-Ismus - Detlef Zeiler - E-Book

-Ismus E-Book

Detlef Zeiler

0,0

Beschreibung

Historisch bekannte Massenbewegungen berufen sich zumeist auf eine Ideologie, um die herum sich Menschen organisieren lassen. Die Steuerung von Menschen ließ sich bisher meist durch gezielte Beeinflussung ihrer Gedanken und Gefühle durchsetzen. Machtbewusste Menschen haben oft Theorien und Geschichten ausgenutzt, um Menschen in ihrem Sinne zu lenken. Diese Mischung aus Theorien oder Theorie-Versatzstücken und Geschichten lassen sich fast immer in einem Begriff zusammenfassen, der mit der Nachsilbe (Suffix) -ismus endet: Nationalismus, Marxismus, Leninismus, Stalinismus, Faschismus, Islamismus usw. Welche Elemente der verschiedenen "Ismen" lassen sich in Massenbewegungen der Vergangenheit zeigen und möglicherweise auf heute übertragen? Diese Frage möchte ich hier aufwerfen - und zugleich auf Techniken verweisen, die früheren "Ismen" noch nicht zur Verfügung standen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 305

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



-ismus

Essays zu ideologisch begründeten Massenbewegungen

Historisch bekannte Massenbewegungen berufen sich zumeist auf eine Ideologie, um die herum sich Menschen organisieren lassen. Die Steuerung von Menschen ließ sich bisher meist durch gezielte Beeinflussung ihrer Gedanken und Gefühle durchsetzen. Machtbewusste Menschen haben oft Theorien und Geschichten ausgenutzt, um Menschen in ihrem Sinne zu lenken. Diese Mischung aus Theorien oder Theorie-Versatzstücken und Geschichten lassen sich oft in einem Begriff zusammenfassen, der mit der Nachsilbe (Suffix) -ismus endet: Nationalismus, Marxismus, Leninismus, Stalinismus, Faschismus, Islamismus usw.

Welche Elemente der verschiedenen „Ismen“ lassen sich in Massenbewegungen der Vergangenheit zeigen und möglicherweise auf heute übertragen? Diese Frage möchte ich hier aufwerfen – und zugleich auf Techniken verweisen, die früheren „Ismen“ noch nicht zur Verfügung standen.

Im März 2021

Detlef Zeiler

Gegenwartsforscher

»Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übriggeblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt werde, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf neue Weise überschauen und beurteilen läßt…«

GOETHE, Geschichte der Farbenlehre (1840)

 »Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihren Diensten herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.«

Aus: Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte

–ISMUS

Essays zu ideologisch begründeten Massenbewegungen

ISBN: 978-3-347-25716-0 (Paperback)

ISBN: 978-3-347-25717-7 (Hardcover)

ISBN: 978-3-347-25718-4 (e-Book)

1. Auflage 2021

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

www.tredition.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische und sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

„-Ismus“ als Massenbewegung

Drahtzieher und Mitläufer

Gründungsmythos

Grenzüberschreitung

Gerüchte und Provisionen

Die Gegner

Circle of pain

Der „Tiefenstaat“

Angry young men

Ostdeutschland – Westdeutschland

Machtspiele

Neue Waffen - Mikrokriege

Inquisition

Die Gier

Der »Faschismus« ist ein veraltetes Konstrukt

Nationalismus

Kultur, Zivilisation – und die Frage nach Grenzen

Power

Terrorismus

Masse und Macht (Canetti)

Der »göttliche« Spaß an der Intrige

Die Lust am Bösen

Menschwürde

Verachtung

Das Böse und die Moral

Religion als Belohnung und Abschreckung?

Beute und Macht

Ausblicke

Literaturhinweise

Anhang

Vorwort:

Die vorliegenden Texte wurden weitgehend vor 2016 geschrieben. Seither hat sich einiges geändert: In den USA zeigen sich die Folgen der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten, - einem Milliardär, der kaum Steuern zahlte und vor allem durch die „alte“ (weiße) Industriearbeiterschaft gewählt wurde, die sich von globalen wirtschaftlichen Entwicklungen bedroht sieht. „Der Westen“ als Einheit scheint zu zerfallen. Großbritannien hat die EU verlassen und innerhalb der EU zeigen sich Gegensätze zwischen Ost- und Westeuropa. Die Flüchtlingskrise und die Korruption in einigen ehemals kommunistischen Staaten verschärfen Gegensätze in der EU. Clanstrukturen breiten sich – verstärkt durch Migration – innerhalb der Demokratien aus. Ralph Ghadban hat das beispielhaft beschrieben.1 Wir stehen heute erst am Anfang von weltweiten Fluchtbewegungen, denn es steht eine Umweltkrise in den Startlöchern, die weit mehr Flüchtlinge produzieren wird als alle heutigen Kriege zusammen. Darauf sind wir nicht vorbereitet.

Nicht nur die Staatsmacht kann aus verschiedenen Gründen in Versuchung stehen, stärker auf Gewaltmittel zu setzen – auch aus der Gesellschaft heraus können sich Gewaltzentren entwickeln, die den Rechtsstaat infrage stellen und dessen Macht unterhöhlen, die in der Zustimmung der Bürger liegt. Der Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 hat gezeigt, dass die Gefahr der Destabilisierung des Staates auch in westlichen Demokratien besteht.

Auf zweierlei Weise können sich neben dem Rechtsstaat Gewaltzentren entwickeln:

1. Weit verbreitet – und gut beschrieben – sind hier die diversen Gruppen der Organisierten Kriminalität. Sie sind heute oft finanzstärker als Nationalstaaten und besitzen Gewaltmittel, die ein starkes Drohpotential auch in Rechtsstaaten hinein ausstrahlen. Ein einzelner Bürger kann sich, sollte der Rechtsstaat Schwächen zeigen, diesem Drohpotential kaum entziehen. Der Vorteil Organisierter Kriminalität (OK) gegenüber dem Rechtsstaat liegt u.a. darin, dass er sich keiner systematischen Rechtfertigung aussetzen muss. Die OK ist einfach da, passt sich wie ein Parasit der jeweiligen Wirtsumgebung an, kann sogar auf direkte Gewalt verzichten, wenn das Drohpotential hoch genug ist oder wenn die Lockangebote oder das „Anfüttern“ genügen, normale Bürger in ihren Dunstkreis oder in irgendeine Abhängigkeit hineinzuziehen. Je mehr sich Arm und Reich auseinanderentwickeln und je mehr der Mittelstand sich bedroht fühlt, desto größer werden die Angriffsflächen der OK.

