Sturm über den Highlands - Sybille Baecker - E-Book
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Sturm über den Highlands E-Book

Sybille Baecker

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Schatten über Schottlands wilder Schönheit Douglas MacKeith macht auf seiner Farm in Caithness eine entsetzliche Entdeckung: Einige seiner Schafe wurden brutal getötet. Alison Dexter, private Ermittlerin aus Inverness und Freundin der Familie, reist in die nördlichen Highlands, um vor Ort zu recherchieren. Unterwegs nimmt sie die Backpackerin Kimberly mit, nicht ahnend, dass sie mit der jungen Frau noch mehr Unruhe in ihr einstiges Heimatdorf bringen wird. Dann erschüttert ein weiteres Verbrechen die Dorfbewohner – doch dieses Mal hat es der Täter nicht auf Schafe abgesehen …

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Sybille Baecker ist gebürtige Niedersächsin und Wahlschwäbin. Sie studierte BWL, arbeitete als IT-Prozessingenieurin und Pressereferentin. Heute lebt sie als Schriftstellerin in der Nähe von Tübingen. Ihr Herz schlägt für die Highlands und die rauen Küsten Schottlands, die sie immer wieder gern und ausgiebig bereist. Ebenso hegt sie ein Faible für den Scotch Whisky. Die Fachfrau für »Whisky & Crime« ist Autorin der erfolgreichen Krimiserie um den Kommissar und Whiskyfreund Andreas Brander. 2020 wurde sie mit dem Arbeitsstipendium des Autorinnennetzwerkes Mörderische Schwestern ausgezeichnet.www.sybille-baecker.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus istockphoto.com/jiduha, shutterstock.com/Honza Krej

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-893-1

Originalausgabe

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Für Frankund für alle, die Lust auf einen Ausflug in den Norden Schottlands haben

Freitag

Thybster

Das Schaf war tot. Der Regen hatte das Blut, das aus der aufgeschnittenen Kehle geflossen war, in den weichen Boden gespült. Noch immer tröpfelte leichter Nieselregen auf das Fell. Der Mai war kalt und feucht. Douglas MacKeith starrte auf das tote Tier zu seinen Füßen. Es lag auf der Seite, die Klauen hatten die Erde aufgewühlt, ein Vogel hatte dem Schaf ein Auge ausgepickt. Der Geruch von Dung und nasser Wolle hing in der Luft.

»Wer macht so etwas?« Tiefe Furchen bildeten sich im Gesicht des Sechzigjährigen. Er war groß, sein Körper drahtig, mit sehnigen Muskeln von der jahrelangen harten Arbeit. Der Wind strich durch sein graues Haar und den kurzen Bart aus schwarzen und grauen Stoppeln. Die braunen Augen blickten betrübt auf das Elend.

»Ich hab dich sofort angerufen, als ich es entdeckt habe.« Conor Greenless war ebenso alt wie Douglas. Sie kannten sich seit Kindertagen. Der Mann stand neben ihm, die Hände in den Taschen seiner verschlissenen Waxcotton-Jacke vergraben, die Schultern hochgezogen. Er war kleiner, leicht untersetzt, Wangen und Nase waren gerötet und von Äderchen durchzogen. »Eine Sauerei ist das, eine elende Sauerei.«

Douglas’ Blick schweifte über die Weide, die in leichten Wellen bergab bis zur Kante der Klippen verlief. Die Herde graste in sicherer Entfernung. Kleine Grüppchen – Mutterschafe mit ihren Lämmern. In der Ferne sah er auf dem Pentland Firth die Fähre von Scrabster zu den Orkneyinseln übersetzen. Möwen ließen sich vom Wind tragen und kreischten hoch über ihren Köpfen.

»Kannst du mal mit anpacken?«

»Was willst du machen?«

»Ich kann sie nicht hier liegen lassen.« Douglas deutete mit dem Kopf auf seinen in die Jahre gekommenen Land Rover.

Gemeinsam hievten sie das tote Schaf auf die Ladefläche.

»Du solltest das anzeigen«, riet Conor ihm.

»Und dann?« Douglas schnaufte abfällig. »Irgendwelche besoffenen Rowdys haben sich einen üblen Spaß erlaubt. Ich find schon raus, wer’s war, und dann wird er die Rechnung dafür bekommen.«

Conor sah ihn stirnrunzelnd an.

»Danke, dass du mir gleich Bescheid gegeben hast.« Fleisch und Fell würde er nicht verwerten können, aber ein totes Tier beunruhigte die Herde. Und Stress war nicht gut für seine Schafe. Douglas öffnete die Wagentür, und Trevor sprang heraus. Der schwarz-weiß gefleckte Border Collie trippelte aufgeregt hechelnd um ihn herum. »Ich dreh eine Runde, muss schauen, ob der Rest der Herde okay ist.«

»Soll ich dich begleiten?«

»Nein, lass gut sein.«

Douglas sah Conor hinterher, der in seinen alten Nissan stieg und über die holprige Weide davonfuhr. Er klopfte kurz an sein Hosenbein, sodass der Hund an seine Seite trabte, und begann seinen Rundgang.

Aberdeen

Aberdeen Airport empfing Kimberly Hart mit strömendem Regen. Sie wartete am Gepäckband auf ihren rot-schwarzen Rucksack, hievte das Ungetüm vom Band auf ihren Rücken und durchlief die Passkontrolle. So weit war alles wie immer.

Es war nicht ihr erster Flug, und sie war nicht zum ersten Mal im Ausland. Aber dieses Mal war sie ohne Begleitung unterwegs, und niemand stand mit einem Namensschild in der Ankunftshalle, um sie willkommen zu heißen und zu ihrem Hotel zu bringen.

Etwas verloren glitt ihr Blick durch die Halle. Hier und da gab es herzliche Umarmungen zur Begrüßung, Geschäftsleute eilten zielstrebig zum Ausgang oder Richtung Autovermietung. Stewardessen und Stewards zogen tratschend Rollkoffer hinter sich her.

Sie strich sich eine Strähne aus den Augen. Sie hatte ihre blonden Haare wachsen lassen, aber sie waren noch nicht lang genug, um sie zu einem Zopf zu binden. Halblange blonde Zotteln, die ihr ständig ins Gesicht fielen.

Da stand sie nun. Allein. Es wurde ihr in diesem Moment erst richtig bewusst. Zum allerersten Mal in ihrem Leben war sie ganz auf sich allein gestellt. Siebenundzwanzig Jahre lang hatte es immer jemanden gegeben, an den sie sich halten konnte, der ihr sagte, wohin sie gehen musste und welcher Termin als Nächstes im Kalender stand.

Sie hatte keine Termine, keinen einzigen.

Was nun? Sie war es nicht gewohnt, Entscheidungen zu treffen. Das hatte sie anderen überlassen. Wenigstens war sie so geistesgegenwärtig gewesen, die erste Übernachtung in einem Hotel im Voraus zu buchen. Wie es weitergehen sollte, stand in den Sternen.

Sie marschierte vorbei an Shops und Restaurants, den Hinweisschildern zum Ausgang folgend. Ihre Unerfahrenheit bei der Reiseplanung wurde ihr deutlich vor Augen geführt, als sie unter dem Vorbau des Flughafengebäudes ihr Smartphone einschaltete und die Adresse ihrer Unterkunft in die Navi-App eingab. Mit unmittelbarer Nähe zum Flughafen hatte das Hotel geworben.

Sie hatte bei ihrer Buchung gesehen, dass sich das Gebäude direkt neben dem Flughafen befand. Allerdings – und das bemerkte sie erst jetzt, als sie auf die Routenbeschreibung sah – auf der gegenüberliegenden Seite. Sie musste das halbe Gelände umrunden. Die Hallen, die sie auf der Internetkarte irrtümlich für das Flughafengebäude gehalten hatte, waren der Hangar für die Offshore-Hubschrauber.

Sie rümpfte die Nase, als sie im trüben Licht den Regen in feinen Fäden zu Boden fallen sah. Bei dem Wetter in der Dämmerung an einer viel befahrenen Straße entlangzulaufen war wenig verlockend.

Sie suchte ein Taxi. Der Fahrer musterte sie stirnrunzelnd, als sie ihm die Adresse nannte. »Sind Sie sicher?«

»Ja«, erwiderte sie, aber vielleicht hatte er sie falsch verstanden? Sie zeigte ihm die Adresse auf dem Display ihres Smartphones.

