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Tilman Seidensticker

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Beschreibung

Der Islamismus hält die Welt in Atem, sei es durch Terroranschläge, durch die Kontrolle großer Gebiete in Syrien, Irak, Nordafrika oder Afghanistan oder durch überraschende Wahlerfolge. Tilman Seidensticker erklärt, was Muslimbrüder, Salafisten, Wahhabiten, Taliban und andere Strömungen voneinander unterscheidet, auf welche Vordenker sie sich berufen und mit welchen Mitteln sie operieren, um ihr Ziel einer islamischen Politik und Gesellschaft zu erreichen. Ein "Muss" für alle, die den islamischen Fundamentalismus besser verstehen wollen.

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Tilman Seidensticker

ISLAMISMUS

Geschichte, Vordenker, Organisationen

C.H.Beck

Zum Buch

Spätestens seit der Iranischen Revolution von 1979 und erst recht seit dem 11. September 2001 hält der Islamismus die Welt in Atem. Das Spektrum reicht von religiösen Parteien bis hin zu Terrororganisationen wie al-Qaida oder dem «Islamischen Staat». Tilman Seidensticker erklärt, was Muslimbrüder, Salafisten, Wahhabiten und andere Strömungen voneinander unterscheidet, auf welche Vordenker sie sich berufen und mit welchen Mitteln sie operieren, um das Ziel einer islamischen Politik und Gesellschaft zu erreichen. Ein «Muss» für alle, die den Islamismus und die Gefahr, die von seinen militanten oder extremistischen Gruppierungen ausgeht, besser verstehen wollen.

Über den Autor

Tilman Seidensticker war bis 2021 Professor für Islamwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist seitdem Seniorprofessor an der Universität Hamburg. Seine kommentierte Ausgabe der «Geistlichen Anleitung» der Attentäter vom 11. September wurde in mehrere Sprachen übersetzt (mit Hans G. Kippenberg, 2004).

Inhalt

Vorwort

I. Was ist Islamismus?

II. Der geschichtliche Hintergrund

1. Aufstieg und Niedergang der islamischen Welt

2. Der Wahhabismus

3. Der koloniale Kontext des frühen Islamismus

Das Osmanische Reich

Ägypten 1798 bis 1922

Kolonialismus, Dekolonisation und Unabhängigkeit

III. Aktivisten und Vordenker

1. Jamâl ad-Dîn al-Afghânî

2. Muhammad Rashîd Ridâ

3. Hasan al-Bannâ

4. Sayyid Qutb

5. Ruhollâh Khomeini

IV. Organisationen und Parteien

1. Die Muslimbrüder nach Hasan al-Bannâ

Ägypten

Syrien

Jordanien

2. Islamistische Parteien in der Regierungsverantwortung

Die ägyptische «Freedom and Justice Party» (FJP)

Die tunesische Ennahda

Die marokkanische «Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung» (PJD)

Die türkische «Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung» (AKP)

Die Hamas im Gazastreifen

Die libanesische Hisbollah

3. Der Salafismus

4. Al-Qaida

5. Der «Islamische Staat»

6. Boko Haram

7. Die Taliban

V. Rechtfertigung und Gebrauch von Gewalt

1. Der Jihad

2. Märtyrertum und Selbstmordattentate

Nachwort

Literaturhinweise

I. Was ist Islamismus?

II. Der geschichtliche Hintergrund

III. Aktivisten und Vordenker

IV. Organisationen und Parteien

V. Rechtfertigung und Gebrauch von Gewalt

Glossar

Register

Vorwort

Der in dieser Reihe erschienene Band Der Islam: Geschichte und Gegenwart des Tübinger Islamwissenschaftlers Heinz Halm informiert über die grundlegenden historischen Entwicklungen des Islams, erklärt die zentralen Begriffe seiner Lehre und zeigt, wie der Islam der Gegenwart im Alltag funktioniert. Über das Verhältnis von Islam und Islamismus informiert er jedoch nur auf wenigen Seiten, und das ist der Sache auch ganz angemessen, denn der Islamismus ist nur eine Facette des Islams. Während dieser vor bald vierzehn Jahrhunderten entstanden ist, gibt es das, was wir heute unter dem Begriff Islamismus fassen, erst seit den 1920er Jahren, und der religiöse Alltag der meisten Muslime wird von ihm nicht bestimmt.