2. Die zweite Art von rechtsstaatsfeindlichen Gewaltzentren finden wir in Gruppierungen, die sich auf eine Ideologie, ein zusammenhängendes System von Ideen berufen. Diese Ideologie ist dazu da, ein großes Ziel, das in der Zukunft liegen soll, zu beschreiben und Mittel anzubieten, die von Überreden, Locken, Drohen bis hin zur Gewaltanwendung reichen. Dabei dient das große Endziel zur Rechtfertigung dieser Mittel, auch wenn bei der Anwendung der Mittel die bestehenden moralischen Grenzen überschritten werden. Die Ideologie, egal ob religiös verbrämt oder rein weltlich begründet, lässt sich fast immer mit einer Art von „-ismus“ beschreiben. Imperialismus, Marxismus, Leninismus, Trotzkismus, Stalinismus, Nationalismus, Islamismus – oder der weithin diskutierte „Faschismus“.

Wenn ich mich hier in erster Linie auf den Begriff Faschismus beziehe, dann nur, um damit die Diskussion einzuengen und verständlicher zu machen. Elemente des Faschismus tauchen auch in anderen „Ismen“ auf, überschneiden sich heute sogar mit Elementen, die man eher bei der OK findet. Neu in der Diskussion ist der Begriff »Tiefenstaat«, den ich aber, anders als er in den USA oder in der Türkei verwendet wird, eher mit der (ethnisch) Organisierten Kriminalität (OK) in Verbindung bringe.

Im Raum steht heute immer auch die Frage, ob das Menschenbild, auf das sich demokratische Staaten beziehen, heute noch genügend Anerkennung findet. Könnte es nicht sein, dass wir in mancher Hinsicht gar nicht so viel anders reagieren als es in den Tierversuchen gezeigt wurde, die auf der Grundlage des Behaviorismus durchgeführt wurden? Zeigen sich nicht immer mehr Menschen durch Gerüchte, „fake-news“, Gewaltandrohung oder Konsumverlockung weitaus eher steuerbar als durch Hinweise auf Menschenrechte und die Regeln des Rechtsstaates?

Dazu kommt eine Entwicklung, die in der medial vernetzten Welt immer deutlicher wird: Immer mehr lassen sich Vor- und Nachteile der verschiedenen Gesellschaften und Staatsformen vergleichen. Wie gut gehen Staaten und Gesellschaften mit den Gefahren um, die heute global sichtbar werden: Erderwärmung und Naturkatastrophen, Pandemien, Korruption, Vertrauensverlust usw. Und wie gut gelingt es innerhalb verschiedener Kulturen, Menschen entsprechend neuer Problemlagen zu „steuern“?

Bei den aus dem Jahre 2016 übernommene Essays habe ich einige Korrekturen eingefügt. Die Formulierungen sind heute weniger überzogen. Die damaligen Zuspitzungen sollten zur Verdeutlichung der Gedankengänge dienen und niemanden vor den Kopf stoßen. Von daher nenne ich hier keine Namen oder konkrete Ereignisse, obwohl ich mich auf reale Erfahrungen beziehe. Nicht zu vergessen: „Essays“ sind Versuche. Man kann diese Essays (auch) als Gedankenspiele lesen.

1 „Arabische Clans. Die unterschätzte Gefahr.“ (Ullstein Verlag, 2020)

-ismus als Massenbewegung

Alte und neue Elemente der »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt)

Mit dem Sieg des »Kommunismus« in Russland nach 1917 verbreitete sich in Europa vor allem in den staatstragenden Mittelschichten nach dem Ersten Weltkrieg die Angst vor der Ausbreitung sozialistischer Ideen. Nach Lenin waren Industrieländer wie Deutschland das eigentliche Ziel des Kommunismus, Russland sei nur das »schwächste Kettenglied« in dem Verbund »imperialistischer« Länder gewesen. (Heute, in einer medial vernetzten multikulturellen Gesellschaft würde man sich eher fragen: Wo sind die schwächsten Kettengliederinnerhalbeiner Gesellschaft. Und wie kann man mit dem Herausbrechen dieser »Kettenglieder« den Zusammenhalt in der Gesellschaft so schwächen, dass das „alte System“ reif für eine Übernahme ist.) Die Ausbreitung des „Kommunismus“ mit dem Konzept der Verstaatlichung der Produktionsmittel war aus der Sicht der Industrieländer eine reale Gefahr. Von daher stellt der historische Faschismus eine Gegenbewegung aus den hiesigen Mittelschichten heraus gegen die neue Gefahr »von unten« und aus dem »Osten« dar. Der Kommunismus mobilisierte die Angst, man könnte enteignet werden.

Aber nicht nur den Kommunismus, auch die negativen Auswirkungen des Kapitalismus, der die Menschen vereinzelt, ihnen ihre Traditionen nimmt und die gewohnten Lebenszusammenhänge in Frage stellt, will man bekämpfen. Da die Menschen in Krisenzeiten mehrheitlich nach einfachen, eher rückwärtsgewandten Ideen suchen, bietet ihnen der Faschismus ein Orientierungsmodell an, in dem sich die Gruppe einem guten Anführer unterordnet, so wie sich das in der Natur bewährt zu haben scheint. Ein ähnliches »Modell« bieten auch mafiose Gruppen ihren Mitgliedern, die entweder in einem direkten Verwandtschaftsverhältnis stehen oder über ein Aufnahmeritual Teil einer patriarchalischen Großfamilie werden. Diese Großfamilie, dieser »Clan« gliedert sich parasitär in eine bestehende Wirtschaftsstruktur und einen bestehenden Staat ein und steht nicht unter dem Druck, eine eigene Ideologie oder ideologische Versatzstücke zu erzeugen.

