulegen.«

»Ali –«

Sie drückte das Gespräch weg, hob den Blick zum Himmel und stieß die Luft aus.

»Okay, Ali, krieg dein Leben in den Griff!«, befahl sie sich laut. Sie würde jetzt zu ihrem Wagen gehen und nach Thybster fahren. Jeana würde sich freuen.

Thybster

»Verfluchte Scheiße, nimm deine Wichsgriffel von mir, oder ich tret dir so in die Eier, dass sie dir aus den Augen fallen, du Arschloch!«, brüllte Kimberly Hart ihrem Gegenüber ins Gesicht.

Marley MacKeith wich vor der Frau, die er um fast einen Kopf überragte, zurück. Nach dem ersten Überraschungsmoment zuckten seine Mundwinkel verdächtig. Kim warf ihm einen mahnenden Blick zu, und er unterdrückte mit Mühe das Lachen.

Jeana Johnson starrte sie beide fassungslos an.

Kim drehte sich zu ihr herum. »Hast du gesehen? So macht man das.«

»Aber …« Noch immer war Jeana sprachlos über die erlebte Darbietung. Die schlanke Schottin war die sanftmütigste Person, die Kim jemals kennengelernt hatte, und dazu noch wunderschön. Das lange rotblonde Haar fiel in weichen Wellen über Jeanas schmale Schultern. Sie hatte einen hellen Teint, auf der Nase tanzten ein paar Sommersprossen. Die Lippen waren perfekt geschwungen. Sie war fast so groß wie Marley, erweckte aber dennoch den Eindruck einer zarten Elfe, die man beschützen musste.

Kim kam sich in ihrer Gegenwart manchmal wie ein kleiner Klops vor. Obwohl sie nicht dick war. Sie war kompakt, hatte Muskeln vom jahrelangen, intensiven Boxtraining. Seit sie vor wenigen Wochen offiziell vom Wettkampfsport zurückgetreten war und nicht mehr auf ihr Gewicht achten musste, um in der Leichtgewichtsklasse ihren Weltmeisterinnentitel zu verteidigen, hatte sie allerdings ein paar Kilo zugelegt. Und das, obwohl sie tagtäglich mit Marleys Vater Douglas auf den Schafweiden unterwegs war, regelmäßig joggen ging und zweimal in der Woche in einem Kampfsportclub in Thurso trainierte.

»Du hast gesagt, du willst lernen, dich zu verteidigen«, erinnerte Kim ihre Freundin, warum sie sich an diesem Vormittag im Hof von Francis Cottage getroffen hatten.

»Ja, aber … doch nicht so aggressiv.«

»Anders kapiert das ein Kerl nicht, der dir mit Gewalt an die Wäsche will. Es bringt nichts, wenn du ihn mit Piepsstimme höflich bittest, dir nicht an den Busen zu fassen.«

»Aber ich kann nicht so rumbrüllen wie du.«

»Doch, das kannst du. Und wir üben das jetzt.« Kim wandte sich Marley wieder zu, der lässig an der Werkstattwand lehnte und das Ganze offensichtlich für einen großen Spaß hielt. Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen und ließ sogleich ein paar Schmetterlinge in Kims Unterleib auffliegen.

Die schwere Arbeit als Küfer und Zimmermann hatte Marleys Körper geformt. Er war groß und muskulös, konnte zupacken und auch zuschlagen, wenn es darauf ankam. Im Ernstfall hätte Jeana keine Chance gegen ihn. Allerdings würde Marley niemals eine Frau körperlich angehen.

»Ich mach das hier nicht, damit du dich amüsierst«, erklärte Kim streng, obwohl sie ihm eigentlich gern durch die kurzen dunklen Haare gefahren wäre. Er sah verdammt sexy aus. »Los, du belästigst jetzt Jeana, so wie wir es gerade vorgemacht haben. Grapsch sie an.«

Sein Grinsen verschwand. »Ich fasse Jeana doch nicht an den Busen.«

»Mir hast du doch auch an den Busen gefasst.«

»Du bist ja auch meine Freundin. Und deine Reaktion hat mich gerade wirklich erschreckt.«

»Siehst du.« Kim schaute triumphierend zu Jeana. »Es funktioniert.«

»Bei dir vielleicht, aber ich kann das nicht.« Jeana warf Marley, der sich zumindest von der Wand abgestoßen und mit verschränkten Armen breitbeinig vor ihr aufgebaut hatte, einen zweifelnden Blick zu.

»Brüll ihm einfach irgendwas ins Gesicht.«

Jeana verzog grübelnd den Mund. »Ich weiß nicht, was ich brüllen soll.«

»Dass der Arsch dir aus der Sonne gehen soll«, schlug Kim vor.

Wieder sah Jeana ratlos zu Marley. »Du …«

»Lauter«, forderte Kim.

»Du …« Sie räusperte sich und nuschelte verlegen: »Du Arsch, geh weg!«

Marley presste die Lippen fest zusammen, bemüht darum, ernst zu bleiben, aber als auch Jeanas Mundwinkel zu zucken begannen, prustete er los. Die beiden lachten, bis ihnen die Tränen kamen.

»Ihr Luschen«, stöhnte Kim auf, obwohl es ihr gefiel, die beiden endlich einmal wieder so herzhaft zusammen lachen zu sehen.

Allerdings würde Jeana so niemals lernen, sich zu verteidigen. Kim musste einen anderen Weg finden, der sanften Schottin das Brüllen beizubringen.