»Aye.« Die Skepsis in seinen Augen blieb. Er öffnete ihr die Tür zum Fond des Wagens und setzte sich hinters Steuer. »Sind Sie zum ersten Mal in Schottland?«

»Nein.« Sie war vor drei Jahren einmal in Edinburgh gewesen. Allerdings hatte sie bei dem Besuch nicht viel von Land und Leuten gesehen. Das hatte sie nie. Flughafen, Taxi, Hotel, Halle und wieder zurück. Für Sightseeing war keine Zeit. Es hatte sie auch nicht interessiert. »Ist das Hotel nicht gut?«

»Nun, es gibt bessere Orte für eine junge Frau.«

»Ich komm schon klar.«

Er warf ihr einen Blick über den Rückspiegel zu. »Machen Sie Urlaub?«

Gute Frage. »Ja.«

»Und was wollen Sie in Schottland machen?«

»Ein bisschen wandern in den Highlands«, improvisierte sie.

»Bleiben Sie im Osten, da ist das Wetter besser als an der Westküste.«

Sie sah auf die Seitenscheibe, über die der Regen mittlerweile in dicken Schlieren strömte. »Tobt im Westen gerade ein Blizzard?«, fragte sie ironisch.

Der Taxifahrer lachte. »Das Wetter wird besser. Morgen scheint hier die Sonne.«

Das klang sehr optimistisch, fand Kim.

Die Fahrt endete nach wenigen Minuten vor einem lang gestreckten Gebäudekomplex. Ein Flachbau aus den Siebzigern. Der einst vermutlich weiße Putz schimmerte schmutzig grau im fahlen Licht. Um das gesamte Hotel zog sich ein voll belegter Parkplatz. Der Asphalt war mit Schlaglöchern übersät. Auf den Fotos im Internet hatte das Hotel hübscher und moderner ausgesehen.

Auf einem dunkelbraunen Blechvordach stand in großen Lettern »Reception«. Ein paar kräftige Männer in Jeans und dicken Baumwollhemden standen rauchend unter dem Dach eines Übergangs, der anscheinend Rezeption und Hotel miteinander verband.

»Das ist mein Hotel?«

Der Taxifahrer nickte bedauernd. »Ich sagte ja, es gibt schönere Ecken. Möchten Sie woandershin?«

»Nein, ist nur für eine Nacht.« Sie stieg aus.

Der Taxifahrer hob ihren großen Rucksack aus dem Kofferraum und fuhr davon.

Thybster

Marley MacKeith streifte mit kräftigen Strichen das Regenwasser von seiner Jacke, bevor er die Tür zum Pub aufstieß. Im JJ’s empfingen ihn fröhliches Stimmengewirr und eine Wärme, die ihm sogleich den Schweiß aus den Poren trieb. Eilig zog er die Jacke aus und hängte sie an die Garderobe neben dem Eingang. Auf dem Weg zur Theke grüßte er hier und da in die Runde.

»Hey, Marley, wie geht’s?« Joyce Sandison schenkte ihm ein Lächeln, wobei sich tiefe Grübchen in den Wangen ihres runden Gesichts bildeten. Sie hielt ein Glas hoch. »Wie immer?«

»Alkoholfrei.« Er war mit dem Wagen gekommen und wollte durch den Regen nicht zu Fuß nach Hause gehen.

Joyce stellte ihm das Glas und eine Flasche alkoholfreies Bier auf den Tresen. Die langen Ketten, von denen sie gleich mehrere um ihren Hals geschlungen hatte, klimperten gegen das Thekenholz, als sie sich ein Stück zu ihm vorbeugte. »Ich hab das mit Douglas’ Schaf gehört. Das tut mir leid.«

Marley zog grimmig die Augenbrauen zusammen. »Wenn ich den erwische, der das getan hat, kann er sich warm anziehen.«

Sie tätschelte beschwichtigend seine Hand. »Hast du mit deinem Vater gesprochen? Ich finde, er sollte das anzeigen.«

»Du weißt, was Douglas von meiner Meinung hält.«

Joyce nickte bedauernd. »Du solltest wenigstens Grace informieren.«

Grace war seine ältere Schwester. Sie arbeitete bei der Polizei in Thurso, keine fünf Meilen entfernt. Mit Sicherheit hatte sich der Vorfall längst bis zu ihr herumgesprochen. »Ich rufe sie nachher an«, versprach er dennoch.

Die Wirtin lächelte zufrieden und wandte sich dem nächsten durstigen Kunden zu.

Marley nahm sein Bier und setzte sich zu Ryan und Dave an den Tisch. Die beiden arbeiteten im Fischerei- und Fährhafen Scrabster. Kräftige Männer, die zupacken konnten, so wie er auch. Sie waren in eine Diskussion über ein mögliches Bauvorhaben vertieft. Es gab anscheinend einen Geldgeber, der in die Region investieren wollte.

Er hörte nur mit halbem Ohr zu. Den ganzen Tag hatte er in der Werkstatt gestanden, Fassdauben gehobelt, gefügt und ausgelegt. Der Auftrag einer Whiskybrennerei musste fertig werden. Er hatte sich mit der Zeitplanung verschätzt, nun stand er unter Termindruck. Die Wärme lullte ihn ein. Er trank einen Schluck Bier, lehnte sich zurück und schloss die Augen.

»Sollen wir dich wecken, wenn wir gehen?« Ryan stieß ihm in die Seite. »Du siehst aus, als ob du gleich einpennst.«

»Sorry, Jungs, war ’n harter Tag.«

»Und er ist noch nicht zu Ende.« Sein Kumpel hob sein Glas.

Marley prostete ihm zu, leerte den Rest seines Bieres und stellte das Glas zurück auf den Tisch. »Für mich schon. Ich mache mich besser auf den Heimweg.«

»Du bist doch gerade erst gekommen.«

Und es war ein Fehler. Ihm war nicht nach Trinken und Albernheiten. »Wollte nur einen Absacker. Ich muss morgen wieder früh in der Werkstatt stehen.«

»Du arbeitest zu viel, Mann.«

Marley hob einen Mundwinkel zu einem schwachen Grinsen. »Ich bin jung und brauche das Geld.«

»Komm zu uns in den Hafen. Geregelte Arbeitszeiten, geregeltes Einkommen. Und beste Kollegen.« Den letzten Satz bekräftigte Ryan mit lautem Lachen und einem kurzen Klopfen auf seine Brust.

»Ich will nicht kistenweise tote Fische schleppen.«

»Oh, die armen kleinen Fische«, foppte Ryan ihn. »Schmecken aber gut.«

Marley zuckte die Achseln. Er war an die Neckereien seiner Kumpel gewöhnt.

»Wenn der Golfplatz genehmigt wird, könntest du dich um einen Zimmererauftrag bewerben«, schlug Dave vor. »Das gibt sicher gutes Geld.«

»Was für ein Golfplatz?«

»Ich sag doch, er hat gepennt«, lästerte Ryan. »In Thurso kursiert das Gerücht, dass in der Gegend ein neuer Golfplatz angelegt werden soll, samt Luxus-Clubhaus und Hotel.«

»Es gibt doch schon einen Golfplatz.« Ein Club mit langer Tradition. 1893 gegründet, rühmte er sich, der nördlichste Golfplatz auf dem Festland zu sein, wusste Marley, obwohl er selbst lediglich als Teenager bei einem Schulausflug ein paar Bälle dort abgeschlagen hatte. »Das ist sicher wieder nur leeres Geschwätz. Zwei Golfplätze in der Region, das rechnet sich doch nicht.«

Dave hob die Schultern. »Ich kenn auch nur das Gerede aus dem Hafen. Aber wäre doch nicht schlecht.«

»Seit wann spielst du Golf?«

»Es geht mir nicht ums Spielen. Aber es könnte Leute in die Region locken. Und Tourismus bringt Geld.«

»Und Mädels«, ergänzte Ryan grinsend.

»Die spätestens nach einer Woche wieder weg sind«, dämpfte Marley die Vorfreude seines Kumpels.

»Ich will die ja nicht heiraten.« Ryan demonstrierte mit einer Geste, welche Vorstellungen er hatte.

»Wie willst du denn an so eine Golflady rankommen, wenn du nicht Golf spielst?«, fragte Dave spöttisch.

»Ich heuer auf dem Golfplatz an, als Barkeeper oder Caddyfahrer.«

»Du als Barkeeper? Da arbeitet Marley eher im Fischereihafen.«

»Was denn? Hier helfe ich auch hin und wieder hinter der Theke aus.«

»Und bist am Ende des Tages besoffener als alle Gäste«, erwiderte Marley.