Der Faschismus dagegen gibt vor, eine Weltanschauung zu liefern, die Tradition und Fortschritt versöhnt und es erlaubt, Wirtschaft und Staat nach dem Führerprinzip neu zu gliedern. Sukzessive sollen alle Lebensbereiche dem Machtanspruch einer Gruppe untergeordnet werden, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werden Schritt für Schritt gleichgeschaltet, auch wenn auf dem Weg zur totalen Machtergreifung vorübergehend Kompromisse gemacht werden müssen, die sich je nach dem regionalen Umfeld unterscheiden. Der »Wille zur Macht« entscheidet, nicht das Gedankengebäude drumherum. Auf Konsistenz der Ideen kommt es nicht an. »Tatmenschen« bestimmen, Mythos geht vor Ratio und Ethik. Ich erinnere an die Einflüsse der »Thule-Gesellschaft« nach dem Ersten Weltkrieg und die Symbolik des Hakenkreuzes. Näheres kann man nachlesen in »Schwarze Magie - Braune Macht« (P.S.-Verlag, Ravensburg) von Peter Orzechowski. Die Fähigkeit der faschistischen Bewegung als Massenbewegung besteht vor allem darin, eine totalitäre Partei an die Macht zu bringen, dafür so viele Ängste wie möglich anzusprechen und die dadurch ausgelöste Aggression offensiv auf einen (beliebigen) »Gegner« zu richten. Sebastian Haffner (1907–1999) hat m.E. für den Nationalsozialismus deutlich aufgezeigt, dass keine kohärente Staatsidee vorlag. Im Zentrum steht nicht der Staat, der seine Macht vor dem Volk legitimieren muss, sondern die Vorherrschaft einer Partei, die parallel zum Staat Machtpositionen ausbaut, von denen aus sie diesen in Geiselhaft nimmt. Dazu kommt noch eine zeittypische Besonderheit, die dem Faschismus nützte: Anfang des 20. Jahrhunderts stand das Führer-Gefolgschafts-Modell hoch im Kurs. Es war auch ohne den Faschismus weit verbreitet.

Wer könnte heute so etwas in einer historisch gewandelten Situation erneut versuchen? Wen würde er ansprechen? Welche Vorurteile würde er nach dem Ende des Kommunismus verstärken? Mit welcher Art von Sinngebung würde er die Jugend anlocken? Welchen Mix von Ideologien würde er heute anbieten? Und würde er überhaupt so marktschreierisch an die Öffentlichkeit treten wie im 20. Jahrhundert, wo diese Öffentlichkeit heute doch viel kritischer erscheint als damals? »Omerta« statt Straßenkampf?

Nach der Blamage im „Dritten Reich“ und dem verlorenen „Zweiten Weltkrieg erscheint mit hier eher die „Omerta“ wahrscheinlich. Bei anderen „-Ismen“, vor allem beim Islamismus, liegt der Fall sicher anders. Dort werden die demokratiefeindlichen Ideale anders verbrämt und meist offen verhandelt. Ob offen oder verdeckt, in beiden Fällen wird aber ein zentrales Motiv angesprochen, das in Notzeiten immer schon gegolten hat: Man will nicht bloß passiv bleiben, man will handeln können! Irgendwie! Und darum geht es.

Drahtzieher und Mitläufer

Nach dem Ersten Weltkrieg waren Italien und Deutschland die beiden Länder, in denen der Faschismus aus eigener Kraft siegte. Sie waren zwar Kriegsgegner, nach dem Krieg aber in einer ähnlichen Lage: Sie hatten große Verluste erlitten und der Bevölkerung ging es schlecht; Italien hatte keinen Nutzen aus dem Sieg gezogen, in den Städten und auf dem Land herrschte eine große Armut, für die man die Demokratie und die liberale Wirtschaftsordnung verantwortlich machte. Und in Deutschland kamen sehr rasch Vorbehalte gegen die Weimarer Demokratie auf. Man gab ihr die Schuld für die Niederlage, die Hinnahme des Versailler »Schand«-Vertrages und die Verluste in der Folge der Währungsreform von 1923, in welcher der Staat alle seine Schulden auf einen Schlag loswurde.

Während Mussolini aber schon am 31. Oktober 1922 Ministerpräsident einer Koalitionsregierung aus Nationalisten und Faschisten wurde, aus der heraus er seine faschistische Diktatur in Italien ausbauen konnte, konnte Hitler seine Chance erst in der Krise 1929 und der darauf folgenden Arbeitslosigkeit ergreifen, als die Zahl der NSDAP-Abgeordneten im Reichstag sprunghaft zunahm, und er schließlich am 31. Januar 1933 vom alten Reichspräsidenten Hindenburg an die Spitze einer Koalitionsregierung gesetzt wurde. Diese benutzte er dann, wie angekündigt, als Sprungbrett zur Abschaffung der Demokratie.

Aber es waren nicht in erster Linie die Arbeitslosen, die ihn an die Macht brachten, es waren Konservative, die ihn salonfähig machten, förderten oder tolerierten, bis er sie nicht mehr tolerierte - und es waren eher unpolitisch-naive Anhänger aus den verschiedensten Teilen der Mittelschicht, die ihn als einen Erlöser verehrten und deren Ängsten und Ressentiments er auf beinahe geniale Weise Ausdruck geben konnte. Vor allem der latente Antisemitismus wurde im deutschen Faschismus, im »Nationalsozialismus«, aufgegriffen und verstärkt, denn damit konnte man ein einfaches Feindbild konstruieren und einen »Sündenbock« für alles Schlechte in der Gesellschaft anbieten. Sündenböcke scheinen in der Geschichte immer wieder eine seelische Entlastung für erlittenes oder eingebildetes Ungemach zu bieten.

Wie so oft in Zeiten des Umbruchs infolge einer massenwirksamen Jugendbewegung hat es auch damals Kritiker gegeben, die auf die Konsequenzen einer offensichtlich kommenden Diktatur hinwiesen.

Aber sie blieben vereinzelt, schienen zu übertreiben - und im heutigen Sprachgebrauch hätte man ihnen »Paranoia« unterstellt oder sie »Verschwörungstheoretiker« genannt. Und wenn dann eine Massenbewegung erst einmal Fahrt aufgenommen hat, gelten Kritiker schnell als Störenfriede oder Nestbeschmutzer.