Allerdings zieht der Islamismus durch seine gewalttätigen Seiten mittlerweile fast mehr Aufmerksamkeit auf sich als die islamische Religion selbst. Dieser Band soll dem Bedürfnis nach knapper und sachlicher Information über ein Phänomen entgegenkommen, das in Europa erst seit der Islamischen Revolution in Iran Anfang 1979 und der Ermordung des ägyptischen Staatspräsidenten Sadat im Oktober 1981 in den Blickpunkt gerückt ist. Dabei hat man es zunächst gar nicht unter dem Begriff des Islamismus registriert; weithin durchgesetzt hat sich dieser Terminus erst seit Mitte der 1990er Jahre, und inzwischen geht er jedem Nachrichtensprecher geläufig von der Zunge. Die Herkunft des Begriffs, seine Vorteile sowie eine tragfähige Definition werden zu Beginn dieses Buches behandelt.

Von Experten werden häufig kurze und prägnante Stellungnahmen zu Ursachen und Wesen des Islamismus erbeten. Es mag solche einfachen Antworten geben, doch werden diese ohne den historischen Hintergrund nicht sehr plausibel wirken. In diesem Buch wird deshalb dieser Hintergrund ausführlich vorgestellt. Im Anschluss daran werden einige wichtige Aktivisten und Vordenker behandelt; sie haben die konkrete Ausformung des Islamismus hinsichtlich Ideologie und Organisation hervorgebracht. Das nächste Kapitel verfolgt die Entwicklung verschiedener Organisationen (einschließlich der salafistischen Strömung) bis zur Gegenwart. Abschließend werden einige besonders erklärungsbedürftige Konzepte des Islamismus wie der Jihad und das Märtyrertum erläutert.

Aufgrund der Kontinente überspannenden Verbreitung des Islamismus und seiner Vielgestaltigkeit musste für diesen Band eine Auswahl getroffen werden. Als Schwerpunkt habe ich die arabische Welt gewählt, weil sie uns geografisch am nächsten liegt und bei der Entstehung und Entwicklung des Islamismus eine zentrale Rolle gespielt hat. Einzelne Personen und Organisationen aus dem nichtarabischen Bereich werden wegen ihrer Bedeutung dennoch behandelt oder zumindest erwähnt. Verschiedene Begriffe wie Kalif, Sultan, Emir, Imam oder Sufismus werden im Text nicht oder nur knapp beim ersten Auftreten erläutert; ausführlichere Erklärungen finden sich im Glossar.

Für weitergehende Informationen zum Islam sei auf die genannte Überblicksdarstellung von Heinz Halm verwiesen. Etwas ausführlicher informiert beispielsweise das von Ralf Elger herausgegebene Kleine Islam-Lexikon: Geschichte, Alltag, Kultur.

I. Was ist Islamismus?

Eine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs Islamismus gibt es nicht. Verwendet wird er unter anderem in den Massenmedien, in von Nichtwissenschaftlern verfassten Sachbüchern und in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, und in all diesen Bereichen unterliegt die Verwendung des Terminus eigenen Interessen und Zwängen. Auch ist das Phänomen, um das es geht, inzwischen bald hundert Jahre alt und hat sich in dieser Zeit beträchtlich verändert und differenziert.