»Das war ein einziges Mal.«

Sie lachten alle drei bei der Erinnerung, wie Marley und Dave Ryan am Ende eines Abends hinter der Theke fürsorglich zugedeckt hatten, bevor sie gegangen waren. Joyce’ Lebensgefährtin Jeana war weniger mitfühlend gewesen und hatte ihn am nächsten Morgen mit einem Eimer eiskaltem Wasser geweckt und dazu verdonnert, die Kneipe zu wischen.

»Was ist mit dem toten Schaf?«, wechselte Dave das Thema. »Weiß dein Vater, wer es war?«

»Ich denke nicht, sonst hätte er sich den Kerl schon vorgeknöpft.«

»Auge um Auge«, sinnierte Ryan.

»Das Messer wird er ihm nicht an den Hals setzen, aber wenn er dem Kerl nicht eine verpasst, dann tue ich es. Man schneidet einem Schaf nicht einfach die Kehle auf.«

»Stimmt, gehört ein bisschen Kraft dazu«, witzelte Ryan.

Marley warf ihm einen warnenden Blick zu. Beim sinnlosen Töten von Tieren hörte sein Humor auf.

»Es muss einer aus dem Ort gewesen sein«, überlegte Dave. »Es fährt doch keiner extra nach Thybster, um ein Schaf abzustechen.«

»Ich wüsste niemanden, der dafür in Frage kommt«, erwiderte Marley. »Und Douglas ist in der Gemeinde gut angesehen.«

»Jeder kann sich mal Feinde machen. Du zum Beispiel. Ich sag nur Arran Fletcher. Der ist gerade gar nicht gut auf dich zu sprechen.«

Marley wusste, worauf Dave anspielte. Vor einer Woche hatte er mit Fletchers Ex-Freundin Fiona im Pub heftig geflirtet. Sie war nicht wirklich an ihm interessiert, das wusste Marley, aber sie genoss Arrans eifersüchtige Blicke. Dass Marley sie am Ende des Abends nach Hause begleitet hatte, sorgte für Gerüchte im Ort. »Arran würde deswegen kein Schaf töten.«

»Nee, sicher nicht. Aber ich glaube, er würde dir gern eine aufs Maul hauen.«

»Soll er mal versuchen.«

»Vielleicht waren es ein paar Jungs aus Thurso«, schlug Ryan vor. »Arbeiter von einer der Offshore-Inseln, die ein paar Tage freihaben und nicht wissen, wohin vor Langeweile.«

Die Zwischentür zur Küche schwang auf. Automatisch wanderte Marleys Blick in die Richtung. Jeana Johnson schwebte heraus. Natürlich schwebte sie nicht, aber in Marleys Phantasie bewegte sie sich immer leicht über dem Boden, wie eine der Elfen, die er aus den Fabeln seiner Kindheit kannte.

Als kleiner Junge hatte er sich in die jüngere Schwester von Grace’ Freundin Alison verliebt. Jeana war zwei Jahre älter als er, eine große Frau, jedoch zart gebaut. Ihre Haut war hell und makellos. Feines rotgold glänzendes Haar umrahmte ihr schmales Gesicht und floss in sanften Wellen über ihre Schultern. Die grünen Augen schimmerten wie Smaragde.

In ihrer Gegenwart fühlte er sich manchmal wie ein ungelenker, tölpelhafter Bär. Er war nicht hässlich, durch die schwere körperliche Arbeit als Zimmerer und Küfer hatte er ein breites Kreuz und muskulöse Arme. Allerdings war er auch kein Adonis mit Waschbrettbauch, und seine Hände waren von der Arbeit rau wie Schmirgelpapier.

Seine heimliche Liebe war unerhört geblieben. Sie hatte ihn immer mit Respekt behandelt, aber gleichzeitig auf Distanz gehalten. Seit es Joyce gab, wusste er, dass er nie eine Chance gehabt hatte.

An diesem Abend trug Jeana ein bodenlanges dunkelgrünes Kleid, das sowohl ihre Größe als auch ihre Zartheit betonte. Sie bemerkte seinen Blick, zwinkerte ihm fröhlich zu und begann, leere Gläser und Geschirr von den Tischen zu räumen.

»So eine Verschwendung«, seufzte Ryan neben ihm.

Marleys Smartphone vibrierte. Er zog es aus der Hosentasche.

»Wo steckst du?«, schallte es ihm entgegen, kaum dass er sich gemeldet hatte.

»JJ’s.«

»Ich muss mit dir reden.«

»Komm vorbei.«

»Nicht im Pub.«

Er wollte ohnehin längst auf dem Heimweg sein. »Bin unterwegs.«

Aberdeen

Alison Dexter hatte es sich in der Lobby des Airport Hotels in einem der Sessel vor dem Kamin gemütlich gemacht. Von hier aus hatte sie einen guten Blick auf die Rezeption. Bis zu ihrer Verabredung war noch eine halbe Stunde Zeit. Das Warten vertrieb sie sich gern damit, Leute zu beobachten. Es war ein gutes Training. Sie fragte sich, wer diese Menschen waren, woher sie kamen und warum sie unterwegs waren. Wenn sie später beim Dinner oder am nächsten Tag beim Frühstück die Gelegenheit hatte, mit einem Gast zu sprechen, konnte sie prüfen, wie gut sie mit ihrer Einschätzung gelegen hatte.

Das Hotel war beliebt bei den Männern und Frauen, die auf den Offshore-Bohrinseln in der Nordsee arbeiteten. Diejenigen, die nicht aus der Gegend kamen, nutzten es, wenn sie am nächsten Tag früh ihren Flug bekommen mussten oder um dort ein paar freie Tage zu verbringen, wenn die Heimreise zur Familie zu weit war.

Das Hotel hatte sich auf die Arbeiter eingestellt. Es bot geräumige Zimmer mit großen Betten. Es gab einen Pub mit deftigem Essen und Sportnews auf den Monitoren, einen Shuttleservice zum Airport und günstige Konditionen für Stammgäste.

Aber auch Touristen, die auf ihr Budget achteten, und Firmenkunden verkehrten hier. Das Hotel verfügte über mehrere Konferenzräume, sodass Tagungen und Vorträge stattfinden konnten. Alison liebte diese bunte Mischung.

Sie spielte mit dem Smartphone in ihrer Hand, gab vor, ein Blumenarrangement auf dem Beistelltisch zu fotografieren, machte dabei jedoch heimlich Schnappschüsse von den Gästen an der Rezeption. Auch das war eine gute Übung. Ihre Arbeit als private Ermittlerin erforderte Menschenkenntnis, Diskretion und Unauffälligkeit.

Eine junge Backpackerin trat durch die Schiebetür in die Lobby. Definitiv eine Touristin, stellte Alison auf den ersten Blick fest. Sie trug Wanderschuhe, Jeans und eine rote Outdoorjacke, die noch recht neuwertig aussah. Unter der Kapuze, die sie beim Hereinkommen in den Nacken schob, kamen strubbelige blonde Haare zum Vorschein. Ihr rot-schwarzer Rucksack machte nicht den Eindruck, als hätte er schon längere Wandertouren hinter sich. Ein Greenhorn.

Die Frau blieb einen Moment stehen, um sich zurechtzufinden, dann schritt sie auf die Rezeption zu. Fester Schritt, aufrechter Gang. Selbstbewusst, ging es Alison durch den Kopf. Sie sah sich nach einem Begleiter oder einer Begleiterin der Frau um. Aber mit ihr war sonst niemand hereingekommen. War sie allein unterwegs, oder wartete jemand vor dem Hotel?

Sie konnte nicht lange draußen gewesen sein, dazu war ihre Kleidung zu trocken – es hatte seit dem frühen Nachmittag geregnet. Also war sie vermutlich gerade angekommen. Mit dem Zug oder mit dem Flugzeug? Flugzeug, tippte Alison. Von Continental Europe.

Wie alt mochte sie sein? Mitte zwanzig? Auf jeden Fall war sie sportlich. Der Rucksack war groß und wirkte schwer, aber sie hatte keine Mühe, ihn von den Schultern zu heben, als sie vor der Rezeptionistin stand. Ihr Blick war sehr konzentriert, während sie mit der jungen Schottin hinter dem Empfangstresen sprach.

Sportstudentin aus dem Ausland auf dem Weg zum Wandern in den Highlands, resümierte Alison ihre Beobachtung. Keine Südländerin, vermutlich aus dem nördlichen Teil Europas – Skandinavien, Niederlande, Deutschland. Ihr Smartphone vibrierte. Sie sah auf das Display. Ihre Miene verfinsterte sich.