Der Faschismus hatte keine einheitliche Ideologie, er war zugleich autoritär und antiautoritär. Autoritär im Führerkult und dem ganzen militaristischen Drumherum, antiautoritär als Jugendbewegung, die etablierte und verkrustete Eliten bekämpfen wollte. Zurück zur Natur, zurück zur Horde, die zusammenhielt gegen einen bösen Feind, das war der Traum vieler im Kapitalismus entwurzelter Jungmänner. Gemeinsamer Kampf statt vereinzeltem Leiden! In dieser Hinsicht ähnelte der Faschismus dem Kommunismus - und nicht umsonst sind viele junge Kommunisten in der Weimarer Republik ohne Probleme Faschisten geworden. (Und viele Kommunisten sind nach dem Ende des Kommunismus Nationalisten geworden.) Vielen erschien der Faschismus - auch hierin ähnlich dem Kommunismus - wie eine neue Religion, die in die moderne Zeit passte, wo er sich doch z.B. mit der Aufnahme einiger Elemente des Darwinismus, der damals international verbreitet war und im »Sozialdarwinismus« auf menschliche Gesellschaften übertragen wurde, einen wissenschaftlichen Anstrich gab.

Zugleich war der Faschismus auch offen für neue Erkenntnisse auf technischem Gebiet, vor allem in der Medien- und Waffentechnik, womit er wiederum die Jugend begeisterte. Und es wurde nicht nur trocken belehrt, nein, man konnte als Jugendlicher auch aktiv an Wehrsportübungen im Freien teilnehmen, konnte mit echten Gewehren schießen und sich in der Organisation von Zeltlagern bewähren. Zudem gab es einfache Feindbilder, die unabhängig vom Bildungsniveau jeder verstehen konnte. Dass es oft eine beinahe unpolitischnaive Zustimmung zum Faschismus gab, zeigt auch die Begeisterung vieler Frauen, die eine gewisse Verantwortung in der »Bewegung« bekamen und dem Führer immer wieder mit strahlenden Gesichtern zujubelten, so, als seien sie verliebt oder religiös entrückt.

Wie aber schaffte es die faschistische Elite, all die heterogenen Elemente in ihrer Ideologie so zusammenzuführen, dass sie einer Massenbewegung als Anleitung zum Handeln dienen konnte? Wie schaffte sie es, ein kriegsmüdes Volk in einen zweiten Weltkrieg zu treiben? Diese Fragen muss man sich heute stellen, will man Geschichte nicht nur »antiquarisch« (Nietzsche) betrachten und der Jugend mit dem Blick zurück als Klotz an den Hals hängen.

Gründungsmythos

Jede massenwirksame Bewegung brauchte bisher eine gewisse »Romantik«, einen Gründungsmythos, wie ihn etwa die deutsche Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts in der deutschen Geschichte gesucht hatte: Eine Sprachgemeinschaft mit historisch gewachsenen Eigenheiten müsse sich einen politischen Rahmen in der »Nation« geben. Dafür lohne es sich zu kämpfen und zu sterben.

Deutschland war - wie Italien - eine »verspätete« Nation. Seine Einheit war jahrhundertlang durch fremde Großmächte verhindert worden, deren Angst vor einer starken Mitte Europas zur aktiven Förderung der deutschen Kleinstaaterei geführt hatte. Erst unter Bismarck wurde die deutsche Einheit 1871 geschaffen. Nach seiner Absetzung 1890, im Zeitalter des Imperialismus, wurde diese Einheit aber in einem Anfall von Größenwahn wieder leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Man kann heute kaum noch nachvollziehen, wie politisiert die Öffentlichkeit Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war. In jeder Kneipe wurde heftig und hitzig die politische Lage der Staaten und Völker diskutiert. Für einige schien der Sozialismus heraufzudämmern, für andere der vom »Imperialismus« des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägte Nationalismus. In dieser Atmosphäre schien es vielen Deutschen legitim, auch in der Geschichte alles herauszustellen, was die eigene Stärke begründete: Volkstum, Nationalgefühl, Gemeinschaft. Die Weimarer Demokratie konnte das nicht bieten, hatte auch nichts in der Geschichte vorzuweisen, was auf frühere Stärke verwies, denn Deutschland war ja nicht von Demokraten, sondern (von Bismarck) auf autoritäre Weise von oben gegründet worden. Gerade weil es keine demokratische Tradition gab, konnte die Erfindung des Germanentums wie ein Gründungsmythos von unten erscheinen, der sowohl in die Geschichte zurückreicht (Romantik), als auch mit dem radikalen Fortschritt in der technischen und sozialen Welt versöhnt. Mit dem rückwärtsgewandten Traum vom eigenen Herd und Hof im geistigen Gepäck, dem Bauernhof im Osten, liefen viele Deutsche den Nationalsozialisten in die Falle. Die wollten nicht nur Versailles revidieren und damit Deutschlands Stärke wiederherstellen, sondern hegten den Traum von einer Hegemonie über Europa und Asien, den Traum von der Durchsetzung einer Art eurasisehen »Monroe-Doktrin«, einer Doktrin, wie sie die USA für ihre Vorherrschaft über Nord- und Südamerika vertraten. Die Welt sollte in Großreiche aufgeteilt werden - und am Ende stünde eventuell die Weltherrschaft einer »Rasse«.

Wer könnte einen ähnlichen Traum heute hegen? Von welcher Kränkung, ähnlich der Kränkung der Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg, würden seine Ressentiments gespeist? Wie könnten möglichst viele Menschen in das Gefühl des Kränkung hineingezogen werden? Welche Revanchegefühle könnten angesprochen werden? Welchen Mythos würde man ansprechen? Welche Bilder würde man benutzen, um Wurzeln zu schlagen? Eine Mischung aus »Zurück zur Natur« und »Sozialdarwinismus«? Ein neuer Rassismus? Oder etwa der Glaube an die universale Lösung aller Probleme durch moderne Technik? Die Vorstellung vom Menschen als »Bioroboter«? Oder könnte man sich heute eine diktatorische Instanz vorstellen, die in unserer multikulturellen Welt mit allen möglichen Bildern nur spielt? Postmodern?