Thurso

Vor »Rosie’s Café« hatte sich eine Schlange gebildet. Mittagszeit, die Leute aus der Stadt kauften ihren Lunch. Kurz war Alison versucht, sich einzureihen. Erst einmal stärken, bevor sie nach Thybster fuhr. Aber das war nur eine fadenscheinige Ausrede, das Wiedersehen hinauszuzögern, durchschaute sie sich selbst. Ebenso gut konnte sie bei Jeana etwas essen. Ihre Schwester war eine hervorragende Köchin.

Der Fußweg vor dem Café war zur Straße hin mit einem Metallgitter abgesperrt, damit die Kunden nicht auf die High Street stolperten. Alison tippte einer wartenden Frau, die mit dem Rücken zu ihr auf dem Weg stand, auf die Schulter, damit sie vorbeigehen konnte. »Entschuldigen Sie.«

Die Frau drehte sich zur Seite, um ihr Platz zu machen. Alison starrte sie verdutzt an. Sie kannte das Gesicht – schmale dunkle Augenbrauen schwangen sich im perfekten Bogen über die blauen Augen, deren Lider mit einem pastelligen Flieder eingepudert waren. Dezent aufgetragenes Rouge betonte die Wangenknochen, der rosafarbene Lippenstift war kräftig, aber nicht knallig.

Auch im Blick der anderen Frau zeichnete sich Erkennen ab. »Alison?«

Alison fluchte innerlich. Hätte sie sich doch nur mit gesenktem Kopf einfach durch die Menge gedrängelt. »Aye«, erwiderte sie schwach.

Violet Thompson lächelte nervös und strich sich eine Strähne ihrer blondierten Haare aus der Stirn. »So eine Überraschung. Ich dachte, du lebst in Inverness.«

»Da lebe ich auch … bin zu Besuch.«

»Ja … ich … ähm … auch.«

Alison musterte ihr Gegenüber genauer. Sie kannte Violet noch aus der Zeit, als sie mit Samuel Dexter verheiratet gewesen war. Violet hatte noch nie gestammelt. Sie war eine Frau der »Upper Class« und hatte Alison gern spüren lassen, dass sie nicht dazugehörte und auch nie dazugehören würde. In ihre Kreise musste man hineingeboren werden oder zumindest über entsprechendes Kapital verfügen.

Alison war ein Landmädchen, ihre Eltern waren Hippies, die von der Hand in den Mund lebten. Sie war in Thybster aufgewachsen, einem nach Violets Empfinden »unbedeutenden Nest im langweiligen Norden«. Weder Galerien noch Ausstellungen, keine großen Konzerthallen oder bedeutenden Theaterbühnen. Violets Meinung nach war das höchste Maß an Kultur hier oben an der Küste erreicht, wenn ein später Gast betrunken im Pub Robert Burns’ Gedichte zitierte.

»Ich wusste nicht, dass du hier Freunde hast«, stellte Alison verwundert fest. »Wen besuchst du?«

»Oh, ähm … niemanden. Ich bin nur auf der Durchreise.«

In Thurso auf der Durchreise? Alison wusste, dass es Touristen gab, die mit ihren Caravans über die NC500 die nördlichen Highlands umrundeten. Wohin wollte Violet »durchreisen«? Von John O’Groats nach Bettyhill? Bei dem Gedanken hätte sie fast gelacht.

Die Reihe der Wartenden bewegte sich, aber Violet blieb, wo sie war. »Sam sagt, du betreibst eine Detektei.«

»Mhm«, murmelte sie unbestimmt. Es ging Violet nichts an, dass sie ihre Tätigkeit als private Ermittlerin an den Nagel gehängt hatte.

»Er scheint richtig stolz auf dich zu sein.«

»So? Ist er das?« Sie konnte den Sarkasmus in ihrer Stimme nur schwer unterdrücken.

»Ja, und er sagt, es macht ihm Spaß, wenn er dir ab und zu bei deinen Ermittlungen helfen kann.«

»Aha.« Alison nickte wie ein Wackeldackel auf der Hutablage eines alten Fords. Der gute Sam. Wenn er so viel Spaß daran hatte, ihr zu helfen, hätte sie ihm im Ness Café vielleicht besser das Tablett in die Hand gedrückt, statt ihm den Latte macchiato übers Hemd zu kippen, ging es ihr zynisch durch den Kopf.

Sie konnte sich vorstellen, wie Sam sich vor seinen Freunden aufgeplustert hatte, nur weil sie ihn mal um einen kleinen Ratschlag gebeten hatte. Vermutlich schmückte er seine Erzählungen so aus, dass alle dachten, er würde ihre Fälle lösen.

Sie hatte keine Lust, mit Sams Freunden über ihn zu sprechen. Er war schuld, dass sie ihren Job verloren hatte, und die miese Tour, mit der er das geschafft hatte, würde sie ihm nicht verzeihen. »Ich muss weiter … bin verabredet.«

Violet nickte, die langen goldenen Ohrringe schwangen munter mit. »Es war schön, dich zu sehen.«

»Ja«, erwiderte Alison automatisch. Sie musterte ihr Gegenüber argwöhnisch. Hatte Violet getrunken? Wann hatte sie sich je über ein Treffen mit ihr gefreut? Überhaupt war ihr ganzes Gehabe seltsam. Diese Freundlichkeit passte nicht zu ihr.