»Hamish? Lass mich raten.«

***

Kim atmete auf. Das Flughafenhotel war von innen gemütlicher, als der äußere Anschein vermuten ließ. Der Boden war mit Teppich ausgelegt. Schräg gegenüber der Rezeption loderte ein Feuer im Kamin. Breite Sessel mit großblumigen Mustern in gedeckten Farben waren um kleine Tische gruppiert. Das Personal an der Rezeption war freundlich. Lediglich die Flure zu den Zimmern waren lang und dunkel. Ein heller Anstrich hätte ihnen gutgetan.

Sie schloss die Tür hinter sich, stellte den Rucksack auf den Boden und ließ die fremde Umgebung auf sich wirken. Das Zimmer war riesig. Zu ihrer Linken stand ein großes Doppelbett, gegenüber ein Schreibtisch mit Schreibutensilien, Wasserkocher und Teebeuteln, darüber hing ein Flachbildschirm an der Wand. Im hinteren Teil des Raumes stand ein Zweisitzersofa mit Tisch. Wenn sie den Tisch ein Stück zur Seite schob, könnte sie dort am Morgen ihr Work-out machen.

Sie ließ sich rücklings auf das Bett fallen. Sie hatte es tatsächlich durchgezogen. War einfach aufgebrochen. Ohne Plan und ohne die Sicherheit eines ganzen Teams im Rücken, das dafür sorgte, dass sie sich um nichts kümmern musste. Sie war stolz und spürte gleichzeitig Anflüge von Unsicherheit.

Sie nahm ihr Smartphone. Es war die einzige Verbindung zu ihrem alten Leben. Ihr altes Leben, das keine vierundzwanzig Stunden hinter ihr lag. Das Display zeigte fünf verpasste Anrufe. Nicht jetzt. Sie war noch nicht so weit. Sie löschte die Liste. Dennoch legte sich sogleich die vertraute Anspannung auf ihren Körper. Eine Kontraktion in ihrem Nacken und den Armen. Sie setzte sich auf, ließ die Schultern kreisen, um die Muskulatur zu lockern.

Schon wieder die Frage: Was nun? Die Unsicherheit in ihr wuchs.

»Kim, du hast Hunger«, erklärte sie sich selbst, obwohl sie wusste, dass das schlechte Gefühl nicht daher rührte, dass sie seit dem Frühstück kaum etwas gegessen hatte.

Sie machte sich frisch, tauschte das Sweatshirt gegen eine dunkle, weite Bluse und ging in den hoteleigenen Pub, der sich hinter der Lobby befand. Das Restaurant war für das Abendessen einer Tagungsgesellschaft reserviert, hatte sie beim Einchecken erfahren.

Unschlüssig blieb sie am Übergang zwischen Lobby und Pub-Bereich stehen. Kleine braune Ledersessel waren um runde Tische arrangiert, an der kurzen Seite befand sich die Theke, an der Wand hingen Monitore und übertrugen tonlos Sportnachrichten.

Die meisten Plätze waren besetzt. Sie hätte den Reiseführer besser studieren sollen. Was herrschte in Schottlands Pubs für ein Verhaltenskodex? Hätte sie reservieren müssen? War es unhöflich, zu fragen, ob sie sich zu jemandem an den Tisch setzen konnte? Musste sie warten, bis jemand kam und ihr einen Platz anbot? Suchend sah sie sich nach einer Bedienung um.

Wenige Meter von ihr entfernt hob eine Frau den Arm und winkte. Kim wandte sich um. Hinter ihr stand niemand. Als sie wieder zu der Frau sah, nickte diese lächelnd und deutete einladend auf den freien Platz neben sich. Zögernd ging sie auf die Frau zu.

»Hey.« Die Fremde zeigte erneut auf den leeren Sessel an ihrem Tisch. »Der Platz ist frei.«

Die Frau war ein paar Jahre älter als Kim. Sie trug ein auffälliges Kleid in kräftigen Rot- und Orangetönen, das lange braune Haar fiel ihr über die Schultern. Die braungrünen Augen spiegelten das freundliche Lächeln wider.

»Vielen Dank.« Kim setzte sich.

»Du bist vorhin erst angekommen, oder? Ich glaube, ich habe dich an der Rezeption stehen sehen«, plauderte die Frau munter drauflos. »Du hattest einen großen Rucksack bei dir.«

Kim deutete ein Nicken an.

Die Fremde streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Alison.«

»Kimberly.«

»Kimberly, schön, dich kennenzulernen. Es ist heute ganz schön viel los. Viele Arbeiter von den Bohrinseln, die übers Wochenende freihaben. Und die Golfladys haben unseren Speisesaal okkupiert.«

Kim schwirrte der Kopf von dem Wortschwall. »Entschuldige bitte, könntest du etwas langsamer sprechen? Ich muss mich noch ein bisschen eingewöhnen.« Sie wollte nicht unhöflich sein und ihrer neuen Bekanntschaft sagen, dass sie Probleme hatte, ihren schottischen Akzent zu verstehen.

»Oh, I am sorry.« Alison musterte sie interessiert. »Woher kommst du?«

»Aus Deutschland. Hamburg.«

»Gerade erst angekommen?«

Kim nickte. Am Nachbartisch wurde Essen serviert. Der Duft von frittierten Fish and Chips wehte herüber. Verstohlen schielte sie zu der Karte, die in einer schmalen Holzschiene auf dem Tisch steckte.

»Getränke und Essen musst du vorn am Tresen bestellen und auch direkt dort bezahlen. Dein Getränk kannst du gleich mitnehmen, das Essen wird serviert«, erklärte Alison. »Du musst dem Barmann unsere Tischnummer sagen.« Sie zeigte auf die Nummer, die auf der Holzschiene eingebrannt war.

»Danke.« Kim stand auf. »Soll ich dir etwas mitbringen?«

Alison deutete kopfschüttelnd auf ihr volles Pint.

Eine halbe Stunde später hatte Kim einen großen Beefburger samt Pommes verputzt und auch das Salatblatt mit zwei Streifen Rote Bete nicht verschmäht.

Alison hatte während ihres Essens auf ihrem Smartphone gelesen. Als Kim sich die Mundwinkel mit der rauen Papierserviette abtupfte und sie dann auf den leeren Teller legte, wandte sich Alison ihr wieder zu.

»Was machst du in Schottland? Urlaub?«, erkundigte sie sich.

»Mhm«, erwiderte Kim unbestimmt.

»Du bist Studentin, oder?«

»Nein, ich …« Kim hatte mit Mühe ihr Abitur geschafft. Sie zögerte. Sie wollte die freundliche Frau nicht anlügen, aber sie wollte auch niemandem erzählen, wer sie war, und hoffte, dass sie nicht erkannt wurde. »Ich jobbe, mal hier, mal da.«

»Ach.«

»Und was machst du?«, fragte Kim eilig, bevor Alison mehr von ihr wissen wollte.

»Ich bin Hoteltesterin.«

»Im Ernst?«

»Ich arbeite für ein Reiseportal. Wenn ein Hotel dort auffallend schlecht beurteilt wird, schicken sie mich hin, um zu prüfen, was dran ist. Wenn es tatsächlich so schlecht ist, wird es aus dem Angebot entfernt.«

Kim sah sich stirnrunzelnd um. »Oje.«

Alison lachte. »Keine Sorge, ich bin nicht beruflich hier. Das Hotel ist okay. Allerdings sollte sich eine allein reisende junge, hübsche Frau wie du nicht von Typen wie denen dahinten zu einem Drink einladen lassen. Die wirst du nur schwer wieder los.« Sie deutete unauffällig auf eine Gruppe vierschrötiger Männer, die an einem Tisch Karten spielten und Bier tranken.

»Okay, ist notiert. Ich trinke ohnehin selten Alkohol.«

Alisons Blick wanderte fragend zu dem leeren Ciderglas vor Kim.

»Das ist doch eher Apfelsaft als Alkohol.«

»Vertu dich nicht, Darling. Der Black hat auch siebeneinhalb Prozent.«

»Ach so?« Sie sah grübelnd auf das Glas, das sie während des Essens mit großem Durst geleert hatte.

»Wo soll denn die Reise hingehen? Vielleicht kann ich dir sagen, ob deine gewählten Unterkünfte etwas taugen.«

Kim grinste verlegen. »Ich habe nichts gebucht. Ich, ähm … dachte mir, ich marschiere einfach mal los.« Sie hatte sich bei ihrer Reiseplanung lediglich für ein Land entschieden, zu mehr war sie nicht in der Lage gewesen.