Die größte Kränkung für die heute einzig verbliebene Supermacht, die gerade dabei war, sich als ein freundlicher Hegemon zu profilieren, war der Angriff auf die Zwillingstürme im Jahre 2001. Seither gilt 9/11 als das Datum der Wende in der Politik des Westens. Die milliardenschweren Geheimdienste hatten versagt, mit primitiven Mitteln und ein wenig Heimtücke haben die »angry young men« (Gunnar Heinsohn, 2003), die man gerade noch gegen den untergehenden Kommunismus bestens ausgestattet hatte, die Schwachstellen einer demokratischen Gesellschaft aufgezeigt. Diese ist intern auf Vertrauen aufgebaut, aber auch verletzlich, wenn sich radikale Elemente gegen sie stellen (und sie infiltrieren). Und genau hier könnte der Wendepunkt in der Politik der USA und einiger ihrer Verbündeten liegen - hin zu einer neuen Spielart des Machiavellismus, bei dem erlaubt ist, was zu nützen scheint, Menschenrechte hin oder her. Leute, die Böses im Schilde führen, könnten sich den USA in die Arme werfen, sich einschmeicheln, um von deren Militärmacht und deren neuesten Techniken im „Antiterrorkampf“ zu profitieren. Ein Argument wäre also der Antiterrorkampf, denn der Kampf gegen den Kommunismus ist ja inzwischen weggefallen. Sind aber die echten Freunde nicht gerade die, welche Kritik an den Fehlern im „Antiterrorkampf üben? Christian Fürchtegott Geliert (1715-1769), ein Aufklärer, hatte schon im 18. Jahrhundert darauf hingewiesen, worin wahre Freundschaft besteht:

Freundschaft

Der Freund, der mir den Spiegel zeiget,

Den kleinsten Flecken nicht verschweiget,

Mich freundlich warnt, mich ernstlich schilt,

Wenn ich nicht meine Pflicht erfüllt:

Der ist mein Freund,

So wenig er es scheint.

Und nun zum Mythos: Könnten die vordemokratischen, am Sozialdarwinismus orientierten Denkweisen des Westens nicht ein Traumbild von Stärke und Vorherrschaft bilden, an dem man sich in der Not festhält, ja das zu einer Art von Neugründung des Westens führen könnte? »Survival of the fittest«. Früher waren wir stark und gefürchtet. Müssen wir nicht wieder wie früher werden? Noch sind wir stärker. (Die wirklich überlegenen Waffen dürften dann aber in einer globalisierten Medienwelt, wie wir sie heute haben, nicht zu früh bekannt werden, denn sonst hätte sie bald auch der Gegner. Das spricht für die vorrangige Bewaffnung der Geheimdienste und nicht des traditionellen Militärs.) Wer sagt aber, dass neuartige und moderne Waffen nicht von irgendwelchen Doppelagenten oder angeblichen Helfern im Antiterrorkampf abgegriffen werden? Schon immer hatte auch die organisierte Kriminalität Interesse an der jeweils modernsten Technik.

Grenzüberschreitung:

Das Zusammenleben in sozialen Systemen funktioniert normalerweise dadurch, dass alle sich an dieselben Regeln halten, an Regeln, die allen bekannt sind. Dennoch gibt es immer wieder einzelne oder Gruppen, die sich ohne das Wissen der anderen einen Vorteil verschaffen, indem sie die Regeln heimlich übertreten und das Vertrauen der anderen missbrauchen. Im Kleinen passiert das in der Schwarzarbeit, beim Sozialbetrug, beim Diebstahl. In größerem Ausmaß sieht man so etwas bei der Organisierten Kriminalität (OK), bei der Geldwäsche, beim Lobbyismus und den unterschiedlichen Formen der Korruption. Um die Vertrauensverhältnisse in einem Land zu sichern, braucht es einen starken RECHTSSTAAT mit strikter Gewaltenteilung, der sich gegen alle Sonderinteressen zugunsten der Allgemeinheit durchsetzen kann. Aber es braucht auch Bürger, die gelernt haben, Rechtsnormen zu verinnerlichen. Die Verinnerlichung demokratischer Normen ist im Allgemeinen ein langer Prozess, in dem Menschen lernen müssen, vordemokratische „Gewohnheiten“, Racheimpulse, Clandenken usw. zu beherrschen.

Die meisten Deutschen waren auch 1933 im Sinne des Rechtsstaates durchaus anständige Bürger. Sie waren aber bedrückt von einer enormen Arbeitslosigkeit, die noch nicht wie heute von einem Sozialstaat abgefedert war. »Nehme jede Arbeit!« hingen sich einige mit einem Schild um den Hals. Eine Änderung kam durch den Staatsinterventionismus von Seiten der Nazis. Klar, sie investierten u.a. in die Rüstung. Aber sie schufen Arbeit - und das imponierte den ehedem Arbeitslosen, denn sie konnten ihre Familien wieder ernähren. Dass die Politik der Nazis auf einen erneuten großen Krieg zusteuerte, das überforderte die Vorstellungskraft vieler Deutscher. Und hier kommen wir auf ein Phänomen, das auch heute wieder interessant werden könnte: Wer in seiner politischen Zielsetzung die Vorstellungskraft des Normalbürgers so weit überschreitet, dass dieser beim besten Willen nicht folgen kann, dessen düstere Absichten bleiben quasi unsichtbar. Er könnte sie sogar offen aussprechen, man würde das Ganze für Ironie, für nicht ernst zu nehmen halten. Man würde eher die Kritiker für paranoid halten. Man sieht nur, was man weiß, würde Goethe sagen. Und etwas moderner: Wer seine Festplatte so formatiert hat, dass sie für einen alten C 64-Computer funktioniert, der kann keine neuen Programme darauf abspielen… Wer könnte sich z.B. vorstellen, dass unter den Leuten, die jede kleine Ungerechtigkeit mit dem Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit beantworten, sich welche befinden, die insgeheim rechtsradikale Grüppchen unterstützen, um sich dann dagegen zu profilieren und zum Wortführer innerhalb der ausländischen Mitbürger aufzuschwingen?