Aber wahrscheinlich war es ihr nur peinlich, dass sie sich begegnet waren, während sie offensichtlich in der Warteschlange eines »gewöhnlichen« Cafés in einem »langweiligen Nest an der Nordküste« stand. Zudem trug sie lediglich schlichte Bluejeans und eine bedruckte Bluse, zwar keine Billigware einer Kaufhauskette, aber in Glasgow stolzierte sie normalerweise in einem ihrer eleganten Kostüme herum.

Was ging sie Violet Thompson an? Sie lebte nicht mehr in Samuel Dexters Welt und musste sich mit dieser affektierten Ziege nicht noch länger unterhalten. »Also dann, mach’s gut.«

Sie wollte weitergehen, als Violet sie bremste: »Alison.«

Sie wandte sich ihr noch einmal zu. »Ja?«

Violet lächelte verkrampft. »Brodie und ich wohnen jetzt in Dornoch.«

»Schön.« Gegen ihren Willen fragte Alison sich, was die beiden bewogen haben mochte, von ihrer Villa in der Kulturmetropole Glasgow in ein Dorf an der Ostküste zu ziehen. Aber sie verbot sich nachzufragen.

»Ich bin hin und wieder in Inverness, das ist ja nicht so weit von Dornoch entfernt. Vielleicht können wir mal zusammen einen Tee trinken? Ich würde mich freuen.«

»Sicher«, hörte Alison sich sagen. Die Freundlichkeit, gepaart mit der Unsicherheit, die sich in Violets Gesicht spiegelte, irritierte sie zunehmend. Sie suchte in ihrer Tasche nach einer Visitenkarte. Auch wenn sie die Detektei nicht mehr betrieb – die Handynummer war geblieben. »Ruf mich an, wenn du in der Stadt bist.«

»Mach ich.« Violet verstaute die Karte sorgfältig in ihrer hellbraunen Brieftasche mit goldenem Monogramm. »Ich melde mich bei dir. Ganz bestimmt.«

Vermutlich würde sie nie wieder etwas von Violet Thompson hören.

***

Vier Tage hatten sie in dem Haus verbracht. Sie durften im oberen Flur herumlaufen, aber alles andere hatte Boss verboten. Die Vorhänge mussten zugezogen bleiben. Sie durften nicht zu laut sein. Sie durften nicht nach draußen, und auch die Fenster mussten geschlossen bleiben.

Die frische Luft fehlte Elani. Und die Sonne. Ein paarmal hatte sie es gewagt, zwischen den Gardinen durchzulinsen. Es gab nicht viel zu sehen. Der Blick ging zu einer Weide, die von einer brüchigen Trockensteinmauer eingegrenzt war. Auf der Weide grasten Kühe. Schwarze, braune, gefleckte. Das Gras war saftig grün. Keine trockene Savanne.

Ein breiter Feldweg führte am Haus vorbei. Als sie wieder einmal durch den schmalen Ritz zwischen den Vorhängen lauerte, sah sie zwei Kinder in bunten Hemden und kurzen Hosen mit Rucksäcken auf dem Rücken am Haus vorbeiradeln. Dann wandte plötzlich einer der Jungen den Blick zum Haus. Er sah zu ihrem Fenster und geriet ins Straucheln. Sie war eilig ins Innere des Raumes zurückgesprungen. Das Herz pochte ihr bis zur Kehle hinauf.

Nachts in ihrem Bett hörte sie das Rauschen der Brandung. Die Wellen schlugen in einem stetigen Kommen laut klatschend gegen die Kaimauern. Nie wieder wollte sie aufs Wasser. Die See war rau gewesen, das Schiff hatte stark geschaukelt. Es war kalt und muffig in dem Raum gewesen, in dem sie sich versteckt hatten. Noch immer spürte sie einen leichten Schwindel von der Überfahrt. Selbst wenn sie ganz still saß, schien die Welt zu schwanken. Sie fragte sich, ob dieses Gefühl je wieder verschwinden würde.

Sie sahen nur den Mann, der ihnen dreimal täglich Essen brachte. Es war noch jemand im Haus, das erkannte sie an den Stimmen. Aber sie bekamen diese Person nie zu Gesicht.

Elani war beunruhigt wegen des Streits, den sie gehört hatte, aber Zara und Najuma wollten ihre Sorge nicht teilen. Sie waren erschöpft, wollten nicht schon wieder fliehen. Sie schliefen und aßen, versuchten, nach der langen Reise wieder zu Kräften zu kommen. Sie träumten von einer guten Arbeit, einem reichen Mann, einem guten Leben.

Virgin. Da wartete kein gutes Leben auf sie, war Elani sich mehr und mehr sicher. Sie versuchte, heimlich mit Jomo-Johnny zu sprechen. Sie konnte ihre Angst nicht benennen, aber etwas sagte ihr, dass sie fortmussten.

Doch Boss hatte Johnny einen Job versprochen. Er würde viel Geld verdienen, das er nach Hause zu seiner Familie schicken könnte. Er gab ihm Zigaretten, die seltsam rochen, und Johnny fing an zu rauchen, obwohl er davon fürchterlich husten musste. Aber er lachte auch viel, und er hatte ein englisches Wort gelernt: »Money, money, money«, rief er grinsend und offenbarte dabei eine breite Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen.

Am Abend des vierten Tages kam Boss zu ihnen und sagte, dass sie nun weiterfahren müssten. Er würde sie in die Stadt bringen. Dort gäbe es Arbeit. Und er würde ihnen Papiere besorgen, damit sie bleiben konnten.