»Was interessiert dich? Kunst, Kultur, Architektur, Geschichte …?«

Kim zog eine Grimasse. Das klang viel zu anstrengend. Sie wollte kein Citysightseeing, und sie wollte nicht in verstaubten Museen Texttafeln lesen. Sie musste raus an die Luft, sich bewegen. »Natur, Tiere.«

»Was für Tiere? Schafe?« In Alisons Augen blitzte es amüsiert.

»Schafe sind niedlich.«

»Aye.«

»Seehunde oder Delphine wären auch schön.« Sie erinnerte sich an die Bilder in ihrem Reiseführer, den sie vor ihrem Abflug noch schnell am Flughafen erworben hatte, und hoffte, dass diese nicht nur zu Werbezwecken darin abgebildet waren.

»Also Schafe findest du an jeder Straßenecke. Für Seehunde habe ich einen Tipp für dich. Fahr nach Portgordon, da liegen sie am Strand.«

»Ehrlich?«

»Wenn ich es sage.«

»Wo liegt Portgordon?«

»Ist gar nicht weit von hier. Über die A 96 fährst du eine gute Stunde.« Sie nahm ihr Handy und rief eine Straßenkarte auf. »Siehst du, gut fünfundfünfzig Meilen, einfach nur geradeaus.«

»Und mit dem Bus?«

»Hast du keinen Mietwagen?«

Kim schüttelte den Kopf. Sie besaß nicht einmal einen Führerschein.

Alison studierte die Routenplanung und zog die Nase kraus. »Fast drei Stunden.«

»Ich hab Zeit«, erwiderte Kim achselzuckend.

»Okay, ich schreib dir eine Adresse auf, da bekommst du ein gutes Zimmer. Oder wolltest du zelten?«

»Dazu müsste ich mir erst ein Zelt kaufen.«

Alison lachte auf. »Für Delphine habe ich auch einen Tipp: Fortrose. Es gibt dort einen Aussichtspunkt am Moray Firth. Chanonry Point, da siehst du garantiert mehr als einen Delphin.«

Die Frau nahm wieder ihr Smartphone und zeigte ihr den Ort auf der Karte.

Kim konnte ihr Glück kaum fassen, dass sie gleich an ihrem ersten Abend dieser netten Frau begegnet war. Das Gespräch fing an, ihr Spaß zu machen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so zwanglos mit jemandem geplaudert hatte. »Kommst du hier aus der Gegend?«

»Nein, ich wohne in Inverness, aber ich komme aus Caithness, das ist eine Grafschaft ganz oben im Norden. Der Ort heißt Thybster, aber das Kaff kennt kein Mensch. Hier, schau, wenige Meilen östlich von Thurso.« Sie wischte über das Display, bis die Karte den nordöstlichsten Zipfel des Festlandes anzeigte.

Kim war weder Thurso noch Thybster ein Begriff. »Ist es schön da?«

»Mehr als das!« Alisons Augen strahlten. »Mit etwas Glück sieht man da auch Delphine. Manchmal sogar Wale. Der Norden ist die schönste Gegend Schottlands.«

»Echt?«

»Na ja, sagen wir: Für mich ist es die schönste Gegend. Es ist sehr ländlich, wenig touristisch. Thybster ist für Reisende nicht besonders attraktiv. Es ist ein verschlafenes Nest. Es gibt einen kleinen Pub, viele Schafe, die Küste, das Meer, und das war’s auch schon.«

Kim sah nachdenklich auf das Display von Alisons Smartphone. Wenig touristisch bedeutete auch wenige deutsche Touristen. Unerkannt bleiben, zur Ruhe kommen, war es nicht das, wonach sie sich seit Monaten sehnte?

Thybster

Durch die regennassen Scheiben seines Land Rovers sah Marley das Auto seiner Schwester im Hof von Francis Cottage stehen. Er parkte neben ihr, sprintete zur Haustür und schloss auf. Hinter sich hörte er Grace die Wagentür zuschlagen. Er wartete, bis sie bei ihm war, und ließ sie vor sich eintreten. Mit ihnen wehte kalte, feuchte Luft in den warmen Flur.

Er schaltete das Licht an und hängte seine Jacke an die Garderobe. Als er Grace die Jacke abnahm, bemerkte er den Bluterguss auf ihrem Jochbein. Die Verletzung war schon ein paar Tage alt und hatte sich grüngelb verfärbt.

»Oh mein Gott, Grace!«

Seine Schwester winkte ab. »Wir hatten eine Verhaftung, die ein bisschen aus dem Ruder gelaufen ist. War ein Glückstreffer.«

»Ich hoffe, du hast ihm auch eine verpasst.«

»Ihr, es war eine Frau, und nein, Marley, ich bin Polizistin. Ich schlag nicht einfach auf die Leute ein. Sie bekommt eine Anzeige wegen Widerstand und Tätlichkeit. Zufrieden?«

»Nein.« Er wunderte sich immer wieder, wie sachlich sie mit der Aggression anderer Menschen umging und die Gewalt, die sie erfuhr, ertrug. »Du solltest diesen Job nicht machen. Ich will nicht, dass dich jemand schlägt.«

Grace verdrehte die Augen. »Wie sieht’s aus, warten wir auf gutes Wetter, oder bekomme ich einen Tee, kleiner Bruder?«

Auch wenn er mittlerweile einen halben Kopf größer als sie war, wies sie ihn gern darauf hin, dass sie fünf Jahre älter war. Als sie Kinder waren, hatte sie ihn beschützt, wenn er sich vor etwas gefürchtet hatte. Das Beschützen lag ihr im Blut. Sie war schon immer groß und stämmig gewesen und konnte sehr bestimmt auftreten. Dennoch wünschte er sich, sie hätte sich nicht so einen gefährlichen Beruf ausgesucht.

Er zog seine Schwester an sich und küsste ihre Stirn. Gemeinsam gingen sie in die Küche. Marley schaltete den Wasserkocher ein. »Wolltest du deswegen nicht in den Pub kommen?« Er deutete auf den Bluterguss.

»Auf die dummen Sprüche deiner Freunde kann ich gut verzichten.« Grace setzte sich an den Tisch. »Ich war gerade bei Dad.«

»Wegen des Schafs?«

»Warum hast du mich nicht angerufen?« In ihrer Stimme schwang deutlich Ärger mit. »Da müssen mir meine Kollegen erzählen, dass bei unserem Vater die Schafe auf der Weide abgeschlachtet werden.«

»Es war ein Schaf«, relativierte Marley ihre Worte. »Conor hat es heute Morgen entdeckt und Douglas informiert. Ich habe es auch nur aus dritter Hand erfahren.« Er war mittags im Dorfladen gewesen, und Becky Russel, die Inhaberin, hatte ihn darauf angesprochen.

»Trotzdem!«, beharrte seine Schwester.

Das Wasser kochte. Er füllte es in die Tassen. »Ich hatte zu tun, Grace. Ich habe einen Auftrag, und der muss fertig werden. Aber ich hätte dich heute Abend noch angerufen. Steht ganz oben auf meiner To-do-Liste.« Er deutete auf die unbeschriebene kleine Kreidetafel an der Küchenwand, die Grace ihm geschenkt hatte, um Ordnung in sein Leben zu bringen.

Ihr Blick wanderte erneut zur Decke. Diesen genervten Große-Schwester-Blick hatte sie seit ihrer Kindheit drauf. Aber er wusste, dass sie hinter diesem Gesichtsausdruck lediglich ihre Sorge zu verbergen versuchte.

»Du warst im Pub.«

»Nur auf ein Pint. Ich war schon auf dem Sprung nach Hause, als du angerufen hast.«

Grace lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen zurück. »Und wann hattest du vor, mit Dad zu sprechen?«

»Wozu? Meine Meinung interessiert ihn eh nicht.«

»Du tust ihm unrecht.«

Das sah Marley ganz anders. Aber wie oft hatte er diese Diskussion schon mit Grace geführt? Er stellte die Tassen auf den Tisch und gesellte sich zu seiner Schwester. »Was hat er denn gesagt?«

»Dass ich kein großes Ding draus machen soll.«

»War ja nicht anders zu erwarten.«

»Er tippt auf ein paar besoffene Halbstarke.«

»Nie im Leben.« Marley schüttelte den Kopf. »Die laufen doch nicht extra raus zu Thybster Rock.«

Thybster Rock war eine steile Küstenformation am Pentland Firth, an die Douglas MacKeiths Weidefläche grenzte. Die Weide begann hinter Douglas’ Farmhaus und lag ein Stück von der A 836 zurück, die von Thurso Richtung John o’Groats führte. Sie war groß, unübersichtlich und uneben. Niemand kam da nachts zufällig vorbei.