Das hört sich paradox an. Aber könnte man nicht mit Paradoxien die Motivbezüge der Menschen verwirren? Viele intelligente Menschen aus Entwicklungsländern spüren hier bei uns schnell, dass wir Deutschen etwas naiv sind, was langfristige gesellschaftliche Interessen betrifft. Romantiker. Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion staunen oft über die heutige Harmlosigkeit der Deutschen und deren Verdrängung des Politischen. Politik aber handelt immer noch von Machtfragen - und wer diese verdrängt, der muss sich nicht wundern, wenn andere hier das Heft in die Hand nehmen. Ist es denn so abwegig, wenn andere unser Land heute für »das schwächste Kettenglied« im System der westlichen Demokratien halten, wo wir uns lange Zeit nur auf den Schutz durch die USA verlassen haben? Die Lage ist bei uns seit dem Ende des Kommunismus sehr unübersichtlich geworden. Es gibt mehr Mitspieler und es gibt Mitspieler, die etwas schlauer sind als Demokraten, die über Jahrzehnte in wohlbehüteten Verhältnissen aufgewachsen sind. Wer wirklich aufs Ganze geht, der könnte z.B. Personen, die sich um Vermittlung zwischen Ausländern und Deutschen bemühen, bei den rechten Gruppen als »Verräter« denunzieren; er könnte aber die Vermittler zugleich bei ausländischen Mitbürgern als verkappte Ausländerfeinde denunzieren, die auf »Assimilation« aus seien und Einwanderergruppen kulturell entwurzeln wollten. Technisch ist diese Desinformationsstrategie mit den heutigen medialen Möglichkeiten leicht möglich. Ton und Bild lassen sich bereits mit Amateursoftware leicht manipulieren. Stimmen lassen sich verändern, Sätze neu zusammenfügen, was in einigen Radiosendungen schon seit langem als Ulk genutzt wird. Und nicht nur experimentierfreudige, pubertäre Schüler operieren damit. Die Technik hat das Vorstellungsvermögen der Menschen längst überholt. Kaum einer versteht noch, woran die Spezialisten zurzeit brüten. Und nicht zu vergessen: Spezialisten verlieren nicht selten das früher zu humanistischen Zeiten noch mitgelieferte moralische Orientierungswissen.

Aber nicht nur das technische Wissen nimmt zu, auch die psychologischen Schwächen der unterschiedlichsten Gruppen einer Gesellschaft lassen sich heute wissenschaftlich gut erforschen und dann mit brauchbaren Vorurteilen bedienen. Und der Gedankengang ist auf einmal nicht mehr paradox, wenn man in die Geschichte schaut: War es nicht die »schwarze Hand«, waren es nicht radikale Serben, die den auf Vermittlung bedachten österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand und seine Frau 1914 in Sarajewo erschossen? Und aus einem begrenzten Konflikt entstand der Erste Weltkrieg.

Sind es nicht oft die Leute, die nur das Prinzip »Wir wollen alles!« gelten lassen, die Reformer und Vermittler als Störenfriede betrachten, hinderlich auf dem Weg hin zum großen »Kladderadatsch«, nach welchem man selbst als Phönix aus der Asche hervorgehen will? »Wir wollen alles!«, das ist eine Parole, die seit jeher die Jugend mitgerissen hatte. Vielleicht erinnern sich einige noch an eine Zeitschrift mit diesem Namen. Und kalkulieren nicht alle Terrorstrategen, die ein politisches System stürzen wollen, mit der Jugend? Mit der Ungeduld der 15-25-Jährigen? Den Unmut der Jugendlichen in genau diesem Altersbereich müsste man mit Handlungsvarianten bedienen, die ihrem jeweiligen kulturellen, moralischen und intellektuellem Niveau entsprechen. Nur so lässt sich ein stabiles politisches System, wie wir es im Westen etabliert haben, noch stürzen. Das Problem der »Filiation«, des Generationenwechsels, weist aber schon immer auf einen Schwachpunkt bei der Erhaltung stabiler sozialer oder politischer Systeme hin. Die Erwachsenen müssen stark genug sein, der nachwachsenden Generation die Sinnhaftigkeit ihrer Institutionen verständlich zu machen, aber auch flexibel auf neue Situationen oder Bedrohungen von außen reagieren. Wer weiß, wie lange die Errichtung demokratischer Rechtsstaaten gedauert hat, muss immer wieder Überzeugungsarbeit nach innen leisten und seine Grenzen nach außen sichern. Auch das gehört zum viel beschworenen »Generationenvertrag«.

Natürlich ist die Arbeit in den politischen Institutionen oft zäh und für viele junge Menschen langweilig. Und auch wenn die Institutionen gerade in Deutschland ganz gut funktionieren, so gibt es doch immer Bürger, denen man es nicht recht machen kann. Und da gilt es aufzupassen, dass Unzufriedenheit, Ungeduld und gut inszenierte Lügen nicht dazu führen, dass etwas niedergerissen wird, für das es nicht so schnelle eine Alternative gibt und das nicht so schnell wiederaufgebaut werden kann. Eine Demokratie ist kein Handwerksbetrieb, in dem man Entscheidungen fällt und dann die Ergebnisse oft sofort sehen kann. Gerade der Teil des Mittelstandes, der in Kleinbetrieben arbeitet, könnte von daher versucht sein, sich vorschnell in schlechte Alternativen reinziehen zu lassen, wenn die Not größer wird und charismatische Demagogen auftauchen. Teile des Mittelstandes sind oft an zwei Fronten bedroht: Zum einen durch mafiose Gruppen, die Schutzgelder verlangen, aber auch durch große Unternehmen, die Lobbyisten finanzieren können, Steuervermeidung betreiben, Konkurrenz ausschalten und damit Machtverhältnisse entwickeln, die sich neben (und in) dem Staat etablieren.