In diesem Buch soll folgende Definition zugrunde gelegt werden: Beim Islamismus handelt es sich um Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft, von Recht, Staat und Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden. Der Begriff «Bestrebungen» wurde gewählt, weil unter ihn verschiedenste Aktivitäten gefasst werden können, angefangen bei missionarischer oder erzieherischer Tätigkeit über das Engagement in politischen Parteien bis hin zu revolutionären Plänen. In den verschiedenen islamistischen Strömungen gibt es zwar eine Tendenz, in allen sechs genannten Bereichen Veränderungen anzustreben, aber doch mit unterschiedlichen Prioritäten. Auch die Wahl der Mittel zur Erreichung der Ziele fällt unterschiedlich aus. Die leitenden «islamischen Werte und Normen» sind bei näherem Hinsehen immer eine subjektive Auswahl und Interpretation aus der breiten islamischen Tradition. Hinzu kommen neue und oft ganz moderne Elemente. Das lässt sich gut an Khomeinis «Herrschaft des Rechtsgelehrten» zeigen (dazu ausführlich Kapitel III.5): Weder im Koran noch in den Überlieferungen vom Propheten oder von den zwölf Imamen der Schia gibt es irgendwelche Hinweise zur konkreten Art der Herrschaftsausübung, und Khomeinis Ideen lassen sich innerhalb der Zwölferschia auch nur bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Die demokratischen Elemente in seiner Vision sind auf westlichen Einfluss zurückzuführen, auch wenn Khomeini dies so nicht sagt.

In der theoretischen Ausarbeitung lassen sich für den Islamismus einige weithin geteilte Merkmale feststellen:

Eine Distanzierung von (unterschiedlich großen) Teilen der religiös-politischen Geschichte. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die gewachsene und zur Zersplitterung neigende religiöse Tradition war es nach islamistischer Sicht, die die islamische Welt in die Misere der Gegenwart geführt hat.

Eine Verabsolutierung des Islams für die Gestaltung des individuellen, gesellschaftlichen und staatlichen Lebens, kombiniert mit dem Ziel einer weitgehenden Durchdringung der Gesellschaft. Dahinter mag der Wunsch nach flächendeckender Sicherung der Herrschaft stehen. Kein Zufall ist es aber, dass dieser Gedanke gleichzeitig mit der Blüte totalitärer Ideen, besonders in Europa, entstand.

Die Forderung, statt der westlichen Volkssouveränität die «Souveränität Gottes» ins Werk zu setzen. Das führt zu starker Ablehnung von «menschengemachten Gesetzen», als die alle von Parlamenten beschlossenen Gesetze angesehen werden. Der Hintergrund solcher Befürchtungen ist, dass frei gewählte Parlamente Beschlüsse auch gegen die ethischen Grundlagen «des Islams» fassen könnten.

Der Begriff «Islamismus» hat sich in Deutschland in den einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen, in den Medien sowie im politischen Sprachgebrauch ab 1985 (zusammen mit «islamistisch» und «Islamist») nach und nach weitgehend gegen andere Begriffe, vor allem «islamischer Fundamentalismus», durchgesetzt. «Islamismus» ist nicht nur wesentlich «handlicher» als das Gebilde «islamischer Fundamentalismus», sondern es gibt auch gute inhaltliche Gründe für den Wechsel der Bezeichnung. Islamwissenschaftler haben seit der Mitte der 1980er Jahre die mitschwingenden negativen Wertungen von «islamischer Fundamentalismus» kritisiert, mehr aber noch die halbwegs wertneutrale Assoziation von «Buchstabengläubigkeit», die dem Terminus anhaftet. Geprägt wurde das Wort «Fundamentalismus» für die Einstellung konservativer protestantischer Kreise in den USA nach dem Ersten Weltkrieg, die sich für eine Orientierung strikt am Wortlaut der Bibel aussprachen, nicht zuletzt in Bezug auf die Schöpfungsgeschichte. Zur Anwendung des Wortes auf die schiitischen Geistlichen Irans beispielsweise wurde von der Islamwissenschaft mit Recht gesagt, dass diese mit ihrer Lehre von der freien Rechtsfindung geradezu Anti-Fundamentalisten seien. Ebenso richtig wurde argumentiert, dass mit «Fundamentalismus» eigentlich nur die radikalen Strömungen bezeichnet werden könnten und somit nur ein Teil des Spektrums erfasst werde.