»Hat er eine Vermutung geäußert, wer es getan haben könnte?«, fragte Marley.

»Nein, kennst ihn ja: Wenn er nichts sagen will, sagt er nichts.« Sie nahm den Teebeutel aus ihrer Tasse, legte ihn auf den Unterteller, den er in die Mitte des Tisches gestellt hatte, und strich sich durch die kurzen braunen Haare. »Ich mache mir Sorgen, Marley. Ich habe mir den Kadaver angesehen. Jemand hat dem armen Tier gezielt die Kehle durchgeschnitten. Das war kein Dummejungenstreich.«

Marley rührte grübelnd Zucker und Milch in seinen Tee. Die Gespräche mit seinem Vater hatten sich seit Jahren auf das Notwendigste beschränkt, obwohl sie kaum eine halbe Meile voneinander entfernt lebten. Er versuchte, seinen alten Herrn auf der Farm zu unterstützen, wo er konnte, auch wenn Douglas immer wieder behauptete, er könne auf seine Hilfe verzichten.

Aber Marley war auch dabei, sein eigenes Unternehmen aufzubauen, und das kostete Zeit und Kraft. Und da er die Werkstatt nicht auf dem familieneigenen Hof aufbauen durfte, hatte er ein Cottage pachten müssen. Jeana und Alison hatten ihm den Hof, den sie von ihren Eltern übernommen hatten, zu einer günstigen Pacht überlassen. Dennoch musste er dieses Geld Monat für Monat reinholen. Auch die Kredite für die Maschinen mussten abbezahlt werden.

»Ich habe das Gefühl, dass er uns etwas verheimlicht, Marley.«

»Ach, Grace, er ist ein knurriger Dickkopf, der die Dinge am liebsten mit sich selbst ausmacht.«

»Kannst du nicht trotzdem versuchen, mit ihm zu reden?«

Sie würde nicht lockerlassen. »Ich schau morgen bei ihm vorbei«, gab er sich geschlagen. »Dann kann er mich wieder beschimpfen, und vielleicht rutscht ihm dabei eine unbedachte Bemerkung heraus.«

Samstag

Aberdeen

Kim schreckte aus dem Schlaf hoch. Ihr Shirt war nass geschwitzt. Das Herz schlug hart in ihrer Brust. Sie hatte schlecht geträumt. Nicht zum ersten Mal. Wie auch die Male zuvor konnte sie sich nicht an den Inhalt des Traumes erinnern. Aber das schlechte Gefühl blieb nach dem Erwachen, begleitete sie häufig durch den Tag.

Sie drehte sich auf den Rücken, lauschte im Dunkeln auf die Geräusche in der fremden Umgebung. Im Hotelflur erklangen schwere Schritte. Sie kamen an ihrem Zimmer vorbei, blieben wenig später stehen. Jemand klopfte irgendwo laut an die Tür. »Jackson! Get up!«

Steh auf. Einen flüchtigen Moment erwartete sie, dass auch an ihre Tür geklopft würde. Dann erinnerte sie sich, dass niemand sie auf dieser Reise begleitete.

Ihr Blick glitt zum Fenster. Hinter den Vorhängen war der Tag angebrochen. Sie nahm ihr Smartphone vom Nachttisch. Die Uhr zeigte halb sechs. Immerhin hatte sie die Nacht durchgeschlafen. Sie schwang die Bettdecke zurück und suchte ihre Sportkleidung aus dem Rucksack. Nach einer Katzenwäsche verließ sie das Zimmer.

Wie bei ihrer Ankunft standen auch jetzt ein paar Männer rauchend unter dem Vordach. Sie drehten sich neugierig zu ihr um, als sie in Jogginghose und Kapuzenshirt herauskam. Sie wich den Blicken aus und trabte los. Da sie sich nicht auskannte, lief sie kurz entschlossen in die Richtung, aus der sie am Abend zuvor mit dem Taxi gekommen war. Ein paar Pfiffe der Männer folgten ihr.

Ein schmaler Fußweg führte an der Straße entlang. Der Belag glänzte feucht im Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos. Der Berufsverkehr hatte eingesetzt, auch am Flughafen herrschte bereits Betrieb. Sie hörte die Rotoren eines Helikopters. Ein Hauch von Kerosin hing in der kühlen Frühlingsluft. Der Regen war der Prophezeiung des Taxifahrers gefolgt und hatte sich verzogen.

Nachdem Kim ein paar Minuten locker vor sich hin getrabt war, zog sie das Tempo an. Ihre Beine waren schwer. Vielleicht hätte sie das zweite Glas Cider nicht trinken sollen. Ihr Körper war Alkohol nicht gewöhnt. Sie beschleunigte weiter, trieb ihren Puls hoch, damit sich das Adrenalin abbaute, das sich durch den Traum in ihrem Blut angesammelt hatte.

Es frustrierte sie, dass sie gleich in der ersten Nacht der Reise wieder von ihrem Leben eingeholt worden war. Aber was hatte sie erwartet? Dass ihre schlechten Träume an der Grenze ein Einreiseverbot erhielten?

Zurück im Hotel, absolvierte sie ein kurzes Work-out, duschte und ging zum Frühstück ins Restaurant. Sie hoffte, Alison dort zu treffen, aber von der freundlichen Schottin war nichts zu sehen. Kim warf einen Blick auf ihr Handy. Zwei verpasste Anrufe, drei Kurzmitteilungen. Keine Nachricht von Alison. Sie hatten am Abend die Nummern ausgetauscht. »Falls du mal Hilfe brauchst«, hatte Alison gesagt. »Oder einen Tipp für ein gutes Hotel.«

Kim löschte Nachrichten und Anrufliste und gönnte sich am Büfett ein deftiges Cooked Breakfast. Kurz meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie schob es zur Seite. Es war ihre Auszeit, und da durfte sie essen, was und so viel sie wollte.

Während sie sich über Toast, Rühreier, Bohnen, Champignons und Würstchen hermachte, überlegte sie, wie es weitergehen sollte. In diesem Hotel wollte sie nicht bleiben. Thybster ging ihr nicht aus dem Kopf. Ob es da wirklich so ruhig und schön war, wie Alison es beschrieben hatte?

Sie öffnete eine Onlinekarte auf ihrem Smartphone und suchte den Ort. Er war fast zweihundertzwanzig Meilen von ihrem Hotel entfernt. Mit Bus und Bahn wäre sie über sieben Stunden unterwegs. Erst mit dem Zug von Aberdeen nach Inverness, und von dort ging es weiter mit dem Bus die Küste entlang, ganz hinauf in den Norden.

Sie gab »Thybster« in die Suchmaske ein. Der Ort war so unbedeutend, dass es nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag gab. Wenn sie auf die Links der Ergebnisliste klickte, landete sie auf Reiseportalen, die Hotels und Bed-&-Breakfast-Unterkünfte in Thurso anzeigten, anscheinend der einzige größere Ort an der nördlichen Küste. »Das muss ja wirklich ein verschlafenes Nest sein«, murmelte sie leise zu sich selbst.

Zu Portgordon fand sie zumindest eine englischsprachige Wikipedia-Seite und erfuhr, dass das Dorf einer der letzten Orte gewesen war, in dem die Straßenbeleuchtung 1937 von Paraffin auf elektrisches Licht umgestellt wurde. Von Seehunden am Strand las sie nichts.

Hatte Alison sich einen Spaß erlaubt? Aber sie hatte nicht den Eindruck gemacht, als bereite es ihr Vergnügen, unwissende Touristinnen zu veralbern.

Schon wieder stand sie vor der Frage, wie es weitergehen sollte. Kim schloss einen Pakt mit sich selbst: Sie würde mit dem Bus nach Portgordon fahren, und wenn dort tatsächlich Seehunde am Strand lagen, würde sie sich auf den Weg nach Thybster machen, denn dann musste der Ort wirklich schön sein. Zufrieden, nicht ziellos in diesen Tag zu gehen, gönnte sie sich einen Nachschlag am Büfett.

Thybster

Marley MacKeith hatte mit Tagesanbruch in seiner Werkstatt gestanden. Er war ein Frühaufsteher, und morgens war er am produktivsten. Gegen halb zehn gönnte er sich eine Pause und trat in den Hof vor der Werkstatt. Die Regenfront vom Tag zuvor hatte sich verzogen, durch die helle Wolkendecke blitzte die Sonne hindurch. Er streckte das Gesicht mit geschlossenen Augen dem Himmel entgegen und genoss die Wärme auf der Haut. Er atmete zufrieden durch. Die Arbeit war ihm gut von der Hand gegangen, und die ersten Fässer standen zum Toasten bereit.