Sie stiegen in ein Auto. Ein kleiner Transporter, der nur vorne Fenster hatte. Sie saßen hinten im Laderaum, wieder auf dem Boden, nur eine Decke als Unterlage, spürten jede Unebenheit der Straße, jede Kurve, ohne zu wissen, wohin die Fahrt ging. Boss sprach nicht. Er hatte das Radio eingeschaltet, aus dem laute Musik plärrte.

Elani wusste nicht, wie lange die Fahrt dauerte, sie hatte keine Uhr. Aber es war dunkle Nacht, als der Wagen hielt. Boss stieg aus, ging um das Auto herum und öffnete die Heckklappe. Er stand im Gegenlicht einer schwachen Straßenlaterne. Ein dunkler Schatten. Sie konnten seine Mimik nicht erkennen.

Sie wollten alle aufstehen, aber er schüttelte den Kopf, zeigte mit dem Finger auf Elani. »Du, komm mit.«

DREI

Inverness

Alison saß in der schmalen Küche ihrer Wohnung und starrte auf den Monitor ihres Laptops.

Am Morgen war sie zurück nach Inverness gefahren. Sie hatte Jeana nicht besucht, und das steigerte ihre Schuldgefühle gegenüber ihrer Schwester noch mehr. Sie musste sich einen neuen Job suchen, entschuldigte sie ihr Verhalten vor sich selbst. Sie brauchte Geld.

In der Hoffnung, dass ihre Ersparnisse zumindest noch diesen Monat für Essen und Miete reichen würden, rief sie ihr Bankkonto auf. Grace hatte angeboten, ihr finanziell auszuhelfen, aber Alison wollte keine Schulden machen. Was, wenn sie das Geld nicht zurückzahlen könnte? Dann wäre ihre Freundschaft damit belastet, und das war es nicht wert. Eher würde sie unter einer Brücke schlafen.

Sie strich sich die dunklen Haare aus der Stirn. Blinzelte, um den Blick wieder zu fokussieren. Die Zahl, die ihr als Guthaben angezeigt wurde, musste ein Irrtum sein. Sie rief die Zahlungsein- und -ausgänge der letzten sieben Tage auf. Kein Irrtum. In ihrem Inneren rumorte es.

Sie nahm ihr Smartphone und wählte Sams Nummer.

»Was soll der Scheiß?«, blaffte sie ihn an, kaum dass er ihren Anruf angenommen hatte.

»Ali-Schatz, es ist immer wieder eine Freude, deine Stimme zu hören«, erwiderte er unbeeindruckt in seinem gewohnten leicht spöttischen Ton.

»Ich will dein Geld nicht!«

»Das mag sein, meine Liebe.« Seine Worte trieften vor Selbstgefälligkeit. »Aber du brauchst es.«

»Nicht von dir!«

»Ali-Schatz, nimm es als kleine Wiedergutmachung für den amüsanten Vorfall vom vergangenen Freitag. Wie konnte ich denn auch ahnen, dass die gute Frau dich gleich entlassen würde?«

Alison stöhnte auf. Warum hatte sie ihn angerufen? Sie hätte einfach das Geld zurücküberweisen sollen.

»Ali, mein Liebe, bevor du gleich auflegst, möchte ich dir etwas sagen.«

Oh, kam jetzt eine fadenscheinige Entschuldigung für seinen miesen Trick, sie bei ihrer Chefin in Misskredit zu bringen? Alison verzog genervt das Gesicht.

Nachdem sie nichts sagte, fuhr er fort: »Du hast die Wahl, das Geld zu behalten, damit du deine Miete zahlen kannst, oder ich werde die Wohnung kaufen und dich mietfrei darin wohnen lassen.«

»Die Wohnung steht nicht zum Verkauf.« Das hoffte sie zumindest.

»Ali-Schatz, du weißt doch: Es ist alles lediglich eine Frage des Betrages.«

»Dann ziehe ich um.«

»Jetzt sei nicht kindisch.« Sein Ton wurde ungewohnt ernst. »Ich verlange nichts dafür, außer dass du nicht mehr in irgendwelchen Cafés oder Pubs arbeitest. Es geht nicht an, dass eine Dexter meine Freunde bedient!«

Alison schnaufte abfällig. »Als ob die ins Ness Café gehen würden.«

»Was denkst du denn, woher ich wusste, dass du dort arbeitest?«

»Ich lasse mich nicht von dir kaufen.«

»Ich will dich nicht kaufen, ich versuche lediglich, dir zu helfen. Das Geld müsste reichen, damit du bis Ende des Jahres deine Miete zahlen kannst und nicht verhungerst. Bis dahin solltest du wieder auf eigenen Füßen stehen können.«

»Ich stehe auf eigenen Füßen!«

»Im luftleeren Raum vielleicht. Ali-Schatz, arbeite weiter als Detektivin, mach eine Hippie-Boutique auf, werde meinetwegen Falknerin oder schreib ein Buch über deine Kindheit auf dem Land – alles passt besser zu dir, als anderen Leuten Tee zu servieren.«

Sie erinnerte sich an Violets Worte, dass Sam so stolz von ihrer Arbeit als Detektivin erzählt hatte. »Weil meine Arbeit als Kellnerin nicht genug Prestige hat und du vor deinen Freunden damit nicht angeben kannst?«, erwiderte sie beißend.

Er schnalzte mit der Zunge. »Weil es nicht zu dir passt. Du bist eine Rebellin und musst dein eigener Herr sein.«

So oberflächlich Samuel Dexter auch immer daherkam, damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie hasste es, wenn ihr jemand vorschrieb, was sie zu tun hatte. Und sie hasste es, wenn Sam recht hatte.