Gerüchte und Provisionen

Der Denunziant (Andreas Paul Weber, 1934)

Gerüchte waren im Dritten Reich mit Sicherheit ein wichtiges Mittel für das Verhetzen von Menschen. Gerüchte spielen heute immer noch eine große Rolle. Das gilt in Dörfern, das gilt in Städten, das gilt für Nachbarschaften und das gilt auch für das große Geld, die Börse und die Welt der Spekulanten, das gilt bei Mobbing, bei Stalking usw. Die bis heute beste Darstellung von Entstehung, Ausbreitung und Wirkung von Gerüchten findet sich in dem im Jahr 2000 auf Deutsch erschienenen Buch von Jean-Noel Kapferer »Gerüchte, das älteste Massenmedium der Welt«. Das Buch ist nur noch gebraucht bei Amazon zu bestellen, hätte aber eine (überarbeitete und erweiterte) Neuauflage verdient. Michael Scheeles Werk »Das jüngste Gerücht« (Heidelberg, 2006) verengt m.E. die Problematik zu sehr durch den Bezug auf persönliche Erlebnisse. In bildlicher Darstellung kennt man dazu sicher noch die Lithographien von Andreas Paul Weber, der von 1893 bis 1980 gelebt hat. Die bekanntesten Werke zu unserem Thema sind »Das Gerücht« (1943) und »Der Denunziant« (1934). An diesen beiden Lithographien lässt sich gut die Veränderung der Gerüchte und des Denunziantentums bis heute aufzeigen. Das vieläugige Gerücht mit der langen, spitzen Nase und den übergroßen Ohren würde sich mittlerweile auf Zielgruppen spezialisieren, die in unserer fragmentierten Öffentlichkeit in verschiedenartigen Formen emotionaler Kommunikation verankert sind. Auch die Werbung geht heute zielgruppengerecht vor. So gibt es heute einen immer größeren Vermarktungsbereich, der sich Ethno-Marketing nennt. Man wählt also Personen und Hintergründe bei der Vermarktung von Waren entsprechend der jeweiligen Zielgruppe aus. Ähnlich muss man auch bei Gerüchten kalkulieren. Webers Bild für Gerüchte passt da nicht mehr. Und der »Denunziant« muss nicht mehr vor einer Türe lauschen und mitschreiben, sondern kann technische Mittel der Überwachung nutzen: »Wanzen«, Minikameras, GPS, Handyüberwachung etc. Man müsste vielleicht jemanden zeigen, der vor mehreren Bildschirmen sitzt, was aber in der Wirkung nicht annähernd an die der Lithographie Webers herankäme. Das Verbreiten von Gerüchten kann man auf der Basis der gegenwärtigen Forschungen auch wissenschaftlich unterstützen. Wie eine Gruppe von Werbepsychologen und Marketingexperten, die ein neues Produkt auf den Markt drücken, könnte eine Gerüchte-Expertengruppe heute mit neuester Technik arbeiten. Man kann E-Mails abfangen, Menschen abhören, Stimmen verfälschen oder auch ganz einfach den Blödsinn, den jeder ab und zu in seiner Privatsphäre oder am Telefon redet, abhören und dann mit dem »passenden« Hintergrund an die Menschen weiterleiten, die leicht zum Mobben oder Stalken zu verführen sind. Der Begriff der »Ehre« könnte hier eine ungute Rolle spielen.

Insgesamt aber dürften heute in Deutschland nicht Gerüchte die wichtigsten Mittel der Mitläufer-Anwerbung sein, sondern alles spricht bei uns für Geldleistungen. Gerade netzwerkartig gestalkte Personen berichten immer wieder vom plötzlichen Reichtum verdächtiger Nachbarn. Es geht hier um Nachbarn, die gerade noch hochverschuldet sind - und plötzlich genügend Geld haben, ohne dass es einen plausiblen Grund gibt. Ein neues Auto, ein neuer Motorroller, das Haus abbezahlt, ein zuvor nie und nimmer finanzierbarer Urlaub usw. Einer Familie wurde einmal sogar die Stützmauer im Garten in der Nacht eingerissen, nachdem diese eine Zeitlang bewusst unterspült worden war. Zu den Hausschulden, die noch abzubezahlen waren, kamen auf einmal noch 80 000 € für die Stützmauer. Was blieb dieser Familie nun anderes übrig als mitzuspielen. Ein anderer wurde bereits regelmäßig von einem Gerichtsvollzieher verfolgt. Und ohne dass er im Lotto gewonnen hätte, war er ihn auf einmal los, hatte eine nagelneue Harley-Davidson, zwei neue Autos – und konnte sich großzügige Urlaubsreisen leisten. Manchmal ziehen auch einfach Studenten oder junge Leute in die Wohnung ein, die an der des »Opfers« angrenzt. Nach Beendigung der Aktionen – oder wenn das »Opfer« wegzieht, ziehen sie auch wieder aus.

Dabei fällt auf, dass Geldleistungen oft nur dafür getätigt werden, dass man eine Wohnung zur Verfügung stellt. Die »Strafaktionen« führen dann von dort aus Spezialisten durch. Man kann also Geld beziehen, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Dennoch werden Kontrollaktionen durchgeführt, mit denen die Loyalität der Mitläufer überprüft wird. So wurde z.B. berichtet, dass Mitläufer, die einen Job als Bedienung in einem Café bekommen und die Ankunft eines Opfers nicht gemeldet haben, selbst bedroht wurden. Und wer sein Haus oder seine Wohnung für Stalking-Aktionen zur Verfügung gestellt und seine »Provision« bezogen hat, der muss sich bei einem Anruf auch melden und irgendeine - vermutlich sinnlose - Aktion tätigen, die ihn in dem Glauben lässt, er sei Mittäter. Es sind Loyalitäts- oder Unterwerfungshandlungen, die verlangt werden. Wie Loyalität außerhalb des Rechtsstaates funktioniert, das kann man recht gut bei der Mafia studieren. Diese Organisation hat eine jahrhundertealte Erfahrung im Rekrutieren und „Disziplinieren“ von Menschen, die bereit sind, das eigenständige Denken aufzugeben. Dass furchtsame Menschen ihr Selbstwertgefühl oft dadurch stabilisieren, dass sie einfach nur „funktionieren“, hat die Geschichte zur Genüge gezeigt. Wenn „Denken“ ein ehrliches inneres Gespräch mit dem eigenen „Selbst“ zu führen bedeutet (Arendt), so kann man folgern, dass selbst der intelligenteste „Mitläufer“ diese Art des Denkens aufgeben muss, wenn er sich mafios einfangen lässt.