Allerdings lag nun der Weg zu seinem Vater vor ihm. Er hatte es Grace am Abend zuvor versprochen. Die Aussicht auf ein Gespräch mit Douglas ließ seine gute Laune sogleich wieder sinken. Besser, er brachte es schnell hinter sich.

Er verließ den Hof und marschierte am Straßenrand an den mit Bruchsteinen eingefassten Weiden entlang. Die alten Mauern waren niedrig und zum Teil brüchig. Immer wieder fanden die Schafe einen Weg auf die Straße, grasten am Wegesrand oder legten sich dösend auf dem warmen Asphalt in die Sonne. Aber hier oben im Norden herrschte nicht viel Verkehr, und die Leute waren an die Tiere gewöhnt, sodass es nur selten zu Unfällen kam.

Viel zu schnell hatte er die Einfahrt zu Douglas’ Farm erreicht. Rechts des Hofes stand die große alte Scheune, in der die Maschinen untergebracht waren, dahinter befand sich der Stall mit Streu und Futter für den Winter, dazu gab es ein paar Verschläge für kranke, alte oder besonders wertvolle Böcke und Zuchtschafe. Zurzeit war kein Tier im Stall.

Zur Linken befand sich das lang gezogene zweigeschossige Wohnhaus, zum Teil noch aus den für die Region typischen Bruchsteinplatten errichtet. Seine Urgroßeltern hatten es gebaut, im Laufe der Jahre war es erweitert und modernisiert worden. Toiletten und Bäder waren eingebaut worden, die Zimmer unterm Dach hatten Gauben bekommen.

Die Bruchsteine stammten aus dem nahen Castletown. Dort hatte es im 19. Jahrhundert einen der größten Steinbrüche von Caithness gegeben. Bis nach Südamerika und Australien waren die Steine verschifft worden, hatte sein Großvater ihm stolz erzählt. Doch als Anfang des 20. Jahrhunderts Beton seinen Siegeszug antrat, verloren der Steinbruch und damit auch Castletown und die gesamte Region an Bedeutung. Es gab erhebliche wirtschaftliche Einbußen.

Seine Familie war nicht davon betroffen gewesen. Die MacKeiths waren seit Jahrhunderten Schafzüchter. Doch auch die lukrativen Zeiten der Schafzucht waren lange vorbei.

Trevor döste an die Hauswand gelehnt in der Sonne. Er klopfte mit der Rute träge auf den Boden, als Marley auf den Hof kam, sah sich aber nicht genötigt, dem Gast entgegenzulaufen. Vermutlich war der Hund den ganzen Morgen mit Douglas auf den Weiden unterwegs gewesen und genoss seine Pause.

»Bemüh dich nicht, mein Freund.« Marley ging vor ihm in die Hocke und kraulte ihn hinter den Ohren. Trevor schloss zufrieden die Augen. Er zuckte erschreckt zusammen, als Douglas’ Stimme durch das geöffnete Fenster schallte. Anscheinend telefonierte er, denn Marley hörte lediglich seinen Vater sprechen. Die Worte verstand er nicht.

»Na, da komme ich ja gerade richtig.« Marley zog eine Grimasse und erhob sich seufzend. Er meinte, tatsächlich Bedauern in Trevors Blick zu sehen. Aber das rührte wohl eher daher, dass er nicht mehr gekrault wurde. Marley ging zur Tür. Er wollte nicht, dass sein Vater ihn beim vermeintlichen Lauschen erwischte, und klopfte laut.

»Douglas?« Er betrat das Haus seiner Kindheit.

Ein vertrauter Geruch empfing ihn: das Holz der alten Möbel, Kaffeeduft – seine Eltern tranken seit jeher lieber Kaffee statt Tee –, und über allem hing immer ein Hauch von Schaffell.

Ein Paar schmutzige Stiefel stand in einer Plastikwanne im Flur. Frisches Gras und feuchte Erde von der Weide klebten an den Sohlen. Douglas’ Waxcotton-Jacke hing neben einem Fleece und einer Strickjacke an der Garderobe, auf der Ablage darüber lag sein Hut. Alles war an seinem Platz, der Boden gefegt. Liwayway Greenless kam montags und freitags zum Putzen ins Haus.

Marley mochte die junge Philippinin, die vor gut zehn Jahren nach Thybster gekommen war. Conor hatte sie ihnen eines Tages als seine Ehefrau vorgestellt, dabei war sie jünger als Grace. Damals sprach sie nur ein paar Brocken Englisch. Mittlerweile war es ganz passabel, mit einem lustigen Akzent.

Conor Greenless half auf der Farm, und da Douglas für Hausarbeit nicht viel übrighatte und Marleys Mutter Moira die Familie vor zwölf Jahren verlassen hatte, hatte Douglas Liwayway kurzerhand die Arbeit angeboten.

Man sah sie leider viel zu selten im Ort, und Marley wusste, dass sie nicht besonders glücklich war. Am Anfang hatte er vermutet, es wäre Heimweh. Aber ihr Kummer hatte einen anderen Grund.

Marley folgte der wütenden Stimme. Sein Vater stand in der Küche, den Rücken zur Tür gewandt, das Handy am Ohr. Auch mit seinen sechzig Jahren war er noch immer eine imposante Erscheinung, aufrecht und breitschultrig. Das graue Haar war kurz geschnitten, etwas zerzaust, vermutlich von der Fahrt mit dem Quad über die Weiden. Selbst von hinten konnte Marley sehen, dass Douglas vor Wut bebte.

»Das kann er sich sonst wo hinschieben! Sagen Sie ihm das.«

»Morning«, machte Marley sich erneut bemerkbar.

Douglas fuhr herum. Er beendete eilig das Telefonat und funkelte ihn ärgerlich an. »Seit wann stehst du da?«

»Eine halbe Stunde«, erwiderte Marley ironisch.

Die Antwort war ein grimmiges Schnaufen.

»Wer war das?« Marley deutete auf das Smartphone in der Hand seines Vaters.

»Das geht dich nichts an.«

Natürlich nicht. Besser hätte der Auftakt ihres Gesprächs nicht sein können. Er hätte gleich wieder gehen sollen, als er die wütende Stimme durch das offene Fenster gehört hatte.

»Aye.« Marley bemühte sich um einen beiläufigen Ton. »Trinken wir einen Tee?«

»Hast du nichts Besseres zu tun?«

Tausend andere Dinge, aber er hatte Grace versprochen, mit Douglas zu reden. Er zwang sich zur Ruhe. »Doch, aber du hast ein totes Schaf, wie ich höre, oder sind es inzwischen schon zwei?«

»Red keinen Unsinn.« Douglas füllte den Wasserkocher.

Immerhin kein direkter Rausschmiss, verbuchte Marley die Runde für sich. Er betrat die Küche und setzte sich an den Tisch. »Weißt du, wer das Schaf getötet hat?«

»Was interessiert dich das?«

»Natürlich interessiert es mich, wenn auf dem Hof meines Vaters so etwas passiert!«

»Und warum kommst du dann erst heute?«

Marley biss die Zähne zusammen. Dieses Gespräch führte zu nichts. Er sollte gehen, bevor es den nächsten heftigen Streit gab. Er schluckte seinen Ärger mühsam herunter. »Warum zeigst du es nicht an, wenn dir jemand ein Schaf absticht?«

»Was soll das bringen? Das macht das Schaf nicht wieder lebendig. Es hätte eh demnächst geschlachtet werden müssen.«

»Dann hättest du es aber noch verwerten können. So kannst du weder Fleisch noch Wolle verwenden.«

»Hört, hört, der Farmersjunge kennt sich aus.«

»Spar dir deinen Zynismus, okay?«, gab Marley grimmig zurück. »Verdammt noch mal, niemand sticht einfach so ein Schaf ab! Hast du mit jemandem Ärger?«

»Mit wem sollte ich denn Ärger haben?«

»Das Telefongespräch gerade klang nicht nach guten Freunden.«

Douglas’ Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Weißt du, was ich nicht gebrauchen kann? Kleine Jungen, die Gespräche belauschen, die sie nichts angehen.«

Ende der Diplomatie. Marley stieß energisch seinen Stuhl zurück und sprang auf. Er presste die Lippen fest zusammen, um nichts Unbedachtes zu sagen. Kleiner Junge. Er war größer als sein Vater und ganz sicher kein Kind mehr.

»Was ist?«, fragte Douglas.