»Ali-Schatz, so gern ich noch mit dir plaudern würde, aber entschuldige mich bitte, der Golfplatz ruft. Wenn du mal wieder Lust auf eine Runde hast, lass es mich wissen. Bis bald, mein Herz.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, drückte er das Gespräch weg.

Alison legte das Smartphone zur Seite. Sams unbekümmerte Art, das Leben als einen großen Spielplatz zu sehen, hatte sie begeistert, als sie ihn vor gut zehn Jahren in Edinburgh kennengelernt hatte.

Sam war Kunde der Bank, für die sie damals gearbeitet hatte. Seine Stimme am Telefon war sympathisch gewesen. Er rief sie öfter an, flirtete mit ihr, lud sie zum Essen ein. Er hatte ihr Rosensträuße und teure Kleider gekauft und sie in seine versnobten Kreise eingeführt. Es schien nichts zu geben, was er ernst nahm, und er ließ sich von niemandem etwas sagen, was leicht war, wenn man sich mit schmutzigen Insidergeschäften am Aktienmarkt eine goldene Nase verdient hatte.

Als er ihr einen Heiratsantrag machte, hatte sie nicht gezögert, blind vor Verliebtheit und geblendet von seinem Charme, seiner Wortgewandtheit und, das musste sie sich eingestehen, auch von seiner Großzügigkeit. Bis sie nach und nach seine andere Seite entdeckte: seine Skrupellosigkeit als Geschäftsmann, seine Untreue, seine selbstverliebte Arroganz.

Obwohl sie sich vor sieben Jahren von ihm getrennt hatte, suchte er weiterhin ihre Nähe. Vielleicht war es sein verletztes Ego – denn dass er sie liebte, glaubte sie ihm nicht. Während ihrer Ehe und auch danach hatte er es zwar immer wieder behauptet, was ihn jedoch nicht davon abgehalten hatte, vor, während und nach ihrer Liaison mit zahlreichen anderen Frauen ins Bett zu gehen.

Er war verwundert gewesen, dass sie das störte – waren ihre Eltern doch Hippies und sie und Jeana mit freier Liebe und ohne Regeln aufgewachsen. Doch diese Freizügigkeit hatte einen gravierenden Nachteil gehabt: Es fehlte die Verlässlichkeit, und das war es, wonach Alison sich sehnte.

Sie sah zum Fenster. Der Himmel zeigte sich in blassem Grau. Welchen Weg sollte sie einschlagen? »Werde Falknerin oder schreib ein Buch …« Das würde Jeana gefallen. Alison schnaufte ratlos. Es würde zu ihrer Schwester passen. Aber nicht zu ihr.

Die Melodie ihres Smartphones riss sie aus ihren Grübeleien. Die Nummer im Display war ihr unbekannt.

»Aye?«

»Hallo«, meldete sich eine weibliche Stimme zaghaft am anderen Ende. »Alison, bist du das?«

»Violet?«, fragte Alison verdutzt.

»Ja … Bist du noch in Thurso?«

»Nein, ich bin in Inverness.«

Sie hörte Violet erleichtert aufatmen. »Kann ich zu dir kommen?«

Thybster

Kim duschte eilig und tauschte die Arbeitskleidung gegen Jeans und ein langärmliges Shirt. Es war zwar Sommer, aber die Temperaturen lagen unter zwanzig Grad, und an der Küste wehte dazu immer ein kühler Wind.

Die Arbeit auf den Weiden hatte länger gedauert als gedacht. Sie hatte gemeinsam mit Douglas MacKeith zahlreiche Zäune instand gesetzt. Es war eine harte Arbeit – ihre Arme und Schultern schmerzten von den ungewohnten Bewegungen. Immer wieder hatte sie den schweren Hammer heben müssen, um die Holzpfähle in den Boden zu rammen. Aber sie mochte körperliche Arbeit. Und es war ein befriedigendes Gefühl, am Ende des Tages das Resultat ihrer Mühe zu sehen.

Sie war Douglas MacKeith dankbar, dass er ihr die Chance gab, auf seiner Farm zu arbeiten und etwas über die Schäferei zu lernen. Sie arbeitete gegen Kost und Logis und unter der Voraussetzung, dass sie alle paar Wochen nach Deutschland fliegen konnte.

Das war der Deal, den sie mit ihrem Vater Lothar gemacht hatte. Ihre Boxerinnenkarriere hatte sie beendet, sie würde aber weiterhin regelmäßig zu ihm nach Hamburg reisen, um seinen Boxstall zu promoten und mit dem Nachwuchs zu trainieren. Es hatte den Vorteil, dass sie sich damit ein wenig Geld verdiente, da Douglas ihr kein Gehalt zahlen konnte.

Sie wohnte auf der Farm. Douglas hatte ihr Marleys ehemaliges Jugendzimmer überlassen. Es lag direkt unterm Dach, mit Blick auf die Weiden. In der Ferne konnte sie bei klarem Wetter sogar das Meer sehen.

Douglas lebte, nachdem seine Frau ihn verlassen und seine beiden Kinder ihre eigenen Wege gegangen waren, allein auf der Farm. Er war wortkarg und kein Mensch, der seine Gefühle offen auf der Zunge trug. Aber er mochte sie, das spürte sie, wenn er ihr Frühstück bereitete oder ihr etwas über das Leben und seine Arbeit als Schäfer erklärte.