»Aus Lügen, die wir ständig wiederholen, werden Wahrheiten, die unser tägliches Leben bestimmen« (G. W. F. Hegel, 1770-1831)

Die Gegner

Für die Konstruktion eines kämpferischen »Wir«-Gefühls war schon immer ein glaubwürdiger Gegner notwendig. Wer konnte diese Rolle nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland spielen? Zunächst einmal boten sich die für den Versailler »Schandvertrag« verantwortlichen Westmächte an, die von allen Parteien für Gebiets- und Ansehensverluste verantwortlich gemacht worden waren. Eine unvermittelte Anlehnung an den Westen, wo vor allem nach dem »Ruhrkampf« von 1923 Frankreich wieder als der »Erbfeind« gesehen wurde, schien nicht möglich. Eine Verständigung mit der Sowjetunion war nur unter der Hand möglich und kam auch nur deshalb zustande, weil der Westen eine Politik auf Augenhöhe verweigerte. Deutschland hatte zwar in der Sowjetunion eine verbotene Aufrüstung betrieben - und damit deren Industrialisierung vorangetrieben -, der Kommunismus war aber dem deutschen Bürgertum bis in den Mittelstand hinein eine angsteinflößende Perspektive. Gegner im Osten und Gegner im Westen, das waren nur äußere Feinde, nicht ausreichend zur Schaffung einer Hetzmeute, die allein nach all den bedrückenden Kriegserfahrungen von 1914 bis 1918 noch einmal in den Kampf der Völker einwilligen könnte. Es musste ein Feind im Inneren dazukommen, einer, der als »Sündenbock« dienen und zugleich eine Art Fünfte Kolonne des Feindes darstellen konnte: Das »internationale Judentum«. Alte, bis ins Mittelalter zurückreichende Ressentiments wurden geschickt aufgegriffen und verstärkt. Mit den Juden hatten die Nazis einen Feind im Inneren geschaffen, der nicht nur »Sündenbock« war und als »fünfte Kolonne« der Feinde gelten sollte, sondern auch ein Objekt der Beute abgab, den man enteignen und vertreiben, dessen Besitz man sich aneignen und für die Kriegsrüstung gebrauchen konnte. Also gab es zwei äußeren Feinde und einen inneren, der dann auch noch angeblich Verbindungen zu den beiden äußeren hatte - obwohl diese gänzlich verschiedenartige Systeme repräsentierten. Dass dies unlogisch war, interessierte nur wenige. Welche Fanatiker hat je schon Logik interessiert? Aber es liegt nicht nur am Fanatismus, wenn die Logik ausgeschaltet wird. Es gibt einfach zugespitzte Situationen, da entscheiden wir nach dem Gefühl. Und wenn das Gefühl sagt: Hier liegt eine Kränkung vor - und dort ist der Verursacher, dann richten wir einen Racheimpuls gegen eben diesen Verursacher. Unsere Psyche ist so aufgebaut, dass wir immer nach einer Ursache suchen. Hat nicht die Hinrichtung von Troy Davis in den USA vor kurzem erst gezeigt, wie heftig man an eine Ursache, in seinem Fall an einen Täter glauben will, auch wenn man offensichtlich den falschen gefasst hat? Fast erscheint es beliebig, wen die Verdächtigung trifft. Es war bei Troy Davis ein reiner Indizienprozess, von neun Belastungszeugen haben sieben ihre Aussage zurückgezogen und gesagt, sie seien von Polizisten zu ihrer Aussage gezwungen worden, ein achter ist schwer psychisch krank – und der letzte verbliebene Belastungszeuge stand selbst unter Tatverdacht. Keine Tatwaffe wurde bei Davis gefunden und keine DNA-Spuren oder Fingerabdrücke – und dennoch wurde er am 21. September 2011 mit der Giftspritze umgebracht. (http://de.wikipedia.org/wiki/Troy_Davis)

Die Nazis haben es geschafft, den Deutschen die Juden als Verursacher anzubieten. Im Grunde wurden Deutsche gegen Deutsche gehetzt, eine deutsche Tragödie, die früher, in der Zeit vor der Reichsgründung von 1871 die Zersplitterung Deutschlands und die Schwächung der Mitte Europas bewirkt hatte. Das gleiche Spiel nach 1918, wo es jedoch weniger nationale Fragen waren, die uns geschwächt haben, sondern ideologische (und rassistische). Waren es nicht Juden, die im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und nach dem Ersten Weltkrieg Deutschland im Ausland wieder positiv dargestellt hatten? Die deutschen Juden waren damals derart „integriert“, dass einem der Vergleich mit heutigen Minderheiten in Europa schwerfällt. Aber: »Je größer die Lüge, desto mehr Menschen folgen ihr.« (Adolf Hitler)

Nachtrag: Hat man erst einmal ein Feindbild, dann ist es schwer, dieses wieder loszuwerden. Zum einen ist ein Feind oder ein »Sündenbock« nicht so leicht durch einen anderen zu ersetzen, wenn sich das Bild verfestigt hat. Erst recht nicht, wenn man dem angeblichen Feind schon selbst etwas Böses angetan hat. Selbst wenn die böse Tat durch Geld oder materielle Vorteile erkauft wurde, bleibt es eine Tat, die gerechtfertigt werden muss. Es muss einen seelischen Ausgleich für die Schuld geben, das Opfer muss angeblich selbst schuldig sein, sonst hätte man die böse Tat an ihm ja nicht begangen! Eher kann das Opfer verzeihen als dass der Täter sein Unrecht zugibt. Man sagt, es hätten viele Deutsche den Juden nie verziehen, dass sie so brutal zu ihnen haben sein müssen. Eine völlige Verkehrung der Lage, aber verständlich, wenn man versteht, wie die Psyche funktioniert. (Ist es heute nicht ähnlich im Irak, wo Araber die Besitztümer ihrer jesidischen oder christlichen Nachbarn übernehmen und den Hass auf diese Nachbarn rasch von anderen Beutemachern übernehmen – einfach, weil er nützlich ist?)