»Ich gehe.«

»Und der Tee?«

»Tut mir leid, meine Pause ist zu Ende.«

Portgordon

Der Bus hielt, und der Fahrer wandte sich zu den wenigen Fahrgästen um. Sein Blick blieb an Kim hängen, die in der zweiten Sitzreihe träumend aus dem Fenster schaute.

»There you are.« Er deutete auf den Ausgang.

»Oh, thank you!« Kim sprang auf, schnappte eilig ihren Rucksack und stieg aus. Sie war froh, dass sie den Fahrer gebeten hatte, ihr Bescheid zu geben, wenn sie am Ziel war. Nie im Leben wäre ihr in den Sinn gekommen, dass diese unscheinbare Haltestelle in diesem noch unscheinbareren Ort ihre Endstation war.

Sie wartete, bis der Bus davongefahren war, und blickte die Straße entlang. Zu einer Seite drängten sich kleine Reihenhäuser dicht an den leeren Bürgersteig, bei einigen sah man die Sandsteinfassade, andere waren graubraun verputzt. Die Aufteilung war immer die gleiche: jeweils zwei Fenster unten neben der Eingangstür und ein großes Doppelfenster oben in der Dachgaube. Und jedes Häuschen hatte einen kleinen Kamin. Diese Ansicht war wesentlich hübscher als der funktionale Flachbau des Hotels am Aberdeen Airport.

Vereinzelt parkte ein Auto am Straßenrand. Einwohner entdeckte sie nicht. Zur anderen Seite hatte sie Sicht auf das Meer.

»Wow!« Begeistert schulterte sie ihren Rucksack und ging über die menschenleere Straße zum Wasser. Ein kniehohes Mäuerchen grenzte den Fußweg vom befestigten Deich ab. Wenige Meter dahinter befand sich ein schmaler Streifen geschotterter Strand. Das Meer war ruhig. Wellen plätscherten sanft ans Ufer.

Sie setzte sich auf die niedrige Mauer, blickte auf die graublaue Fläche, die sich bis zum Horizont erstreckte. Sie sog die salzige Luft in ihre Lungen. Es roch nach Tang, nach Algen, nach Sand, nach Meer. Ein paar Sonnenstrahlen brachen durch die Wolkendecke. Kim schloss die Augen, genoss die Wärme und lauschte den Rufen der Austernfischer und Möwen.

Eine ganze Weile saß sie so da. Ihr Atem ging ruhig, und es kamen keine störenden Gedanken. Zum ersten Mal seit Monaten hatte sie das Gefühl, dass sich die Ketten, die sich um ihre Brust gespannt hatten, ein klein wenig lösten. Sie lächelte zufrieden. Diese Reise war genau das, was sie brauchte.

»Wer hätte gedacht, dass du mir tatsächlich mal einen guten Ratschlag gibst?«, wisperte sie vor sich hin. Doch die Erinnerung an Henriette genügte, um das entspannte Gefühl umgehend zu verscheuchen.

Kim öffnete die Augen und zog ihr Smartphone aus der Jackentasche. »Dann schauen wir mal, ob wir ein Zimmer für die Nacht finden.«

Sie runzelte die Stirn. Sie war kaum zwei Tage allein unterwegs und sprach bereits mit sich selbst. Kopfschüttelnd gab sie die Adresse des Bed & Breakfast, das Alison ihr am Abend zuvor empfohlen hatte, in ihr Navi ein.

Bevor sie losmarschierte, blickte sie noch einmal aufs Meer. Dieser kurze Augenblick völliger Entspannung war ein erster Schritt, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Inverness

Anstatt das Wochenende mit Hamish in einem Hotelzimmer zu verbringen, war Alison zeitig aufgestanden und nach einem einsamen Frühstück zurück nach Inverness gefahren. Sie hatte einen Hang zum Grübeln, wenn es ihr schlecht ging, da war ein Airport Hotel mit Blick auf die Offshore-Hubschrauber gewiss nicht die richtige Ablenkung.

Um ihrem Trübsinn zu entkommen, hatte sie sich zu einem ausgedehnten Spaziergang überredet. Sie liebte die Hauptstadt der Highlands mit den vielen Brücken, die über den River Ness führten, dazu das Inverness Castle, das mit seinen zahlreichen Türmen auf einem Hügel stand und über die Stadt wachte. Inverness war modern und altertümlich zugleich und vor allem: kein kleines Dorf, in dem jeder jeden kannte.

Sosehr sie Thybster liebte – der Dreihundert-Seelen-Ort engte sie zu stark ein. Selbst Thurso, mit über siebentausend Einwohnern die größte Stadt im Norden, war ihr zu klein. Sie brauchte Abwechslung. Nicht nur einen Pub, nicht nur eine Handvoll Shops, nicht immer dieselben Gesichter. Allerdings gab es ein paar Menschen, die sie sehr vermisste.

Edinburgh war auf Dauer eine Nummer zu groß für sie, das hatte sie schnell gemerkt, als sie eine Weile in der Landeshauptstadt gelebt hatte. Bei diesem Gedanken war sie gleich wieder bei Hamish, der dort mit Frau und zwei Kindern in einem Vorort wohnte. Es war nicht das erste Mal, dass er sie in letzter Minute versetzte. War es dieses Mal das letzte Mal? Nur, wenn sie einen Schlussstrich zog.

Sie gelangte über eine Hängebrücke über den River Ness auf die Ness Islands, spazierte über die kleinen bewaldeten Inseln und kam schließlich an das Nordufer des Flusses. Von dort schlug sie den Weg zurück zum Zentrum ein. Es war ihre gewohnte Runde, die sie am Ende automatisch zur Inverness Cathedral führte.

Alison war nicht besonders gläubig, aber sie fühlte sich wohl in der alten anglikanischen Kirche mit ihren zwei Türmen aus rotem Tarradale-Stein und Granit. Sie setzte sich in eine der hinteren Bänke, so hatte sie das lange Mittelschiff mit Altar und Chor im Blick. Weiter vor ihr saßen im Raum verteilt drei alte Frauen. Ein paar Touristen wanderten umher, betrachteten die bunten Fenster und fotografierten fleißig fürs Urlaubsalbum. Ein Vater mahnte seine Kinder, die übermütig durch die Gänge sausten, zur Ruhe.

Der Anblick ließ ihr Herz schwer werden. In drei Wochen würde sie sechsunddreißig. In ihren Träumen hatte sie längst eine eigene Familie: einen Mann, zwei oder drei Kinder und vielleicht ein paar Katzen und einen Hund. Das Leben hatte andere Pläne für sie gehabt: Ihre Ehe war nach wenigen Jahren in die Brüche gegangen. Sie lebte allein in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, und der Mann, den sie liebte, hatte das, was sie sich wünschte, mit einer anderen Frau.

War ihr bevorstehender Geburtstag der Grund, dass Hamishs kurzfristige Absage sie dieses Mal so enttäuscht hatte? Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. Sechsunddreißig. Es war nur eine Zahl. Mehr nicht. Sie genoss ihre Freiheit, und sie hatte auch ohne Hamish einen schönen Abend gehabt.

Kimberly aus Hamburg, erinnerte sie sich an die junge Frau, die sie im Hotel kennengelernt hatte. Sie war siebenundzwanzig, hatte Alison erfahren. Kimberly hatte ihr gefallen. Nachdem sie ihre anfängliche Scheu überwunden hatte, war sie schnell aufgetaut. Sie wirkte aufgeweckt und neugierig. Studentin war sie nicht, hatte sie gesagt, aber sie hatte nicht rausgelassen, was sie beruflich machte, fiel Alison auf.

Zugegeben, sie selbst hatte geflunkert, was ihren Job anging. Hoteltesterin. Dass die Leute ihr diese Story immer wieder abnahmen. Sie schmunzelte still in sich hinein. Als private Ermittlerin kam sie allerdings viel herum und kannte eine Menge Hotels. Meist observierte sie treulose Ehepartner oder illoyale Mitarbeiter. Zurzeit war ihre Auftragslage allerdings mehr als dünn. Grace hatte ihr geraten, für den Anfang erst einmal bei einer größeren Detektei anzuheuern, aber sie wollte ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben. Sie würde sich schon noch einen Namen in der Branche machen.

Ihre Gedanken wanderten wieder zu Kimberly. Sie war sportlich, das war ihrer Figur deutlich anzusehen gewesen. Sie hatte einen muskulösen Nacken und kräftige runde Schultern. Das konnte auch die weite Bluse, die sie getragen hatte, nicht vollständig kaschieren. Vielleicht eine Schwimmerin? Die hatten meist ein breites Kreuz. Aber mit Sport ließ sich nicht unbedingt Geld verdienen. Welcher Job passte zu dieser Frau?