Er saß auf der Bank vor seinem Haus, als sie herauskam. Trevor lag zu seinen Füßen. Der schwarz-weiß gefleckte Border Collie hob den Kopf, als Kim vor ihm in die Hocke ging. Sie kraulte ihn hinter den Ohren.

»Du musst fahren lernen«, erklärte Douglas ohne einleitende Worte.

Kim sah zu ihm auf. Sie besaß keinen Führerschein und hatte noch nie ein Auto oder ein Mofa gelenkt.

»Wir fangen morgen an. Mit dem ATV.«

Bei dem Gedanken rebellierte ihr Magen nervös. Das All Terrain Vehicle war ein Quad mit großen Stollenreifen, das Douglas nutzte, um die Weiden abzufahren und verlorene Schafe wieder einzusammeln. Bisher war sie immer nur als Sozius auf dem Rücksitz bei ihm mitgefahren. »Hat das nicht Zeit? Ich bin doch ohnehin ab Sonntag weg, da verlerne ich ja alles gleich wieder.«

»Jetzt ist das Wetter gut. Willst du es im Regen lernen? Im Matsch und Schlamm?«

Sie hob unschlüssig die Schultern.

»Du kannst im Winter nicht mit dem Fahrrad nach Thurso zu deinem Training fahren. Du musst fahren lernen«, wiederholte er.

»Es gibt doch den Bus.«

Er suchte ihren Augenkontakt. »Wovor hast du Angst?«

Sie blickte zu dem Gefährt, das in dem Carport neben dem Haus stand. Es schien ihr groß und unberechenbar. »Dass ich es nicht kann.«

»Unsinn. Jeder kann fahren lernen. Marley konnte mit neun Jahren schon den Traktor mit Anhänger fahren.«

»Ich werde Marley fragen, ob das stimmt«, tat sie so, als würde er übertreiben.

Es gefiel ihr, wenn Douglas etwas Positives über seinen Sohn sagte. Die beiden standen sich seit einem Vorfall in Marleys Kindheit nicht sehr nahe, zudem hatte Douglas ihm nicht verziehen, dass er nicht in seine Fußstapfen treten und die Schaffarm weiterführen wollte.

Stattdessen hatte Marley eine Ausbildung zum Zimmermann und zum Küfer gemacht. Auf Francis Cottage hatte er sich eine kleine Werkstatt eingerichtet. Das Cottage lag auf der anderen Straßenseite, kaum eine Meile entfernt von Douglas’ Farm, am Ortsausgang von Thybster. Es gehörte eigentlich den Schwestern Jeana Johnson und Alison Dexter. Da beide aber nicht in ihrem einstigen Elternhaus leben wollten, hatten sie es an Marley verpachtet, nachdem er ein paar Jahre als Handwerker durch Europa getingelt und wieder in seinen Heimatort zurückgekehrt war.

Sie verabschiedete sich und lief mit flotten Schritten die Hofeinfahrt zur Straße hinauf.

Marley wartete bereits auf sie. Er hatte nach der Arbeit geduscht, das verrieten die noch feucht glänzenden dunkelbraunen Haare. Statt Arbeitshose trug er Jeans und T-Shirt. Wie sein Vater saß er auf einer Bank vor seinem Haus. Bei dem Anblick schüttelte Kim den Kopf. Die beiden waren sich in manchen Dingen so ähnlich, und trotzdem konnten sie ihre Differenzen nicht beilegen.

»Was ist?«, fragte Marley irritiert.

Sie ließ sich neben ihm auf die Bank nieder. »Es ist so absurd. Du sitzt hier vor dem Haus, dein Vater sitzt drüben vor dem Haus, und ich pendle zwischen euch beiden hin und her.«

»Du könntest bei mir wohnen. Ich könnte eine Gesellin in der Werkstatt gebrauchen.«

»Nein, Marley, das Thema hatten wir schon. Ich will die Schäferei lernen, und außerdem sind wir gerade erst ein paar Wochen zusammen.«

»Von denen du mindestens die Hälfte der Zeit in Deutschland warst und den Rest bei meinem Vater auf der Farm.«

»Jetzt bin ich hier.« Ihre Stimme klang ärgerlicher, als sie es beabsichtigt hatte. Sie wollte die Zeit mit Marley genießen.

»Entschuldige.« Er nahm ihre Hand, küsste ihre Fingerknöchel. »Ich vermisse dich einfach jede Minute, in der du nicht bei mir bist.«

»Ich muss erst einmal lernen, meinen eigenen Weg zu gehen. Du bist ein Teil davon, aber ich brauche jetzt auch meine Freiheit.«

Siebenundzwanzig Jahre lang hatte sie ihr Leben immer dem einen höheren Ziel unterworfen, hatte getan, was andere ihr sagten. Es hatte ihr nichts ausgemacht. Sie boxte gern, und sie musste sich eingestehen, dass ihr das tägliche Training fehlte. Sie freute sich auf die Tage bei ihrem Vater. Vertraute Routinen, etwas tun, in dem sie wirklich gut war.

»Wie lange bleibst du dieses Mal in Deutschland?«

Sie las die Angst in seinen Augen, dass sie nicht zurückkäme, dass ihr Vater sie zusammen mit ihrem ehemaligen Trainer Sergej überreden würde, wieder in den Ring zu steigen.