Zur Verteidigung des Wortes muss gesagt werden, dass es Züge des Islamismus beleuchtet, die in ähnlicher Form nach dem Ende der bipolaren kapitalistisch-kommunistischen Welt auch in anderen Religionen (wieder-)entdeckt wurden. In den 1990er Jahren sah man «fundamentalistische» Strömungen in Judentum, Christentum und Hinduismus, die mit denen des Islamismus Ähnlichkeiten aufzuweisen schienen: überzeitliche Heilsgewissheit für die Anhänger der eigenen Religion, einen Gut-Böse-Dualismus, manchmal (!) buchstabengläubige Bindung an einen Schriftkanon und totalitäre Visionen in Anlehnung an eine idealisierte Urgesellschaft. Da auch der Eindruck entstand, die fundamentalistischen Tendenzen hätten seit den 1970er Jahren zugenommen, wurden sie als Folge der ökonomischen und kulturellen Globalisierung angesehen. Der Denkansatz gipfelte in Aperçus wie dem Satz Benjamin Barbers, dass «Jihad der nervöse Kommentar der Moderne zu sich selbst» sei.

Der vergleichende «Fundamentalismus»-Ansatz hat den wichtigen Gedanken zum tieferen Verständnis des Islamismus geliefert, dass eine religiös grundierte Wahrnehmung politischer, sozialer und ökonomischer Missstände beziehungsweise religiös artikulierte Ansätze zu deren Behebung kein Spezifikum der islamischen Welt sind. Aber der Kern der Bezeichnung trifft doch das Wesen des Islamismus nicht, weder als Buchstabengläubigkeit noch allein als eine moderne Anti-Modernisierungs-Ideologie. Die eher zufälligen politischen Rahmenbedingungen, etwa im Zusammenhang mit dem Palästina-Konflikt, können der Modernisierung nicht ohne weiteres angelastet werden. Die durch Muhammads Rolle als Staatsmann bedingte lebenspraktisch-politische Seite des Islams ist eine weitere Besonderheit. Die verschiedenen islamistischen Bewegungen richten sich auch gegen ganz unterschiedliche Aspekte dessen, was man Moderne nennt. Und schließlich überstrahlt der Islamismus mit Anhängern aus (fast) allen Schichten und globaler Verbreitung alle anderen «Fundamentalismen». Aus diesen Gründen ist eine eigene Bezeichnung sinnvoll.

Zur Entstehung des Begriffs «Islamismus» fehlen bisher wissenschaftliche Untersuchungen. Klar ist immerhin, dass es das Wort als Bestandteil des viel älteren europäischen Terminus «Panislamismus» schon seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gab, als es in Analogie zu Begriffen wie «Panslawismus» geprägt wurde; mit «Panislamismus» wurden Bestrebungen wie die von Sultan ʿAbdülhamîd II. oder von al-Afghânî bezeichnet (zu ihnen siehe Kapitel II.3 und III.1). Im französischen publizistischen und akademischen Diskurs tauchte der Terminus «islamisme» gegen Ende der 1970er Jahre im heutigen Sinn auf. Wenig später war er eingebürgert: Der auf den nordafrikanischen Islamismus spezialisierte französische Soziologe und Politologe Bruno Etienne gebraucht «islamisme» in seinem 1982 erschienenen Aufsatz La vague «islamiste» face aux nations arabes zweimal ohne Erklärungen oder Anführungszeichen im heutigen Verständnis. Um 1985 war er als «Islamism» auch im anglophonen wissenschaftlichen Diskurs angekommen, und die deutsche Islamwissenschaft schloss sich bald an.