»Eine Woche. Ich fliege am Sonntag und komme am Sonntag wieder zurück. Meine Pläne haben sich nicht geändert.« Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Können wir jetzt einfach diesen Abend genießen?«

»Ja, natürlich.« Er drückte sanft ihre Hand. »Hast du schon gegessen? Wir könnten ins JJ’s gehen. Ich lade dich ein.«

Kim lachte auf. »Sehr großzügig. Als ob Jeana und Joyce auch nur einen Cent von dir nehmen würden.«

Marley hatte im vergangenen Monat die Inneneinrichtung des Pubs komplett umgebaut, und er hatte den beiden Frauen lediglich gestattet, das Material zu zahlen, das er für den Umbau benötigt hatte.

»Wie wäre es mit ein paar Sandwiches?«, schlug Kim stattdessen vor. »Ich möchte mit dir heute Abend noch eine Küstentour machen.«

»Eine Küstentour?«

»Ja, kannst du mir einen ganz einsamen Küstenabschnitt zeigen? Einen Ort, wo wir weder Mensch noch Tier stören.«

Marleys Augen blitzten lüstern auf. »Klingt gut.«

»Woran du gleich wieder denkst.«

»Na ja, du und ich, ein lauer Sommerabend, ein einsamer Strand …«

»Und tausend Midges. Vergiss es. Das ist keine Romantik, das ist Tortur.«

»Dann bleiben wir lieber hier.« Er neigte sich zu ihr, küsste ihre Wange, wanderte mit seinen Lippen hinab zu ihrem Hals. »Ich habe ein Moskitonetz.«

Wohlige Schauer zogen durch ihren Körper. Sie mochte es, wenn er sie berührte, wenn er sie küsste, wenn er mehr von ihr wollte. Aber das musste warten. Sie bremste ihn. »Erst die Küste, dann sehen wir weiter.«

»Warum ist das so wichtig?«

»Ich brauche einen einsamen Strand, an dem ich mit Jeana gegen die Wellen brüllen kann.«

Marley grinste. »Du gibst nicht auf, was?«

»Du kennst mich: Aufgeben ist für mich keine Option.«

Inverness

Eine Kanne Tee stand auf dem Tisch in Alisons Wohnzimmer. Es war ein kleiner quadratischer Raum mit einem Zweisitzer, einem Sessel und einem Regal, in dem ein paar Bücher, Bilderrahmen und Staubfänger ihr Dasein fristeten.

Violet saß auf dem Sofa. Sie trug ein elegantes Kostüm und hochhackige Lederpumps. Frisur und Make-up waren perfekt, als käme sie gerade vom Stylisten. Sie ließ den Blick umhergleiten. Wollte sie sich alles genau einprägen, damit sie ihren Freundinnen beim nächsten High Tea haargenau erzählen konnte, wie armselig sie hauste, fragte Alison sich misstrauisch.

Nicht nur das Wohnzimmer war klein – ihre Wohnung war kaum fünfzig Quadratmeter groß: Ein schmaler Flur führte in eine Küche, in der eine Kochzeile und ein Tisch mit drei Stühlen gerade so Platz fanden. Das Schlafzimmer war nicht größer. Die Möbel waren einfach, aber bezahlt.

Alison goss Tee in die Tassen. »Wir hätten uns auch in einem Café treffen können.«

Violet blinzelte, als wäre sie meilenweit mit den Gedanken entfernt gewesen. »Nein, ich bin dir dankbar, dass ich zu dir kommen durfte.«

Da schwang weder Arroganz noch Ironie in der Stimme mit, stellte Alison fest. Schon bei ihrem Treffen vor wenigen Tagen in Thurso war Violets Verhalten ihr seltsam vorgekommen. Das war nicht die Frau, die sie vor Jahren kennengelernt hatte. Kein spöttisches Lachen, keine selbstgefälligen Spitzen gegen Alisons »arme« Herkunft, dabei bot ihre Wohnung eine Menge, über das Violet hätte herziehen können. Schon allein die Tatsache, dass der Tee nicht in edlem Porzellan, sondern in bunten Steinguttassen serviert wurde, wäre eine Bemerkung wert gewesen.

»Warum wolltest du mich treffen?« Alison musterte die Millionärsgattin abschätzend. Violet war sicher nicht auf einen Tee vorbeigekommen, um über die guten alten Zeiten zu plaudern.

»Ich … ähm …« Sie nahm einen Löffel Zucker, rührte ihn in ihren Tee. Sie schindete Zeit.

Alison nahm ihre Tasse zwischen die Hände und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Er war eigentlich zu groß für diesen Raum, aber sie liebte es, sich in die Polster einzukuscheln. Abwartend sah sie ihr Gegenüber an.

»Warum hast du dich damals von Sam scheiden lassen?«, platzte Violet unvermittelt heraus.

Alison zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Ich denke, du weißt, dass er mich nicht nur einmal betrogen hat.«

»Das tun sie doch alle.«

In Alison begann es zu grummeln. »Hat Sam dich geschickt, damit du ein gutes Wort für ihn einlegst?«

»Du meine Güte, nein!« Flüchtig huschte ein entschuldigendes Lächeln über ihre Lippen, dann wanderte ihr Blick wieder unruhig umher. »Entschuldige bitte meine Indiskretion, aber war das der einzige Grund, warum du dich von ihm getrennt hast?«

Alison deutete ein Kopfschütteln an, aber sie würde vor Violet nicht über ihren Ex-Mann herziehen. Ihre Scheidung war ihre Privatangelegenheit.

»Hat er dich schlecht behandelt?«

»Inwiefern?«

»Ich weiß nicht …«

Diese Fragen hatten doch nichts mit ihr und Samuel Dexter zu tun. Alison stellte ihre Tasse zurück auf den Tisch und fixierte Violets angespanntes Gesicht. »Du bist doch nicht zu mir gekommen, um über meine gescheiterte Ehe mit Sam zu sprechen. Was ist los?«

Violets umherwandernder Blick verharrte einen Moment, dann senkte sie die Augenlider. »Brodie und ich … Ich habe ihn verlassen.«

Das war vermutlich die Erklärung für den kleinen Koffer, den sie bei sich trug.

Fresgoe

Wellen klatschten gegen die schroffen Felsen, die wie kleine Inseln in schräg ansteigenden Schichten aus dem Meer stachen. Kormorane hatten sich auf einer Plattform versammelt. Möwen kreisten über ihren Köpfen, Austernfischer flogen pfeifend dicht über der Wasseroberfläche, während der Wind die Wolken über den Himmel trieb.

Marley sog die kühle Meeresluft tief in seine Lungen. Er war mit Kim zum Sandside Harbour bei Fresgoe gefahren. Sie hatten an dem öffentlichen Parkplatz am Sandside Bay geparkt und waren zu dem Hafenbecken gelaufen.

Ein einziges Boot dümpelte im Wasser – ein kleiner Krabbenkutter, Reusen und Netze lagen auf der Kaimauer, durch die Hafenausfahrt sah man die weiße Kugel des Reaktors Dounreay auf der anderen Seite der Bucht. In den wenigen Gebäuden, die den Hafen umgaben, brannte kein Licht.

Sie hatten den alten Hafen hinter sich gelassen und waren über einen breiten Feldweg an der Küste bis zu einem Aussichtspunkt spaziert. Der Wind blies ihnen kräftig ins Gesicht. Nach einem milden Frühling zeigte sich der Sommer von seiner kalten und ungemütlichen Seite.

Kim stand vor ihm. Marley hatte die Arme von hinten um ihre Taille gelegt und spürte, wie sie sich leicht gegen seine Brust lehnte. Er genoss ihre Nähe. Sie war noch nicht richtig in ihrem neuen Leben in Schottland angekommen, und sosehr er auch dagegen ankämpfte, rumorte in ihm ständig die Sorge, dass sie wieder nach Deutschland gehen würde und nicht mehr zurückkäme.

Am Sonntag wollte sie zu ihrem Vater fliegen. Lothar Hart war Boxpromoter in Hamburg mit eigenem Boxstall. Kim war zwar vom aktiven Wettkampfsport zurückgetreten, hatte ihm jedoch versprochen, regelmäßig mehrtägige Workshops für den Nachwuchs anzubieten.

Dazu musste sie sich selbst weiterhin fit halten. Aber in Thybster gab es keinen Sportclub. Zweimal in der Woche fuhr sie abends mit dem Fahrrad nach Thurso, um in einem Kampfsportclub zu trainieren. Boxen war dort nur eine Nebensparte; seit jedoch bekannt war, dass die ehemalige Boxweltmeisterin Kimberly Hart dort trainierte, hatte das Interesse an der Sparte zugenommen.

Aber der Sommer im Norden währte nie lang, die Tage würden bald kürzer werden und das Wetter umschlagen. Die Radfahrten nach Thurso würden ungemütlich werden. Vielleicht konnte er einen Teil von seiner Werkstatt abtrennen und Kim darin einen Trainingsraum mit Boxsack und Workout-Geräten einrichten. Ob ihr das gefallen würde?

»Hier werden wir vermutlich keine Gäste aus dem JJ’s treffen und mit unserem Geschrei verstören«, durchbrach Kim seine Überlegungen.

»Aye. Ich glaube aber nicht, dass du Jeana dazu kriegst, die Wellen anzubrüllen.«

»Sie muss lernen, ihre aggressive Seite zuzulassen.«

»Die hat sie nicht.«

»Du idealisierst sie«, erwiderte Kim entschieden. »Jeder hat eine aggressive Seite in sich.«

Marley kannte Jeana seit Kindertagen. Sie war seine große Liebe gewesen. Eine unerwiderte Liebe, aus der jedoch eine tiefe Freundschaft entstanden war.

Er konnte sich nicht vorstellen, dass Jeana auch nur ansatzweise etwas von der Aggressivität zeigen könnte, die in Kims Kämpfernatur steckte. Aber vielleicht hatte Kim recht. So wie in ihr neben einer aggressiven Seite eine sanfte, verletzliche Seele existierte, steckte vielleicht in Jeana eine bisher unerkannte kämpferische Seite.

»Wie groß ist die Chance, dass Jeana ein zweites Mal Opfer eines Übergriffs wird?«, überlegte er.

Kim löste sich aus der Umarmung und wandte sich ihm zu. »Darf ich dich daran erinnern, dass sie eine wunderschöne Frau ist?«

»Das bist du auch.«

»Ich bin Durchschnitt«, erwiderte Kim nüchtern. Sie war nicht auf Komplimente aus. »Aber ich weiß mich zur Not zu wehren, wenn mir einer an die Wäsche will.«

Er zog sie wieder an sich und küsste sie. »Darf ich dir an die Wäsche?«

»Vielleicht nicht gerade hier«, erwiderte sie fröstelnd. Mit Midges, den gefürchteten Stechmücken Schottlands, war an diesem windigen Abend nicht zu rechnen.

»Dann lass uns zurückfahren.« Er nahm ihre Hand, und sie spazierten den Weg entlang, den sie gekommen waren.

»Das ist ja dreist.« Kim deutete auf das alte Gebäude, das am nächsten zu ihnen, etwas abseits von den anderen beiden Häusern, am Hafenbecken stand.